Dienstag, 14. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 35
Spitz – Stier
Spitz – Stier
ziegen, 18:19h
Vergleichen wir die Undurchsichtigkeit der üblichen Marionettendemokratie mit dem abgegriffenen Eisberg, stellt das Heer der Spitzel, Agenten und Provokateure, die sich bei jeder Gipfelkonferenz und den sie begleitenden Demonstrationen auf die Füße treten, in der Tat nur dessen Spitze dar. Aber schon in dieser finden seit dem Altertum erstaunlich viele Arbeitsplätze Platz. Selbst Jesus wurde bekanntlich nicht aus doktrinären, vielmehr pekuniären Gründen verraten. Wie Bernt Engelmann erwähnt, hielten es deutsche Obrigkeiten insbesondere nach den Bauernerhebungen um 1525 für angebracht, ihren jeweiligen Einflußbereich mit einem Netz aus Spitzeln zu überziehen. In IIja Ehrenburgs lesenswertem Babeuf-Roman Die Verschwörung der Gleichen wimmelt es nur so von Spitzeln. Unter dem »Direktorium« kommt es (um 1800) sogar zu einem Streik der Pariser Spitzel, weil sie nicht mehr in wertlosem Papiergeld entlohnt werden möchten. Sie pokern sozusagen um Judas‘ Silberlinge.
~~~ Entscheidender ist jedoch, daß es sich bei der Demokratie von vorne bis hinten um ein Spiel mit gezinkten Karten handelt. Jeder Politiker muß vor allem erlernen, wie man im Stillen Fäden zieht, wie man erpreßt, Fehler vertuscht, Wahlversprechen bricht und sich ausschließlich auf Kosten des Gegners profiliert. Vor den Kulissen macht er der sogenannten Öffentlichkeit zuliebe den »Schöndünster« (E. G. Seeliger), während er hinter ihnen Kuhhandel treibt. Nach dem bewährten Spion und Schriftsteller Victor Serge stellten hier die Bolschewisten keine Ausnahme dar. Statt Räterepublik Verrätertum. Wären alle gemeinschaftlichen Belange und Vorgänge – etwa Einkünfte, politische Absprachen, berufliche und militärische Pläne – transparent, bräche jedes Herrschaftssystem auf der Stelle zusammen. Herrschaft braucht Dunkelheit, viele Grauzonen – und jede Menge Feinde. Nur mit deren Hilfe kann die Marionetten-demokratie jede Geheimhaltung und jede Schweinerei rechtfertigen. Hätte sie‘s nur mit freundlichen Bürgern und Nachbarn zu tun, wäre sie überflüssig. Doch dann könnten Heckler & Koch ihre Sturmgewehre nicht mehr nach Afghanistan oder Georgien liefern – und wohin dann mit all den Neid und Haß schürenden Lobbyisten, Politikern und Spitzeln? Wie sich versteht, müssen diese Feinde in den schwärzesten Farben gemalt werden. George Kennan galt nach 1945 als »größter Kreml-Experte« der US-Regierung. Auf diese Zeit des »Kalten Krieges« zurückblickend, stellte er laut Tim Weiner 1996 fest: »Aufgrund unserer Kriegserfahrungen hatten wir uns daran gewöhnt, einen großen Feind vor uns zu haben. Der Feind muß immer im Zentrum stehen. Er muß absolut böse sein.«
~~~ Zum 60. Jahrestag des ostdeutschen Ministeriums für Staatssicherheit bringt die Junge Welt ein Interview mit Werner Großmann und Wolfgang Schwanitz, den beiden letzten noch lebenden Stellvertretern des Ministers Erich Mielke. Ihre Äußerungen klingen selbstverständlich etwas anders als beispielsweise ein Artikel aus der Süddeutschen Zeitung vom 26. April 2009, in dem der britische Historiker Tony Judt mit der Bemerkung zitiert wird, die DDR habe sich nicht vom mörderischen Hitlerfaschismus unterschieden, die Bezeichnung »Unrechtsregime« sei »verharmlosend«. Die Stasi habe »nicht nur die Funktion und Praxis der Gestapo, sondern viele ehemalige Gestapoleute und Informanten übernommen … Politische Opfer des neuen Regimes [der späteren DDR] wurden von Ex-Polizisten verhaftet, von Ex-Nazirichtern verurteilt und in Zuchthäusern und Konzentrationslagern, die der neue Staat en bloc übernommen hatte, von ehemaligen KZ-Wächtern bewacht.«
~~~ Großmann und Schwanitz begnügen sich damit, solche gemeingefährlichen Verharmlosungen des deutschen Faschismus, die von einem als seriös geltenden Blatt verbreitet würden, Schwachsinn zu nennen. Man kann dem Schwachsinn Antworten der Bundesregierung vom 29. Januar 2008 auf Fragen der FDP-Fraktion entgegenhalten, die Großmann und Schwanitz zu Beginn des Interviews erwähnen. »Nach den Einstellungs-richtlinien der Volkspolizei und des MfS war die Einstellung von NSDAP-Mitgliedern nicht gestattet.« Eine Stichprobenanalyse für den Mitgliederbestand des Jahres 1953 habe auch keine NSDAP-Mitglieder feststellen können. Auch die Beschäftigung von Polizisten und Geheimagenten des Dritten Reiches habe den Einstellungsrichtlinien widersprochen. »Daran hat sich die DDR-Staatssicherheit prinzipiell gehalten.« Gegenteilige Aussagen in älterer Forschungsliteratur seien anhand der BStU-Akten durchweg falsifiziert worden, mithin als »Irrtümer« oder Fälschungen erkannt. Laut Schwanitz gab es noch nicht einmal ehemalige Wehrmachtsoffiziere im MfS.
~~~ Doch all die bekannten, gebetsmühlenartig wiederholten Verleumdungen des »Unrechtstaats« DDR, seiner »maroden« Wirtschaft und so weiter reißen nicht ab. Sie folgen dem bewährten Muster Haltet den Dieb! Je schlechter ich die Gegenseite mache, umso besser stehe ich selber da, beispielsweise mit meinem von Nazis gegründeten BKA. Laut Schwanitz wurden nach der »Wende« im Rahmen eingehender Ermittlungen unsrer Justiz gegen mehr als 100.000 Ostdeutsche Verfahren eingeleitet. »Am Ende wurden 289 Personen verurteilt, davon 19 mit einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Unter diesen Verurteilten waren ganze 20 beim MfS. Zwölf erhielten eine Geldstrafe, acht eine Freiheitsstrafe, wovon sieben zur Bewährung ausgesetzt wurden. Es gab nicht einen einzigen nachweisbaren Fall von Mord, Folter, Zwangsadoption oder Einweisung in die Psychatrie – also kriminelle Vorfälle, von denen fortgesetzt behauptet wird, es habe sie gegeben.« Folgerichtig habe Oberstaatsanwalt Bernhard Brocher, einst bei der Berliner Sonderstaatsanwaltschaft II mit jenen Verfahren beschäftigt, unmißverständlich erklärt: »Nach dem Stand der Ermittlungen ist eine Bewertung des MfS als kriminelle Organisation nicht mehr zu halten.« Die Summe von »Exzessen« sei nicht auffallend und nicht größer als in vergleichbaren Behörden der Bundesrepublik. Man stelle sich vor, Bild warte mit der Schlagzeile Mielke war in Wahrheit Waschlappen auf.
