Mittwoch, 15. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 37
USA – Wahr

USA

Die Yankees und ihre Geschenke --- Sie bewohnen einen erst um 1800 errichteten Staat, von dem es nach dem viel-beschworenen »Ende der Geschichte« sehr wahrscheinlich heißen wird, er habe dasselbe an vorderster Stelle mit herbeigeführt.
~~~ Leider hat sich die ursprüngliche abfällige Bedeutung des Spitznamens – den die abtrünnigen Südstaatler im sogenannten Sezessionskrieg (bis 1865) den Nordstaatlern verpaßten – nicht erhalten. Deshalb nannten sich später sogar populäre Sportclubs Yankees. Allen Yankees gemeinsam ist ein großer Betätigungsdrang. Deshalb haben sie seit ihrem bewundernswerten Abfall (keine »Sezession«!) vom Mutterland Großbritannien schon ungefähr 70 Vietnamkriege angezettelt. »Die Leute hier scheinen nicht schlafen zu können, wenn sie nicht anderen Menschen den Schlaf verderben«, knirschte der New Yorker Erwin Chargaff, Biochemiker und Essayist, im Mai 1999 in der FAZ. Die Nato hatte soeben Jugoslawien überfallen. Altjungsozialist Gerhard Schröder war dabei, weil ein Abfall der Provinz Kosovo voll auf der Linie des Selbstbestimmungsrechtes – der Westlichen Tauschwertgemeinschaft lag.
~~~ Aus Tim Weiners CIA-Geschichte geht unzweifelhaft hervor, daß die als Botschafter, Wissenschaftler und Geschäftsfreunde getarnten Tugendwächter der Freiheit das gähnende Loch nach der Auflösung der Sowjetunion vordringlich deshalb mit dem Gespenst des »Terrorismus« stopften, weil sie sonst keine Existenzberechtigung mehr besessen hätten. Auf den Gedanken, einmal ein Leben ohne Feinde auszuprobieren, würde ein waschechter Yankee niemals kommen. Aber man weiß es, die schnieke Regierung Schröder/Fischer empfand jede Kritik an diesen besessenen Revolverhelden als »Antiamerikanismus«. Wer NordamerikanerInnen pauschal diverser Ferkeleien bezichtige, sei ein Schwein. Also war auch der Yankee Ambrose Bierce ein Schwein, der in seinem 1906/1911 veröffentlichten Wörterbuch des Teufels das Stichwort »In der Fremde« mit dem Satz definierte: »Ein Franzose in der Fremde sein heißt leiden; ein Amerikaner in der Fremde sein heißt, andere leiden machen.«
~~~ Wie selbstverständlich jedem vernunftbegabten Menschen klar ist, finden sich in jedem Schafstall auch ein paar schwarze, rote oder ungewaschene Schafe, die sich genug darüber grämen, von einem scheinheiligen Pack umzingelt zu sein, dem der Colt recht locker sitzt. Überschlägt man allein die Zahl der Justizmorde in den USA, wird einem angst und bange. Der geistesgestörte enttäuschte Wahlhelfer Charles J. Guiteau, der 1881 auf Präsident Garfield schoß, war nicht das erste Opfer. Fünf Jahre später hängte man »Anarchisten« einen Bombenanschlag auf dem Chicagoer Haymarket-Square an – und knüpfte Viere von ihnen trotz weltweiter Proteste auf. Ähnlich bekannt wurden die Fälle Sacco/Vanzetti (1927) und der »Kommunisten« Ethel & Julius Rosenberg (1953). Prangert Bierce, wie erwähnt, das Treiben der Yankees in Übersee an, darf man nicht glauben, die damalige US-Heimatfront sei ein Sandkasten demokratischen Geplänkels gewesen. Diesen Glauben zerstört, nebenbei bemerkt, die lebenslänglich verfolgte anarchistisch gestimmte US-Bürgerin Emma Goldman (1869–1940) in ihren Erinnerungen Living My Life ziemlich gründlich, dazu unterhaltsam.*
~~~ Die randständigen Schafe, die noch ungeschoren blieben, haben offensichtlich nichts zu bestellen. Sonst wäre es unerklärlich, daß die Yankees neulich mit Barack Obama schon wieder auf einen John F. Kennedy hereingefallen sind. »Das Volk kann mit oder ohne Stimmrecht immer dazu gebracht werden, den Befehlen der Führer zu folgen. Das ist ganz einfach. Man braucht nichts zu tun, als dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land.« Der Ratschlag kam von Hermann Göring. Der Psychologe und Übersetzer Gustave M. Gilbert, ein US-Bürger, zitiert ihn in seinem Nürnberger Tagebuch von 1947. Gilberts Landsleute beherzigten ihn – zum Beispiel im Oktober 1962 just unter J. F. Kennedy, der ernsthaft erwog, als Antwort auf die im Gang befindliche Stationierung von sowjetischen nuklearen Rakaten auf Kuba einen Atomkrieg zu riskieren. Nur mühsam, wie sich bei Weiner nachlesen läßt, konnten ihn seine BeraterInnen davon überzeugen, bei dem Phänomen der seit Jahren in der Türkei stationierten, auf die UdSSR gerichteten nuklearen Raketen handle es sich nicht um eine Fata Morgana. Schließlich ließ er sich dazu herbei Chruschtschows Vorschlag anzunehmen, beide Raketenbasen abzubauen und die Krise damit beizulegen – vorausgesetzt allerdings, der Öffentlichkeit werde diese tauschende Lösung verheimlicht. Nicht eingestellt wurden die von Kennedy ausdrücklich gebilligten endlosen Versuche, Fidel Castro zu ermorden. 46 Jahre später stationieren die Yankees Raketen in Polen. Die westliche Welt nimmt gelangweilt zur Kenntnis, daß die Russen darin nicht gerade eine Liebesbezeugung erblicken. Im Oktober 2009 stimmen die nun von Obama geführten USA zum achtzehnten Mal in Folge gegen die Aufhebung der verheerenden Blockade Cubas – lediglich im Verein mit ihrem Busenfreund Israel und dem Zwergstaat Palau, bei 187 Gegenstimmen.
~~~ Zu den randständigen nordamerikanischen Schafen zählt Robert Bowman, der als Kampfpilot der US-Streitkräfte während des Vietnamkrieges selbst Tod und Vernichtung vom Himmel schickte und später als Bischof der Vereinigten Katholischen Kirche in Melbourne Beach, Florida, wirkte. Im März 2003 schrieb er in einem Offenen Brief an Bush: »Anstatt unsere Söhne und Töchter durch die ganze Welt zu schicken, um Araber zu töten, damit wir das Erdöl unter ihren Wüsten ausbeuten können, sollten wir sie dorthin schicken, um deren Infrastruktur aufzubauen, sie mit Trinkwasser zu versorgen und die ausgehungerten Kinder zu ernähren … Statt Rebellion, Destabilisierung und Mord zu unterstützen, sollten wir die CIA auflösen und das dafür verschwendete Geld Hilfsorganisationen zukommen lassen … Zusammengefaßt heißt das: Wir sollten gut statt böse sein. Wer würde uns dann hassen? Wer wollte uns dann bombardieren? Dies ist die Wahrheit, Herr Präsident. Und es ist nötig, daß das amerikanische Volk sie hört.«
~~~ Offenbar möchte es die Wahrheit aber weder hören noch sehen. Als US-Außenminister Colin Powell einen Monat vorher daranschritt, die Entfesselung des jüngsten Irakkrieges mit einer Lügenstunde im Gebäude der Vereinten Nationen zu befördern, war die Kopie von Picassos Guernica-Gemälde in der Eingangshalle vorsorglich mit einer großen Stoffbahn verhängt. Laut FAZ erläuterte ein Diplomat, wenn über Krieg geredet werde, stellten Picassos schreiende Frauen, Kinder und Tiere »keinen angemessenen Hintergrund« dar. Welches Novum in der Kunstgeschichte!
~~~ An dieser Stelle sollte man vielleicht an das bis heute einzigartige Schwerverbrechen von Hiroshima und Nagasaki erinnern. Zu den wenigen weißen Schafen, die damals öffentlich ihr Entsetzen bekundeten, gehörte der vermonter Schriftsteller und ökologisch orientierte Farmer Scott Nearing. Er schrieb noch am 6. August 1945, dem Tag des Bombenabwurfs über Hiroshima, an Präsidenten Harry S. Truman, dessen Regierung sei nicht mehr die seine. Inzwischen ist die Rechtfertigung der staatstreuen Schafe, beide Abwürfe seien unumgänglich gewesen, um die Schwerverbrechen der Achsenmächte zu unterbinden oder abzukürzen, klar als Lüge entlarvt. Die Faschisten waren bereits geschlagen. Seit der Eroberung von Straßburg im November 1944 wußten die Yankees zudem genau, daß Deutschland zum Bau der Atombombe außerstande war. Das hat Jost Herbig schon 1976 belegt. Es ging ihnen jetzt »nur« noch darum, die Sowjets einzuschüchtern, aber vor allem dem mit vielen Milliarden von Dollars angelegten »Sachzwang« der nordamerika-nischen Atomforschung und Atomindustrie zu gehorchen. Man wollte nicht mehr zurück. Man wollte sich selbst, der ganzen Welt und wahrscheinlich auch dem lieben Gott beweisen: es geht. Man kann mit zwei Bomben, die auf einen Lastwagen passen, ganze dichtbesiedelte Landstriche zertrümmern und nachhaltig verseuchen. Allein die Zahl der Todesopfer der Aktion wird auf 500.000 geschätzt.
~~~ Etwas weniger offensichtlich verhält es sich mit dem Anschlag auf die New Yorker Twintowers und das Washingtoner Pentagon vom 11. September 2001, der dafür ungleich berühmter, jedenfalls gegenwärtiger ist. Eine positive Nebenwirkung weiß ich schon zu nennen: er dämpft meine Lebensmüdigkeit Jahr um Jahr, konnte doch bis heute nicht aufgedeckt werden, wer hinter dem Blutbad steckte. Ich wüßte es noch zu gern, bevor ich den Löffel abgebe. Zwar behaupten die Yankees, sie hätten die beiden wichtigsten Drahtzieher bereits 2004 gefangen; sie hüten sich jedoch, ein öffentliches Gerichtsverfahren einzuleiten. Der Prozeß über den Reichstagsbrand verlief schon mißlich genug.
~~~ Für die Yankees dagegen bestand der positive Nebeneffekt des Anschlages darin, den 11. September 1973 in Vergessenheit geraten zu lassen: Sturz und Ermordung des gewählten chilenischen Präsidenten Salvador Allende, der ein sozialistisches Programm verfolgt hatte. Die Angaben über die Zahl der Todesopfer dieses Putsches, der General Pinochet an die Macht brachte, schwanken zwischen 5.000 und (durch Amnesty International) 30.000. Dies wären 10 mal so viel wie in New York. Dort sind selbstverständlich auch die Drahtzieher des Putsches zu suchen – voran »Sicherheitsberater« Henry A. Kissinger, der unter anderem deshalb später den sogenannten Friedensnobelpreis bekam. Die Verwicklung in das vorausgegangene Mordkomplott gegen den Allendetreuen General René Schneider wurde sogar im November 1975 in einem Report des US-Senats offiziell festgestellt.
~~~ Wes Geistes Kind die Yankees sind – nämlich von Rothautjägern, Goldgräbern, Fallenstellern und Sklavenhändlern – leuchtete 1988 aus einem selbstgefälligen Geständnis eines Kissinger-Nachfolgers hervor. Zbigniew Brzezinski sagte im Gespräch mit Nouvel Observateur, die Politik seines Chefs Präsident Carter im Sommer 1979 sei es gewesen, die Sowjets mit Hilfe der CIA »in die afghanische Falle tappen« zu lassen, was er auch keineswegs bereue. Diese Falle führte zu über zwei Millionen Toten in der afghanischen Bevölkerung, sechs Millionen Exilanten und 20.000 Toten unter den sowjetischen Truppen, die im Dezember 1979 einmarschiert waren. Der nach 9/11 von den Yankees losgetretene »Kampf gegen den Terror« wird diese Zahlen noch weit übersteigen. Der traurige Witz dabei: er gilt, wieder einmal und in allen Winkeln der Welt, »Schurken«, die man ehedem selber aufgepäppelt hat. Den Kampf der Taliban gegen die Sowjets hatte die CIA mit durchschnittlich 500 Millionen Dollar pro Jahr gefördert. Die davon erworbenen Waffen wurden zu keinem geringen Teil vom verbündeten Warlord Gulbuddin Hekmatjar gehortet – er sah es klar voraus, die Verbündeten würden kommen. Weiner in seinem 2007 veröffentlichten Buch: »Als ich ein paar Jahre später mit Hekmatjar in Afghanistan zusammentraf, gelobte er feierlich, er werde ein islamisches Gemeinwesen errichten; wenn das eine Million weiterer Leben koste, dann sei das nicht zu ändern. Zur Zeit der Niederschrift dieses Buches wird er immer noch von der CIA in Afghanistan gejagt, wo er und seine Kampfgruppen Soldaten Amerikas und der amerikanischen Verbündeten umbringen.«
~~~ Am 18. Januar 1918 hatte Woodrow Wilson, einer der vielen vorbildlichen Vorgänger Carters, in seinen zumindest unter Historikern berühmten »Vierzehn Punkten« die Abrüstung aller kriegführenden Staaten gefordert. Er dachte natürlich nicht im Traum daran, mit gutem Beispiel voranzugehen. Seitdem waren die USA auch in rhetorischer Hinsicht unschlagbar.
~~~ 10 Jahre später setzte der Österreicher Erwin Chargaff erstmals seinen Fuß auf nordamerikanischen Boden. Aus beruflichen und politischen Gründen machte er die USA sogar zu seiner Wahlheimat. Wahrscheinlich hätte ihn die postmoderne »Mangelkrankheit Amerikanisierung« früher oder später auch überall sonst erwischt. Der Ausdruck stammt aus dem Kapitel »Europa« seines 1989 erschienenen Buches Alphabetische Anschläge. Neben jenem Betätigungsdrang, den ich schon eingangs erwähnte, bescheinigt Chargaff seinem Gastgeberland einen »dauernden Starrkrampf von Reklamelärm, Unbeteiligtheit, Geschichtslosigkeit und Anpassungsdruck«. Die allen Yankees gemeinsame Sprache habe zu diesem Krankheitsbild nicht unerheblich beigetragen. »Amerika leidet schwer darunter, daß eine verarmte Sprache für so viele Menschen reichen muß.« Dagegen wirft Chargaff zugunsten Europas solche für mich fragwürdige Gestalten wie den Heiligen Augustinus und Pascal in die Waagschale und stellt fest: »Fast alle großen Europäer sind in Amerika undenkbar. Allerdings sind sie es auch im heutigen Europa.« Na, gottseidank.

