Mittwoch, 15. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 36
Stift – Türme

Stifter, Adalbert

Der prominente Name ist zunächst nur ein Aufhänger. Mir geht es hier um Adolf, Juliane, Lili, sämtlich früh verstorben. Adolf Grillparzer, geboren um 1800, war ein nahezu unbekannter Bruder des berühmten Wiener Dramatikers Franz Grillparzer. Angeblich war Adolf eher »kleptomanisch« als dramatisch begabt. 1817, wohl noch keine 18, ertränkte er sich in der Donau. Zwei Jahre darauf erhängte sich die Mutter der Brüder. Über den lieben Franz sind wir »natürlich« gut im Bilde. Folgt man der Berliner Germanistin Dagmar Fischer*, hatte der künftige Wortkünstler ein fast eheliches Verhältnis zu seiner schwermütigen Mutter, die mit Sorgen, dann Krankheit und Geistesverwirrung geschlagen wurde. Der Vater, ein der Aufklärung verpflichteter und anscheinend hochver-schuldeter Wiener Advokat, war bereits 1809 gestorben. Franz bringt es bis zum Hofkammerarchiv-Direktor und schon zu Lebzeiten gefeierten Dramatiker. Trotz Neigung zu Neurasthenie und Melancholie wird er 81.
~~~ Über Adolf ist im Internet so gut wie nichts zu finden, Fischer eingeschlossen. Immerhin zitiert Fischer aber die auf einen Zettel gekritzelten »ergreifenden« Abschiedsworte des jüngeren, 17jährigen Bruders. Lieber Franz oder Mama wer es findet, da ich immer mehr in das Stehlen hineingekommen wäre, so habe ich den Entschluß gefaßt, mir selbst das Leben zu nehmen. Viel belogen habe ich die Mama und den Franz, doch ich bitte um Verzeihung, und mir nicht zu fluchen […]. Bruder Franz streift in seiner 1853 verfaßten Selbstbiographie zunächst die »gute Stimme« Adolfs – und beläßt es kaltblütig dabei, wenn ich nichts übersehen habe!** Auch für ihn ist Adolfs frühes Verstummen demnach nicht der Rede wert. Laut Franz erhielt der Bruder zumindest zeitweise Gesangsunterricht, um vielleicht als Hofsängerknabe aufs Kaiserliche Konvikt zu gelangen. Ob er noch anders (erwerbs-)tätig war und warum er »ins Stehlen kam«, scheint niemanden zu interessieren. Aus Bemerkungen Fischers schließe ich, Franz hielt den Bruder für schuldig und mißraten und weinte ihm keine Tränen nach. Die Wiener Grillparzer-Gesellschaft macht mich freundlicherweise, auf Anfrage, auf drei Anmerkungen in der »historisch-kritischen« Werkausgabe von 1913 aufmerksam. Eine Stelle gibt getreulich den ganzen Wortlaut des Abschiedsbriefes wieder. Eine andere*** spricht in der Tat von »Mißhelligkeiten zwischen den Brüdern«, die wohl als »ein Vorspiel der Selbstmord-katastrophe« aufgefaßt werden könnten. Nur wird dies alles leider nicht erläutert und nicht weiter kommentiert.
~~~ In Gerhard Scheits Rowohlt-Monografie**** über Franz G. wird dessen jüngster Bruder (laut Register) mit knapp drei mitleidlosen Zeilen gestreift. Er war eben vergleichsweise unwichtig. Aber er dürfte denselben gefühlskalten, abweisenden Vater (von insgesamt vier Söhnen) gehabt haben, und es wäre doch interessant zu wissen, warum er dann nicht auch einen ähnlich erfolgreichen Weg wie Franz einschlagen konnte. Ein knappes Jahr vor Adolfs Gang in die Donau war Franz, 26, durch die Uraufführung seines Stücks Die Ahnfrau schlagartig berühmt geworden. Wer weiß, ob das für den »Taugenichts« nicht ein zusätzlicher Stachel gewesen war. Diese Vermutung legt auch der Wiener Musikwissen-schaftler Max Graf nahe, wenn er (1910) behauptet, Adolf habe sich ebenfalls als Stückeschreiber versucht, sei damit jedoch, »weniger dichterisch begabt als sein Bruder«, gescheitert.*****
~~~ Demnach könnte sich eine Variante der langbärtigen Geschichte von Kain & Abel zwischen den Brüdern abgespielt haben. Das ist schließlich ein wichtiger Grundton der Musik, die auf diesem Planeten gespielt wird: Konkurrenz. Doch wie immer auch, die nahezu vollständige Funkstille in der Adolf-Grillparzer-Forschung ist schlicht niederschmetternd. Da setzt man seit Jahrzehnten wahre Heere von Studenten, Doktoranden und Professoren auf Franz Grillparzers schaurigen Schinken Die Ahnfrau oder auf Franz Grillparzers Magengeschwüre an – das Elend eines unbedeutenden 17jährigen lockt keinen müden Hund hinter den Kachelöfen hervor.

* Dagmar Fischer, Franz Kafka, der tyrannische Sohn, Ffm 2010, S. 123–26
** http://www.zeno.org/Literatur/M/Grillparzer,+Franz/Autobiographisches/Selbstbiographie
*** http://www.literature.at/viewer.alo?objid=372&viewmode=fullscreen&scale=3.33&rotate=&page=418
**** Gerhard Scheit, Franz Grillparzer, Reinbek 1989, in der 4. Auflage von 2008 auf S. 48
***** Max Graf, »Die innere Werkstatt des Musikers«, in: Bernd Oberhoff (Hrsg): Psychoanalyse und Musik, Gießen 2002, S. 31


Wer sich mit Juliane Mohaupt befassen will, kommt leider auch nicht ganz an Adalbert Stifter (1805–68) vorbei. Der dicke österreichische Pädagoge, Maler und Schriftsteller war auf beiden zuletzt genannten Gebieten vornehmlich Landschafter. Dabei zog er dem Ungewöhnlichen oder auch nur Lautstarken erklärtermaßen das Unscheinbare vor. Wäre er damals nicht erst 12 gewesen, hätte er den Tod seines Vaters Johann trotzdem nicht gemalt. Der böhmische Leinweber und Flachshändler geriet am 21. November 1817 bei Windstille unfallweise auf einer Schotterstraße bei Wels in Oberösterreich unter sein mit Flachs beladenes Pferdefuhrwerk, sodaß er erschlagen wurde oder erstickte. Der Wagen war umgekippt. Warum, ob zum Beispiel die Pferde scheuten, etwa wegen Eisglätte oder Schneeballbeschuß, soll den spärlichen zeitgenössischen Angaben nicht zu entnehmen sein. Das war also schon einmal ein schlechter Start für den Knaben Adalbert. Immerhin durfte er sich bilden und eine Hochschule besuchen. Mit Amalia Mohaupt heiratete er die hübsche, ziemlich ungebildete Tochter eines verarmten Offiziers im Ruhestand. Sie war Putzmacherin und wollte offensichtlich noch mehr hermachen. Zum Leidwesen Stifters schenkte sie ihm, anscheinend aus unklaren Gründen, keine Kinder. So nahm das Ehepaar (1847) eine angeblich halb verwilderte, sechs Jahre alte Nichte Amalias auf, eben Juliane Mohaupt.
~~~ Um Julianes Herkunft und Kindheit aufzuhellen, haben sich Stifters Biografen Roedl und Matz*, soweit ich sehe, nicht gerade ein Bein ausgerissen. Sie stammte aus dem Festungsstädtchen Peterwardein im österreichisch-ungarisch-serbischen Grenzgebiet. Ihr Vater Philipp, Amalias Bruder, war offenbar Unteroffizier, machte jedoch als Kriegsversehrter nur noch in einem Pulvermagazin Dienst. Bei vier Kindern lebte die Familie überaus ärmlich. Dann, im Herbst 1845, starb auch noch die Mutter. Woran oder warum, ist nirgends zu lesen. Möglicherweise an ihrem Gatten, dem herabgesunkenen Soldaten? Wir wissen es nicht. Man teilt uns noch nicht einmal ihren Vornamen mit. Aber Gatte Philipp lebt auch nicht mehr lang. Rund ein Jahr nach Julianes Übersiedelung zu den Stifters nach Linz stirbt der 41jährige in einem Wiener Invalidenhaus. Ob und wie dies alles Juliane berührte, erfahren wir erst recht nicht.
~~~ Dafür lassen die Biografen kaum einen Zweifel daran, daß Juliane so gut wie keine Pflegeelternliebe erfuhr. Sie war, neben anderen Lakaien, etwa einer Köchin, vor allem ein preiswertes Dienstmädchen. Was Wunder, wenn sie mindestens zweimal ausreißt. Die Stifters wohnen in Linz an der Donau, wo der Alte zu allem Unglück (Julianes) auch noch Schulrat ist, reicht sein Kunstschaffen doch nicht zur Deckung der gehobenen bürgerlichen Lebensführung aus. In der Erscheinung wird die »zigeunerhafte« Ziehtochter als blond und braunhäutig beschrieben. Von ihren Begabungen und Wünschen erfährt man dagegen rein gar nichts. Sehr wahrscheinlich wurde sie von der Stiefmutter auch wiederholt geschlagen. 1859, inzwischen 18, ist die Herumtreiberin schon vier Wochen überfällig. In der Wohnung hatte sie den als »rätselhaft« empfundenen Zettel hinterlassen: Ich gehe zu meiner Mutter in den großen Dienst. Dann wird sie tot am Donauufer gefunden, wohl ertrunken. Die meisten Quellen nehmen einen Selbstmord an.
~~~ Stifter hatte diese Vermutung immerhin selber, wie Thomas Ettl (2014) in einer ausführlichen Betrachtung** belegt. In einem Brief an seinen Verleger gibt Stifter sogar ein paar (angebliche) Wesenszüge Julianes preis. Die üppige, oft als schön empfundene Juliane sei zuletzt grundsätzlich gesund und fröhlich gewesen. Sie tanzte und sang im ganzen Haus. Ettl merkt freilich an, sonst sei sie eher schweigsam oder gar verstockt gewesen. Außerdem wurde sie leicht rot. War sie vielleicht verliebt? In der Tat führt Roedl Stifters Mutmaßung auf jähes »heftig gestörtes Geschlechtsleben« an, also Liebeskummer. Belege dafür hat offensichtlich niemand. Die Mutmaßung klingt auch stark nach einer heute so genannten Schutzbehauptung. Jedenfalls teilt Stifter in dem erwähnten Brief mit, kleinere Störungen vor Julianes Abtauchen hätte das Ehepaar nicht ernst genommen, was immer das gewesen sein soll. Möglicherweise zählte die Nachricht vom Tod Josephines dazu, einer älteren Schwester Julianes, zuletzt Dienstmädchen in Wien. Dort war Josephine, im selben Jahr 1859, an Typhus gestorben. Ob sich die Schwestern sahen und vielleicht Trost gespendet hatten, ist nirgends zu erfahren.
~~~ Irre ich mich nicht, ist oder war Autor Thomas Ettl, geboren 1942, als Psychoanalytiker in Frankfurt/Main tätig. Der eine wird seine Studie vielleicht gewohnt spitzfindig und abenteuerlich, der andere anregend klug nennen. Etwas weitschweifig ist sie bestimmt. Ettl merkt an, bei solchen Selbstmorden seien oft entweder Liebesnöte oder Mißbrauch des Mädchens im Spiel. Er verweist ferner auf Züge von Zorn und Gewalttätigkeit bei dem Knaben Adalbert, die auch Matz streift. Der gesetzte Stifter selber dementiert keineswegs, denn laut Ettl verkündet er: »Wir alle haben eine tigerartige Anlage.« Der Ziehvater habe jedoch Juliane gegenüber kein Schuldgefühl gehabt, nimmt Ettl an. Der Vorfall sei Stifter »lediglich« überaus peinlich gewesen. Sein Ruf, sein hohes Selbstbild (auch als Pädagoge) und sein Frauen- und Idyllenideal drohten Schaden zu nehmen. Selber schon unehelich gezeugt, brachte es Stifter ja nie zu eigenen Kindern. Auch in vielem anderen dürfte er sich als gescheitert vorgekommen sein, die literarische Karriere eingeschlossen.