~~~ Gleichwohl räumen die beiden Stasi-Häuptlinge ein, ihre Behörde sei, vor allem nach innen gerichtet, oft falsch oder überzogen vorgegangen. »Das MfS wurde zum Vollstrecker einer verfehlten Sicherheitspolitik gemacht. Es hat objektiv dazu beigetragen, die Entfaltung der sozialistischen Demokratie und konstruktiver Kritik zu behindern.« Zuvielen Kritikern sei sofort die Feindschaft zum System unterstellt worden. Und eben diese Feindschaft konnte man sich nach den eigenen Worten der Häuptlinge nicht leisten. »Die meisten MfS-Angehörigen wollten einen anderen, einen besseren Sozialismus als den, den wir hatten.« Das kann man glauben oder nicht. »Aber das setzte voraus, daß der Sozialismus, den wir bereits geschaffen hatten, weiter existierte.« Ergo durfte am System nicht gerüttelt werden. Es durfte nicht in Frage gestellt werden. Warum eigentlich nicht?
~~~ Da es jedem System mißfällt – auch der Bonner oder Berliner Republik – in Frage gestellt zu werden, liegt meine Antwort auf der Hand. Es gab gar keinen Sozialismus. Vielmehr war das Motiv wie überall: Die Mächtigen möchten oben bleiben, die Steuermänner wünschen recht zu behalten, alle NutznießerInnen bangen um ihre Privilegien. Ein gutes oder reformierbares System hätte selbstverständlich gar keinen Anlaß, Angst vor Wühlarbeit und Umsturz zu haben. Es braucht nicht »geschützt« zu werden. Seine Sicherheit läge in der Dankbarkeit, der Offenheit, dem gegenseitigen Vertrauen aller, die es aufgebaut haben und tragen. Aber das räumen Großmann/Schwanitz lieber nicht ein. Vermutlich würden sie es noch nicht einmal begreifen. Deshalb stellen sie auch nie das »geheimdienstliche« Wirken ihrer Behörde nach außen in Frage. Dabei gilt doch für sämtliche Geheimniskrämerei, daß sie in offenen Gesellschaften oder Gruppen, in basisdemokratisch und durchschaubar organisierten also, völlig überflüssig, ja vergeblich wäre. Was will man da ausspionieren oder abschirmen? Wenn alles am Schwarzen Brett hängt und jeder einen Safeschlüssel hat wie etwa in anarchistischen Kommunen? Wenn die Buchführung der Republik lückenlos im Internet steht, wie beispielsweise in Konräteslust? Wenn nichts verborgen oder verschleiert werden muß, weil niemand den Vorwurf zu fürchten hat, sich zu bereichern oder anderen Unrecht zu tun? Nein, »infiltriert« werden können nur Geheimbünde wie Politbüros oder Bundeskabinette, ferner wie RAF, Al Qaida, Autonome – falls sie nicht sowieso von Agenten des kapitalistischen Staates inspiriert worden sind.
~~~ Die Ahnung, das weltweite geheimdienstliche Wirken brächte ungleich mehr Verderben als die bösen Umtriebe, die es (vorgeblich) einzudämmen suche, beschleicht einen nicht erst bei der Lektüre von Tim Weiners dickleibiger und belegreicher CIA-Geschichte, die nebenbei jedem Reformisten in Ersatz des dort befindlichen Brettes vor die Stirn genagelt werden müßte, damit er sie auch wirklich lese. Ein lediglich 60 Seiten starkes Kapitel aus dem 1995 erschienenen Sachbuch Tod in Berlin von Peter Niggl und Hari Winz genügt. Das Kapitel versucht den 1983 verübten Bombenanschlag auf das Maison de France und die Aktivitäten des berüchtigen »Topterroristen« Carlos und seiner MitstreiterInnen oder Konkurrenten zu beleuchten. Diese »schmutzigen« Aktivitäten blieben undurchsichtig genug, obwohl sie »offensichtlich unter den Augen fast aller Geheimdienste« des westlichen und östlichen Lagers stattfanden, wie Niggl und Winz belegen können. Auch das MfS war mit von der Partie. Es diente sogar als geduldetes Zwischenlager für die 24 Kilo Sprengstoff, die dann in dem Konsulatsgebäude am Kurfürstendamm explodierten (ein Toter, 23 zum Teil schwer Verletzte). Die »Abwehr« der ostdeutschen Kommunisten hatte lediglich taktische Bedenken – ansonsten war jedes Mittel im Kampf fürs gute Ziel gesegnet. Die anderen – PFLP (Palästina), Mossad (Israel), ETA (Baskenland), RAF, CIA – hielten es selbstverständlich genauso. Man unterhält Geschäftsbeziehungen zu Waffenhändlern* mit SS-Vergangenheit, verdient im Drogenhandel, setzt Agentinnen als Verführerinnen ein, spielt dem Gegner »trojanische Pferde« zu, jubelt ihm »Maulwürfe« unter, dreht Agenten um, erpreßt oder übertölpelt Richter, lügt den verantwortlichen Politikern die Hucke voll und so weiter, grad wie es in Tausenden von unterhaltsamen Romanen zu lesen ist. Übrigens wimmelt Weiners Buch von Beispielen dafür, daß die PolitikerInnen, US-Präsidenten voran, in der Regel die ernüchternden Wahrheiten auch gar nicht hören möchten. Sie wünschen ihr Bild von der Welt bestätigt – und wenn diese Trugbilder dann zerstäuben, ob in Wüstenreichen oder nicht, setzt es auch in den »Diensten« Ohrfeigen oder Leichen.
~~~ Im Juli 2010 veröffentlichte die Washington Post eine Studie über die Lage an der US-Geheimdienstfront, die einem ebenfalls sowohl das Gruseln lehren wie Gelächter bescheren konnte. Danach hat das Land der unbegrenzten Möglichkeiten 1.271 staatliche Organisationen nebst 1.931 Privatfirmen zu bieten, die sich der Terrorbekämpfung, der Inneren Sicherheit und dem Sammeln von Geheimmaterial widmen. Sie beschäftigen 854.000 MitarbeiterInnen. Die Stadt Washington weist nur 602.000 EinwohnerInnen auf. Allein die 16 offiziellen Spionagebehörden verfügten nach Schätzungen über einen Jahresetat von mindestens 40 Milliarden Dollar. In diesem kostspieligen und undurchschaubaren Dschungel seien Verschwendung, Pannen, Pleiten, Chaos programmiert. Es handle sich ohne Zweifel um einen Wildwuchs, der außer Kontrolle gerate, schlug das Blatt Alarm. Das hätte es eigentlich 2007 in seiner Rezension von Weiners CIA-Geschichte auch schon tun können. Aber wie sich versteht, verwahrte sich der gegenwärtige Geheimdienstchef David Gompert gegen solche unberechtigte Panikmache. Man erziele jeden Tag Erfolge – über die man nicht sprechen dürfe …
~~~ Ein gutes Jahr später feiern wir das 10jährige Jubiläum von 9/11.