∞ Verfaßt 2012
* Emma Goldman: Deutsche Neuausgabe (Gelebtes Leben) Hamburg 2010



Den deutschen Schriftsteller Leonhard Frank behandelt Brockhaus pflichtgemäß. Dagegen fällt der jüdische Unternehmer Leo Frank (1884–1915) aus den USA, wo der Namensvetter einen guten Teil seines Exils verbrachte, unter den Redaktionstisch. Dieser Frank wurde Justiz- und Lynchopfer mit 31 Jahren. Der US-Staat Georgia, der heute nur noch ganz allgemein die Todesstrafe (für jeden) hochhält, war um 1900 eine Hochburg des Antisemitismus – und Leo Frank bekam es zu spüren. Der schlanke, gutaussehende, auf Fotos verträumt wirkende Ingenieur betrieb in Atlanta eine Bleistiftfabrik. Im April 1913 fand man im Keller dieser Fabrik Franks Maschinenarbeiterin Mary Phagan: die erst 13 Jahre alte Tochter eines armen Farmers war tot. Daraufhin wurde der Fabrikdirektor nicht etwa wegen Kinderarbeit, vielmehr wegen Mordes (durch erdrosseln) angeklagt und aufgrund angeblicher Indizien auch im August 1913 zum Tode verurteilt. Das erinnerte besonnene BeobachterInnen an die Dreyfus-Affäre, also an einen krassen Fall von Klassen- beziehungsweise Rassenjustiz, zumal die Ermittlungen von einer üblen »Berichterstattung« begleitet waren, die nach Judenblut dürstete. Danach war es in Franks Fabrik unter anderem zu Orgien gekommen, einmal davon abgesehen, daß er sein Opfer sicherlich auch geschändet hatte. Bemerkenswerter-weise hatte seine Frau Lucille allem Schmutz zum Trotz von Anfang an zu ihm gehalten. Sie starb 1957 von seiner Unschuld überzeugt.
~~~ Wenige Wochen nach der Urteilsverkündung tauchen allerdings Hinweise auf, die Frank entlasten. Schließlich kommt Georgias Gouverneur John M. Slaton zu der Überzeugung, der Fabrikant sei unschuldig, und wandelt die Todesstrafe im Juni 1915 einstweilen in Lebenslange Haft um. Daraufhin ziehen sofort Hunderte gutgekleideter BürgerInnen vor Slatons Haus, um gegen diese Korrektur zu meutern. Slaton muß sogar Truppen einsetzen.* Aber es kommt noch weitaus dicker. Im August dringen zwei Dutzend Bewaffnete, die sich The Knights of Mary Phagan nennen, die »Ritter« der Ermordeten also, ins Gefängnis ein, entführen den 31jährigen Häftling und hängen ihn bei Marietta, der Heimat der Ermordeten, in einen sorgsam ausgewählten Baum. Das Pressefoto, das den Gelynchten anderntags auf alle Frühstückstische bringt, wird bejubelt. Jeder kennt den einen oder anderen Ritter – und hütet sich ihn zu tadeln.
~~~ 1986 gestand die Behörde Georgia State Board of Pardons and Paroles das Versagen der Justiz im Fall Frank ein.* 2000 veröffentlichte Bibliothekar Stephen Goldfarb aus Atlanta im Internet eine Liste mit Namen der Entführer oder Mörder von Frank, die von hohen Politikern und Juristen wimmelt. Etliche von ihnen zieren bis heute Straßenschilder oder Tafeln von Schulen und anderen pädagogischen Einrichtungen. Als wahrscheinlichster Mörder Mary Phagans gilt nach wie vor** der schwarze Hausmeister der Fabrik Jim Conley, der sich im Verfahren mit Anschuldigungen gegen seinen Chef hervorgetan hatte. Aber gegen die damals am Kesseltreiben gegen Frank beteiligten Zeitungsverleger war er ein kleiner Fisch.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* Leonard Dinnerstein, https://www.georgiaencyclopedia.org/articles/history-archaeology/leo-frank-case, 11. August 2020
** Steve Oney, And The Dead Shall Rise. The Murder of Mary Phagan and the Lynching of Leo Frank, New York 2003



Zum englischen Dramatiker Harold Pinter (1930–2008) befindet Brockhaus 1992, sein Werk vermittle »ein Grundgefühl der Bedrohtheit und Existenzangst, dem die Figuren nur prekäre Sicherheiten entgegenzusetzen haben und das sie in Illusionen und Denkklischees flüchten läßt«. Sicherlich kann ich Pinters »Grundgefühl« nachvollziehen, zumal er es mit vielen tausend anderen Theaterleuten oder Romanschreibern der Weltgeschichte teilt. Mit dieser Gemütsverfassung läuft man als »denkendes Schilfrohr« (Pascal) durch die Gegend, das jederzeit von einer kräftigen Brise geknickt oder fortgeweht werden kann. Remarque etwa hatte um 1950 keine andere Gemütsverfassung. Allerdings sah er nie von den erbärmlichen politischen Verhältnissen ab, in denen sich seine Figuren über Wasser oder gar in Ehren zu halten hatten. Möglicherweise hat Pinter diesen nicht vom Werk abgekoppelten Blick erst 2005 nachgeholt, als er, schon schwerkrank, den Literaturnobelpreis erhielt – und mit einer ausgesprochen mutigen Rede quittierte.* Darin nimmt sich Pinter hauptsächlich des weltweiten Treibens des Weltpolizisten USA an. Er läßt es nicht an Beispielen fehlen, von denen viele wenig später auch in Tim Weiners CIA-Geschichte zu lesen waren. Trotzdem erhob sich ein Sturm der Entrüstung über primitiven Antiamerikanis-mus, der so schnell nicht verebbte. Bei aller Prominenz, diesmal hatte sich Pinter doch zuviel herausgenommen. »Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever.« Das war Gotteslästerung. Und wer es heute Außenministerin Baerbock zuriefe, würde im Handumdrehen aus dem Saal entfernt und um seine Personalien gebeten.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, März 2024
* https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2005/pinter/25626-harold-pinter-nobelvorlesung/