~~~ Gewiß behauptet Ettl nicht, Stifter habe die Ziehtochter eines schlechten Tages zu Boden geworfen und ihr die Kleider vom Leib gerissen. Der Psychologe weist aber auf die explosive Familienlage hin, und das vermeiden sowohl Roedl wie Matz. Dem Verleger gegenüber schwärmt Stifter von Juliane als einer »blühenden Rose« – und die sitzt ihm nun Tag für Tag an der häuslichen Tafel gegenüber, ohne daß er mehr als an ihrem Duft hätte schnuppern dürfen. Amalia dagegen wurde, wie er selbst, immer aufgeschwemmter. Für Ettl hat Stifter das reizvolle, knackige Mädchen, neben dem Sauerbraten, mindestens unaufhörlich mit den Augen verschlungen, wenn auch zähneknirschend, kam er doch wahrscheinlich nie so richtig an es heran. Vermutlich kränkelte Stifter auch deshalb zunehmend. Um 1854 entfaltet sich, parallel zur pubertierenden Rose, Stifters vielerörtertes »Nervenleiden«. Dann kommt auch noch eine hartnäckige Augenlidentzündung hinzu, für Ettl natürlich ein gefundenes Fressen. 1859 endet die Rose, die Stifter so begehrlich betrachtet hatte, in der Donau.
~~~ Fehlt noch das immer bedrohlichere Leberleiden Stifters. Dessen Prosaerzeugnisse sind mir persönlich entschieden zu langweilig, aber auf dem Gebiet der Eß- und Trinkkultur war er anscheinend ausgesprochen stark. Als sich zu seiner zermürbten Leber auch noch ein Grippevirus gesellte, hielt es der 62jährige nicht mehr aus und brachte sich am 26. Januar 1868 auf dem Krankenlager mit einem Rasiermesser eine Wunde an der Halsschlagader bei. Er starb zwei Tage darauf, ohne noch einmal zu Bewußtsein zu kommen. Der witzig benamte Hausarzt des Völlerers und Säufers, Carl Essenwein, schrieb »Zehrfieber infolge chronischer Leberatrophie« in den Totenschein, wofür er wahrscheinlich*** zwei Gründe hatte: Erstens wäre Stifters Tod vermutlich auch ohne den nicht gerade mörderischen Schnitt in Kürze eingetreten; zweitens bestand in Linz die ungeschriebene Übereinkunft, Selbstmorde prominenter und katholischer Mitbürger sowieso nach Kräften zu vertuschen.
~~~ Ich muß noch einen Umstand berühren, der mir bei Roedl ganz übel aufgestoßen ist. Schon 1860, rund ein Jahr nach Julianes Tod, schaffen die Stifters, wieder aus Ungarn, eine andere Nichte heran, Katharina Mohaupt. Sie sei »so häßlich wie ihre Schwester hübsch gewesen [..], dafür eignete sie sich besser als diese für die Hausarbeit. Sie blieb als Dienstmädchen bei dem freudlosen Ehepaar.« (S. 120)
~~~ Immerhin nennt Roedl, der mit dem ehrenvollen Prädikat »häßlich« so freigiebig ist, Stifters Gattin Amalia unverblümt »geistlos« und »engherzig«. Vermutlich hätte auch noch »hartherzig« und »bösartig« gepaßt. Matz schreibt dafür wenig Schmeichelhaftes zum Gatten. »Auffallend ist, welch minimale Rolle das Mädchen in den zahlreichen Briefen spielt, wie ihre Existenz geradezu übergangen wurde.« Juliane habe ohne Zweifel gespürt, den Stiefeltern nur ein »unzureichender Ersatz« für das ihnen versagte eigene Kind zu sein (S. 269). Wenn Sie also mich fragen, waren mindestens zwei Waisenkinder der Familie Mohaupt aus Peterwardein mit dem respekterheischenden Linzer Erzieher und Künstler Adalbert Stifter echt geschlagen.

* Urban Roedl, Adalbert Stifter, Rowohlt-Monographie, ursprünglich 1965, hier 17. Aufl. 2005, sowie: Wolfgang Matz, Adalbert Stifter, Göttingen 2016
** »Die Juliana und der Stifter-Bertl«, Juni 2014: http://docplayer.org/51632112-Thomas-ettl-die-juliana-und-der-stifter-bertl-adalbert-stifter-als-heilpaedagoge-und-tigerartiger-ziehvater-mit-spinnwebe-auf-dem-kopf.html.
*** Elisabeth Buxbaum (Hrsg): Adalbert Stifter: Wien und die Wiener in Bildern aus dem Leben (1844), Wien 2005, Kommentar S. 346–49


Lili Cappellini (1909–28) hieß neuerdings so fremdländisch, weil sie entgegen dem Wunsch ihres liberal gestimmten Vaters Arthur Schnitzler – ein Wiener Arzt und Schriftsteller, der viel auf Psychoanalyse hielt – einen schönen, strammen italienischen Faschisten geheiratet hatte. Ob sie bald darauf nach einer Pistole griff, weil die Kälte des Gatten sie entsetzte oder aber aufgrund angeborener Melancholie, Magersucht, Exentrik und dergleichen mehr, ist unter Biografen und Romanschreibern, die sich nur zu gern mit ihr oder ihrem berühmten Vater beschäftigten, umstritten. Übrigens erschoß die 18jährige (in Venedig) nicht Arnoldo, den Gatten, vielmehr sich selbst.

∞ Verfaßt 2023



Stolz

Lieber KO, jedesmal, wenn ich auf dem Grab meiner alten Mutter die Petunien gieße, muß ich an dem wuchtigen Granitstein irgendeines Herrenreiters vorbei, der die Inschrift wie folgt krönen ließ: »Lebe frei, sterbe stolz« … Also, wissen Sie, gegen die Freiheit hätte ich ja gar nichts einzuwenden. Aber Stolz ..? Vor einigen Jahrzehnten wurde ich bereits dazu angehalten, auf die DDR stolz zu sein, doch just meine Mutter meinte, wenn nicht der liebe Gott, dann hätte sie uns ja wohl das Moskauer Politbüro in den Schoß geworfen – die DDR, meine ich. Oder was meinen Sie? Ergebenst Ihre Almut F., Stendal.

Liebe Frau F., ein Hoch auf Ihre verblichene Frau Mutter! Mit dem Schimpfwort Herrenreiter haben Sie ja selber schon angedeutet: Stolz hat stets einen herrischen, oft auch einen hochmütigen Zug. Der Mann ist auf seine Herkunft, seinen Grundbesitz, sein rassiges Pferd, seinen Schnauzbart und seine Siegesserie im Schachspiel stolz – alles seins, aber nichts davon hat er sich frei erworben. Schließlich hat er sich seine Herkunft und die Hormone, die seinen Bart sprießen lassen, so wenig erwählt wie Ihre in Stendal aufgewachsene Frau Mutter die DDR. Somit ist er auf Geschenke des Zufalls stolz, hält sie freilich immer für sein Verdienst. Mitleid, etwa mit zerlumpten Tagelöhnern oder mit Zeitgenossen, die das sogenannte Schicksal mit hübschen Gesichtszügen auszustatten vergaß, kennt er nicht. Hat seine Gattin einen steilen Busen, rühmt er diesen bei den Clubabenden, als hätte sie ihn einst in der Gebärmutter eigenhändig gedrechselt. Aber was soll ich Sie noch länger langweilen, Sie wissen dies alles ja längst. Das Gesündeste wäre es ohne Zweifel, dem überheblichen Geschehen, das die ZweibeinerInnen »hinterher Geschichte nennen« (Ernst Kreuder), einfach durch sogenannten Freitod zu entgehen. Aber dann droht die Auferstehung! Um 1990 besuchte ich, von Kreuzberg aus, hin und wieder eine Freundin, die unweit jenes Friedhofs wohnte, der im Winkel Soldiner-/Wollankstraße liegt, heute wohl Wedding oder Mitte. Eben dort führte sie mich einmal zu einem bestimmten Grab. Als wir uns diesem näherten, legte sie bereits einen Zeigefinger an ihre küssenswerten Lippen. Dann hielt sie an und nickte schmunzelnd auf die Inschrift. »Gehet leise / ich schlafe nur«, war da am Kopf des Sandsteins eingemeißelt.

∞ Verfaßt 2023, für Blog-Rubrik Kummerkastenonkel


Manche Menschen würden sich für ein Mittagsmahl mit zartbitterem, auf der Zunge zergehendem Spargel verständlicherweise ein Bein ausreißen. Würden ihnen aber auch die Rückenschmerzen schmecken, die Mann oder Frau bei der Ernte des Gemüses ereilen? Friedrich Georg Jünger rankt eine hübsche, anekdotenreiche Erzählung um den Spargel, den er als Knabe in der niedersächsischen Heide vor der Nase hatte. Das Stechen der hellen Stangen aus den sandigen Sargzeilen und dabei auch das Stechen im eigenen Kreuz erwähnt er durchaus; aber die Fragen der Lohnarbeit und der Eigentums-verhältnisse spart er lieber aus. Diesbezüglich steuerte ich später für die Platte Leon ein Zwerglied bei, dessen Titel just von Jüngers Erzählung entlehnt ist: »Spargelzeit«.
~~~ Jünger konnte ähnlich farbig getupft erzählen, wie ihm damals beim Gang in die Felder die Kleider der Spargelstecherinnen entgegen leuchteten. KritikerInnen maulten gelegentlich, trotz seiner Knappheit, von einem betulichen Zug. Dieser Vorwurf zerschellt jedenfalls an einer anderen Geschichte aus demselben Band*, die »Der Knopf« heißt und auch in derselben Gegend spielt. Sie dreht sich nicht um Spargel, vielmehr Stolz. Das heißt, eigentlich entwickelt sich der Eigensinn des biederen und fleißigen Häuslers Schleen, ein schmächtiger Mann, zu nicht weniger als tödlichem Hochmut. Schleen hat einen seltenen Hirschhornknopf seiner Jacke verloren und deshalb seine junge, dralle, stets heitere Ehefrau angewiesen, in der Stadt einen Ersatz zu besorgen und dann anzunähen. Aber Dora kommt nicht gleich dazu. Schleens Mahnung nach einigen Tagen läßt sie auch wieder verstreichen. Sie nimmt den Schaden an der Jacke erheblich weniger wichtig und dringend als ihr Mann. Der jedoch verbeißt sich gleichsam in den fehlenden Knopf. An diesem »hing jetzt nicht nur die Jacke, sondern alles andere.« Wir ahnen längst, die beiden Eheleute passen eigentlich gar nicht zueinander; es hat sich viel Enttäuschung und Ärger aufgestaut, bis der Knopf das Faß zum Überlaufen bringt. Deshalb greift Schleen nach wiederholten vergeblichen Ermahnungen zu einer verblüffenden Waffe: er teilt Dora auf einem Zettel mit, jetzt helfe nur noch Schweigen. Von da an spricht er kein Wort mehr mit ihr.
~~~ Diese Waffe verletzt die heitere Dora von Tag zu Tag schmerzlicher. Sie kann Schleens Verstocktheit nicht verstehen. Selbst als der Knopf angenäht ist und Dora den Pfarrer zu ihrem Gatten vorgeschickt hat, bricht Schleen sein Schweigen nicht. Jetzt sei es zu spät, sagt er dem Pfarrer und läßt den Seelsorger stehen. Man fragt sich natürlich, warum Dora nur den Fehler begehen konnte, sich ausgerechnet mit dem schon immer wortkargen und verschlossenen Schleen zu verheiraten. Jüngers Antwort: Sie war Vollwaise, sie war arm – und Schleen bot ihr eben ein vermeintliches Zuhause. Darin wird es jetzt, mitten im Sommer, kälter als im Keller des Wohn- und Stallgebäudes der Schleens. Doras Verzweiflung wächst schneller als der Nieswurz am Bach. Sie weiß keine Erklärung und kein Mittel für Schleens unheimliches Untergraben der ehelichen Gemeinschaft. Seine Waffe hat etwas Spitzfindiges, dem sie einfach von Natur aus nicht gewachsen ist.
~~~ Schleen hatte das Annähen des Knopfes durchaus als Bereitschaft des Einlenkens durch Dora empfunden, nur hatte er sich für sein Schweigen insgeheim bereits eine gewisse Frist gesetzt, die noch nicht abgelaufen war. Deshalb hielt er unbeugsam an seiner Roßkur fest. Und bevor der erlösende Termin eintreten kann, ist nun auch Doras Leidensfähigkeit erschöpft. Sie hält die Kälte nicht mehr aus. Als Schleen schon zu Bett gegangen ist, verrammelt sie wie eine Schlafwandlerin die Fensterläden, stellt eine Bohle unter die Klinke der Schlafzimmertür, nimmt eine Kerze und zündet auf dem Speicher das Stroh und im Stall das Heu an. Dann sinkt sie vor der Schlafzimmertür weinend zusammen. Zwar hört sie noch Schleens Rufe, sie möge ihn um Gotte willen herauslassen, doch diese Worte kommen nun umgekehrt auch für Doras wundes Herz zu spät. Da ein kräftiger Wind bläst, brennt das abgeschieden gelegene Haus rasch ab. Wie die meisten LeserInnen annehmen dürften, kommt dadurch auch Dora ums Leben. Die kinderlose Kleinfamilie ist ausgelöscht.