∞ Verfaßt 2011
* Nach Patrik Baab / Robert E. Harkavy: Im Spinnennetz der Geheimdienste, Frankfurt/Main 2017, bes. S. 63 und 202–10, mischte die DDR-Führung in den 1980er Jahren leider auch unbedenklich bei heimlichen Waffenlieferungen an Regierungen oder Milizen mit, die sie offiziell als »volksfeindlich« zu brandmarken pflegte, etwa Iran, Südafrika, Contras. Heiliger Zweck der betrüblichen Übung: Geld. Es ging um Zigmillionen – für den Aufbau des heimischen Sozialismus …
Für Brockhaus sind Geheimdienste → Nachrichtendienste. Das halte ich aber für ein mieses Hüllwort, sodaß ich gar nicht erst nachschlage. Jeder halbwegs kritische Kopf auf Erden weiß sowieso, daß unser Planet kaum ein übleres Krebsgeschwür als eben die Geheimdienste zu ertragen hat. Eine freie Presseagentur – ja, sie wäre vielleicht ein Nachrichtendienst. Solche Agenturen sind jedoch in den jüngsten Jahrzehnten seltener geworden als die Botenstoffe für Sozialverträglichkeit im Gehirn der gegenwärtigen bundesdeutschen Innenministerin. Sie plant zur Stunde schon wieder neue Knebelgesetze – die selbstverständlich auch wieder Hüllwörter bekommen werden.
~~~ Blicken wir schnell nach Dänemark. Leider steht es da auch nicht wesentlich besser. Ich greife den Fall des früheren Geheimdienstlers Anders Koustrup Kærgaard heraus, der sich zum Boten aller friedliebenden Menschen mauserte und dafür eine Menge Haß und Unbill auf den Hals zog. Er ist am 5. Februar, mit erst 51, an alten Kriegsverletzungen und den folgenden Belastungen gestorben. Er war einst als Geheimdienstoffizier im Irak eingesetzt. Vor inzwischen 10 Jahren ging er mit einem ihm zugespielten Video, das quälende und entwürdigende Behandlung von irakischen, wohl sogar zivilen, vermutlich unschuldigen irakischen Gefangenen unter Beteiligung von dänischen Soldaten zeigte, nebst Berichten an die Öffentlichkeit. Das dokumentierte Geschehen hatte 2004 im Rahmen der »Operation Green Desert« stattgefunden, die Kærgaard vor Ort miterlebt hatte. Seine Enthüllungen führten einerseits zu einer breiten Erörterung der dänischen Kriegsteilnahme, andererseits zu einer Welle von Anfeindungen und Bedrohungen gegen den Boten, der die schlechte Nachricht überbracht hatte. Kærgaard stammte aus einem militärischen Umfeld, das ihn nun mit Verachtung strafte. Er sah sich zielstrebig isoliert. Da er sich überdies weigerte, den Beschaffer des Videos zu verraten, hatte er schließlich »eine Geldstrafe zu entrichten, womit er der einzige war, der im Fall Green Desert verurteilt wurde«, wie eine dänische Dozentin für Journalismus schreibt.* Außer dem Boten gab es im Staate Dänemark keine Schurken.
~~~ Immerhin hatte Kærgaard auch vergleichsweise viel Zuspruch und Trost aus antimilitaristischen Kreisen erfahren. Zudem raffte sich Kopenhagen 2021 zu einem »Gesetz zum Schutz von Hinweisgebern« auf. Mir persönlich wäre die offizielle Abschaffung aller Geheimdienste lieber gewesen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 14, März 2024
* Freja Wedenborg, https://www.jungewelt.de/artikel/469096.whistleblower-andenken-an-einen-gerechten.html, 12. Februar 2024
Im Brockhaus kommen lediglich zwei Literaten namens Olson vor, also keine NaturwissenschaftlerInnen. Der Bakteriologe und Mitarbeiter der US-Armee und der CIA Frank Olson (1910–53) forschte an biologischen Waffen und wurde angeblich unwissentlich in ein Drogenprojekt der CIA eingespannt. Darauf habe er unerwartet depressiv reagiert und sich am 28. November 1953 durch ein Fenster des Hotels Statler, NYC, in die Tiefe gestürzt. Das war offensichtlich ein kleiner Wolkenkratzer. Je nach Quelle sprang Olson aus dem neunten bis dreizehnten Stockwerk. Ja, so einfach ist Geschichtsschreibung nicht.
~~~ Der üble Geruch der Angelegenheit wird von niemandem mehr bestritten. 1975 entschuldigten sich US-Präsident Ford und CIA-Chef William Colby bei Olsons Familie. Das Weiße Haus hatte die Drogenversuche inzwischen öffentlich eingeräumt und gewährte der Familie nun 750.000 Dollar Schadensersatz, um sie von einer Klage abzuhalten. Meine Herren! Das war kein Trostpreis. Laut englischer Wikipedia hätte es sich vielmehr, hochgerechnet, im Jahr 2021 um 3,8 Millionen Dollar gehandelt. Der Schmutz muß also meterdick gewesen sein. In der Tat hält Eric Olson, der Sohn, die Drogengeschichte für ein plattes Ablenkungsmanöver. Sein Vater habe Gewissensbisse wegen im Koreakrieg eingesetzter biologischer Waffen und auch wegen Folterpraktiken an Gefangenen der CIA bekommen. Also mußte er zum Schweigen gebracht – nämlich aus dem Hotelfenster gestürzt werden.
~~~ Hannes Stein* führt mehrere starke Anhaltspunkte an, die gegen Selbstmord sprechen, darunter eine vom Sohn bewirkte Obduktion. Danach zeigte die Leiche einen vor dem »Sprung« aus dem Fenster versetzten Schlag auf den Schädel, jedoch keine Glassplitter. Und die Folterpraktiken bestätigt nicht nur Stein, übrigens in einem typisch kaltblütigen beiläufigen Satz. Sondern vor allem behandelt auch Tim Weiner sie. In den 1950er Jahren (Korea- und Kalter Krieg!) gab es ein umfangreiches CIA-Programm für »Übersee-Verhöre«, das auch Geheimgefängnisse einschloß, die in Wahrheit Folterkammern waren. Als Codenamen für die Versuche mit Drogen und Gehirnwäsche führt Weiner »Artichoke« an. Das ist doch ein geistreicher Kosename, der Stein bestimmt gefallen hätte. Die Sache mit den Folterkammern wurde meines Wissens spätestens nach dem willkommenen Anlaß 9/11 gerne wieder belebt. Persönlich verantwortlich für das gesamte Programm seien Allen Dulles, Frank Wisner und Richard Helms gewesen, durchweg hohe Geheimdienstbosse. Frank Olson wird von Weiner als ein mit Hilfe von Drogen (LSD) in den Tod Getriebener erwähnt.**
~~~ Weiner hütet sich demnach, von Mord und Totschlag zu sprechen, wie etwa der Sohn es tut. Stein gefällt es allerdings, Eric Olson als fanatischen Wirrkopf hinzustellen. Dessen juristischen Vorstöße wurden anscheinend wiederholt abgeschmettert. Eine Ausmistung des ganzen Saustalls wäre meines Erachtens sinnvoller, aber das dürfte Olsons Kräfte übersteigen. Weiner hält sowieso nichts von ihr. Es ist beinahe unglaublich, daß er diesem Saustall nach rund 800 Seiten belegreicher Studie noch immer die Stange halten kann.