Ein Kämpfer wie Allen L. Pope (1928–2020) hätte Baerbock jede Wette gefallen. Aber er kommt im Brockhaus nicht vor. Allmählich beschleicht mich ohnehin der Verdacht, diesem Universallexikon lägen positive Figuren und Verhältnisse ungleich mehr am Herzen als negative. Damit unterstreicht es den Rüffel, den mir einmal eine Mitkommunardin wegen meiner Schwarzseherei erteilte. Das Leben sei doch auch schön! schimpfte sie. Eben diesem ästhetischen Eindruck von der Welt möchte auch das Universallexikon dienen.
~~~ Vor Pope brauche ich wenigstens keine Angst mehr zu haben, ist er doch unlängst endlich, mit 91 Jahren, verstorben. »Es macht mir Spaß, Kommunisten zu killen«, habe er dem Buchautor* noch 2005 versichert. »Ich habe gern Kommunisten gekillt, egal, wie ich sie kriegen konnte.« Pope war US-Kampfpilot. Weiner schildert vor allem einen Einsatz bei einem letztlich mißglückten Versuch der CIA, das Regime des indonesischen, zu chinafreundlichen Präsidenten Sukarno hinwegzufegen. Das war 1958. Man tarnte die Flieger der CIA als einheimische Rebellentruppen, zerbombte einige Landstriche und ließ einige Hundert Zivilisten über die Klinge springen. Dummerweise geriet Pope aber am Morgen des 18. Mai unweit der Hafenstadt Ambon ins Fadenkreuz der indonesischen Flugabwehr. Seine letzten Bomben hätten gerade ein mit mehr als 1.000 Leuten besetztes indonesisches Truppentransportschiff um lediglich knapp 15 Meter verfehlt. Dann wurde er abgeschossen, als verletzter Fallschirmspringer verhaftet und um seine nordamerikanischen Papiere gebeten. Er hatte sie reichlich bei sich. Er bekam ein Todesurteil.
~~~ Wie die englische Wikipedia bestätigt, hatte sich der junge Killer Pope bereits im Koreakrieg ausgezeichnet, bevor er sich der CIA anschloß. Später war er auch noch im Vietnamkrieg aktiv. 2005 zeichnete ihn die französische Regierung wegen dortiger Versorgungsflüge aus. Was den Fehlschlag in Indonesien angeht, hatte Sukarno den zum Tode verurteilten Pope nach gut vier Jahren Gefangenschaft begnadigt und auf persönliche Fürsprache des US-Justizministers Robert Kennedy hin in die Heimat entlassen. Pope später zu Weiner über den Fehlschlag: »Wir haben Tausende von Kommunisten umgelegt, von denen die Hälfte womöglich nicht einmal wusste, was Kommunismus bedeutete.« Dumm war er also nicht, nur verblendet. Bald darauf wechselten die USA das indonesische Pferd und setzten auf Sieger Sukarno. Der wurde jedoch 1967 von einem noch unerbittlicherem Schlächter »hinweggefegt«: Suharto. Dieser Staatspräsident sorgte dann für Hunderttausende von toten »Kommunisten«, die unter seinem Vorgänger kräftig nachgewachsenen waren. Auch dabei, diese Steigerung anzubahnen, war die CIA also ersichtlich behilflich gewesen. Im folgenden hielten die USA eben dem General Suharto die Stange.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024
* Tim Weiner, CIA-Geschichte, deutsche Ausgabe 2008, S. 211–13 + 735