~~~ An dieser Schlußszene verstehe ich eine Kleinigkeit nicht. Ich empfinde sie als dramaturgischen Schnitzer. Wie sollte Dora imstande sein, die Fensterläden des Schlafzimmers von außen zu verriegeln? Meines Wissens geschah das in meiner Jugend stets von innen. Gewiß bestand die Möglichkeit, die aufgeschwenkten Lädenflügel an der Hauswand festzustellen, etwa durch die witzigen gußeisernen Männchen. Das waren aber keine Riegel, vielmehr Klemmen. Äußere Riegel wären einer Einladung an Einbrecher oder andere Unholde gleichkommen – die ja von den Fensterläden, neben Unwettern, gerade abgewehrt werden sollten. Vielleicht besorgen Sie sich den Text einmal und zerstreuen meine Bedenken.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* Friedrich Georg Jünger, Erzählungen 1, Stuttgart 1978

Siehe auch → Bevölkerungsfrage, Johnston → DDR, Tuchscheerer → Krieg, Oliver Paine




Als der berühmte, wie Mehrfruchteis schillernde Fürst von Pückler-Muskau erst fünf gewesen war, Anfang 1790, hatte ihn seine Mutter dem neu eingestellten Hofmeister Andreas Tamm (1767–95) anvertraut. Ihr Vertrauen schwand jedoch rasch. Schon im Oktober mußte der junge Jurist aus Leipzig und Zeitz, Sohn eines Merseburger Pastors, seinen Dreispitz nehmen. Die gnädige Frau schob ihn auf den Stuhl des »Rektors« der Muskauer Stadtschule ab, der ihn und seine Familie (Heirat 1792) allerdings kaum ernähren konnte. Das kursächsische Städtchen Muskau hatte damals lediglich um 700 EinwohnerInnen. In der Schule waren weit über 100 Kinder aller Altersstufen in derselben Stube zusammengepfercht. Der einzige Lehrer war der »Rektor«. Damit kam Tamms Posten einer schäbig bezahlten Sisyphosarbeit auf Kosten seiner Würde und seiner Gesundheit gleich. Dennoch verfaßte er in dieser Zeit einige wichtige sozialkritische Arbeiten. 1794 warf Tamm das Handtuch und kehrte in seinen ursprünglichen Beruf zurück, Jurist. Er ließ sich in Görlitz, rund 50 Kilometer weiter südlich gelegen, am Untermarkt als Advokat nieder. Aber es war zu spät. Bereits im nächsten Jahr, mit 28, zogen ihn Krankheit und Entkräftung ins Grab.
~~~ Was sollte nun aus seiner Frau und den inzwischen drei Kindern werden? Nichts Erfreuliches, wie sich einer lehrreichen Pionierarbeit* über Tamm von Bernd-Ingo Friedrich aus Weißwasser entnehmen läßt. Bar aller Unterstützung, flüchtet sich Charlotte Tamm geb. Strenge in ihr Heimatstädtchen Muskau zurück. Sie war eine Tochter des dortigen Stadtrichters, bei dem sie vermutlich nun Unterschlupf fand. Dort erlitt sie 1797, erst 23, einen haarsträubenden häuslichen Unfall. Als sie mit einem »Licht« in die Küche ging und es auf dem Herd absetzte, um einen Topf mit heißem Wasser aus dem Ofen zu nehmen, fing ihr Halstuch an der Kerze Feuer. In ihrem Schreck lief sie aus der Küche um Hilfe. Durch den Luftzug wurde sie freilich sofort in eine lodernde Fackel verwandelt und zog sich schwerste Verbrennungen zu, bis man ihr die Kleider vom Leib gerissen hatte. Nach qualvollen drei Wochen war sie tot. Die Kinder kamen in die Obhut der Großeltern.
~~~ Friedrich zeigt Tamm als einen für seine Zeit und seine Provinz ungewöhnlich kritischen und freisinnigen Geist, ein echter Aufklärer. Mit dieser Haltung hatte er sich sicherlich auch bei der Gräfin auf dem Muskauer Schloß unbeliebt gemacht – von all den anderen Grundherren ringsum nicht zu schweigen. Noch Etwas über Leibeigenschaft, Erbuntertänigkeit und Laßgüter in der Lausitz heißt eine wichtige Arbeit Tamms, die er 1792 in der Lausitzischen Monatsschrift veröffentlichen konnte. Die ihm berufsfremde Pädagogik übte er, im Geiste Rousseaus, trotz vieler Widrigkeiten mit Begabung und Geschick aus. Pückler versicherte seinem Vater später (1803) in einem Brief, »hätte ich den braven Tamm behalten können, vieles wäre jetzt anders; der gute Mann hatte aber den Fehler, zu sagen was er dachte; Damen wollen lieber geschmeichelt sein, meine Mutter konnte sich nicht mit ihm vertragen, und er – ging.«
~~~ Einen kleinen Sprung nach Dresden werden Sie vielleicht noch verkraften. Überall steht, die sächsische Schwimmerin Helga Voigt, geboren 1940, sei bereits in sehr jungen Jahren eine erfolgreiche Leistungssportlerin gewesen. In der DDR! Ihre Eltern waren Wirtsleute. Sie betrieben die spätere Dresdener HO-Gaststätte Luisenhof, wo sie auch wohnten. Dadurch entgingen dem dunkelschopfigen, hübschen Mädel die vielen olympischen Medaillen, die es noch errungen hätte – wie überall versichert wird. Denn in der Nacht des 27./28. September 1956 bricht in dem beliebten, weiläufigen Ausfluglokal am Hang ein Feuer aus, das sich rasch ausbreitet. Wahrscheinlich hatte in einem hölzernen Abfallkasten des Geschirrspülraums ein Zigarettenstummel geglimmt. Der Restaurantchef und der Pförtner entdecken den Brand und klingeln bei der Familie Voigt im Obergeschoß Sturm. Während die Löschzüge anrücken, können sich die Voigts und andere Angestellte ins Freie retten – nur Helga nicht. Sie kämpft vergeblich mit dem Rauch, der zumindest teilweise durch den Schacht des Speiseaufzugs nach oben stieg.** Ein Feuerwehrmann findet die wohl schon bewußtlose knapp 16jährige, aber im Krankenhaus ist sie nicht mehr zu retten. Ihre Schwester Eva überlebt.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Bernd-Ingo Friedrich: Johann Andreas Tamm, Cottbus 2007
** Lars Kühl, https://www.saechsische.de/plus/toedliches-feuer-im-luisenhof-3501072.html, 23. September 2016




Technik

Der freigekaufte surinamische Sklave Jan Ernst Matzeliger (1852–89), Kind gemischter Eltern, zeigte sich früh in mechanischen Dingen geschickt und erlernte zusätzlich das Handwerk des Schuhmachens. Dadurch stieg er sogar noch weiter auf. Das ergab sich ab 1877 in Lynn, Massachusetts, USA. In dieser Küstenstadt, damals um 35.000 EinwohnerInnen, hatte sich die Schuhfabrikation geballt. Zunächst Assistent eines kleineren Fabrikanten, entwickelte Matzeliger eine spezielle Nähmaschine, die Schuhschäfte und Sohlen miteinander verband. Um mit der deutschen Wikipedia zu sprechen: »Durch diese Zwickmaschine wurde die Herstellung von Schuhen mechanisiert und sie konnten dadurch wesentlich kostengünstiger und schneller produziert werden. Am 20. März 1883 ließ sich Matzeliger diese Maschine patentie-ren.« Seither galt er als Erfinder dieser bedeutenden Innovation, wie man heute fremdworteln würde. Allzuviel hatte Matzeliger, mit einem zeitgenössischen Schimpfwort auch der »Dutch nigger« gerufen, allerdings nicht mehr davon: sechs Jahre darauf erlag er, mit knapp 37, der Tuberkulose.
~~~ Leider bindet uns Wikipedia hier einen Schuh auf, der, ich will nicht sagen, falsch ist, aber zumindest sehr schief. Die Mammut-Enzyklopädie befördert eine ungemein beliebte Verengung des Blickwinkels auf betriebswirtschaftlichen Nutzen. Diese Verengung ging mir bereits vor Jahren auf, als ich im Berliner Technikmuseum am Gleisdreieck ehrfürchtig vor einer gewaltigen, blitzenden Dampfmaschine stand, die einmal in England eine Kornmühle angetrieben hatte. Hier nun war sie über etliche Treibräder und -riemen mit allerlei Zahnradmaschinen verbunden, so mit einer Drehbank gleichen Baujahrs (1860), die aus der Drechselbank hervorging. Ein Schild klärte mich auf: »Nun konnten Metallteile für Maschinen, Lokomotiven und andere Zwecke genauer, schneller und billiger als zuvor bearbeitet werden.«
~~~ Da dämmerte mir, manche Leute begreifen ihre eigenen Verknüpfungen nicht. Denn: genauer und schneller gewiß – aber niemals billiger. Bereits die Dampfmaschine besteht aus zahlreichen Metallteilen, die erst einmal hergestellt sein wollen. Welcher Aufwand, solche Schwungräder, Zylinder, Flansche haargenau zu gießen, schmieden, fräsen, feilen! Und diese Metallteile finden sich nun in den benachbarten Dreh-, Bohr- oder Stanzmaschinen, von denen sie hergestellt werden können, wieder. Angesichts eines derart komplexen Verzehrwerks wird die naheliegende Frage, ob das Huhn oder das Ei eher da war, ziemlich unerheblich. Dabei habe ich noch nicht von dem Aufwand gesprochen, mit dem der Rohstoff all dieser Maschinenteile gewonnen wird. Ein Erzbergwerk ist weder ein Sandkasten noch ein vergilbtes Kalenderblatt. In jeder automatischen Tür, die sich heute wie Sesam vor uns öffnet, stecken die Verluste, die in den Bergwerken des 18. Jahrhunderts gemacht wurden. Neben viel Energie und einigen beträchtlichen Laubwäldern zählen dazu die Schinderei, das Hungern und eine Menge Tote. Diese fallen bis heute an: in China etwa kamen allein 2008 bei Unfällen 3.200 Bergleute ums Leben. Das wären bereits 10 Prozent der Einwohnerschaft von Lynn zu Matzeligers Zeit.
~~~ Ziehen Sie einmal lediglich die Verbrennungen zusammen, die Menschen bei der Stahlgewinnung erlitten, und Sie kommen bereits auf die Wüste Sahara. Sämtliche Opfer unserer »Mobilität« Fuß an Kopf gereiht, könnten wir sämtliche Verkehrsadern dieses Planeten nachzeich-nen – rot. Ich schlage auch vor, die Schlachtfelder aller Zeiten abzuwandern, denn nach Lewis Mumford (Der Mythos der Maschine) verdanken wir den Löwenanteil unserer technischen Errungenschaften dem Krieg. Zur Stunde, Mitte April 2021, trommelt die Nato zum Krieg in der Ukraine.
~~~ Das Gegenteil jenes verengten betriebswirtschaft-lichen Blickwinkels ist die volkswirtschaftliche, historische und moralische Sicht.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022

Siehe auch → Behälter → Chargaff (Gene) → Fortschritt, Dampfmaschine → Gesundheit, Kandlbauer (Prothesen) → Handwerk → Internet, Rechtsanwalt (mit Roboter) → Luftfahrt, Ferris (Riesenrad) → Norm, Fließband → Raumfahrt, Krieger




Der römische Maler Pietro Testa (1611–50) glänzte vor allem mit grafischen Arbeiten (Zeichnungen und Radierungen) zu religiösen/mythologischen Themen. Bei aller zeitüblichen Theatralik spricht aus diesen Arbeiten doch eine ungeschönte Bitterkeit, die möglicherweise beiläufig auf das vorzeitige Ende ihres Schöpfers vorausweist. Dazu sagt Brockhaus aber kein Wort. Wikipedia (deutsch) sagt das abgeleckte Trostwort »tragisch«. Testa stammte aus der Toskana, hatte sich freilich schon als Jüngling, zum Zwecke seiner Ausbildung, nach Rom begeben, wo er sich unter anderem mit Pier Francesco Mola und Nicolas Poussin anfreundete. Ebendort soll er, mit knapp 40 Jahren, im Tiber ertrunken sein. Warum, ist umstritten. Das stellt immerhin auch die englische Wikipedia fest.