~~~ William Colby, um 1975 Chef der CIA, starb 1996 als Pensionär auf höchst undurchsichtige Weise, wie ich 2015 in meiner Rubrik Grabbeltisch ausführlich dargelegt habe. Dieser erfahrungsreiche Schlapphut (Vietnam!) wird von Weiner x-mal erwähnt. Nur sein Ende streift er merkwürdigerweise mit keinem Komma. Offiziell war es ein Unfall. Immerhin führt Weiner noch einen späten Versuch Colbys an, sich für ein »Bündnis für Demokra-tische Werte« als Friedensengel zu betätigen (S. 567). Das war 1992, also kurz vor seinem ungeklärten Tod. Dieser könnte sogar mit dem Fall Frank Olson zusammenhängen. Möglicherweise hat Zyniker Colby ähnlich wie Olson auf seine alten Tage noch Gewissensbisse bekommen, drohte unliebsam auszupacken und wurde deshalb recht ruppig aus dem Verkehr gezogen.
~~~ Nebenbei behandelt Weiner die 9/11-Anschläge von 2001 in einer für ihn untypischen gerafften Art und Weise. Das bietet den Vorteil, alle handfesten störenden Anhaltspunkte, etwa die Aushebelung der US-Flugabwehr und den Einsturz von WTC 7, kurzerhand unter den Tisch fallen zu lassen. Denn Weiner hängt der amtlichen Version des Anschlages an, wird sich somit hüten, deren Bezweiflern Munition zu liefern. Für mich hat Weiner mit seinem Wälzer das sehr wahrscheinlich wichtigste und beste Sachbuch des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts vorgelegt. Aber nach jener Raffung kann es nur ein Trottel verfaßt haben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 28, Juli 2024
* Hannes Stein, https://www.welt.de/vermischtes/article173524612/Netflix-Serie-Wormwood-Was-die-CIA-mit-dem-Fenstersturz-eines-Biologen-zu-tun-hatte.html, 13. Februar 2018
** Tim Weiner, CIA-Geschichte, deutsche Ausgabe 2007, bes. S. 103–5 + 708/9
Spitznamen, aufgespießt --- Ein selbstgestrickter köstlicher Spitzname wird leider nie ans Ohr der Welt dringen, weil er in meinen 2012 verfaßten Erzählungen Zeder Zamir steht, die ich inzwischen zurückgezogen habe. Überwiegend in der kroatischen Küstenstadt Zamir spielend, ranken sich diese drei Erzählungen um den jungen Kriminalkommissar Danilo Matavulj aus dem dortigen Polizeipräsidium am Ziegenmarkt. Im Rahmen einer Fahndung stößt er auf den Snookersalon Haus der Weißen, erwärmt sich für das Spiel und wird bald aktives Mitglied in dem vielversprechenden Club, der eben Zeder Zamir heißt. Man kämpft bereits in der Zweiten Nationalliga – und ist wild entschlossen, auch in die Erste zu gelangen. Chef des Salons und Mannschaftsführer im Club ist der verschmitzte, rundliche Erih, den freilich keiner so ruft. Als »Einpeitscher« beim »Durchmarsch« von der Bezirksliga zur Zweiten Nationalliga hatte Erih nämlich jeden gelungenen Ball, jeden Neuling und jeden Sportreporter mit der Versicherung begrüßt: »Zamir steigt auf!« Deshalb hieß er schließlich überall so: Zamirsteigtauf … Das ist die verhießene Köstlichkeit.
~~~ Nebenbei nutzte ich das Werk zu einem Seitenhieb auf Simo Matavulj. Das ist ein angeblich bedeutender heimischer Dichter, der nun »zufällig« ein Namensvetter meines Kriminalkommissars geworden war. Als sein Hauptwerk, Pflichtlektüre in jeder höheren Lehranstalt, gilt der 1892 verzapfte Roman Bakonja Fra-Brne, dt. Seine Herrlichkeit Frater Brne. Dieser Roman spielt just in dem Küstenstrich von Zamir und dort vorwiegend in einem auf einer Flußinsel gelegenen katholischen Kloster. Danilos aus Deutschland stammender Clubkamerad Fritz hat ihn sogar gelesen. Beim Forellenessen unter einem Olivenbaum poltert der lange, blonde Deutsche plötzlich los:
~~~ »Das Werk ist eine Katastrophe! Die Lexika behaupten, es sei angenehm volkstümlich, es sei knapp, es sei humorvoll. Aber nichts davon stimmt. Es langweilt durch ausführliche Schilderungen banaler Ereignisse und auch banaler Streiche, wie du dich vielleicht noch erinnern wirst. Ausgeprägte Merkmale des Volkscharakters wie etwa Hinterhältigkeit, Doppelmoral, Frömmigkeit, mit Bauernschläue gepaarte Strohdummheit stellt das Werk nie in Frage. So sind die Leute eben. Ihre Schlechtigkeiten werden tausendmal von ihrer Kunstfertigkeit im Reden, Prahlen, Lügen aufgewogen, vor der Lehrer Matavulj wiederholt seinen Hut zieht. Natürlich stellt er auch die alles beherrschende Kirche, ob katholisch oder orthodox, nie in Frage. Im Gegenteil, sie ist die große Wohltäterin des Landes. Matavulj verleiht den mehr oder weniger feisten Schmarotzern, die sich in ihren Klosterzellen bedienen lassen und im Nebenberuf allesamt Wucherer sind, ausgefallene Spitznamen wie Backtrog, Wedelschwanz, Latte, und schon hat er sie liebenswert gemacht. Über Politik redet sein Werk schon gar nicht. Ich will Matavulj eine gewisse literarische Begabung nicht absprechen, aber sein Horizont scheint mir doch recht begrenzt. Gegen Claude Tilliers Landarzt Onkel Benjamin gehalten würden Matavuljs Mönche und Popen, so dick sie auch sind, in der Tat zu einer bedeutungslosen Zaunlatte schrumpfen. Aber irgendein Zaunkönig hat seinen Roman zur Weltliteratur erklärt – und jetzt müssen sich sogar Deutsche und Franzosen damit abmühen. Bist du eigentlich mit diesem Matavulj verwandt?« Nein, Danilo war es Gottseidank nicht.
~~~ Der uralte, bis heute weltweit beliebte Gebrauch von Spitznamen dürfte vor allem die Stumpfheit unserer Normalnamen bezeugen. Diese treffen das Wesen oder zumindest die eine oder andere hervorstechende Eigenschaft des Benannten so gut wie nie. Nicht selten beleidigen sie ihn sogar. Das Übel verwundert wenig, werden die Normalnamen doch in der Regel Säuglingen verpaßt. Das Entsetzen stellt sich mit 13 oder 16 ein, wenn ein junger Mensch begreift, er habe sich im ungünstigen Falle noch für etliche Jahrzehnte Luise oder Dieter, womöglich sogar Dieter Müller rufen zu lassen. Dem trug man in meinem Rhein-Oder-Bund (ROB) durch die Bestimmung Rechnung, jedes ältere Kind könne sich bei dringendem Wunsche eigenhändig umtaufen. Der neue Name wird einfach in die Mitgliederliste der GO (Grundorganisation) des Kindes eingetragen – fertig.