Der 400-Meter-Hürdenläufer und Pilot Clifton Cushman (1938–1966) aus den USA war ein Opfer des Antiamerikanismus, das im Brockhaus fehlt. Diesen Kämpfer hat der Vietcong auf dem Gewissen. Nachdem Cushman 1960 in Rom eine olympische Silbermedaille errungen hatte, trat er im folgenden Jahr in die US-Luftwaffe ein. Es war ihm zu wenig, immer nur an 91,44 Zentimeter hohen Hürden zu straucheln. Am 25. September 1966 erhielt Major Cushman, einst Absolvent der University of Kansas in Lawrence, den Auftrag, eine im Norden Vietnams gelegene Eisenbahnbrücke zu bombardieren. Bei diesem Flug wurde sein Jäger abgeschossen. Der 28jährige Major galt zunächst nur als vermißt. Als seine Gattin Carolyn davon hörte, angeblich Musiklehrerin, soll sie laut englischer Wikipedia erklärt haben, Cushman laufe da unten gerade das größte Rennen seines Lebens. Es sei so groß, daß man allerdings das Zielband nicht sehe. Cushman sei in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Er habe zudem einen sehr tiefen Glauben an Gott. »Welche bessere Kombination könnte es geben?« Die mit seiner Gattin vielleicht. Einen Sohn, geboren 1965, hatte Cushman auch noch. Colin Cushman soll immerhin kein Militär, vielmehr Musiker geworden sein.
~~~ Dem epochalen Schwerverbrechen Vietnamkrieg fielen, neben rund 60.000 ausländischen Soldaten, mehrere Millionen Einheimische zum Opfer. In ähnlicher Höhe wird die Anzahl der Verwundeten, Verstümmelten, Verseuchten geschätzt. Zu den unmittelbaren Todesopfern zählte die 27jährige Ärztin Đặng Thùy Trâm, die es im Juni 1970 auf einem Urwaldpfad erwischte, wohl in einem Feuergefecht. Ein ungehorsamer US-Soldat, Fred Whitehurst mit Namen, rettete jedoch ein Tagebuch der Ärztin. Nachdem es ihm schließlich gelungen war, Trâms Angehörige zu finden und sich mit ihnen zu verständigen, wurde das Tagebuch (2005) veröffentlicht. Übersetzungen ins Englische und Deutsche folgten.* Es wäre interessant zu wissen, ob Cushmans Sohn darin geblättert hat.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024
* https://www.vietnam.ttu.edu/resources/tram_diary/

Siehe auch → Anarchismus, Sullivan (Boß) → Bourne (Kriegsgegner) → Brandt, Isang Yun (CIA) → Kosmologie, Fabricius (Mondlandung) → Faschismus, Ipsen (Nazi) → IndianerInnen → Krieg, Pearl Harbor + Sacco → Raumfahrt, Custer (General) → Widerstand (Maquis, Frankreich)




Utopien

Die italienische Anarchistin Marie-Louise Berneri (1918–49) geht 1936 nach London, wo sie als Redakteurin für die Zeitschrift War Commentary arbeitet und einige Bücher schreibt. Sie stirbt unerwartet mit 31 an einer Infektion im Wochenbett. Das ist natürlich haarsträubend; erinnert nebenbei an Eileen → O'Shaughnessy. Berneris Vater soll (1937) in Barcelona von Kommunisten erschossen worden sein, wo ja auch Orwell und dessen genannte Gattin mitmischten, erfreulicherweise in den anarchistischen Reihen. Später, in England, war die Tochter angeblich mit Orwell befreundet. Möglicherweise war sie auch Emma Goldman begegnet. Es hätte ihr nicht geschadet, wenn die Bekanntschaften mit solchen Schriftstellern etwas stärker auf sie abgefärbt hätten.
~~~ 1950 erschien, posthum, Berneris Studie Reise durch Utopia, mit der sie eine recht gründliche Besichtigung von utopischen Gesellschaftsentwürfen aller Epochen vornimmt, von Platons Staat bis zu Huxleys Schöner neuen Welt von 1932. Bei der Abfassung meiner eigenen Utopien (Konräteslust, Mollowina, Pingos) kannte ich Berneris Buch noch nicht; ich glaube jedoch, dadurch sind mir keine wesentlichen Erkenntnisse oder Anregungen entgangen. Der widerwärtige autoritäre Zug der meisten Utopien, die bislang auf uns kamen, war mir sowieso schon klar. Daneben stellt Berneris Werk nicht gerade einen literarischen Hochgenuß dar. Ich denke dabei am wenigsten an die bekannte schlampige Art, in der die deutsche Übersetzung (Renate Orywa) 1982 in einem bekannten Berliner »linken« Verlag zwischen zwei Buchdeckel gebracht worden ist, also an typografische und editorische Gesichtspunkte. Zum Beispiel bricht der Rücken bereits beim Hineinschnuppern; für den Satzspiegel bedarf es einer Lupe und eines Kompasses; die Fußnoten bieten einen Salat, bei dem man nie weiß, ob sie jetzt von Berneri oder dem sogenannten Herausgeber stammen, dessen Name pietätvoll verschwiegen wird. Berneris stilistisches Vermögen ist eher gering. Man glaubt, die übliche Diplomarbeit zu lesen, was mit Berneris akademischer Ausbildung zusammenhängen mag; sie studierte in Paris Psychologie. Aber gerade an der mangelt es. Zurecht weist Berneri auf die Gleichschaltungsfreude vieler Utopisten hin, doch sie selber ist nur anflugweise imstande, jenen »persönlichen Ausdruck« zu entwickeln, den Orwell wiederholt anmahnte. Dieser persönliche Zug allein, nicht zu verwechseln mit einer dadaistischen Masche, macht ein Buch wirklich fesselnd. Aber er ist den wenigsten Schriftstellern gegeben. Berneris Darstellungskunst stellt also leider die Regel dar, und so will ich nicht länger auf sie einhacken.
~~~ Ernest Callenbachs Werk Ökotopia von 1975 (auf deutsch im Rotbuch Verlag erschienen) konnte naturgemäß von Berneri noch nicht berücksichtigt werden. Ich dagegen kannte es durchaus, als ich 2009 Konräteslust in Angriff nahm. Mit diesem Vorhaben – eine zeitgenössische anarchistische Zwergrepublik in Romanform vorzustellen – trug ich mich seit mehreren Jahren und sammelte entsprechend Material. Diszipliniert, wie ich bin, quälte ich mich also auch durch Callenbachs schmalen angeblichen Roman hindurch. Der Berkeley-Lektor und Dozent für Filmfragen siedelte seine im Jahr 1999 spielende Handlung im Westen der USA an. Zwar legt der abtrünnige Freistaat Ökotopia mit der Hauptstadt San Francisco Wert auf Dezentralisierung, doch scheint er eine ziemlich gewöhnliche Regierung zu haben. Die Präsidentin an der Spitze gibt die starke Frau. Einmal zeigt sie sich gar bereit, gewisse außenpolitische Maßnahmen »zu verheimlichen« – nicht unpassend, denn Ökotopia wird ein ausgezeichnet arbeitender Geheimdienst nachgesagt. Das hätte einer anarchistischen Zwergrepublik gerade noch gefehlt.
~~~ Auch Recht und Geld spielen bei Callenbach die übliche Rolle. Der Freistaat garantiert ein geringes Grundeinkommen, doch fast alle ÖkotopianerInnen sind offenbar darauf erpicht, es durch Lohnarbeit beträchtlich aufzustocken. Recht befremdlich die ritualisierten Kriegsspiele unter Lebens- oder Arbeitsgemeinschaften, die für Aggressionsabfuhr sorgen sollen. Sie fordern durchschnittlich 50 Tote im Jahr. Gegen äußere Feinde hat Ökotopia Streitkräfte; es sieht oder sah sich ja vor allem von Washington bedroht. Einen guten Eindruck habe ich von den selbstorganisierten und lebensnahen Schulen gewonnen. Interessant auch noch die genormten Wohnröhren (mit ovalem Querschnitt, aber waagrechtem Fußboden), die beliebig kombiniert werden können. Hauptsiedlungsform sind Kleinstädte um 10.000 EinwohnerInnen. Für mein Empfinden schon viel zu groß.
~~~ Der Erzähler, ein US-Reporter und -Sonderbot-schafter, ist mir unsympathisch; zu eitel. Er läßt sich bekehren und bleibt in Ökotopia. Aber vor allem ist das Buch schlecht geschrieben. Es hat wenig Anschaulichkeit und gar keine Atmosphäre. Entsprechend unglaubwürdig und konstruiert wirkt dieses Ökotopia. Als Lektor hätte ich Callenbach zu einem Posten als Wohnröhren-Prüfer beim TÜV geraten.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


Zum Schuh (über zwei Seiten) erklärt uns Brockhaus, es habe ihn bereits im Altertum und Mittelalter gegeben. Dann räumt er freilich beiläufig ein, der Schuh hätte vornehmlich die Füße weltlicher und geistlicher Fürsten und der »Oberschichten« bekleidet. Und das ist natürlich der springende Punkt. So wie die Füchse und Gänse nie Schuhe und schon gar keine aberwitzigen »Schnabelschuhe« benötigten, kamen auch die Bauern und Handwerker ohne oder mit einfachstem Schuhwerk aus, von den Dschungel- und Präriebewohnern Amerikas oder Australiens ganz zu schweigen. Immerhin verdeutlicht der Schuh schlagend, was für ein mitreißender Unfug der sogenannte Fortschritt ist. Selbstverständlich kann ich weder auf heißem Asphalt noch auf müll- und scherbenübersäten Parkwiesen unbeschadet barfuß gehen. Ich kann aber auf moderne Straßen und Parkanlagen verzichten, falls ich zufällig im Rat einer Freien Republik für diesen Bereich zuständig bin. Im preußischen oder bundesdeutschen Kabinett kann ich es allerdings nicht. Bin ich Gesundheitsminister, werde ich für astreine modische Bio-Sicherheitsschuhe werben, denn mit deren HerstellerInnen bin ich bestens schuhverbandelt.
~~~ Wenn ich mich recht erinnere, habe ich die Frage des Schuhwerks bei meiner Besichtigung der Freien Inselrepublik Pingos (Ägäis um 1965) mit keinem Blick gestreift. Ich nehme an, man hatte vorwiegend Sandalen, sofern man nicht gleich barfuß ging. Die wenigen, so gut wie nie von Autos behelligten Straßen im Hafenstädtchen Muro und den rund 10 Dörfern wurden von den GO‘s (Grundorganisationen) regelmäßig eigenhändig gefegt. Niemand ließ achtlos Müll fallen, weil er den auch wieder hätte aufheben müssen. Das Hauptordnungsmittel in solchen Republiken ist die gegenseitige Erziehung. Polizei ist unbekannt. Faeser würde vielleicht von gegenseitiger Kontrolle sprechen – aber das täte sie nur, weil sie sich persönlich nie kontrollieren läßt. Schließlich ist sie eine bedeutende Ministerin = Machthaberin, und sollte es noch Blätter geben, die querschießen, schickt sie ihnen ihre uniformierten Monster ins Haus.
~~~ Jene gegenseitige Erziehung findet bereits unter den Kindern der Insel statt. Sie benötigen keine Befehle von Erwachsenen. Es gibt sicherlich manche Meinungsverschiedenheiten, aber weder Feindseligkeiten noch Strafen. Wem es in der Republik nicht gefällt, der kann gern die Fähre nach Nokto (Griechenland) nehmen; er bekommt sogar ein Handgeld. Die Flut der Probezeitanträge, die im Rathaus Muro und dann in den GO-Büros eingehen, sorgt leicht für Ersatz. Wird schließlich der eine oder andere Ausländer angenommen, ist man stets gespannt, was er nun an Schuhen mitbringt. Im Ostküstendorf Löla hat eine in einem verwaisten Schweinestall ihrer GO inzwischen ein Schuhmuseum aufgemacht. Es kommen bereits Kinder aus Muro, die sich da schieflachen. Jetzt wartet die Museumschefin fiebrig auf Probezeitanträge von Damen Marke Imelda Marcos. Schlagen Sie spaßeshalber mal nach.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 34, September 2024

Siehe auch → Kommunen → Kreis, Rundhaus → Spanienkrieg, Iberien (O. M. Graf) → Zwergrepubliken → Band 4 Mollowina (komplett)




Verbilderung

Diverse Birnen --- Bei der Zeitschrift Ossietzky geht mir manches gegen den Strich – aber eine äußerst seltene Wohltat gewährt uns das ziegelrot eingeschlagene Heftchen: es verzichtet im stets 36 Seiten starken Innenteil vollständig auf Abbildungen jeglicher Art. Somit wird man dort auch nicht von den Briefmarken großen oder Bildschirm füllenden Fotos belästigt, die den Autor oder die Autorin des jeweiligen Beitrags vorstellen. Ich empfinde die unaufhaltsam zunehmende Verbilderung der Welt schon seit vielen Jahren grundsätzlich als Greuel. Seitdem ich allerdings hier und dort selber »publiziere«, stoßen mir diese meist »Autorenporträts« genannten Paß- oder Ganzkörperfotos besonders übel auf. Ich bilde mir nämlich bis zur Stunde ein: was ich zu sagen habe, kann ich hinreichend in Schrift stellen. Ich benötigte dazu keine fotografische Aussagekraft. Sie lenkt im glimpflichsten Falle ab; häufig jedoch richtet sie zusätzlich jede Menge Unheil an.
~~~ Freilich kann man das Ärgernis gleich auf die Fotos ausweiten, die nicht den Autor, vielmehr den Gegenstand eines Artikels zeigen. Selbstverständlich schmücken sie auch Bücher. Warum genügt es eigentlich nicht, wenn mir soundsoviele Biografien über den Maler und Schriftsteller Adalbert Stifter versichern oder zumindest andeuten, der Mann sei im Laufe seiner Karriere immer fetter, erfolgloser und enttäuschter geworden? Müssen uns Gemälde oder Fotos auch noch seine Gedrungenheit zeigen? Tragen solche Abbildungen auch nur einen Deut zu der aufgeschriebenen Diagnose bei, der Mann sei ein übermütiger Langweiler gewesen und an soundsovielen hohen Zielen ziemlich kläglich gescheitert?
~~~ Nie und nimmer. Und Ähnliches gilt selbstverständ-lich für die Autoren von Artikeln oder Manifesten. Neuerdings geht Sahra Wagenknecht mit einem Manifest gegen die verheerende Kriegstreiberei hausieren. Das kann man doof oder goldrichtig finden. Ist es aber unerläßlich, ihre flammenden Worte (und die Berichterstattung darüber) mit ihrem bekannt prinzessinnenhaften Antlitz zu zieren? Das haben wir doch schon 50.000 mal gesehen. Ja, eben deshalb! Das Foto wirkt als Signal. Es hat den berüchtigten Wiedererkennungswert. Wer die Prinzessin haßt, liest ihr Manifest gar nicht erst; ein anderer verschlingt es geradezu, weil er die Prinzessin schon immer verehrt.