~~~ Während sich die frühen Biografen beeilten, von einem bedauerlichen Unfall zu sprechen, um nicht an Testas Seelenheil und dem christlichen Begräbnis zu rütteln, das ihm der katholische Klerus bewilligt hatte, neigt Ann Sutherland Harris zu der Annahme, er habe sich umgebracht. Sie führt* zum einen jüngste Enttäuschungen in Testas Karriere ins Feld. So wurde ein üppiger Auftrag, die Apsis der Kirche San Martino auszumalen, nach einigem Hin und Her zurückgezogen. Dafür waren Testas Fresken in der Kapelle St. Lambert in Santa Maria dell'Anima, wenn nicht bereits beseitigt, so doch von Zerstörung bedroht. Nebenbei lag im zweiten Fall der liebe Kollege Jan Miel auf der Lauer, weil doch auch er sehr hübsche Fresken zu malen verstand. Zum anderen verweist die US-Kunsthistorikerin von der University of Pittsburgh, Pennsylvania, auf unheilschwangere Züge in Testas letzten Arbeiten. Neben »vielen pessimistischen Bemerkungen« in Testas nachgelassenen Schriften sei hier an seine Radierung Il suicidio di Catone von 1648 und seine unabgeschlossene Arbeit am Sujet Selbstmord der Dido zu erinnern.
~~~ Übrigens ist Testas nahezu nackter, blutverkrustet und bäuchlings aufs Bett gelagerte Recke Cato** von einer Schar ausgesprochen hämisch wirkender Überlebender umgeben, die meinen Satz von der »ungeschönten Bitterkeit« mitgeboren hat. Man wäre nicht erstaunt, wenn der Tod bringende Dolch nicht eigenhändig von Cato, vielmehr, zum Beispiel, von Jan Miel geführt worden wäre. An Mord verschwendet Sutherland allerdings keinen Gedanken. Sie vertraut Testas Zeitgenossen und Kollegen Passeri, demzufolge »Pietro was found drowned in the Tiber in the early spring of 1650, near the church of Santi Romualdo e Leonardo de' Camaldolesi«. Na und? Das ist schon als Beschreibung des Leichenfundes höchst ungenau und besagt darüber hinaus noch gar nichts über den Ort des Todes und nur wenig über die Umstände des (angeblichen) Ertrinkens dieses begabten Künstlers. Hier bietet sich das Projekt eines x-ten Historischen Romanes an – greifen Sie zu.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 37, September 2024
* Ann Sutherland Harris, »Notes on the Chronology and Death of Pietro Testa«, in: Paragone Nr. 213, Mailand November 1967, S. 35–70
** https://www.meisterdrucke.it/stampe-d-arte/Pietro-Testa/926485/La-morte-di-Catone-il-Vecchio-(Marco-Porcio-Catone)-o-Catone-il-Censore-di-Pietro-Testa-1648---La-morte-di-Catone---1648,-di-Pietro-Testa,-incisione.html




Der frühere Mitschüler Erich Kästners in Dresden Hans Otto (1900–33) wurde Theaterschauspieler und 1924 außerdem Mitglied der KPD. Er gefiel besonders in Rollen jugendlicher Helden und Liebhaber. Ende Januar 1933 stand er am Berliner Staatstheater bei der Premiere von Faust II noch an der Seite von Gustaf Gründgens und Werner Kauß. Im Februar 1933 hatte der »künstlerisch überragende Schauspieler« (Ulrich Liebe, NDB 19–1999) die Kündigung im Briefkasten. Statt nach Wien zu gehen, wie von Max Reinhardt empfohlen, tauchte er bald darauf zwecks Widerstandsarbeit unter, doch schon im November des Jahres ging er der Berliner SA in die Fänge. Wahrscheinlich stieß man den 33jährigen, nach einigen Folterungen, im 3. Stock der SA-Kaserne in der Voßstraße aus dem Fenster. Er starb erst im Krankenhaus, was vermutlich den Recherchen seines Mithäftlings Werner Hinze zugute kam, der nach dem Krieg von Ottos Ende berichtet haben soll. Die Behörden hatten den Vorfall selbstverständlich als Selbstmord vermeldet. Das 1952 in Potsdam eröffnete Hans Otto Theater überdauerte die »Wende«; 2006 bekam es sogar einen Neubau am Tiefen See.
~~~ Mit der Frage, ob eine salonfähige Schauspielkunst zur Steigerung menschlicher Glückseligkeit unerläßlich sei, wird man sich ja hoffentlich nicht Ottos Zorn zuziehen. Aber den meiner süddeutschen Freundin L. Sie rennt mindestens zweimal wöchentlich ins Theater. Hat sie im Sommer öfter schlechte Laune, sind die Theaterferien schuld. Ihre Schaulust mag verständlich sein, denn in ihrer Wohnung hat sie den Wolkenkratzer einer Bank vor der Nase, während sie sich das Fernsehen als Reminiszenz an Adorno-Vorlesungen nicht gestatten kann. Ohnehin eigne Bühnen eine ganz andere Präsenz, behauptet sie. Wenn sie dürfte, würde sie ihre Wohnung sofort mit einem Zelt im Orchestergraben vertauschen. In ihrer Besessenheit ähnelt sie dem jungen Carl Zuckmayer im Schützengraben des Ersten Weltkrieges. Jede feuerfreie Minute nutzt er zum Verschlingen von Romanen der Weltliteratur – später bekennt er jedoch, am liebsten hätte er sie alle gleich dramatisiert.
~~~ Merkwürdigerweise ergeht es mir genau umgekehrt. Habe ich mich gelegentlich durch Dramen zu quälen, drängt es mich jedesmal zu deren Episierung. In Konkurrenz zum Gendarm Adam wirbt der vom Volk verehrte gute Räuber Schinderhannes (1927) um die Bänkelsängerin Julchen Blasius. Er gewinnt sie. Leider rückt ihm zunehmend auch das Militär auf die Pelle. Jetzt hat er die Nase voll und gedenkt im Hunsrück groß und gewaltsam aufzuräumen, doch Julchen ist dagegen und verläßt ihn. Die Bande des Schinderhannes wird geschlagen. Auf der Flucht kommt es zwar zur Wiedervereinigung mit der Bänkelsängerin, die inzwischen ein Kind gebar, doch auch zum Verrat. Dem gestellten und zum Tode verurteilten Volkshelden wird im Mainzer Gefangenenturm eine letzte Liebesnacht mit Julchen gewährt. Im Vertrauen, der Sprößling wird‘s schon richten, klettert er erhobenen Hauptes zum Scharfrichter aufs Podium. Die Hinrichtung ist das übliche Spectaculum. In dieser Hinsicht erlaube ich mir ein Detail, das meine Episierung ungebührlich verlängern wird. Während die Massen zum Podium strömen, gibt es Streit in einer schaulustigen Kleinbürgerfamilie. Mann und Frau werfen sich gegenseitig vor, sie hätten »die Butterbröter« zu Hause vergessen. Der Mann ist wütend, weil er der Hinrichtung nun ohne Butterbrotverzehr beiwohnen muß. Ähnliche Dramen dürften sich abspielen, wenn bei den Fernsehberichten von den Kriegsschauplätzen Bier und Pizza fehlen.
~~~ Man stelle sich vor: um uns die eben von mir gegebene 15-Zeilen-Geschichte mitzuteilen, mußte Zuckmayer einen ganzen Theaterabend verpulvern! Die Leute durch Handlungsarmut darben lassen und auch noch totreden – wahrlich ein starkes Stück. Sind uns beim Lesen jener 15 Zeilen alle in der Realität unvermeidlichen Anbahnungen nicht sowieso sonnenklar? Eben, weil wir sie als Muster, nicht als aufgewirbelten Staub, längst in uns tragen? Und weil uns an Nüssen der Kern ungleich mehr interessiert als die beträchtlich größere Oberfläche der Schale? Noch kürzer auf den Punkt gebracht: Theater ist 1. Umstandskrämerei, 2. Flüchtigkeit, 3. Anbiederung, nämlich an das Reale oder Leibhaftige.
~~~ Literatur ist etwas anderes. Sie hat geschriebener dichter Text zu sein und gefälligst auch zu bleiben. Durch Dramatisierung, Verfilmung, Vertonung kann sie nur eingeengt, ja geschändet werden. Warum einen Bühnenplunder servieren, der uns ohnehin Tag und Nacht in Schlafzimmern, Straßenbahnen, Büros, Parlamenten oder anarchistischen Kommunen zugemutet wird?
~~~ Literatur ist Ernst Kreuders Schwebender Weg. Sie ist jenes Theater, mit dem Richard Wagner selbstverständlich nur kokettierte, als er seufzte, nach dem unsichtbaren Orchester (verborgen im »Orchestergraben«) gedenke er nun das unsichtbare Theater zu erfinden.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022

Siehe auch → Fotografie, Kino




Titel (Orden)

Hat man Sie elterlicherseits, statt zum Mustafa (»der Auserwählte«), nur zum kritzelnden Fritz oder Hanns gemacht, könnten Sie versuchen, früher oder später wenigstens zum Präsidenten der Reichsschrifttums-kammer ernannt zu werden. Das gelang dem sächsischen Lehrersohn und Dramatiker Hanns Johst 1935. Erst dadurch war Johst, obwohl er mit Johanna Feder eine gut betuchte Dame geheiratet hatte, in die Titelite vorgedrungen, wie ich einmal kalauern möchte. Gemeint ist der bürgerliche Geistesadel. Während es Raubritter durch besonders umfangreiche Beuten (aus heidnischer Hand) zu Feldmarschällen, Bischöfen oder gar Kurfürsten bringen konnten, streben viele GeistesarbeiterInnen einen Doktortitel, einen sogenannten Lehrstuhl oder eben einen Präsidentensessel an, der sie erheblich erhöht. Es ficht sie nicht an, wenn sie gelegentlich bei Montaigne lesen, wo auch immer, sie säßen auf ihrem Arsch.
~~~ Bei »Johst« denkt man unwillkürlich an den Tierarzt Edzard Gerriets aus Schortens in Friesland. Ein Reporter hatte den damals 77jährigen 1997 im Zusammenhang mit der umstrittenen Ausstellung von Wehrmachtsfotos aufgesucht, weil Gerriets auf einem davon als 20jähriger Zaungast einer Erschießung serbischer Geiseln durch Wehrmachtskameraden beiwohnt. Der im Landkreis angesehene Tierarzt bestätigte sogar die Echtheit des Fotos. Die Süddeutsche Zeitung nannte er ein neomarxistisches Hetzblatt – schön wär‘s gewesen! Ansonsten fühlte er sich in seiner Ehre besudelt und betonte, das »Dritte Reich« habe auch seine guten Seiten gehabt. Unterschlug der Besucher einmal seinen Titel, herrschte Gerriets ihn an: »Sie Flegel – Doktor Gerriets bitteschön, Doktor!«
~~~ Einen früheren Vorgesetzten dieses geltungssüchtigen Heilkundigen führt sogar Arthur Koestler in seinen fesselnden Erinnerungen (Als Zeuge der Zeit) brav mit Titel an: Dr. Joseph Goebbels. Vor akademischen Würden versagte Koestlers Witz; im ganzen Buch unterschlägt er nicht einen Titel. Als Zahnarzt hätte ich einmal nach seinem Minderwertigkeitskomplex gebohrt. Nebenbei verdanken wir das ungewöhnlich strenge deutsche Titelrecht just den Nazis. Seitdem wird das unbefugte Führen eines Titels mit bis zu einem Jahr Gefängnis bestraft. Solche Anmaßung bringt Recht und Ordnung mehr ins Wanken als ein Jahr Kriegführen in Afghanistan, wie Karl-Theodor zu Guttenberg kürzlich erfahren mußte. Nach Vorwürfen, seine (juristische) Doktorarbeit gefälscht zu haben, dankte er 2011 als »Bundesverteidigungs-minister« ab. Seinen Doktorgrad (Uni Bayreuth) verlor er ebenfalls.
~~~ Vera Sprosse, gelernte Raumausstatterin, hatte einmal einen Chef mit erlauchtem Kundenkreis. Hatte sie beispielsweise Fragen zum Biedermeiersofa des Herrn Soundso, das sie neu beziehen sollte, korrigierte sie der Chef auch in leergefegter Werkstatt unweigerlich: »Sie meinen das Biedermeiersofa von Herrn Professor Soundso!« Allerdings fährt bekanntlich auch jeder Aufruf unserer revolutionären Linken Legionen von Doktor- oder Professorentiteln auf. Bei Podiumsdiskussionen stehen diese in guter Kamerahöhe auf Schildern, die an gewisse Bretter vor Köpfen erinnern. So halten diese KämpferInnen für mehr Gleichheit beim Einschüchtern und Ausstechen mit, während ihre Schwerter als Pflugscharen dienen.