~~~ Allerdings steht zu fürchten, damit hätten wir auch schon den einzigen Zug herausgestellt, den alle Spitznamen teilen. Die Grenzen zum Schimpf- und Kosenamen sind so fließend wie zum Pseudonym und zum Künstlernamen. Selbst der bekannte Umstand, daß Spitznamen in der Regel nicht gewählt, vielmehr verpaßt werden, gilt nicht in jedem Fall. Vera Sprosse hätte sich wahrscheinlich nur ungern selber auf diesen gesichtshaften Namen getauft, entsproß er doch ihren Sommersprossen. Ihre Mitstreiterin Vera die Lerche dagegen hatte den ornithologischen Namen nach den ersten Proben des Kommunechors mit Vorbedacht als Versuchsballon steigen lassen, denn sie wußte durchaus, was sie an ihrer betörenden Sopranstimme hatte. In der Tat kam der Name auf Anhieb an und bürgerte sich in der kurzen Zeit ein, die eine Feldlerche dazu benötigt, vier oder fünf Eier zu legen. Für die andere Vera im neuen Chor blieb dann sozusagen nur noch ein Plätzchen in der Leiter. Damit waren die beiden Veras zukünftig unverwechselbar.
~~~ Wahrscheinlich stellt die Vielfalt unter den Spitznamen sogar das Chaos im Vogelreich in den Schatten. Und ein Rundblick beweist, so gut wie nichts ist vor ihnen sicher. Ein Krieg um die bayerische Erbfolge, der 1778/79 zwischen den traditionell rauflustigen Preußen und Österreichern ausgetragen wurde, ist in vielen Büchern als Kartoffelkrieg bekannt. Um 1600 gingen im Raum Köln »schlechte« Münzen um, die aufgrund ihres geringen Silber-, dafür hohen Kupfergehalts rasch dunkel anliefen. Von lat. maurus = Mohr abgeleitet, pflegte sie der Volksmund Möhrchen zu nennen. Viele andere handfeste Gegenstände, von Musikinstrumenten über Automobile bis zu Gebäuden, müssen sich beispielsweise Spitznamen wie Schifferklavier, Drahtesel, Käfer, Ente, Langer Eugen, Bonnies Ranch gefallen lassen. Mit der zuletzt genannten Bezeichnung ist eine seit Jahrzehnten in Berlin-Reinickendorf angesiedelte Einrichtung gemeint, die offiziell und vornehm Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik heißt. Um 1980 war sie in Westberliner Sponti-Kreisen bekannter und gefürchteter als Helmut Kohl, für dessen mächtiges Haupt Hans Traxler und das Satireblatt Titanic just zur selben Zeit die Abbildung einer Birne bemühten. Trotz zahlreicher Ganovenstreiche durfte Kohl dieselbe nicht nur behalten; der Spitzname ging sogar rasch auf die ganze Person des beliebten beleibten Bundeskanzlers über und somit, wie dieser selbst, in die Geschichte ein. Übrigens war auch Traxler kein Unschuldsengel, vielmehr Dieb, hatte doch bereits der Franzose Charles Philipon seinen König Louis-Philippes ab 1830 in der Zeitschrift La Caricatur als Birne ausgegeben.
~~~ Spitznamen sollen möglichst treffend und möglichst ausgefallen sein. Die Spitznamen der beiden Veras reißen vielleicht nicht vom Hocker, aber von Sprosse zu Lerche liegt immerhin schon ein gewisser qualitativer Anstieg vor. Allerdings kann man sich über die Gesangsqualitäten unserer heimischen Feldlerchen streiten. Mancher Naturfreund sagt sich bei seinen sommerlichen Streifzügen, sie behielten ihr hastig hervorgequetschtes Zeug besser für sich. Der rundliche italienische Tenor Giuseppe Fancelli, 1872 bei der Mailänder Aida-Erstaufführung dabei, zählte zu den gebeutelsten Vertretern seines Fachs. Verdi bescheinigte ihm: »Eine schöne Stimme, aber eine Nudel!« In einer anderen Oper soll Fancelli nach Dutzenden von Aufführungen gefragt haben, ob er eigentlich den Geliebten, Nebenbuhler oder Bruder gebe? Er hatte den Ehemann zu singen. Massenet hatte den Eindruck, Fancellis gesamtes dramatisches Ausdrucksvermögen beschränke sich auf die Geste, seine beiden Hände mit gespreizten Fingern vorzustrecken – weshalb er ihm den Spitznamen Fünf und fünf ist Zehn verlieh. Das ist eigentlich noch besser als Zamirsteigtauf.
~~~ Bei einem Mann, der um 1000 als Herzog von Bayern, später auch Kärnten, seinen Reichtum und Einfluß gut zu mehren verstand, konnte man sich schon eher einen Reim auf seinen Spitznamen machen: Heinrich der Zänker. Das gilt auch für die Königin von Kastilien und Aragón Johanna die Wahnsinnige (um 1500), die täglich den Sarg ihres früh verstorbenen Gatten geöffnet haben soll um nachzusehen, ob seine Leiche noch da sei. Ein anderer deutscher Herzog könnte zu mehreren Mißverständnissen Anlaß geben. Er tut es auch. So wird Ernst der Fromme, der um 1650 Sachsen-Gotha regierte, unter Historikern und Lexikonschreibern gern als reformfreudiger Freigeist gehandelt, obwohl er, wie sich Sigmar Löfflers mehrbändiger Stadtgeschichte von Waltershausen entnehmen läßt, an Hexen glaubte und nicht dagegen einschritt, daß während seiner Regierungszeit »Dutzende von Frauen, nachdem man sie eingekerkert und gefoltert hatte, auf dem Scheiterhaufen« landeten.
~~~ Das heißt leider keineswegs, wir dürften Ernsts Spitznamen ironisch verstehen. Der Herrscher duldete die Ketzerverfolgung bona fide, in gutem Glauben. Er war nicht »wahnsinnig«, vielmehr fromm. Womit wir bei der gar nicht so seltenen Methode angelangt wären, einen Menschen treffend und ausgefallen zu benennen, indem man ihn nach dem Gegenteil seiner gemeinten Eigenschaft bezeichnet. Wenn ich mich nochmals selbst anführen darf: In meinem Bott-Buch wird ein hervorragender Baßgitarrist von hünenhafter und weichlicher Statur Baby Schwalenhöfer, in meinem Roman Konräteslust ein Felsbrocken von Bauer mit Händen wie Schaufeln Hämmerchen gerufen. Beide empfinden diese Spitz- durchaus als Kosenamen. Daneben ist es auch nicht der schlechteste Kniff, einen Spitznamen durch Bezug auf einen Normalnamen zu schaffen. So werden die im 19. beziehungsweise 20. Jahrhundert recht einflußreichen Biologen Thomas Huxley und Richard Dawkins gern als Darwins Bulldogge und Darwins Rottweiler bezeichnet. Da beide Briten waren oder sind, gleich noch einen dritten: den vorzüglichen Snookerspieler Paul Hunter, der leider 2006 mit knapp 28 Jahren starb. Profi war der blonde, meist glänzend frisierte Junge bereits mit 17 geworden. Seinen Spitznamen bezog man auf einen Fußballer, indem man Hunter den Beckham of the Baize taufte, den Beckham des grünen Snookertuches also.