~~~ Man muß also genauer, allgemeiner und weittragender feststellen: das Verbildern und insbesondere Personalisieren von Texten, Politik, Öffentlichem Wirken überhaupt lenkt vor allem von der Erfordernis ab, sich gedanklich mit dem auseinanderzusetzen, was da jeweils vertreten wird. Eben dadurch richtet es viel Unheil an. Es macht die Welt dümmer, knechtischer und ärmer, obwohl doch täglich wahre Fluten von Bildern auf uns einstürzen. Heutzutage ist gedankliche Mitarbeit beim Lesen überflüssig, weil alles wunderbar visualisiert ist. Zehntausende von typografischen oder kommunikations-technischen Kunstgriffen entheben uns der Mühe, die Seele eines Textes bloßzulegen beziehungsweise unsere ganz eigene Leseart von ihm zu finden. Denn die IT- und Werbefritzen wissen viel besser als wir selber, was für uns gut ist. Sogar der Webmaster von Rubikon/Manova weiß es, rückt er doch in den meisten Beiträgen alle naselang ein paar Sätze fettgedruckt ein. Damit leuchtet jedem ein, was hier das Wichtige ist. In Zukunft wird es uns genügen, nur noch die paar eingerückten fetten Stellen zur Kenntnis zu nehmen. Das spart viel Zeit. Ähnlich funktionieren die inzwischen allgegenwärtigen Kurzplakate auf den Startseiten der Portale oder Magazine, »teaser« genannt. Wer diese ungemein griffig, schlagwortartig, phrasenhaft formulierten »Anreißer« in 20 Sekunden überflogen hat, weiß Bescheid und kann das Portal oder Magazin wieder wegdrücken. Aber es wird noch besser kommen. Schon heute setzt man die »Anreißer« oder auch »Blickfänge« zunehmend neben oder auf Fotos, die der Peinlichkeit und der Gleichgeschaltetheit der anreißenden Textzeilen selten nachstehen. Man wird die Textzeilen also demnächst einfach weglassen. Damit können unsere Blicke restlos von jeder Gedankenschwere genesen.
~~~ Ob Videos und alle anderen Filme, Fernsehen eingeschlossen, noch schlimmer sind als Fotos, wage ich im Augenblick nicht zu entscheiden. Auf meinem Planeten Pöhsnick werden sie todsicher verschmäht. »Literaturverfilmungen« sind dort besonders geächtet. Neulich hat irgendein Dorfrat sogar eine harmlose »Dichterlesung« abgelehnt. Ein gewisser Friedrich Hölderlin wollte ein paar eigene Gedichte vortragen. »Aber Hölder, mein Lieber«, sagte die Dorfschiedsrätin entsetzt, »werden deine Werke denn davon besser, daß wir deine oder meine Visage zeigen?« Ja, wenn der Dichter blendend aussieht oder die Dame, die den Autor ablichtet, Isolde Ohlbaum heißt, unbedingt. Im übrigen können die Gedichte natürlich nur schlechter werden. Sie erfahren Ablenkung, Einengung, Verfälschung, je nach dem. Zum Beispiel liegt die Labsal der geschriebenen Worte »Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See« auch darin, daß sich jeder Leser eine etwas andere Birne und ein etwas anderes Ufer vorstellt. Die LeserInnen dürfen sich ihre eigenen Vorstellungen machen. Gewiß erfordert dies ihre Mitarbeit, wie ich bereits angedeutet habe. Und da Mühe im Zeitalter der Rolltreppen, elektronisch gesteuerten Türen und ungemein »bedienungsfreundlichen« Taschen-Computer verpönt ist, sind die Hersteller-, Veranstalter- und VerfilmerInnen so freundlich, uns ihr Bild zu diktieren. Augen auf genügt.

∞ Verfaßt 2023


Zum Thema Selbstporträt spricht Brockhaus unter ande-rem von der bekannten »Zunahme individualisierender Tendenzen« im Laufe des Mittelalters und der Neuzeit. Vielleicht hat er seinen Eintrag deshalb mit sechs Abbildungen garniert, die durchweg, ob als Gemälde oder Büste, im wesentlichen Gesichter zeigen. Man sieht nicht eine ganze Figur, geschweige denn, die Art, wie diese sich bewegt oder gibt. In dieser Beschränkung erblicke ich die befremdliche Überbewertung des Gesichts, die in postmodernen Pressefotos, Filmaufnahmen und Wahlplakaten gipfelt. Die Erklärung liegt auf der Hand. Gesichter sind am leichtesten zu erkennen und folglich wiederzuerkennen. Das Gesicht wird zum Ausweis der Marke, die es an den Mann und die Frau zu bringen gilt. Dabei geht es, wohlgemerkt, nicht um das Wesen der betreffenden Person, sondern eben um die betreffende Marke. Das Gesicht wird zur Signatur, um nicht zu sagen Maske. Das Wesen einer Person geht oft viel besser aus ihrer Bewegungsweise und ihrem ganzen Verhalten hervor. Aber diese Festellung läßt sich naturgemäß nicht in Windeseile treffen. Das Gesicht dagegen hat jeder in wenigen Sekunden erfaßt. Bei diesem Gesicht soll er sein Kreuz machen. Dieses Gesicht soll er verächtlich links liegen lassen. Toulouse-Lautrec muß zumindest einmal in seinem Leben auf einem anderen Dampfer gefahren sein, zeichnete er damals doch ein Selbstbildnis als Rückansicht. Man sieht das Gesicht des breit auf einem Schemel hockenden knorzigen Malers so gut wie überhaupt nicht. Eine leichte Schrägansicht deutet nur seinen dunklen Vollbart und seine allgemeine Finsternis an. Er ist jedoch nicht ohne Humor: er hat einen Sonnenhut auf und hält in seinen ausgebreiteten Armen ein Stück Leinwand oder ein Stück Papier – schwer zu sagen, denn das Teil ist leer. Vielleicht handelte es sich um eine Pariser Tageszeitung. Aus der linken Faust ragt ihm auch noch ein Pinselstiel, eine Impfspritze oder ein Giftpfeil, ganz wie Sie wollen. Hoffentlich kommt nicht gleich Karl Lauterbach vorbei. Dieses Werk schnitt ich mir einmal aus einem Buch aus, das sonst nicht viel taugte. Seitdem hängt das seltene Selbstbildnis eingerahmt an meiner Zimmerwand.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 34, September 2024

Siehe auch → Fotografie → Musik, Trotz & Töne → Puppe → Schaulust und Abstumpfung → Theater




Vergeudung

13. Februar 5721. Bei Ausgrabungen am Thüringer Wald im ehemaligen Deutschland des Planeten Erde sind MarsianerInnen erneut auf ein merkwürdiges Phänomen gestoßen. Altmodische Wege, die dort meist Feldwege hießen, zeigen zumindest streckenweise sogenannte Fliesen – nur sind diese durchweg zertrümmert, bestehen also im Grunde lediglich aus Scherben. Bis dahin wußten unsere Fachleute gar nicht, daß man die deutschen Feldwege gefliest hatte. Ein solcher Straßenbelag mutet ja auch wirklich genauso seltsam wie unbeholfen an. Offensichtlich wurden damals Fliesen verlegt, die nur geringe Belastungen vertrugen, sodaß sie bei der ersten Begegnung mit Pferdehufen oder Offroaderrädern brachen. Aber dann fand man den Bruch vielleicht ganz schick, so wie manche Mosaike, und ließ die Fliesen kurzerhand liegen …
~~~ Ob Fliesen schon zu Brockhaus‘ Zeiten als »Bauschutt« galten, der anständig (mit Gebühren belegt) zu entsorgen sei, möchte ich gar nicht untersuchen. Ich will auch nicht abstreiten, daß der Mensch seit der Antike schon viele reizende Boden- oder Wandfliesen hervorgebracht hat. Nimmt man gleich noch andere Wandbeläge hinzu, wie etwa Papiertapeten, Seidenstoffe, Teppiche oder Bahnen aus Krokodilleder, könnte man aus dem Staunen kaum noch herauskommen. Unter volkswirtschaftlichen und moralischen Gesichtspunkten betrachtet, kommt einen allerdings, wieder einmal, das Grausen an. Jeder Zeitungsleser weiß es: während er in seinem Bad drei wunderschöne Jugendstilkacheln verklebt hat, sind auf diesem Planeten bereits die nächsten paar Tausend Kinder und Großmütter verhungert. Wer den Gesamtwert der bisherigen menschlichen Boden- und Wandbelagsproduktion in Dollar angeben wollte, müßte mit riesigen Zahlen operieren, die eigentlich schon bei der Berechnung des US-Militärbudgets (2022: 877 Milliarden) an ihre Grenzen stoßen.
~~~ Der kürzlich von mir erwähnte Dachs aus dem Jugendbuch Der Wind in den Weiden vertritt folgenden Standpunkt. »Wollte ich meine Höhlenwände mit so einem Kunstmüll zukleistern, wäre ich ja schon blöd, weil ich mich damit des würzigen Duftes von Kiefernwurzeln, Trüffeln und dergleichen mehr beraubte. Nein, mein geblümter Schlafrock genügt mir. Will ich ihn unbedingt in Ruhe und mit Wohlgefallen mustern, spanne ich ihn eben zwischen ein paar Pflöcken an einer Höhlenwand aus. Das mache ich mitunter auch, sofern sich einmal Besuch angesagt hat.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 12, März 2024


Nach einigen Fotos im Internet glänzte der Münchener Komponist Ludwig Thuille (1861–1907) durch einen feschen Zwirbelbart mit aufwärts gebogenen, messerscharfen Spitzen. Brockhaus hält ihn außerdem für »einen der bedeutensten Kompositionslehrer seiner Zeit«. Der Spätromantiker habe sogar eine viel benutzte Harmonielehre verfaßt. Eben – damit kam er doch reichlich spät, wenn Sie mich fragen. Denn wieviele durchaus hinreichende, gedruckte Harmonielehren mögen damals weltweit bereits in Umlauf gewesen sein? Sicherlich viele tausend. Sie alle mußten mühsam verfaßt, gedruckt und an den Mann gebracht werden. Andererseits kam Thuilles Tod verdammt früh, sodaß er unser Mitgefühl verdient. Laut Wikipedia erlag er mit 45 »plötzlichem Herzversagen«. Die Mammut-Online-Enzyklopädie rüffelt mich auch gleich: Thuilles Harmonielehre sei durchaus »wichtig« gewesen, habe sie doch »die ältere Art der Akkordbezeichnung mit den neuen Ideen der Funktionstheorie von Hugo Riemann« verbunden. Deshalb werden dann Thuilles Kinder, zwei Stück, auch wieder je eine Harmonielehre verfaßt haben, die zwar nicht die großen Terzen umstieß, aber den Text mit kleinen, farbig gedruckten Komponistenporträts ausschmückte, etwa des Vaters engen Freund Richard Strauss zeigend. Strauss, nur geringfügig jünger als Thuille, durfte sogar den deutschen Faschismus noch erleben.
~~~ Ich habe erst kürzlich das verbreitete Phänomen der → Streuung behandelt, und genau sie ist es, die oft den Blick auf Zusammenhänge und im Grunde irrsinnige Gesetzmäßigkeiten verhindert. Da können zuweilen Ballungen nützlich sein. Der wahrscheinlich nur Fachleuten bekannte Weimarer Organist und Komponist Johann Gottlob Töpfer (1791–1870) habe auch ein Lehrbuch der Orgelbaukunst vorgelegt, teilt Brockhaus mit. Dadurch habe er sich »zum führenden Theoretiker der romantischen Orgelbaukunst« aufgeschwungen. Von wievielen vorangegangen Lehrbüchern der Orgelbaukunst er dabei gezehrt oder abgeschrieben habe, verrät Brockhaus nicht.
~~~ Ich greife zuletzt den Vorarlberger Baumeister Peter Thumb (1681–1766) heraus. Neben der berühmten Wallfahrtskirche in Birnau am Bodensee verdanken wir ihm die Bibliothek des Sankt Gallener Benediktinerstifts. Sie ist im Brockhaus sogar abgebildet.* In diesem erlesen gearbeiteten, sündhaft kostspieligen Gemach zeigen nun also diverse Universallexika, Fachbücher und Erbaungsschriften aus soundsovielen Jahrhunderten ihre schweins- oder rindsledernen Rücken. Während sie dort stehen und während sie alle einst verfaßt und gebunden worden sind, setzte die Menschheit ungerührt Kinder in die Welt und ließ sie wahlweise verhungern oder von Feinden des Vaterlands totschießen – Millionen Kinder und Millionen Feinde. Oder war es eher umgekehrt? Daß die Gelehrten von diesen heillosen Zuständen unbeirrt an ihrem Glauben festhielten, auch sie müßten jetzt noch unbedingt ein wichtiges Werk auf den Markt beziehungsweise aus dem Fenster werfen?

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 37, September 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Stiftsbibliothek_St._Gallen#/media/Datei:Stiftsbibliothek_Saal_2023_1.jpg

Siehe auch → Bürokratie, Coster S. → Horten oder Abstoßen → Kosmologie, Metamorphose → Literaturbetrieb, Cotarelo → Spezialisierung → Technik, Matzeliger




Verkehrswesen → Automobilisierung → Luftfahrt → Rana Plaza (Wood)



Versprechungen

Täglich Wunder --- Ein von mir geschätzter randständiger Autor kündigt sein nächstes Buch in einem Artikel beiläufig für Ende Oktober an. Pustekuchen. Mitte November bestelle und bezahle ich es schon einmal. Am Monatsende wage ich den Verlag um die Auskunft zu bitten, ob das Buch bereits gedruckt oder wenigstens geschrieben sei. Nach einigen Tagen kommt immerhin eine Antwort: das Buch sei fertiggestellt, man wisse aber noch nicht, wann es gedruckt werden könne. Das Buch kommt im Neuen Jahr.
~~~ Nur eine ärgerliche Kleinigkeit? Das schon. Aber wenn sich die ärgerlichen Kleinigkeiten häufen? Dann wachsen sie Jahr für Jahr in den blauen Himmel, den einem die liebe Mitwelt so gern in Aussicht stellt. Ich fürchte allerdings, die meisten Leute nehmen diese Pyramiden aus nicht eingehaltenen Versprechungen und den entsprechenden Vertröstungen wegen ihrer Üblichkeit gar nicht wahr. Der randständige Autor verspricht sein nächstes Buch, weil er bereits seit 3 1/2 Jahren keines mehr vorgelegt hat. Die Welt könnte an seiner Produktivität oder an seiner Lebendigkeit zweifeln. Vati verspricht für Sonntag Drachensteigen, um endlich seine Ruhe zu haben. Am Samstag fährt er zu einer Konferenz. Die Werbung verspricht Tag für Tag Wunderdinge; der Politiker verspricht die gleitende Jugendrente, weil er sowieso schon mit einem Bein in der Kiste steht. Niemand wird die ZuvielversprecherInnen StraftäterInnen schimpfen oder sie gar zur Rechenschaft ziehen. Denn was sie tun, gilt als urmenschlich. Jeder ist schließlich darauf erpicht, sich selbst in möglichst gutes Licht zu rücken, den anderen dafür über den Tisch zu ziehen. Jeder fühlt gewaltige Kräfte in sich schlummern, die nur noch nicht alle geweckt worden sind. Wenn die grüne Außenministerin einer ungefähr Gartenteich großen karibischen Insel verspricht, sie werde »Rußland ruinieren«, darf man sicher sein, die Frau glaubt daran.
~~~ Scheinen sich angeblich linke / alternative / systemkritische Leute oder Einrichtungen besonders gern in fahrlässiger Übertreibung oder Ignoranz zu üben, hängt es vielleicht mit ihrer Freude darüber zusammen, daß wir »bürgerliche« Tugenden wie Zuverlässigkeit, Bescheidenheit, Höflichkeit in der Postmoderne endlich über Bord geworfen haben. Das war ja doch nur Sand im Geschäftsgetriebe. Jetzt ruht er, mit dem Plastik, auf dem Meeresgrund.
~~~ Ich will Ihnen trotzdem zu der altmodischen Faustregel raten: Versprechen Sie stets etwas weniger, als sie voraussichtlich einhalten können. Wird es dann sogar mehr, hat der Betreffende die Überraschungsfreude noch dazu.