~~~ Als man Vera Sprosse einmal »blanken Neid des Titellosen!« unterstellte, behauptete sie, ihr wäre ein Doktor- oder Professorentitel eher peinlich. Auf keinen Fall würde sie ihn auf ihren Briefbögen, Visitenkarten, Buchklappen hervorkehren. Denn für sie heiße so etwas nur: die oder der hat es nötig. Betrüberlicherweise hat sich selbst ein so bescheiden wirkender Schriftstellerkollege wie Walter Kappacher kürzlich (Dezember 2008) von der Universität Salzburg einen Ehrendoktorhut verpassen lassen. Aber womöglich ziehen nur solche Bekränzungen die prominenten Literaturpreise nach sich. Im Mai 2009 empfing Kappacher den Georg-Büchner-Preis. Sich zu fragen, warum ein unpolitischer Elfenbeintürmer wie Kappacher ausgerechnet einen nach einem Revolutionär getauften Preis erhält, führt nicht weiter – höchstens zurück, denn es ist nicht die erste Verwechslung, die der sogenannten Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt unterlaufen ist. Sie hat derzeit knapp 180 Mitglieder, darunter just Kappacher (seit 2004). Dessen Landsmann Thomas Bernhard stieg 1979 aus, weil ihm diese Akademie gar zu sehr nach einer Anstalt für »Eigenbeweihräucherung« stank, wie er damals öffentlich erklärt haben soll.*
~~~ Ich will noch kurz erläutern, warum mir die Titelei gegen den Strich geht. Zunächst maßt sie sich an, die sogenannte geistige Leistung über alle anderen Leistungen zu stellen (die wahrscheinlich kopflos vollbracht werden). Wer aber wollte im Ernst behaupten, eine Glosse oder einen Roman zu schreiben sei schwieriger, als einen Kindergarten hochzumauern oder dessen Dachstuhl zu zimmern? Oder wichtiger? Glossen und Romane haben wir doch eigentlich schon eher zuviele, während wir durchaus noch ein paar Kindergärten gebrauchen könnten. Sollten Titel aber unverzichtbar sein, wäre zu erwägen, solche Leute mit ihnen zu bedenken, die sich darauf verstehen, Fußgängerzonen und Gewerbegebiete unsichtbar zu machen, das nächste Oder- oder Elbehochwasser in die Wolkenkratzer unserer Banken und Versicherungen zu leiten oder Hundekothaufen in Fangeisen zu verwandeln, die nur auf die Schweißfüße von Hundehaltern ansprechen.
~~~ Sodann ist es noch immer eine verbreitete, wenn auch überwiegend verhüllte Empfindung, einen Diplom-Ingenieur, einen Doktor Soundso oder sonst einen Akademiker für einen besseren Menschen zu halten als den Menschen ohne Titel. Durch den Titel wächst der Betreffende im Charakter; er schießt zur bedeutenden Persönlichkeit, zum Vorbild also auf. Das ist natürlich lachhaft. Dadurch werden bestimmte, begrenzte, oft durchaus fragwürdige »Leistungen« mit der ganzen Person verquickt, was immer falsch ist. Jeder einigermaßen beschlagene Schriftsteller, der sich nichts vormacht, weiß von seinen Texten, daß sie stets »besser« sind als jener leibhaftige Zeitgenosse, der sie ersonnen hat. Deshalb schreibt er sie übrigens. Im besten Fall gleichen sie das Erschrecken über die eigene Unzulänglichkeit aus, aber sie beseitigen sie nie.

∞ Verfaßt 2009
* »Unheil und Brei. Einer Akademie zum 60.«, Junge Welt 29. August 2009, zitiert bei Schrift & Rede 2009: https://www.sprachforschung.org/index.php?show=news&id=634

Siehe auch → Anarchismus, Tauberbischofsheim (akad. Grade) → Briefe, Wenn die Post (Prof.Dr.) → Recht, Spitzfindigkeiten (Tucholsky)




Tod

Leichentourismus bedeutet nicht, beispielsweise den winzigen verwunschenen Waldfriedhof über Schnepfenthal zu besuchen. Ob Sophie Salzmann – an den Eich-Vers Was wären wir ohne den Trost der Bäume! gelehnt – Trost von ihrer Buche erfährt, werden wir ohnehin nicht erfahren. Der schlanke Baum, um 15 Meter hoch, erwuchs genau dem Kopfteil ihres Grabes.
~~~ Im übrigen wird der ansehnliche aber verblichene Lehrkörper der berühmten Salzmannschule bei Waltershausen von trutzigen Eichen und Linden beschattet. Mit Förderung des Herzogs Ernst II. 1784 gegründet, genehmigte dieser der Schule später auch den eigenen Friedhof. Der Landrat in Gotha täte dies gegenwärtig nicht. Doch wie lange noch haben deutsche Friedhöfe, derzeit rund 32.000, Staat oder Kirche zu gehören? Für Urnenbeisetzungen auf privatem Gelände lassen sich hier und dort schon Ausnahmegenehmigungen erwirken. Der gesetzliche »Friedhofszwang« war Hygiene und Gesundheitsvorsorge geschuldet, so dem Trinkwasserschutz. Dürfte ein jeder nach Belieben oder Platzvorteil »wild« bestatten, gliche Deutschland binnen weniger Jahre den verpesteten Vorstädten, die es lieber in Djakarta oder Kalkutta weiß. Der Erwanderer des Thüringer Waldes würde dann nicht nur über Fernsehgeräte, Autowracks und Müllsäcke mit nicht mehr ganz frischen Windeln stolpern.
~~~ Aber genau so wird es eintreffen, wenn dem um sich greifenden Privatisierungswahn keine Kollision der Milchstraße mit dem Andromedanebel zuvorkommt. Unsere BestatterInnen hauen sich bereits mit Dumpingpreisen. Um wenigstens ab und zu eine »Polizeileiche« zu ergattern, heißt es künftig Schwarze Sheriffs schmieren. Gemeint sind nicht etwa gefallene Kräfte, vielmehr paß- oder heimatlose tote Kunden der Polizei, die ins Kühlhaus müssen.
~~~ Ikea brütet neuerdings über der Idee, verstorbene Kunden gleich in Folie einzuschweißen und in die Tiefgarage rutschen zu lassen. Kostendämpfend wirkt dann vor allem der sogenannte Leichentourismus, bei dem des Bestatters Sattelschlepper preisgünstige Privatkrematorien auf dem Balkan anläuft. Wenn Kasseler SepulkralkulturwächterInnen in unfreiwilliger Komik beklagen, solche »unnützen« Rüttelfahrten widersprächen dem Grundsatz der Totenruhe, übersehen sie, wie quicklebendig dadurch das Kapital wird.

∞ Verfaßt um 2010


Aufgrund eines überzeugenden Sanierungskonzeptes konnte der Buchhändler vor einigen Jahren den denkmalgeschützten Töpfersturm, der vom Friedhof her die Waltershäuser Altstadt überragt, vergleichsweise billig erwerben. Ein über 500 Jahre alter doppelgeschossiger Ring aus Sand- und Kalksteinen (Innendurchmesser sieben Meter) trägt ein spitzbedachtes Achteck aus Fachwerk, das nochmals zwei Geschosse bietet. Auf einem hübschen Ölgemälde des jungen Friedrich Holbein von 1884 ist die Wetterseite mit roten Biberschwänzen verkleidet; heute sind es ringsum graue Schieferschindeln. Wasseranschluß und Kamin waren vorhanden, denn der Töpfersturm wird seit Jahrzehnten zum Wohnen benutzt. Nachdem er noch ein Mehrfaches des Kaufpreises und viel Arbeit in den Innenausbau steckte, wohnt der Buchhändler – ein gelernter Schlosser – nun selber mietfrei dort.
~~~ Als erwerbsloser Hüttenbewohner kann ich ihn nur beneiden. An solchem Gemäuer würden sich die Gothaer Fallbeilmanager die Birnen einrennen oder zumindest anbrennen, ließe ich doch sofort eine Pechnase über der Vortreppe ein. Nach Südwesten genösse ich den Aufblick zum Schloß. Da es angestrahlt wird, könnte ich es die ganze Nacht hindurch kostenlos betrachten. Den Strom zahlt ja »die Stadt« – eine der tröstlichen kostenlosen Abstraktionen. Ins kupferfarbene Licht getaucht, wirkt das Schloß seltsam unbegreiflich: mal auf die Altstadt drückend, dann wieder unnahbar, wie entrückt. Als Buchhändler würde ich meiner Kundschaft weismachen, Kafkas Roman Das Schloß sei in der Waltershäuser Töpfersturmschreiberstube entstanden. Daher die Unzugänglichkeit, ja Ungenießbarkeit sowohl der darin geschilderten Residenz wie des ganzen Textes.
~~~ Gen Osten böte mir die Turmuhr der Stadtkirche kostenlos die Zeit. Schlüge sie jäh die letzte Stunde, wäre es kein Grund zur Panik. Die Flügeltür der Friedhofskapelle, wo sich öfter silbern lackierte Kastenlimousinen beim Be- und Entladen beobachten lassen, liegt keine 20 Meter entfernt auf der anderen Straßenseite. Rechtzeitig ein Drahtseil gespannt, könnte ich von meiner Dachluke aus an einer Laufkatze in einer Kiste schaukelnd friedlicheren Zeiten entgegengleiten, ohne meine bestattungspflichtigen Anverwandten mit Taxe zu belasten.

∞ Verfaßt um 2010


Der zarte Mensch sollte Friedhöfe meiden. Die gellenden, sich beißenden Meuten einschlägiger Schnitt-, Topf- und Rabattenblumen brächten ihn sicherlich um. Keine paßt zur anderen. Dafür stecken die Leidensmienen bei jedem Begräbnis in dem gleichen öden schwarzen Tuch. Umgekehrt fände ich es besser.
~~~ Zwar liegt auch meine Großmutter Helene auf einem solchen Schreckensort. Sie hatte viel zu leiden, ehe sie mit Hautkrebs ihrem im Krieg gefallenen Ältesten unter die Erde folgte. Trotzdem weigere ich mich, besonders um sie zu trauern. Neulich bat mich Kommunardin M. bedrückt um Nachsicht, weil sie soeben erfahren habe, ihre Freundin E. liege für immer gelähmt im Krankenhaus. Jemand hatte E. ein Messer in den Rücken gestochen. Nach dieser Eröffnung wurde M. von Weinkrämpfen erschüttert. Ich hütete mich, sie darauf hinzuweisen, solche erschütternden Fälle stünden Tag für Tag in der Zeitung. Nur gehen sie uns dann nichts an.
~~~ Dagegen pochen Humanisten wie Alain oder auch dessen Sprach- und Zeitgenosse Victor Serge als Anarchist darauf, der Mensch werde in erster Linie durch die Menschheit ausgemacht, nicht durch Familie, Sippe oder linke Landkommune. Von daher wäre Gerechtigkeit, entweder um alle oder um keinen zu trauern. Zwar läßt sich nicht bestreiten, daß solche männlichen Ideen wie Staat, Gesetz und leider auch Gerechtigkeit mit einer gewissen Hartherzigkeit einhergehen, doch das Allgemeingültige ist nun einmal hart. Eben das hat es mit dem Tod gemein.
~~~ Die Vielfalt der Namen und der Daten allein auf den Grabsteinen des Bettenhäuser Friedhofs ist schon ungeheuerlich. In der Tat, sie ist zu viel. Aber sie gibt mir immerhin die Idee ein, in dem schlichten Gedenkstein meines eigenen Grabes an Stelle der Namenstafel ein Viereck oder Loch aussparen zu lassen. Der Blick ins Nichts. Oder, falls man Pech hat, auf gelblila gestreifte Petunien.

∞ Verfaßt um 2010


Brockhaus hat zwei Zeilen für die Überlebensrente übrig. Das grundsätzliche, ziemlich breitgefächerte Problem des Überlebens ist ihm entgangen. Mir drängt es sich gerade auf, weil selbst Walterhausen eine größere Brücke vorzuweisen hat. Auf ihr quert die Regionalbahn eine Ausfallstraße. Sie steht noch. Ich hätte natürlich auch mit der Regionalbahn nach Fröttstädt und dann Dresden reisen können, das ich schon immer einmal kennenlernen wollte. Dort fiel dieser Woche, um drei Uhr früh des 11. Septembers (!), ein Teil der Carolabrücke in die Elbe. 18 Minuten vorher hatte es noch eine Straßenbahn über die Brücke gebracht.* Die günstige Nachtzeit der mutmaßlichen »Materialermüdung«, von der keiner eine Ahnung gehabt haben will, ist reiner, glücklicher Zufall. Es gab weder Tote noch auch nur Verletzte. Jetzt knobelt bereits ein Rudel von Experten an der Aufgabe, das Brückenmaterial schon bei der Errichtung einer Brücke so zu programmieren, daß es eben immer nur nachts müde wird.