~~~ Die eleganteste Lösung ist es sicherlich, einen Spitznamen maßschneidernd neu zu erfinden. Das gelang der Wiener Bevölkerung um 1930 sogar in einer Verknüpfung mit der eben genannten Methode. Den Erinnerungen des ungarischen Dramatikers Julius Hay zufolge war der reaktionäre Kanzler Engelbert Dollfuß (kein Spitzname!) »ein politischer Intrigant von seelisch und körperlich kleinstem Format« gewesen. Wien taufte ihn Millimetternich. Nach derselben Quelle soll Hays Kollege und Genosse Johannes R. Becher seinen Spitznamen von wiederum einem dritten Kollegen und Genossen, dem dänischen Schriftsteller Martin Andersen Nexö, empfangen haben: Johannes Erbrecher, wie ich schon andernorts mit Genuß erwähnt habe. Hier lassen Wortspiel und Kalauer grüßen. Eine völlige Neuschöpfung gelang dagegen, wem auch immer, im Falle der Kasseler Originale Ephesus & Kupille. Das Gespann aus zwei mehr oder weniger großen arbeitsscheuen Schlawinern hatte seine Hochzeit in den 1920er Jahren. Während der gelernte Bäcker Johann Georg Jäger seinen Spitznamen seinem Lieblingsspruch verdanken soll »Groß ist Diana, die Göttin der Epheser!«, bezog ihn sein Eckensteherkumpel Heinrich Adam Ernst, Sohn eines Drehorgelspielers, von einem angeblichen Augenleiden, das er der Musterungskommission mit der Versicherung »Ich honn was an der Kupille!« aufband.
~~~ Kommen wir mit einem anderen Polit-Ekel zum Schluß dieser Betrachtung, ehe sie sich zu einer stumpfsinnigen Doktorarbeit auswächst. Laut Ewald Grothe zählte Ludwig Hassenpflug (1794–1862) zu den markantesten und unbeliebtesten deutschen Politikern des 19. Jahrhunderts. 1832 ist der studierte Jurist bereits kurhessischer Innen- und Justizminister und damit de facto Ministerpräsident. Da er es als seine Hauptaufgabe betrachtet, die noch junge liberale Landesverfassung auszuhebeln, hat er viel Streit mit der kurhessischen Ständeversammlung. Er zieht sich allein vier Minister-anklagen zu, ein Novum in der bis dahin geschriebenen deutschen Verfassungsgeschichte. Als Meinungsver-schiedenheiten mit dem Kurprinzen Friedrich Wilhelm hinzukommen, weicht Hassenpflug vorübergehend auf Posten in umliegenden Kleinstaaten aus, so Sigmaringen und Luxemburg. 1840 kann er, wie ersehnt, in preußischen Dienst treten, allerdings zieht er sich als Präsident des Greifswalder Oberappellationsgerichts Verfahren wegen Urkundenfälschung und Veruntreuung von Staatsgeldern zu. Zunächst mit 14 Tagen Gefängnis bestraft, wird er in dritter Instanz freigesprochen und tritt 1850 erneut in kurhessische Dienste. Ein schlesischer Weber soll dazu bemerkt haben, die Kleinen hinge man – und so weiter. Unsere pandemiebesessenen Gesundheitsminister Spahn und Lauterbach werden ihren pfiffigen Schädel bestimmt noch aus der Schlinge ziehen, die im paradiesischen Apfelbaum von der berüchtigten Schlange gebildet wird.
~~~ Als Regierungschef des nunmehrigen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (von Hessen-Kassel, wie der Staat auch oft genannt wird) wiederholt Hassenpflug seine Attacken auf alle, inzwischen von 1848 beflügelten revolutionären Errungenschaften. Selbst die Prügelstrafe führt er wieder ein. Die Ständeversammlung setzt ihm mit einer Steuerverweigerung zu. Als er versucht, die Verfassung durch Kriegsrecht und landesherrliche Dekrete zu unterlaufen, provoziert Hassenpflug einen bis heute in der deutschen Geschichte einmaligen »Generalstreik« des Offizierskorps: 241 von 277 kurhessischen Offizieren reichen im Oktober 1850 ihr Entlassungsgesuch ein. Daraufhin gehen der Fürst und sein oberster Büttel die Bundesversammlung um Besatzungstruppen an, darunter neben Österreichern die berüchtigten »Strafbayern«, was das Ansehen der Obrigkeit im Lande auf einen Tiefpunkt sinken läßt. Hassenpflug war ohnehin schon vorher landesweit verhaßt. Zudem entsteht dadurch eine echte Kriegsgefahr.
~~~ Allerdings haben Wilhelm und Hassenpflug – beide mit ähnlicher Arroganz und Selbstüberschätzung gesegnet – auch wieder ihre Differenzen, so in Finanz- und Kirchenfragen. Minister Hassenpflug dankt im Oktober 1855 ab und zieht sich als Pensionär (aus Kassel) nach Marburg zurück. Er schmiedet im Ruhestand vor allem an seinen autobiografischen Rechtfertigungen. So spricht er in der »Textwüste« (Harald Stockert) seiner Denkwürdigkeiten von seinem unerläßlichen Kampf gegen »die Frechheit der Bewohner des Landes«. Als er nach einigen Schlaganfällen mit 68 das Zeitliche segnet, atmen die Frechdachse auf: der Hessenfluch ist von ihnen genommen.
∞ Verfaßt 2023
Sport
Jeder kennt ihn von der einen oder anderen Ballsportart her, voran Fußball: den Linienrichter. Es handelt sich um den Assistenten eines → Schiedsrichters. Aha, also weiter in Band 19. Danach überwacht der Linienrichter vornehmlich die Spielfeldbegrenzung. Er kann seinen Boß, den Schiedsrichter, auch auf andere Regelverstöße aufmerksam machen. Im professionellen Fußball hat der Boß sogar zwei Assistenten, auf jeder Längsseite des Sportplatzes einen. Dafür hat der Assistent Flagge, während sich der herkömmliche Schiedsrichter mit einer Trillerpfeife und ein paar bunten Karten begnügen muß. Hat der Assistent Glück, zieht ihn der Boß auch von sich aus in heiklen Fällen heran, bittet ihn also um sachdienliche Beobachtungen und Ratschläge. Diese Blitzkonferenzen müssen mit Grenzverletzungen gar nichts zu tun haben, etwa wenn es um unzulässige »Abseits«-Positionen oder versteckte »Fouls« auf dem Platz geht. In jüngeren Quellen lese ich, inzwischen hätte der Boß auch schon häufig zusätzliche, ihrerseits im Tribünengebäude versteckte »Video-Assistenten«, die mit ihm, dem »Schiri«, in Funkverbindung stehen. Sie drehen den Film zurück und schalten die Zeitlupe ein. Denen entgeht gar nichts. Mein Gott, das erinnert ja alles offenkundig an das »normale« Geschehen, das wir von Geschäfts- und Schlachtfeldern her kennen. Überwachung, Spionage und Bürokratie ohne Ende.