∞ Verfaßt 2023



Vertretung

Marx, Caroline (1824–47), Prominentenschwester. Es geht hier nicht um den weltberühmten, meist vollbärtigen Denker Karl Marx, Sohn eines Trierer Justizrates. Marx junior wurde vergleichsweise alt. Mit seiner Ehefrau Jenny hatte er sieben Kinder, von denen allerdings fünf früh starben, vorwiegend sogar als Kleinkinder. Das war damals leider nicht ungewöhnlich. Aber für dieses Werk ist es zuviel. Ich will mich deshalb in der namentlichen Nennung auf die frühverstorbenen Geschwister des Denkers beschränken. Das sind immer noch genug, nämlich gleichfalls fünf. Im ganzen hatte Frau Justizrat Henriette neun Kinder geboren.
~~~ Caroline Marx wurde mit 23 von der Tuberkulose weggerafft. Sie war immer schwächer und müder geworden. Über ihre Schulbildung sei nichts bekannt, heißt es in einem anscheinend gut belegten Wikipedia-Artikel über die Geschwister. Die gescheiterte deutsche Revolution von 1848 verpaßte sie um ein Jahr. Ihr Temperament? Ihre Sehnsüchte? Die Sekundärliteratur zum berühmten Bruder ist länger als die Mosel; kraulen Sie tapfer hindurch; vielleicht finden Sie ein Bröckchen.
~~~ Henriette Marx (1820–45) war nur geringfügig älter geworden, 24. Auch sie fiel der Schwindsucht zum Fraß. Trotz ihrer Erkrankung hatte sie im September 1844 einen künftigen Eisenbahndirektor geheiratet. Wenige Monate später war sie tot. Das ersparte ihr immerhin die fünf Schwangerschaften, die der Witwer dann der Nachfolgerin gemacht haben soll.
~~~ Mauritz David Marx (1815–19), der Älteste, wurde keine vier. Bei ihm ist noch nicht einmal die Todesursache bekannt.
~~~ Hermann Marx (1819–42) erlag, laut Kirchenbuch, mit knapp 23 der »Lungensucht«. Er hatte Kaufmann gelernt und war zeitweise sogar in Brüssel angestellt. Sein genaues Verhältnis zum Geld ist vermutlich unbekannt. Aber er hätte wohl kaum dicke Bücher über dieses Phänomen verfaßt.
~~~ Eduard 11 (1826–37), Gymnasiast in Trier, Schwindsucht.
~~~ Man sieht also, in der Familie Marx senior saß der berüchtigte Tuberkulose-Wurm. Sohn Karl wurde offensichtlich von ihm verschont – warum, dürfen Sie mich nicht fragen. Ein Spitzfinder wird Ihnen allerdings versichern: »Einer mußte doch den Marxismus erfinden! Das wußte der Wurm.« Die anderen Geschwister hatten eben das Los der Pechvögel gezogen. Nebenbei höre ich gerade, ein paar SchülerInnen meines Landes Thüringen hätten Glück. Das Familiengericht Weimar habe zwei Schulen der Goethestadt zahlreiche Corona-Maßnahmen, voran die Masken- und die Testpflicht, mit der Begründung untersagt, sie stellten eine erhebliche Gefährdung des Kindeswohls dar, ohne daß dafür ihr Nutzen erkennbar und belegt sei. Die Beweislast liege auf Seite der Regierenden. Die Aussagekraft der Tests wird in dem Urteil ausdrücklich bezweifelt. Freilich stoße es bei den Mainstreammedien, wenn nicht auf Desinteresse, auf Ablehnung, heißt es im Portal* des Altsozialdemokraten Albrecht Müller, der neuerdings revolutionäre Töne angeschlagen hat. Vermutlich werde das Urteil aber sowieso gekippt. Das Bildungsministerium des von mir überaus geliebten Landesvaters Bodo Ramelow habe bereits seine Entschlossenheit bekundet, das Urteil weitgehend zu ignorieren. Die warten jetzt schön die Kippung durch eine sogenannte Höhere Instanz ab. Spurt die aber auch nicht, wird uns Gottvater Ramelow einmal zeigen, wer den Schlüssel zum Geräteschuppen mit den Karrierehürden und den Zugang zu den Geldhähnen im Keller hat.
~~~ Man wird vielleicht seufzen: »Die haben den eben gewählt – was wollen Sie machen?« Ich will einmal nachdenken, erwidere ich. Gerade so wie Karl Marx, der studierte Jurist und Philosoph, allerdings über das Phänomen der Vertretung, das er möglicherweise nie behandelt hat. Er hat mit seinem Marxismus nur dafür gesorgt, daß sich viele Millionen von Kleinen Leuten nach ihm von Führern wie August Bebel oder Walter Ulbricht vertreten – und verarscht sahen.
~~~ Soweit ich sehe, wird die Reich- und Kragenweite des Systems der Vertretung von Laien oft unterschätzt. Das gilt selbst für »alternative« Laien. Fordert der Vegetarier, wer Fleisch wolle, müsse auch bereit sein, dessen Träger zu töten, etwa ein niedliches Kalb, verlangt er viel. Dann müßten wir neben dem Metzger auf die halbe Menschenwelt verzichten. Nur Tiere vertreten einander nie. Weder schickt das Kalb den behelmten Bullen noch der Igel Rennmeister Lampe vor. Das Vertreten eröffnet uns ungeheure Spielräume. Da der alte Sumerer im Tempel seine Beterstatuette wußte, konnte er sich wichtigen Markt- oder Waffengängen widmen, statt im Tempel auf den Knieen zu liegen. Opfert Abel ein Lamm oder Gott Jesus, brauchen wir uns nicht zu opfern. Fehlt einem Knaben das Zeug zum Till Eulenspiegel, kann er sich gegen Glasmurmeln oder Gummibärchen eine Art mittelalterlichen Lohnkämpen mieten, der seinen Hänslern tüchtig eins auf die Fresse gibt. Eben nach diesem Muster bedienen wir uns des Metzgers, der das Kalb für uns absticht. Schmierende Komödianten wie Peter Hartz bemühen Betriebsräte oder Rechtsanwälte, bevor sie vielleicht einen Mörder dingen. Alle Arbeitsteilungen, alle Ablösungen wie Geld, Symbole, Sprache sind Vertretungen, die unseren Verkehr erleichtern, unsere Spielräume vergrößern, unsere VolksvertreterInnen bereichern.
~~~ Die Nachteile liegen ja auf der Hand. Der Lohnkämpe erpreßt, der Abgeordnete betrügt mich. Vorgefundene Arbeitsteilung erstickt Begabung, verhindert Entdeckungen, vergrößert Abhängigkeit. Zunehmende Verästelung läßt uns immer häufiger straucheln; wir verfangen uns; wir fallen herein. Kurz und schlecht: Fortschritt bedeutet, Entfremdung und Entmündigung nehmen unaufhaltsam zu. Dagegen behalten die Füchse und Dachse ihre Nahrungssuche, Interessen, Perspektiven lieber in der eigenen Pfote.
~~~ Allerdings kennen sie keine Gerechtigkeit. Bei ihnen hat der Magere Pech und gerät unter die Räder. Sie sind dem Zufall unterworfen – den die Vertretung auszuhebeln versucht. Das gereicht ihr aber trotzdem nicht zur Rechtfertigung. Das System der Vertretung setzt immer schon das ungerechte System voraus; gerade so wie die Rechtfertiger des Geldes stets den Tausch voraussetzen. Dabei ließen sich Ausgleich und Solidarität auch in einem runden System gewährleisten, etwa einer 30köpfigen Kommune. Hier beruht alles auf Absprache und Teilhabe. Aber schon für ein Residenzstädtchen wie Weimar (das heute 65.000 EinwohnerInnen hat) sehe ich in dieser Hinsicht schwarz. Wahrscheinlich werden alle Weltverbesserungsprogramme an der Unmöglichkeit zerschellen, die Menschenwelt und ihre Einrichtungen wieder zu verkleinern, statt sie unbeirrbar aufzublähen. Es ist ja klar wie Kloßbrüh: Absprache, Teilhabe, Rechenschaftslegung bedürfen der Überschaubarkeit. Ist diese aufgrund schierer Größe und der interessegeleiteten Wühlarbeit mächtiger Nachbarn nicht mehr gegeben, schleicht sich bald die Verderbnis ins republikanische Gebilde ein.
~~~ Vor knapp 50 Jahren erschien (zunächst auf englisch) das Buch Small is Beautiful des Volkswirtschaftlers und Katholiken Ernst Friedrich Schumacher und löste sofort breite Erörterungen aus. Davon will heute keiner mehr etwas wissen. Offenbar haben selbst in allen systemkritischen Kreisen ganz überwiegend Duckmäuser oder Großmäuler das Sagen, die der Wahrheit ungern ins Auge sehen. Ihr Geschäft ist der Zweckoptimismus. Sie werden uns noch mit ihren basisdemokratischen Ammenmärchen und Durchhalteparolen in den Ohren liegen, wenn die Kanzlerin (Wagenknecht?) die 163. Pandemie-Welle verkündet hat oder in Karatschi Pest und Pocken wieder ausgebrochen sind.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Tobias Riegel, »Gericht in Weimar verbietet Schulen Maskenzwang und Testpflicht«, NachDenkSeiten, 12. April 2021: https://www.nachdenkseiten.de/?p=71509




Verwandlung

Zumindest hat Gunnlöd einen hübschen Namen, das muß man ja zugeben. In der Edda sei sie, so Brockhaus, eine Tochter des Riesen Suttung, »Hüterin des Dichtertranks, den Odin durch eine List gewinnt: er dringt in Schlangengestalt bei Gunnlöd ein, nimmt den Trank zu sich und entweicht in Gestalt eines Adlers.«
~~~ Bravo! Wer hätte nicht auch schon von solchen günstigen Verwandlungen geträumt! Die PolitikerInnen übrigens nie. Sie verstellen sich nur, wenn sie vorgeben, uns im hohen Amte vertreten zu wollen und notfalls noch nebenbei, wie Baerbock, der deutschen Volkswirtschaft zuliebe Rußland auszubluten. Aber wer weiß, ob das bei denen nicht auch schon so artgemäß ist wie etwa im Reich unserer Haustiere, wo die Katze einen Buckel oder unsere Gans ihren Hals zur Lanze macht. Hier liegen weder Verstellung noch Verwandlung vor. Diese Geschöpfe können nicht anders: sie spielen lediglich ihre artgemäßen Trümpfe aus. Bei Eseln und Tigern scheint die Sache mitunter gleichwohl anders zu liegen. In Canettis übergewichtiger Prosaarbeit Masse und Macht von 1960 sucht ein Tiger, der offenbar zum Vegetarismus bekehrt worden ist, die Getreidefelder verschiedener Bauern heim. Erst ein besonders mutiger Feldhüter wagt ihn mit Hilfe einer List anzugreifen. Er hüllt sich in einen grauen Mantel, sodaß er womöglich als wohlschmeckender Esel gelten und so den vegetarischen Tiger wieder auf den Pfad des richtigen Geschmacks führen kann. Doch der vermeintliche Tiger galoppiert erfreut wiehernd auf den Feldhüter zu, weil er sich eine Eselin erhofft. Dabei entgleitet ihm sein Tigerfell. Sein Besitzer hatte den Esel als Tiger verkleidet, um ihn auf Kosten seiner Nachbarn ungestört mästen zu können.
~~~ Wo diese ausgesprochen hochbeinigen Tiger heimisch waren, verrät uns Canetti nicht. Jedenfalls war die Verstellungskunst noch nicht perfekt. Wer sich heute ungestört mästen will, gibt sich einfach bei Rheinmetall, Pfizer oder Tesla als ArbeitnehmervertreterIn oder Gesundheitsapostel aus. Nur die braunen Esel dürfen das Volk, statt es zu repräsentieren, treten. Während Canetti das Phänomen der Vertretung allenfalls streift, fesseln ihn Verwandlungen. Sind diese wenigstens »innovativ«?
~~~ Zuweilen beschleicht mich nämlich der Verdacht, wer ein unverwechselbares Lebenswerk zu krönen habe, müsse für alten Kaffee irgendeine neue Worthaube finden. Durfte ich mein Geld, statt in der Schneiderei, in einem Nähstudio lassen, fühle ich mich in dem geänderten Kleid schon gleich um 10 Jahre verjüngt. Friedrich Georg Jünger faßte Darstellung und Beschwörung unter »Ahmung« zusammen. Canettis »Verwandlung« ist damit verwandt. Wir fühlen uns ein, schlüpfen in Rollen, spielen, verschmelzen Lebensphasen oder -arten, wachsen. Wir bereichern uns selbstbestimmt und unvermittelt. Verwandlung ist Wachstum ohne Delegierung und ohne Ausbeutung.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 16, April 2024