~~~ Gibt es doch Unfallopfer, kämpfen empfindliche Gemüter gern mit der Gefahr sich zu schämen, weil sie aus schwer begreiflichen Gründen unbeschadet davon gekommen sind. Kürzlich zum Beispiel entschied ich mich dagegen, den Unfalltod einer jungen Alpenbewohnerin zu behandeln. In Begleitung einer guten Freundin hatte sie vor einigen Jahren den Hausberg ihres Heimatstädtchens bestiegen, der keineswegs hoch und ihr zudem vertraut war. Sie rutschte jedoch unvermutet vom Pfad ab und stürzte dadurch in den Tod. Die Freundin konnte ihr nicht mehr helfen. Man fragt sich freilich rasch, wer vielleicht der Freundin geholfen habe. Jeder Mensch ohne dickes Fell hätte sich ja sicherlich an deren Stelle bohrende Fragen gestellt, ja er hätte sich womöglich krankgegrämt und am Ende auch noch umgebracht. Warum gerade sie und nicht ich? Habe ich unter Umständen etwas versäumt oder falsch gemacht? Habe ich sie auf dem Gewissen, weil ich das und das vorschlug, die und die Anspielung machte oder weiß der Teufel was? Hier lauern unzählige Stolpersteine.
~~~ Ich kenne weitere vergleichbare Fälle. Freilich kenne ich sie alle nur aus zweiter Hand, kann mich also kaum in das jeweilige mutmaßliche Opfer der Gewissensnot hineindenken. Die meisten Quellen umgehen das Problem sowieso. Dummerweise kann ich aber die Überlebende schlecht auf eigene Faust befragen, weil ich durch mein Stochern womöglich zusätzlichen Gram aufrühren würde. Schon die Frage, ob sie sich vielleicht um seelenärztliche Beratung bemüht hätte, kann sie in den falschen Hals bekommen. Ich selber hätte mir wahrscheinlich eine gesucht. Nur: was soll der Berater schon sagen? »Das hätte jedem passieren können / Gottes Wege sind unerforschlich / Die Mißstimmung zwischen Ihnen und der Verunglückten bilden Sie sich doch nur ein / Und wenn schon, dann bitten Sie sie eben um Verzeihung, das gewährt sie Ihnen bestimmt …«
~~~ Zu allem Unglück stammte die Verunglückte auch noch aus literarischem Hause und galt selber als künstlerische Begabung, die zu einigen Hoffnungen berechtigte. Ähnliches liest man im Hinblick auf die Freundin nicht. Ach, was sage ich: von der Freundin liest man überhaupt nichts, es ist ein Skandal. Wäre sie abgestürzt, hätte ihr vermutlich zumindest ein Heimatblättchen ein paar Zeilen und ein Foto gewidmet. Das »tragische Schicksal« der tatsächlich Verunglückten ging dagegen durch unsere bekannten sogenannten Leidmedien. Allerdings sollte man die Freundin vielleicht nicht völlig beleglos bedauern. In nicht einer Quelle ist von Augen- oder Ohrenzeugen des angeblichen Unfalls die Rede. Da dürften zumindest ein paar Kriminalschrift-stellerInnen die Brauen heben.
~~~ Grundsätzlich ist es natürlich immer wieder haarsträubend, wie wahllos und insofern unerklärlich der Unglückshammer zuschlägt. Hätte ich palästinensische Eltern gehabt, läge ich jetzt vielleicht angeschossen im Krankenhaus von Rafah und sähe die Betondecke des nächsten Stockwerkes auf mein Bett zukommen: christliche Bombardierung. Aber der Gazastreifen ist vergleichweise weit weg. Das Problem des Überlebens setzt uns in der Regel umso mehr zu, je näher uns die Unglücksopfer stehen. Viele horchen überhaupt erst auf, wenn »mein eigenes Kind!« unter die Räder eines röhrenden VW-Touaregs kommt. Als Anarchist bin ich selbstverständlich dagegen, daß man Trauer gradweise je nach Verwandtschaft oder Vaterland verliest, jedenfalls theoretisch. Aber wer wollte das praktisch aushalten, täglich um die halbe Welt zu trauern?
~~~ Petra Kelly tat es, und Victor Serge hätte ihr darin wahrscheinlich zugestimmt. Der russisch-französische Revolutionär und Schriftsteller bringt gleich auf den ersten Seiten seiner 1951 veröffentlichten Erinnerungen eine Bemerkung, die ich mir schon vor Jahren dick angestrichen habe. Ich erlaube mir, aus der deutschen Übersetzung von 1991, Seite 11/12, den ganzen betreffenden Absatz anzuführen, ist das Buch doch viel zu wenig verbreitet. Serge spricht gerade von seiner Knabenzeit in Brüssel:
~~~ >Daß Kummer vorübergehen kann und daß man danach weiterlebt, wunderte mich sehr. Überleben ist das Verwirrendste von allem, das glaube ich auch aus vielen anderen Gründen. Wozu überleben, wenn nicht um jener willen, die nicht überleben? Dieser unklare Gedanke rechtfertigte für mich das Glück, das ich hatte, und meine Ausdauer, indem er ihnen einen Sinn gab; und aus vielen anderen Gründen fühle ich mich noch heute mit vielen Menschen verbunden und durch sie gerechtfertigt, die ich überlebt habe. Die Toten sind für mich den Lebenden sehr nahe. Ich sehe nicht recht die Grenze, die sie voneinander trennt. Später, viel später mußte ich wieder daran denken, in den Gefängnissen, während der Kriege, als ich von den Schatten der Erschossenen umgeben lebte, ohne daß sich in mir im Grunde die dunklen inneren Ungewißheiten des Kindes, die kaum deutlich auszudrücken waren, merklich geändert hätten.<

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024
* https://www.nachdenkseiten.de/?p=121192, 12. September 2024

Siehe auch → Alter → Behälter, Zioncheck (Ungewißheit) → Böhmer (Todesursachen) → DDR, Tuchscheerer (Vergänglichkeit) → Gesundheit, Toschke (Todesursachen)→ Größe, Proksch (Stehsarg) → Religion, Riesen (Bestattung) → Selbstmord → Band 4 Bott, Schnee von gestern → Band 4 Düster, Freundschaftsdienst + Müllerkoog, Kap. 2 (T. als Erpressung)




Todesstrafe → Gladow → Krieg, Sacco → Selbstmord, Tost



Der Schriftsteller Ernst Toller, am 1. Dezember 1893 als Sohn jüdischer preußisch-polnischer Kaufmannsleute geboren und nach Ernüchterung im Ersten Weltkrieg zunächst auf führenden Posten der linksradikalen »Münchener Räterepublik« aktiv, wurde nicht eben alt. Er erhängte sich im Mai 1939 unmittelbar nach Francos Madrider Siegesfeier in seinem Hotelzimmer in New York City. Er war 45. Er hatte von seinem Exil aus (seit 1933 in der Schweiz, um 1937 Nordamerika) unermüdlich für antifaschistische Projekte gewirkt, voran zur Unterstützung des republikanischen Spanien. Toller habe sich »in völliger Verzweiflung über die Trägheit der demokratischen Welt und die Brutalität der faschistischen Führer« umgebracht, schreibt Berufs- und Gesinnungsgenosse Gustav Regler später in seinen Erinnerungen.* Aber das dürfte wieder einmal nur ein Viertel der Wahrheit gewesen sein. So war es Toller trotz seines Namens mißlungen, in England als Dramatiker, in Hollywood als Drehbuchautor Fuß zu fassen. Ferner hatte ihn (1938) gerade seine erheblich jüngere Ehefrau verlassen, die Schauspielerin Christiane Grautoff, die ihm durch einige Jahre hinweg eine große Stütze gewesen war. Nun war ihr die Bürde »Toller« wohl zu schwer geworden; man kann es ihr schlecht verdenken. Toller kam nämlich kaum mehr aus seinen zunehmend von Schlaflosigkeit begleiteten »Depressionen« heraus. Laut Wolfgang Frühwald hatte er sich schon um 1935 in London in psychoanalytische Behandlung begeben, bis ihn diese »Krankheit« wenige Jahre später »überwältigt« habe. So dürfte der Madrider Fanfarenstoß Tollers ganzes Elend und seinen Griff zum noch zu musternden Strick »lediglich« beschleunigt haben.
~~~ Obwohl laut polizeilichem Steckbrief von 1919 eher schmächtig und keine 1,70 groß, war Toller sicherlich ein anziehender Mann. Der Verleger Fritz H. Landshoff**, mit dem Toller auch befreundet war und streckenweise (in Berlin und Amsterdam) eine Wohnung teilte, bescheinigt ihm einerseits große Güte, Hilfsbereitschaft und neben einem »oft kindlichen Sinn für Humor« eine »leidenschaftliche Hoffnung auf eine bessere Welt«. Andererseits sei freilich auch Tollers Eitelkeit nicht zu übersehen gewesen, »deren er sich so durchaus bewußt war, daß sie beinahe rührend wirkte – seine gelegentliche Freude an der nie versagenden Wirkung seines besonders, nicht nur auf Frauen wirkenden Charmes, der zeitweise die Zweifel, die er an sich selbst hatte, beschwichtigen konnte –, und seine heimliche Liebe zum Luxus, deren er sich ein wenig schämte, weil er sie nie vor seinem Gewissen rechtfertigen konnte.«
~~~ Man will es kaum glauben, daß dieser Mann dereinst, bis 1924, geschlagene fünf Jahre in bayerischen Gefängnissen gesessen hatte, und das zu einem guten Teil auch noch freiwillig – falls er als Autobiograph nicht ein wenig schöngefärbt hat. Die fünfjährige Haftstrafe hätte sich sogar sehr leicht durch ein Todesurteil erübrigen können. Sie war eine Folge von Tollers »Rädelsführer-schaften« in jener kurzlebigen Münchener Räterepublik, die er später klipp und klar als »Fehler« bezeichnete. In dieser Haftzeit erschrieb er sich seinen Ruhm als bekanntester, noch vor Kollegen wie Brecht, Kaiser, Sternheim gefeierter Dramatiker der Weimarer Republik. Jeder wird den einen oder anderen Titel schon einmal gehört haben, Masse – Mensch etwa, ein Stück, mit dem Toller seine Zelle hätte aufwischen können, so sehr trieft es von Pathos, oder Hoppla, wir leben! von 1927. Diese damals viel Aufsehen erregende Revue um eine gescheiterte Revolution und die Charakterruinen, die sofort von den Barrikaden auf die siegreiche Seite wechseln, ist ungleich genießbarer, weil sie sich aller Durchhalteparolen und eines »Happy Ends« enthält. Karl Thomas, der aus einer Irrenanstalt entlassene Ex-Revolutionär, läßt als Hilfskellner des Grand Hotels in letzter Sekunde seinen Plan fallen, den Arbeiterverräter und Minister Wilhelm Kilman zu erschießen – stattdessen geht aber das Licht aus und der Schuß wird trotzdem abgegeben, nur von einem anderen, vaterländisch gestimmten Attentäter. Nun wird der Mord prompt Thomas angehängt, zumal er seine Absicht dazu beim Verhör nicht verhehlt. Selbst seine Ex-Genossen schenken seinen Beteuerungen, ein anderer habe geschossen, keinen Glauben. Im Gefängnis macht dann zwar noch die Nachricht die Runde, der wahre Täter sei gefaßt worden, Thomas somit unschuldig, aber da ist es zu spät, weil sich dieser in seiner Verstörtheit und Verzweiflung in seiner Zelle erhängt hat. Damit hätte mancher hellsichtige Mensch erahnen können, wie es 12 Jahre später dem Dramatiker selber ergehen würde.