~~~ Geht man noch einen Brockhaus-Band weiter (Nr. 20), lernt man einen längeren Eintrag über Sport kennen. Die dortigen Ausführungen sind durchaus genießbar, sogar recht kritisch. Der Eintrag eröffnet treffend mit der Feststellung, »Sport« komme von disport/desport her, nämlich von Vergnügen. Jetzt schauen Sie sich einmal in der Stadt oder im Wald nach den Joggerinnen, ShopingerInnen und TalkrundendreherInnen um und verraten Sie mir, wo das Vergnügen denn geblieben sei? Es liegt in den allerletzten Zügen. Das Marktgeschehen wird von der Verbissenheit und der Effekthascherei beherrscht. Das einzige Vergnügen, das der Marktteilnehmer kennt, ist die Vernichtung seiner GegnerInnen, und das sind so gut wie alle, die ihm begegnen. Brockhaus meint ausblickend, angesichts der gewollten Kommerzialisierung und Professionalisierung des Sportgeschehens könne man schon fast von einer »Versportung der Gesellschaft« sprechen. Ich hielte es aber für angemessener, eher umgekehrt von einer Militarisierung auch des Sportgeschehens zu sprechen. Das Umfassende und Allesdurchdringende ist die Militarisierung. Die erwähnte Joggerin keucht sich der rotgrüngelben »Kriegsertüchtigung« zuliebe ab.
~~~ Mit jener »Versportung der Gesellschaft« könnte eine Phase erreicht sein, »in der die Frage nach den ethischen und sinnhaften Grundlagen des Sportes neu gestellt« werden müsse, beschließt das Lexikon seine Ausführungen. Wie man sich denken kann, ist mir das viel zu zahm. Der Sport muß weg. Die Militarisierung muß weg. Wünschenswert sind kleine, überschaubare Republiken, in denen mit vielen anderen Klüften auch die unselige Trennung zwischen Arbeit und Vergnügen aufgehoben wird. Sagen Sie nicht, das sei utopisch. Ich habe in zwei anarchistischen Kommunen gelebt und kann mich nicht erinnern, daß dort irgendjemand Sport getrieben hätte. Ein lustiges Fußballspiel in einem Monat war schon viel. Ein paar Leute haben Yoga gemacht, aber das ist ja wohl das Gegenteil von Militarisierung. »Bewegung« hatte jeder in Mengen, eben durch die gemeinsame Arbeit, den Küchen- und Kloputzdienst eingeschlossen. Allerdings hatte man auch einigen Ärger aneinander, und wer ihn um des lieben Hausfriedens willen hinunterzuschlucken versuchte, lebte nicht gerade gesund. Das Auf-den-Tisch-hauen war dann wieder der Durchblutung förderlich.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
Siehe auch → Angst, Enke (Fußballer) → Bergsteigen → Blüher (Fußballer) → Golf → Pferdesport, Steenken → Snooker
Sprache
Falls Ihnen der Arzt zu einem Training Ihres Sammel-triebes geraten hat: es müssen nicht unbedingt Briefmar-ken, Bücher, Bierdeckel oder Belobigungsschreiben bereits anerkannter SchriftstellerInnen sein. Versuchen Sie‘s einmal mit Worten. Ich führe zu diesem Zweck seit über 20 Jahren eine Art Vokabelheft. Zwar hat es zuweilen die materielle Gestalt gewechselt, nie aber seinen Sinn verfehlt, nämlich meinen Wortschatz zu bereichern.
~~~ Der Gedanke kam mir um 1985 beim Ubahnfahren in Westberlin. Als Künstlermodell hatte ich fast täglich woanders anzutreten, darunter in den entlegensten Bezirken. So nutzte ich diese vielen unersprießlichen Fahrten in Gesellschaft von B.Z.-Lesern, Currywurst-Mampfern, Kopfhörer-Trägern zur Lektüre meines Vokabelheftes aus. Dabei brachte ich auch so manchen Fahrgast, der in mein Heftchen linste, zum Grübeln. Warum hat es nur eine Spalte? Warum liest er diese untereinander geschriebenen deutschen Worte, die keinen Zusammenhang erkennen lassen? Da folgen sich etwa: verpönt / kein Ruhmesblatt / beherzt / das Handwerk legen … Ist er vielleicht Agent?
~~~ Sie ahnen es bereits: in mein Vokabelheft trug ich sämtliche Worte oder Redewendungen meiner Muttersprache ein, die mir noch nicht geläufig – die mir noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen waren. Ich stolperte über sie, nahm sie entzückt zur Kenntnis, verleibte sie auf der Stelle meinem Vokabelheft ein. Und so verfahre ich noch heute. Als veredelte Leseratte werde ich vor allem in vorzüglichen Büchern fündig. Doch auch der Alltag schenkt mir zuweilen ein Kleinod. So schnappte ich einmal in einem Biergarten vom Nachbartisch her die nüchterne Gegenfrage auf: »Was sollte daran ehrenrührig sein?«
~~~ Solche Entdeckungen versuche ich mir durch die beständige Lektüre meines Vokabelheftes einzuprägen. Bin ich hinten angelangt, fange ich wieder von vorn an. Einfaches Runterlesen hilft allerdings wenig. Jedes Wort ist durchzuspielen wie eine Etüde auf dem Klavier. Bilde mindestens drei Sätze, in denen dieses Wort den jeweiligen Glanzpunkt abgibt. Nehmen wir verstümmelt. Während wir in der U-Bahn, in einem Wartezimmer, im ICE nach Zürich sitzen, formulieren wir in Gedanken folgende Sätze. Aus dem Krieg kehrte ihr Vater verstümmelt zurück. Manche Leute verstümmeln ihre Sätze bis sie uns weismachen können, es scheine ein Rätsel darin auf. Die Verstümmelungen, die uns das Fernsehen beibringt, entziehen sich dem Tastsinn. Zugabe: Man predigt jedoch in taube Ohren.
~~~ Von Zeit zu Zeit, vorzugsweise an Weihnachten, pflege ich mein Vokabelheft neu anzulegen. Das heißt, ich übertrage nur solche Worte, von denen ich das Gefühl habe, ich hätte sie noch nicht genug gelernt. Zahlreiche andere Worte kann ich unter den Tisch fallen lassen – ich kann sie sozusagen auswendig. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt auf der Hand. Zum einen zwingt mich die Übertragung hinsichtlich meines gewußten Wortschatzes zur Rechenschaftslegung. Auf der anderen Seite schwillt mein Vokabelheft nie zu einer unlesbaren Schwarte an. Es ist im Gegenteil allmählich dünner geworden. Doch habe ich »objektiv« sicherlich eine Menge hübscher Worte im Sack. Man könnte sich deshalb fragen, ob ich so nicht große Gefahr liefe, meine Mitmenschen damit zu überhäufen, sie mundtot zu machen, gar zu erschlagen?