Voelkner, Benno (1900–74), DDR-Schriftsteller. Das schlechte Los deutscher LandarbeiterInnen zu Kaisers und Krupps Zeiten wird bis heute viel zu stiefmütterlich behandelt. Gegen dieses Versäumnis schrieb der ostdeutsche gelernte Klempner Benno Voelkner 1955/60 mit seinem umfangreichen Roman Die Leute von Karvenbruch an. Wahrscheinlich spielt das Werk auf einem mecklenburgischen Gutshof. Voelkner kannte sich aus. Dem Faschismus entronnen, verfocht er nach dem Zweiten Weltkrieg die Bodenreform im Städtchen Krakow am See, wo er Bürgermeister war. Zuletzt stieg er in die Schweriner SED-Bezirksleitung auf. Er starb 1974 mit 73.
~~~ Erfreulicherweise mutet uns sein Roman kaum Holprigkeiten oder Längen und nur wenige gleißende Spruchbänder zu. Er bleibt fast immer spannend. Zuletzt marschiert die Rote Armee auf dem Herrensitz ein. Als Schlußbild müssen die abgerissenen Gestalten der überlebenden niederen Gutsleute allerdings im Morgenrot stehen. Ansonsten malt Voelkner seine Gestalten für meinen Geschmack leider durchweg zu blaß, sodaß sie oft schlecht zu unterscheiden sind. Diesen Mangel teilt er freilich mit zahlreichen westlichen Erzählern, die zurecht nicht Tschechow heißen. Überdies hätte ich dem elternlosen Knaben Jan, mit dem Voelkner sein Werk eröffnet, mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Einst von Schreckbild Ulmke stumm und bucklig geschlagen, außerdem bestohlen, darf Jan, inzwischen Pferdeknecht, erst am Ende des Romans seine Stimme wiederfinden. Voelkners Hauptaugenmerk gilt dem Landarbeiter und Kutscher Ulrich Hölding, der einiges an Folter und Gefangenschaft durchzustehen hat. Er gibt ihn aber keineswegs als kämpferisches KPD-Plakat. Hölding hat immer mal wieder über seine Neigung zu Wankel- und Schwermut zu stolpern. Man wundert sich fast, daß dieser Buchheld bei Alfred Kurella (in Leipzig und Ostberlin) durchging.
~~~ Ähnlich uneindeutig gibt Voelkner Landarbeitertochter Vroni, die sich der Gunst des Gutsherrn erfreut und bald ins Schloß umzieht, nie jedoch zum charakterlichen Wrack à la Ulmke herabsinkt. Die Frauen kommen bei Voelkner nicht zu kurz. Eine üble Falle stellen Ulmke und SS-Scherge Blugge der Witwe Lisel Hulk. Sie hatte einen jungen todkranken russischen Gefangenen in ihrer Hütte verbotenerweise wiederholt beköstigt. Nun führen Ulmke und Blugge die blutige, wahrheitswidrige Posse auf, Lisel mit Pawel im Bett erwischt zu haben. Pawel wird gleich aufgeknüpft; Lisel wandert ins KZ.
~~~ Die Mißhandlungen und Qualen ziehen sich so unerbittlich durch diese um 1900 einsetzende Geschichte wie das haarsträubende Unrecht. Ich gebe zu, im Laufe der knapp 600 Seiten wurde es mir fast zuviel. Dazu gehört, daß der eine Gutsknecht immer mal wieder dem anderen Gutsknecht vorwirft, sich nicht genug zur Wehr zu setzen. Nimmt dieser jedoch den Vorwurf an, wird er früher oder später doppelt und dreifach zusammengeschlagen und gedemütigt. Vermutlich führt Voelkner diese Härten auch deshalb vor, um seine LeserInnen gleichfalls zum Widerstand aufzustacheln. Aber allmählich kommt mir der unnachsichtige Ruf zum Widerstand wie ein erpresserischer Zug vor, der sich höchst unangenehm durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung und insbesondere des Kommunismus zieht. Dabei wurden nachweislich viele KämpferInnen schlicht verheizt. Einige Funktionäre gaben gewiß ein Beispiel, weshalb sie als Märtyrer in die Parteigeschichte eingingen. Andere wußten sich immer so geschickt aus der Affäre und der Front zu ziehen wie etwa Ulmke – ich sagte nicht: Ulbricht.
~~~ Am vergleichsweise knappen Vorwort meiner Ausgabe (Ostberlin 1960, Aufbau-Verlag) hatten Kurella und Ulbricht sicherlich ihre Freude. Nach der »Bodenreform« (zunächst Enteignung der Junker und Verteilung ihres Landes) winkt der Verfasser G. Sch. mit den riesigen Vorteilen der »sozialistischen Großflächenproduktion«, also der Mammutisierung, von meiner Warte aus. Schon die Zwangskollektivierungen in der Sowjetunion der Vorkriegszeit waren ja eine Dampfwalze gewesen, die ungeheuerliche Opfer an Menschen, Gesundheit, Entfaltungsmöglichkeiten und Nahrung forderte. Dazu empfehle ich die Erinnerungen von Victor Serge. Heute schweben die bestens gefederten, haushohen Fendt-Schlepper über die endlosen ostdeutschen ehemaligen LPG-Äcker und fühlen sich sauwohl, weil alles schon so gut angerichtet war.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022



Vögel

In jenen Sommerferien, die mich, per Fahrrad, am erwähnten Boxheimerhof vorbeiführten, traf ich auch den seltenen Brachvogel. Das heißt, gesehen habe ich ihn nie, obwohl das Hessische Ried eher flach ist: ein mit Kieferngehölzen und Pappelhainen gespicktes Brett, das für Heuwiesen und endlose Spargelmieten gut ist. Der schmale Fluß Weschnitz, kaum kniehoch, ist zum Teil eingedeicht. Auf den Deichen oft Schafe, die sich vom dornigen, roa blühenden Hauhechel bereitwillig ritzen lassen. Der Brachvogel soll eine große Schnepfe mit ungewöhnlich langem, gebogenem Schnabel sein. Das Außerordentliche ist aber seine Stimme. Sie ließ mich wiederholt im Dreieck Bensheim–Lorsch–Heppenheim aufhorchen. In bayerischen Mooren wird der Kurzstreckenzieher »Märzflöte« genannt – nicht zu unrecht. Er hat mehrere Rufe beziehungsweise Pfiffe. Seinen Brutgesang jedoch gibt er im Flug als gereihten klangvollen, anschwellenden Flötenton von sich, der beim Niedergehen meist getrillert endet. Man glaubt zunächst, er pumpe dieses Lied aus dem Ried. Dann verschwebt es über den Deichen. Im ganzen ruft oder singt der in Grautönen gescheckte Vogel, der als stark gefährdet gilt, ziemlich laut, wohl seiner Krähengröße entsprechend. Gleichwohl schwingt stets Wehmut mit.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024