~~~ 1933, schon auf dem Sprung ins US-Exil, legte Toller mit Hilfe seines Freundes Landshoff seine unbedingt empfehlenswerten Jugenderinnerungen vor.*** Darin behauptet er, in seiner Häftlingszeit habe er eine vielversprechende Fluchtmöglichkeit im Verein mit einem Freund und vermittels eines Zahnarztbesuches nach langen quälenden Abwägungen ausgeschlagen, weil er die Arbeit an seinem Drama Hinkemann nicht unterbrechen wollte. Der Freund nimmt die Möglichkeit wahr und entkommt. Darauf habe das Justizministerium Reisen zum Zahnarzt umgehend verboten. In diesem Zusammenhang äußert sich Toller auch zu der Begnadigung, die man ihm 1919 bereits nach sechs Monaten Haft angeboten hatte. »In Berlin wurde mein Drama Die Wandlung gespielt, mehr als hundertmal, der bayerische Justizminister wollte eine Geste der Großmut zeigen und mich freilassen. Ich verzichtete auf den Gnadenakt, ihn annehmen, hieß die Heuchelei der Regierung unterstützen, es widerstrebte mir hinauszugehen, während die Arbeiter weiter gefangen bleiben sollten.«
~~~ Vor dieser Weigerung muß man sicherlich den Hut ziehen, wenn auch der Vorfall mit dem Zahnarzt zeigt, daß sie wahrscheinlich kein Akt reiner Selbstlosigkeit war. Schließlich kam Toller jetzt zum nahezu ungestörten Schreiben. Und zudem hatte er vermutlich auch seinen Genuß an dem Ruf als unbeugsamer Freiheitskämpfer. Das sollte ihn freilich noch in die Zwickmühle führen, wie Landshoff erkannte. »Der Gefangene hielt ganz Deutschland in Atem – der Freigelassene war seiner Märtyrerkrone beraubt und einer strengen Kritik unterworfen.« Aus diesen Schattierungen machte Toller aber keinen Hehl. Nach meinem Eindruck war er ein ungewöhnlich ehrlicher und selbstkritischer Revolutionär und Schriftsteller, wie gerade auch sein gut geschriebenes Erinnerungsbuch bezeugt. Darin stellt er sogar einmal ausdrücklich heraus, wie oft die Motive eines Aufbegehrenden heillos vermischt und letztlich undurchschaubar seien, auch für diesen selbst. Eben deshalb, sage ich nur nebenbei, sind sie auch oft die Quellen des Umfallens oder Verrates. Beim Rebellen spielten »Gefühle, Begierden, Erinnerung, ja vielleicht die Sonne, der Sturm, eine Speise, ein Getränk, die Ahnen« mit, erläutert Toller. Dem Knaben Ernst im posener Landstädtchen Samotschin legt er in den Mund: »Alle Erwachsenen sind schlecht, alle. Sie sind stärker als wir, aber man kann sie überlisten, wenn man schlau ist. Unsere Räuberbande ist schlau. Ich bin der Hauptmann.«
~~~ In der Münchener Räterevolte hat dann die Schlauheit versagt. Tollers Gegenspieler Genosse Eugen Leviné, gleichsam über nacht aus Berlin angereist, führt bereits den kommunistischen Zickzackkurs vor, den die KPD während der gesamten Weimarer Republik an den Tag legen wird. Nicht der hehre Zweck bestimmt die Mittel, sondern das kaltblütige Pokern um die Macht. Gleichwohl beklagt Häftling Toller, in Freiheit noch Vorsitzender der Münchener USPD, die Hinrichtung Levinés, die er einen Justizmord nennt, ganz unmißverständlich. Die Grausamkeiten und Demütigungen seitens der siegreichen Gegenrevolution, die Toller ausbreitet, sind kaum zu fassen. Aber gegen Ende seines Buches kommt er auch noch einmal auf die Zwiespältigkeit der Haft zurück. Kurz vor der Entlassung stehend, habe ihn jäh die Angst vor der neuerlichen Freiheit angefallen. Er sei sogar nahe daran gewesen, sich umzubringen. Trotz vieler Schikanen, die er erdulden mußte, habe ihn das Gefängnis doch immerhin versorgt und geschützt. Jetzt drohten ihm neue Kämpfe; auch hätten Tausende Erwartungen an ihn, die er vielleicht nicht erfüllen könne. Diesen Anfall überwand er zunächst.
~~~ Was Tollers Exiljahre angeht, spricht Landshoff von einem »manisch-depressiven« Krankheitsbild. Das paßt ja recht gut zu den Schwankungen, die ich bereits gestreift habe. Es paßt auch zu der Sache mit dem Strick. Während die eine Quelle von Tollers Bademantelgürtel, die andere von der Seidenkordel seines Nachthemdes spricht, soll es nach Landshoff ein stinknormaler Strick gewesen sein. Toller habe Christiane ausdrücklich angewiesen, diesen Strick, »den er auf Reisen, besonders in den letzten Jahren, immer bei sich haben wollte«, beim Kofferpacken nie zu vergessen, teilt der Freund mit. Vielleicht wird die Frage des Selbstmordgerätes stets ungeklärt bleiben. Nur eins steht fest: Toller packte seinen Koffer offensichtlich nie eigenhändig. Dafür war er vielleicht schon zu zerrüttet.

∞ Verfaßt 2023
* Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 509
** Amsterdam, Keizersgracht 333, Querido Verlag, Berlin 1991, S. 112–18 + 121
*** Eine Jugend in Deutschland, Amsterdam 1933, hier Stuttgart (Reclam) 2011, zur Haft bes. S. 220/21 + 234, mit umfang- und aufschlußreichem Anhang von Wolfgang Frühwald




Tragik (als Modewort) → Golf, Lema



Träume

Von Gittermasten und Maiskolben --- Mein Traumleben scheint, seit Jahrzehnten, recht rege zu sein. Erfreuliches und Bedrückendes hält sich ungefähr die Waage. Liebeswonnen sind nicht selten. Personen aus meiner Vergangenheit treten öfter auf, darunter leider mein letzter Chef, mit dem ich zunehmend Spannungen hatte. Auf solches Wiederaufleben könnte ich natürlich mit Handkuß verzichten – doch was will man machen? Wahrscheinlich wird man sein Gedächtnis, normalweise, frühstens beim Tod los.
~~~ Jugendliche Versuche, eigene Träume aufzuzeichnen, gab ich bald auf. Sie vertrugen sich nicht mit meiner rationalen und skeptischen Gesinnung. Erzählten mir Leute, etwa in der Kommune, herzergreifend von diesem oder jenem Traum, fragte ich mich jedesmal, woher sie bloß die Sicherheit nähmen, dies gerade so und nicht anders oder gar soeben geträumt zu haben. Für mich hing das alles völlig in der Luft – sie dagegen meinten mitunter, sie hätten jetzt einen starken Wink empfangen und folglich das Steuerruder ihres Lebens herumzureißen.
~~~ Kürzlich, im Mai, beging ich jedoch die Sünde, meinen (angeblich frischen) Traum vom Gittermasten aufzuzeichnen. Auf den so betitelten Zettel bin ich gerade gestoßen. Ich zitiere ihn auf die Gefahr hin, als Möchtegern-Phallokrat verhöhnt zu werden. »Ein Bezug auf aktuelle Erlebnisse, Nachrichten, Erwägungen ist nicht ersichtlich. Ich wohne in der Schlucht einer (Berliner?) Seitenstraße, vielleicht im 2. Stock. Es gilt, einen Gittermasten 'zu fällen', der von unserer Hausfassade störend emporragt, wohl schräg aus einem Sims, wie ein Kranausleger. Eine spezielle Pistole bringt ihn zum Absturz. Anscheinend ist er just nur so breit wie die Schlucht. Jetzt hängt er schräg in derselben, mit dem Ende am gegenüber liegenden Haussockel verhakt. Dort, am Rinnstein, hat er gerade noch eine schwarze Mercedes-Limousine verschont. Dann dämmert mir, welches Schwein ich hatte. Es hätte ja zum Beispiel ein Kind aus jenem Haus treten können. Aber ich muß erst einmal eine Besorgung machen, mit dem Fahrrad. Zurückgekehrt, lehne ich das Rad an mein Haus und denke, jetzt solltest du vielleicht mal aufräumen helfen. Der Mercedes wird gerade unter dem schräg schwebenden Gittermasten hervorgeschoben – gefahren nicht. Die Schiebenden fragen den Eigentümer, ob er jetzt wissen will, wer das war. Er erwidert, im Augenblick sei es ihm nicht wichtig, der Wagen sei ja noch heil. Mir dämmert meine bodenlose Fahrlässigkeit – aber da erwache ich auch schon, mit Schrecken. Ich erschauere: sollte ich wirklich zu einem derart groben Unfug fähig sein? Geträumt habe ich ihn jedenfalls.«
~~~ Nun ja, das wäre wohl noch die Frage … Zwar beklagte Lewis Mumford in seinem vor über 50 Jahren erschienenen Werk Mythos der Maschine, unter anderem, die verbreitete Unterschätzung der »Traumzeit« des Menschen. Das bezog er sowohl auf die Frühgeschichte wie auf die Moderne. Gleichwohl sah er, entgegen neuer Forschungsbemühungen, keine Chance, jemals unmittelbare, gesicherte Informationen über Trauminhalte zu erlangen. Könnten sie selbst »von einem Diagramm exakt abgelesen« werden, heißt es auf Seite 440 der einbändigen Fischer-Ausgabe von 1977, »müßte der Untersucher sich dennoch auf die Bestätigung des Träumers stützen, ob diese objektive Deutung richtig sei, und ohne diese subjektive Verifizierung – die selbst nicht verifizierbar ist! – bleiben seine eigenen Behauptungen zweifelhaft, wenn nicht wertlos.«
~~~ Hätte ich doch im Mai im Züricher »Schlaflabor« der beiden Wissenschaftlerinnen Inge Strauch und Barbara Meier gelegen!* Da hätte ich eine Menge Elektroden an meinem schnarchenden Kopf gehabt, die meine Hirnaktionsströme, meine Augenbewegungen und die Muskelspannungen an meinem Kinn gemessen hätten (S. 31). Auf diese Weise wären schöne Meßkurven entstanden, auf die Mumford schon angespielt hat. Sie hätten meine nächtliche Traumaktivität belegt. Nun muß ich den Damen oder ihren Assistenten nur noch erzählen, was ich geträumt hätte. Und da zahlreiche andere Laborkaninchen das gleiche tun, läßt sich, über die Jahre, ein ziemlich genaues Bild von Arten und Häufigkeiten diverser Träume gewinnen. Nur gesichert ist davon nichts.
~~~ Immerhin räumen Strauch/Meier die mehrfache Wackligkeit ihres (vermutlich durchaus honorarträch-tigen) Forschungsfeldes ein. Schon auf Seite 15 ihres 2004 überarbeiteten Buches stellen sie fest, weder wüßten wir, wie Träume entstehen, noch, warum wir träumen. Unmittelbare Beobachtung fällt leider aus (27). Der einzige Schlüssel zum Tor der seltsamen, »chaotischen« Traumwelt sei die Traumerinnerung – die jedoch sei stets subjektiv gefärbt, sicherlich oft auswählend (79), im ganzen unberechenbar und flüchtig (246). Ziemlich gewiß scheint lediglich zu sein, daß nur das in einen Traum eingehen kann, was im Gedächtnis eines Träumers »in irgendeiner Form gespeichert« ist (153).
~~~ Damit sind wir wieder beim Gedächtnis. Das aber stellt nach meinen Kenntnissen bis zur Stunde ein nahezu unangenagtes Rätsel dar. Wie beim Träumen sind auch beim Sicherinnern oder beim Vergessen zahlreiche Nervenzellen, Synapsen und sogar Gehirnregionen beteiligt – nur weiß keiner, welcher Fahrplan dieser Vernetztheit zugrunde liegt. Vielleicht sollte man seufzen: Gottseidank! Sonst schritte die IT-, Medien- und Pharma-Branche schon morgen daran, uns mit Träumen zu impfen, die wir leider noch nicht gespeichert haben …
~~~ Ich will Sie abschließende noch mit dem Traum der Freiluft-Malerin Mary Dryer beglücken. Er kam mir 2018, als ich an meiner Wild-West-Geschichte Reise nach Fort Lashermink saß [siehe Band 5]. Drei Musiker sind in der Prärie mit zwei Planwagen und einem Piano in geheimer Mission (Waffen!) zu einem Waldlager versprengter IndianerInnen unterwegs. Dabei treffen sie Mary an der Staffelei. Sie malt gerade einen von ihr erlegten Greifvogel ab.
~~~ >>Zum Leidwesen sämtlicher drei Männer war Mary ungefähr so musikalisch wie ein Truthahngeier. Sie konnte schießen, traf aber kaum einen Ton, wenn man sie einmal zum Singen genötigt hatte. Gleichwohl eröffnete sie ihnen eines morgens beim Frühstück, sie habe von einem Chor geträumt, wenn auch nur kurz. Zum Auftakt habe es gehießen, es sei doch eine günstige Gelegenheit, bei dem und dem Präriefest einen Auftritt des neuen Soundso-Chores einzuflechten, bei dem sie, Mary, anscheinend mitwirkte. Alle ChorsängerInnen waren aufgeregt, weil sie eigentlich noch gar nicht genug geübt hatten. Aber dann habe die Szene bereits gewechselt: es sei plötzlich um ein akrobatisches Wagenrennen gegangen, erzählte Mary. Sie stand mit den anderen Chorleuten oder sonstwelchen MitstreiterInnen auf einem von drei feurigen Rossen gezogenen Streitwagen, der unter den Augen des Publikums (vielleicht gab es Tribünen oder Hügel mit Zuschauern darauf, die wie Mary ein Fernrohr besaßen) auf ein langgestrecktes, schmales, bestenfalls 30 Meter breites Maisfeld zuraste. Aufgabe der Insassen sei es nun gewesen, sich in den Sekunden des Durchbruchs vom Wagen aus nach den Seiten hin in den Mais zu hechten, damit es dann so aussehe, als wären sie vom Erdboden verschluckt worden. Tatsächlich donnerten die Rosse nach dem Durchbruch mit wie leergefegtem Streitwagen in die Prärie, während von den Abgesprungenen nicht ein Hemdzipfel zu erblicken gewesen sei. Wahrscheinlich habe das Publikum »Ah« und »Hurra« geschrien und seine Hüte in die Luft geworfen, aber darüber sei sie sich schon nicht mehr sicher. Das war alles, was sie noch von diesem Traum wußte, behauptete sie jedenfalls.
~~~ Steve schrieb den Traum heimlich auf. 15 Jahre später kramte er das entsprechende Heft hervor und trug Marys Traum einem mit ihm befreundeten Psychologen vor, der sich gerade für eine Neuerscheinung aus Wien begeistert hatte, Freuds Traumdeutung. Der Experte zeigte sich von Marys Traum kaum weniger angetan. Marys Sehnsucht nach dem Kollektiv springe einen ja aus diesen Bildern geradezu an. Deshalb, ihrer Einsamkeit wegen, sei sie vermutlich auch Hundehalterin gewesen. Sie habe aber wohl selber geahnt, jene Sehnsucht werde, bei ihrer eigensinnigen Störrischkeit, nie zu stillen sein. Deshalb der Absprung. Allerdings – sie sei ja ins Maisfeld gehechtet, ins Verborgene und auf die Erde zu, ins Mütterlich-Weibliche mithin. Ob die Malerin womöglich starke lesbische Neigungen besessen habe?
~~~ Steve kam diese Auslegung eigentlich ähnlich grotesk vor wie der Traum. Trotzdem sah er den Freund verblüfft an, denn dessen abschließende Frage war keineswegs aus der Luft gegriffen. Niemand von den drei Männern hatte Mary damals »bekommen«, wie es ja immer heißt. Vielmehr setzte sie sich nach einem Konzert in Sidney, dem wir uns aus anderen Gründen gleich widmen werden, wieder von ihnen ab, nachdem sie dabei eine dralle, braungelockte Schullehrerin kennengelernt hatte, die in ihrem Alter war. Als die Männer am nächsten Vormittag abzogen, konnten sie Marys Kutsche neben dem Schulhaus parken sehen, in dem die Dralle auch wohnte. Zwar war das Klappverdeck geschlossen, weil es am Vortag geregnet hatte, doch das Pferd war ausgespannt und mümmelte hinter dem Gartenzaun von der Petersilie. Es fehlte bestimmt nicht viel, und Sandy hätte das Kutschenverdeck, vom Sattel des Schecken aus, mit seinem Karabiner durchlöchert. Gleichwohl verzog er keine Miene.<<

∞ Verfaßt 2022
* Strauch/Meier, Den Träumen auf der Spur. Zugang zur modernen Traumforschung, 2. verbesserte Auflage Bern 200

Siehe auch → Band 5 Zora packt aus, Kap. 13 → Zwerglied beethoven an elise (mp3, 1,006 KB) , aufgenommen solo 2012




Türme

Eigentlich wäre zum Minarett nicht viel zu sagen, denn 1.) weiß jeder, um was es sich dabei handelt, und 2.) ist zumindest kritischen Köpfen klar, daß die muslimischen Gebetsrufer- und Wachtürme trotz ihrer erstaunlich vielfältigen Gestalten nicht aus dem religions- und imperienübergreifenden Bereich des Turmhaften, Emporistischen, Größenwahnsinnigen herausfallen, von dem ich schon eher zu oft gesprochen habe. So wundert es nicht, wenn die historische Tendenz bei der Gestaltung der mal freistehenden, mal angebauten Minarette auf das Zugespitzte, Nadelige, meist auch Elegante geht. Damit verglichen, kann man die meisten christlichen Kirchtürme nur plump nennen. Eine bemerkenswerte Zwischenstellung nimmt das 52 Meter hohe, beinahe kegelförmige Minarett Malwija der schon früh zerstörten riesigen Moschee in Samarra, Irak, ein, von dem Brockhaus ein Farbfoto* bringt. Malwija stammt aus dem Jahr 852. An solch einem Turm kann man sich wirklich die Zähne ausbeißen. Der spiralige Eindruck kommt von der umlaufenden Rampe, die man einer Treppe oder einer Strickleiter vorgezogen hat. Irgendwie muß der Muezzin schließlich hinauf- und wieder hinunterkommen, und zwar in der Regel fünfmal am Tag. Nimmt man an, er wird mit umgerechnet 50 Euro täglich entlohnt, geht schon bald die Hälfte für Wegegeld drauf. Oder vielleicht für einen Zwergmaulesel, ich weiß es ja nicht. Es ist nicht so einfach, in fremde Sitten und Gebräuche einzudringen. Bei uns Christen nehmen sie ja bereits für die Bischöfe Esel, weil diese VierbeinerInnen nicht so üppige Gehälter und Spesen verlangen wie ein Bischof.
~~~ Den ersten Auf- und Abstieg des Tages hat der Gebetsrufer übrigens schon vor Sonnenaufgang zu leisten – Vorschrift. In Israel gibt es allerdings seit 2017 das sogenannte Muezzin-Gesetz, das lästigen Lautsprecherlärm, darunter insbesondere muslimische »Haßreden«, zumindest nachts unterbinden soll. Damit fällt jener erste Gebetsruf natürlich flach. Nebenbei läßt sich daraus schließen, der Beruf des Gebetsrufers sei ähnlich wie die Vernunft längst zum Aussterben verurteilt. Jetzt sitzt da irgendein Rentner in der Moschee, der zu den Gebetszeiten einen Mausbefehl an die Lautsprecheranlage gibt, fertig. Dadurch werden die Maulesel für den Turmaufstieg eingespart. Im Iran wollte man eigentlich auch den Rentner einsparen, weil ein Roboter genausogut sei. Denkste, Puppe! Die CIA hackte den Computer der zentralen Moschee-Verwaltung und gab die unmöglichsten Sommer- und Winterzeiten ein. Das führte zum größten Gebetschaos in der Geschichte des Islam, und so arbeitet man heute wieder mit Rentnern.
~~~ Den Vogel der Verbote schoß bereits 2009 das Volk Wilhelm Tells ab. Die Eidgenossen ließen sich einen sogenannten Volksentscheid gefallen, durch den es, da die Antiislamisten siegten, ab sofort verboten war, in der Schweiz Minarette zu errichten. Bislang ist dieses meist so genannte »Minarettverbot« auch nicht gekippt worden, obwohl sich VerteidigerInnen der »Religionsfreiheit« in dieser Hinsicht einige Mühe gaben. Mir persönlich wäre ein weltweit greifendes Verbot von Verboten lieber, aber man predigt in taube Ohren. AfD und BSW schwenken jetzt auch schon auf die beliebte Verbotslinie ein. Während sich die AfD für ein Pizzaverbot stark macht, weil Pizzagenuß deutsches Reinheitsempfinden verletze, es sei denn, der Bäcker verwende ausschließlich schwarze Oliven, haben sich die Wagenknecht-Leute ein Kaugummiverbot auf die Fahnen geschrieben. Das ist so die reformistische Art und Weise, auf Antiamerikanismus zu setzen, ohne daß es gleich jeder merkt. Man hört freilich schon von Fraktionskämpfen. Die gemäßigten WagenknechtlerInnen möchten lediglich die Unsitte verbieten, Kaugummi unter die Tischplatten zu kleben. Durch die Unsitte erschwere sich das erfolgreiche Aufspüren von Miniwanzen, die der Verfassungsschutz bekanntlich nur zu gern einsetze, um die Sitzungen des BSW-Vorstandes zu belauschen. Lächerlich! Als ob es in diesem Vorstand jemals zu einer halbwegs anständigen Verschwörung kommen könnte.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 26, Juli 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Minarett_von_Samarra#/media/Datei:Samara_spiralovity_minaret_rijen1973.jpg



Der 36 Meter hohe Wasserturm im Baseler Bruderholz kann sich mit mindestens einem für Schlagzeilen sorgenden Selbstmord brüsten. Bis dahin war die Lehrerstochter Lore Berger (1921–43) eine unbekannte Schriftstellerin gewesen. Dann verfiel sie auf die Idee, sich in dem stadtnahen, auf einer Anhöhe gelegenen Wäldchen* sozusagen drehbuchgemäß von dem eindrucksvollen Wasserturm zu stürzen. Prompt erbarmte sich daraufhin ein Züricher Verleger eines Romanmanuskriptes der 21jährigen Selbstmörderin und brachte es im folgenden Jahr unter dem Titel Der barmherzige Hügel als Buch heraus. Dessen weibliche Hauptfigur verzweifelt an einem treulosen jungen Rechtsanwalt, ihrem braven, biederen, von Flammen umloderten Vaterland, ihrem mit Todessehnsucht geschwängerten, maßlosen Glücksstreben und ihrer Magersucht, die sie schließlich auf den erwähnten Turm treibt, wenn ich verschiedene BerichterstatterInnen richtig verstanden habe. Somit hatte sich das Werk, wenige Monate nach seiner Vollendung, als Muster oder Generalprobe für den Aufsehen erregenden Abgang seiner Schöpferin erwiesen. Es wurde verschiedentlich gelobt**, 1981 auch verfilmt, wodurch es vermutlich nicht noch besser wurde. In den 1990er Jahren hatte es anscheinend das Glück, von Luise F. Pusch gepusht zu werden. Damit wurde Berger zur Wahnsinnsfrau.
~~~ Ob der Wasserturm des verwilderten Bahngeländes am Westberliner Gleisdreieck Tote und Verletzte auf dem Gewissen hatte, könnte ich nicht sagen. Er stand unweit der verfallenden Lokschuppen. Er war ohne Zweifel ein Original und nur wenigen Eingeweihten bekannt. Wie bei Neumann auf dem dritten Foto von oben angedeutet wird***, handelte es sich um eine mächtige, aufgebockte, damals bereits angerostete Stahlkugel. Ich hatte das verwunschene ausgedehnte Gelände um 1978 entdeckt und durchstreifte es in wenigen Jahren unzählige Male. Passend stellte sich damals auch eine neue Geliebte für mich ein, die Bildhauerstudentin D., die günstigerweise eine Spiegelreflexkamera besaß. Foto 2 bei Neumann sicherte sie sich selbstverständlich auch: der abgeknickte Schornstein des Kesselhauses mußte für die »antiphallokratischen« Bestrebungen herhalten, die damals in Westberliner Spontikreisen Mode waren. Den Wasserturm erklommen wir wiederholt gemeinsam. Natürlich war das verboten. Durch eine klemmende Tür konnte man jedoch in die Wendeltreppenröhre des Gerüstes und dann auf die untere Plattform an der Kugel gelangen. Weiter ging es über eine Außenleiter, wenn ich mich recht erinnere, zum zweiten Umgang des Behälters. Von dort aus bot eine Luke die interessante Möglichkeit, in den Behälter zu klettern. Wie sich versteht, barg er inzwischen kein Wasser mehr. Er bescherte einem aber schauerliche Echos, wenn man beispielsweise wie ein Walroß grunzte oder brüllte. Als schlechter Querflötenspieler nahm ich häufig auch mein Instrument mit, um meine Geliebte mit Hilfe des Halls in der Kugel über die magere, völlig unzureichende Beschaffenheit meines Zwerchfells hinwegzutäuschen. Meine Töne hauten D. selbstverständlich um – gern rücklings gegen die gewölbte Behälterwand, sodaß ich sie (D.) tüchtig abknutschen konnte.
~~~ Als sie mir einige Jahre darauf den Laufpaß gab, weil ich wohl doch ein unverbesserlicher, unschlüssiger Wirrkopf war, hatte sich die Westberliner Romantik erledigt. Ich wußte noch mit 50 nicht so genau, was ich eigentlich wollte. Gewiß wollte ich wie so viele Größenwahnsinnige alles auf einmal, aber das übersteigt oft die Kräfte. Vor allem die der Geliebten.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 39, Oktober 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Bruderholz#/media/File:Blick_Richtung_St._Jakob_und_Bruderholz_von_der_oberen_Talstra%C3%9Fe_in_Grenzach.jpg
** Iris Meier, https://www.bzbasel.ch/kultur/buch-buehne-kunst/lieben-und-leiden-auf-dem-wasserturm-131890909, 10. November 2017
*** Peter Neumann, https://www.berliner-zeitung.de/archiv/technikmuseum-berlin-ausstellung-die-angehaltene-zeit-am-gleisdreieck-li.620055, 17. November 2013

Siehe auch → Größe, Türme + Hochhaus

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