Siehe auch → Natur, Pražák




Vorlieben/Besessenheiten

Den Selbstmord des französischen Karikaturisten Jean Bosc erwähnt Brockhaus immerhin in Klammern. Der namhafte und vermutlich alles andere als bitterarme Künstler brachte sich vor gut 50 Jahren, am 3. Mai 1973, mit 48 um. Näheres von Boscs Beweggründen und seiner Vorgehensweise wissen (angeblich) weder das Universallexikon noch das Internet. Es gibt natürlich passende Aussprüche von ihm, die seine Wut über die Vereinnahmung und Verflachung aller Gesellschaftskritik bezeugen. Aber ich wäre auch nicht verblüfft, wenn ihn seine Familie angeödet oder ein Tumor gezwackt hätte. Einige Quellen sprechen von einer »chronischen Erschöpfung«, die Bosc seit seiner Soldatenzeit zugesetzt habe. Man darf spekulieren.
~~~ Täusche ich mich nicht, hatte sich der Künstler gern über die Absurditäten unseres Lebenswandels lustig gemacht, Militärparaden, Ehebünde und Knollennasen eingeschlossen. Seine Hauptleidenschaft, das Karikieren, nahm er offenbar nicht aus, denn er sagte einmal, sein Erfolg als Zeichner beruhe auf dem Umstand, gar nicht zeichnen zu können. Irgendwie scheint er seine »Masche« aber gefunden zu haben. Mag uns über den Weg laufen, was will, bemerkte Boscs Landsmann Alain wiederholt, wir bleiben immer der eigenartige Zeitgenosse, der ein Huhn in Fuchsfleisch verwandelt. Die Einflüsse können zufällig, abseitig und belanglos bis zur Lächerlichkeit sein; sofern sie uns aus oft unerfindlichen Gründen kitzeln, erheben wir sie auf das Niveau unserer angeblichen Persönlichkeit.
~~~ In meiner Stadtrandgegend stapfen einige o-beinige Zeitgenossen umher, die ihr Glück vor allem auf Pferderücken finden. Sie striegeln ihre Apfelschimmel inbrünstiger als ihre Ehegatten und können sich über einen verrenkten Huf ihres Lieblings schier das Herz brechen. Einen Billardstock, auch Queue genannt, nähmen sie noch nicht einmal geschenkt, um ihn als Querstange im Koppeltor oder wenigstens als Zaunlatte zu verwenden. Für den leidenschaftlichen Snookerspieler wiederum stellt sein gedrechselter Stock mit der Lederkuppe die Seele der Welt dar. Schmiegt er das Kinn an ihn, vergißt er seinen heute so genannten Lebenspartner, falls er einen hat. Andere liegen stundenlang im Röhricht auf der Lauer, um einen Fischadler oder den Großen Brachvogel ins Fernglas zu bekommen. Meine Freundin Marion kann über erstklassig gearbeiteten »Schwalbenschwänzen« in Entzücken geraten, denn sie ist gelernte Tischlerin. Diese gesägte oder gestemmte Verzahnung verbindet Schubladen- oder Stuhlteile wackelfester als jeder CO²-freie 5-Komponenten-Leim.
~~~ Jene Zufällig- oder Abseitigkeit kann die Besessenen in der Regel keineswegs daran hindern, »ihr Ding« meilenweit über das fremde Ding zu stellen. Das fremde Ding wird belächelt, verachtet, wenn nicht gar gehaßt. Da ist es »natürlich« nicht weit bis Indochina, wo sich Bosc, bis dahin Schlosser, als junger französischer Soldat die falschen Abwehrkräfte einfing – gegen Machtgelüste aller Art. Zu Boscs liebsten Feindbildern zählte sein hochgewachsener einstiger Staatspräsident General de Gaulle. Doch was hätte er erst zum Hochmut des aalglatten Emmanuel Macron gesagt? Nun ja, es ist egal, denn die Pappnasen gehen, die Posten bleiben.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024



Waagen → Band 5 Waagehäuschen, bes. Kap. 7



Wahrscheinlichkeit (und Zufall)

Döblin, Wolfgang (1915–40), Mathematiker und Schriftstellersohn. Die Phänomene Zufall und Wahrscheinlichkeit werden tagein tagaus als Beruhigungspillen oder Schreckgespenster verabreicht. Sie werden auch gern des langen und des breiten erörtert, obwohl sie meines Erachtens von keinem Sterblichen wirklich verstanden werden können. Arthur Koestler stimmte mir vor Jahrzehnten zu.* Die Gesetze der Wahrscheinlichkeit, die in den Naturwissenschaften die Kausalität abgelöst hätten, funktionierten zwar – wie jeder Physiker, jede Versicherungsgesellschaft oder jeder Croupier bezeugen könnte – doch sei niemand imstande zu erklären, wie und warum sie funktionieren. Der große Mathematiker Johann von Neumann habe sie einmal schwarze Magie genannt. »Dabei können wir es belassen.«
~~~ Vielleicht darf ich gleichwohl hinzufügen, daß sie vielen inbrünstig Hoffenden oder Bangenden eine Berechenbarkeit vorspiegeln, die es unmöglich geben kann. Der Fluggast etwa beruhigt sich gern mit Statistik. Heute kommen bei Flugreisen jährlich weltweit im Schnitt »nur« 1.000 Leute um – ein magerer Ortsteil von Waltershausen. Bei mehr als vier Milliarden Fluggästen im Jahr liege das Risiko, bei einem Absturz zu sterben, bei rund 0,00001 Prozent, lesen wir etwa im Ratgeber Die Zeit am 10. Juni 2009. O welche Augenwischerei! Wer das Risiko für den Einzelnen wirklich berechnen wollte, müßte selbstverständlich wissen, nach welchen Gesetzen der Zufall verfährt – ein schwarzer Schimmel. Den Zufall interessiert die Wahrscheinlichkeitsrechnung nicht die Bohne. Das betrifft erst recht solche Unfälle, in denen »Wahrscheinlichkeiten« der Sorte »persönliche Disposition für eine rheumatische Erkrankung« oder »schlechter Ruf der Fluggesellschaft Gurke, die nur Wracks betreibt«, nicht oder kaum im Spiel sind. Niemand kann erklären, warum es den regelmäßigen Fluggast A. erst in 20 Jahren oder nie erwischt, B. dagegen schon bei seiner Jungfernfahrt.
~~~ Eine Bemerkung des polnischen Schriftstellers Henryk Sienkiewicz in seinen hochkarätigen Briefen aus Amerika dürfte in dieselbe Richtung zielen. Im Sommer 1876 liebäugelt er mit der Bärenjagd und besucht zunächst einen kalifornischen Squatter, der in seinem abgeschiedenen Gebirgstal gerade an einem »richtigen« Blockhaus baut. Die erste Nacht in der Wildnis habe doch arg an seinen Nerven gezerrt, können Sienkiewicz‘ Landsleute in einer Warschauer Zeitung lesen. Jedes Rascheln schien ihm Skorpion oder Klapperschlange, jedes Fauchen Luchs oder Puma anzukündigen. Mit dem jähen Auftauchen eines funkelnden Augenpaars über der erst hüfthohen Hauswand rechnend, starrte er von seinem Hobelspänenlager aus, statt zu schlafen, Löcher in die Dunkelheit. »Vielleicht passierte das in tausend Nächten nicht, dennoch konnte es in einer geschehen. Wer garantierte mir, daß diese eine nicht gerade angebrochen war?«
~~~ Wolfgang Döblin jagte nicht; er zählte eher zum Wild. Als Sohn des bekannten Schriftstellers Alfred Döblin war er zwangsläufig Jude. Er verstand sich außerdem als Sozialist – in erster Linie jedoch als Mathematiker, wobei er sich just der Wahrscheinlichkeitstheorie verschrieben hatte. In ihr soll er, trotz seiner Jugend, Erstaunliches geleistet haben. Dem Faschismus gemeinsam mit Eltern und Geschwistern über Zürich nach Paris entronnen, studierte er ab 1933 Mathematik und Physik an der Sorbonne. Zudem arbeitete er mit dem angesehenen Wahrscheinlichkeitstheoretiker Paul Lévy von der École Polytechnique, der ohnehin mit seinem Vater befreundet war. Kaum hatte Wolfgang Döblin 1938 (mit 23 Jahren!) seinen Doktor gemacht, rief das Militär, weil seine Familie inzwischen (1936) eingebürgert worden war. Und beim Wehrdienst holte ihn der Faschismus ein. Im Kampf an der Saar-Front errang Döblin, der als eher insichgekehrter Mensch beschrieben wird, sogar eine Auszeichnung. Doch im Juni 1940 wurde seine Einheit in den Ardennen oder Vogesen aufgerieben. Da die Kapitulation Frankreichs, nach den vorhandenen Informationen, unmittelbar bevorstand, trennte sich der 25jährige Döblin von seinen Kameraden und versteckte sich auf einem Bauernhof im lothringschen Dorf Housseras. Aber eben hier traf kurz darauf eine deutsche Vorhut ein, wie er, vielleicht von einem Heuboden aus, beobachten konnte.
~~~ Sicher war natürlich nichts. Solange Menschen im Spiel sind, bleibt immer ein Türchen für Ausnahmen von der Regel oder einfach nur für glückliche Zufälle offen. Dennoch war eine Gefangennahme und Folter durch die deutschen Eindringlinge ziemlich wahrscheinlich. So machte der junge Mathematiker eine frühere Ankündigung wahr und erschoß sich in der Scheune des besagten Bauernhofs.
~~~ Pikanterweise zogen es seine Eltern im selben Sommer vor, Richtung Lissabon und von dort aus in die USA zu flüchten. Die Mittel dazu hatten sie offensichtlich. Und später hatten sie, Marc Petit zufolge (2005)**, ein schlechtes Gewissen. Sie sollen erst in den Staaten erfahren haben, daß ihr Sohn Wolfgang schon gar nicht mehr kämpfte. Weil er unter der lothringschen Erde lag. Petit behauptet, dieser Gewissenskonflikt sei auch in Alfred Döblins letzten Roman Hamlet oder die lange Nacht nimmt kein Ende eingeflossen. Die Hauptfigur Edward habe Ähnlichkeit mit Wolfgang. Etwas später, 1957, sah sich der tote Sohn auf dem Friedhof von Housseras just von seinen gleichfalls verstorbenen Eltern Alfred und Erna flankiert. Sie wurden neben ihm begraben.
~~~ Es ist ein seltsamer Akt der Wiedergutmachung. Stephan Döblin, jüngstes Kind des Ehepaars, bestätigte Petits Feststellung von den Schuldgefühlen der Eltern vor einigen Jahren im Gespräch mit Christina Althen.*** Insbesondere der Vater habe ein schlechtes, ein kühles Verhältnis zu Wolfgang gehabt. Stephan glaubt, dieser Umstand habe die Entscheidung seines Bruder in jener Scheune, sich umzubringen, sozusagen begünstigt. Im übrigen macht Stephan, geboren 1926, keinen Hehl daraus: die Ehe seiner Eltern war seit vielen Jahren zerrüttet. Der berühmte Schriftsteller hatte eine dauerhafte Geliebte, das fand seine Gattin Erna gar nicht lustig. Nachdem Alfred, der unter anderem an Parkinson litt, in einer Schwarzwaldklinik gestorben war, habe sich die Witwe sogar geweigert, Dritte von seinem Ableben zu unterrichten. Die so gut wie unbesuchte Beerdigung sei ein Albtraum gewesen. Gleichwohl vergingen keine drei Monate, und Erna Döblin (1888–1957) machte es wie ihr Sohn Wolfgang: sie nahm sich, in Paris, das Leben, wenn auch »erst« mit knapp 70 Jahren. Näheres, die Gründe eingeschlossen, ist mir nicht bekannt.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Arthur Koestler, Die Armut der Psychologie, deutsche Ausgabe Bern/München 1980, S. 270
** Laut Ursula Homann, »Wer war Wolfgang Döblin?«, literaturkritik.de, Januar 2007: https://literaturkritik.de/id/10323
*** https://www.fischerverlage.de/verlag/aktuelles/unsere-autorinnen-im-gespraech/interview-mit-stephan-doeblin-er-strebte-immer-nach, (Berlin) November 2008

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