~~~ Sie wissen es längst: Der Sinn eines umfangreichen Wortschatzes liegt in der großen Auswahl, die er uns bietet. Von 15 verwandten Worten gibt es nur ein Wort, das in der gegebenen Situation angemessen und überaus treffend ist. Damit hält uns paradoxerweise gerade der umfangreiche, schillernde Wortschatz zum Abwägen, Haushalten, Sparen an. Wahrscheinlich sah das auch Erhart Kästner so, der gegen Ende seines Buches Aufstand der Dinge von 1973 bemerkt: »Ich wünschte, es würde sich nicht wie die Äußerung eines Verrückten anhören, wenn Einer (ich wäre auf seiner Seite) sagen würde: Es komme ihm nicht darauf an, möglichst viel, sondern möglichst wenig zu schreiben.«
∞ Verfaßt um 2005
Die Spaltung der literarischen Welt in Dichter und Schriftsteller ist fast so übel wie die in Geimpfte und Ungeimpfte. Dabei sind die vergleichsweise seltenen »Dichter« selbstverständlich die Erlauchteren, da nur sie von den Musen eine musikalische Bluttransfusion empfingen. Der Mönch Abbo von Saint-Germain (um 900) war, laut Brockhaus, auch so einer. Er »dichtete« auf mittellateinisch, und zwar hauptsächlich ein überaus wichtiges »Epos«, das eine Belagerung von Paris durch die Normannen behandelt, außerdem 37 hinterlassene Predigten. Da »Episches« stets erzählt, einerlei, ob in Gedicht-, Dramen- oder Romanform, deutet sich schon dadurch die Willkür und Aberwitzigkeit jener äußerst beliebten Spaltung an. Wer sich schließlich durch sämtliche 24 Bände des Brockhaus gekämpft hat, wird sich verzweifelt und vergeblich fragen, wie nun Fehler beim Verlesen nach »DichterInnen« und »SchriftstellerInnen« zu vermeiden wären. Es bleibt lediglich das dumpfe Gefühl, wer »dichte«, sei eben viel musikalischer als alle anderen Leute, die einfach nur schreiben. Während die Abbos und Klopstocks mit Zeilen malen, liefern Leute wie Thoreau oder Orwell lediglich Jägerzäune ab, bei denen auch das Anstreichen nicht verfängt. Ihre Sätze bleiben hölzern.
~~~ Das ist selbstverständlich grober Unfug. Brockhaus macht uns auf derselben Lexikonseite mit dem Herren- und Wohnsitz Abbotsford »des Dichters« Walter Scott (um 1800) bekannt – da lacht man sich wirklich tot. Wenn der schottische gelernte Rechtsanwalt, meist zu den Gipfeln romantischer Weltliteratur gezählt, musikalisch war, gehört der Mops der Waltershäuser Witwe Ursula Z. dem Kader der Mailänder Scala an. Lesen Sie einmal Scotts bekannten Ritteroman Ivenhoe, Sie werden in keiner Folterkammer eine wirkungsvollere Streckbank finden. Er ist langatmig und blutleer. Für viele Gemüter, ob Laie oder Kapazität, »korreliert« die Spaltung zwischen Dichtern und Schriftstellern mit der nicht minder hirnrissigen Spaltung zwischen Texten, die angeblich mehr vom Gefühl, und Texten, die angeblich mehr von Gedanken geprägt sind. Das habe ich neulich im Aufsatz »Weiße Rappen oder Den freien Versfüßen auf den Fersen« zurückgewiesen.
~~~ Aber die »Lyrik« scheint als Anhaltspunkt selbst für Brockhaus nicht viel zu taugen, stellt er doch zum Beispiel Karl Krolow (Band 12) und Manfred Peter Hein (Band 9), die beide vor allem durch (postmoderne) Gedichte berühmt wurden, als »Schriftsteller« vor. Fast salomonisch, wenn nicht tautologisch, behandelt er übrigens, schon im ersten Band, den Fall des Libanesen Ibrahim Ahdab (1826–91), der »Dichter und Schriftsteller« zugleich war. Dann wieder, im zweiten Band, hören wir vom Griechen Archilochos (um 650 v.Chr.), er sei ein „lyrischer Dichter“ gewesen. Demnach gibt es auch unlyrische VertreterInnen seines Fachs. Vielleicht hilft Band 5, wo uns Brockhaus, unter dem Stichwort »Dichtung«, die verwaschene und fruchtlose Unterscheidung zwischen irgendwie »gesteigerten« und die Wirklichkeit »überhöhenden« Texten einerseits und sämtlicher restlichen Literatur andererseits empfiehlt. Ich nehme an, Telefonbücher und die meisten Bundestagsreden hält er nicht für gesteigert und überhöht. Doch wie mißt man das, und wo läge die Grenze?
~~~ Für mich gibt es gar keine. Für mich haben sich, übrigens just mit Orwell, alle SchriftstellerInnen um Texte möglichst anschaulicher, möglichst treffender und möglichst persönlicher Kragenweite zu bemühen. Gelingt ihnen das beträchtlich, sind sie gute, gelingt ihnen das kaum oder nie, sind sie schlechte SchriftstellerInnen. Ich gehe noch weiter, indem ich feststelle: nach dieser Bestimmung sind so gut wie alle Menschen Schriftsteller-Innen. Das geht von Ursula Z.s Einkaufszetteln und (bei ihren Verflossenen) sorgfältig abgehefteten Liebesbriefen über Artikel oder Parlamentsreden von Sahra Wagenknecht bis zu meinem jüngst verfaßten RUD-Manifest. Das Schreiben gehört zum Leben. Es verhilft vor allem dazu, mehr Klarheit zu gewinnen. Jeder sollte sich darin zu vervollkommen suchen, soweit es seine Begabung und seine Alltagsbedingungen zulassen. Professionelle SchriftstellerInnen lehne ich genauso ab wie BerufspolitikerInnen. Das heißt genauer, ich bekämpfe Spezialisierung, Vertretung, Entfremdung.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 1, November 2024
In seinem lehrreichen Buch Das Wunder der Sprache erwähnt Walter Porzig einen Bauern, der einen astronomischen Vortrag besucht. Daß man die Bahnen der Sterne berechnen könne, begreife er ja, sagt der Bauer in der Diskussion; wie man jedoch ihre Namen herausbekommen habe?
~~~ Ich hoffe, Sie lachen. Die meist im Gebirge anzutreffende gelb blühende Primel Aurikel wurde von dem einen oder anderen Zweibeiner nach lat. auricula = Öhrchen benannt, angeblich wegen der Form ihrer rosettig angeordneten, immergrünen und etwas fleischigen Blätter. Eine hübsche Pflanze, wenn auch giftig. Allerdings werden die Bestandteile der Natur selten auf Anhieb endgültig benannt. Einer läßt einen Versuchsballon steigen – und entweder folgen ihm Scharen oder kein Schwanz. Die Namen müssen sich also in der Regel erst durchsetzen. Zu den großen Ausnahmen zählen vor allem die Namen, die von Päpsten in den sogenannten Kanon gedrückt werden, etwa Goethe oder Georg Baselitz, aber das betrifft ja nur den kulturellen Bereich.
~~~ Hat die Natur Glück, kommt der sogenannte Volksmund auf die reizendsten Dinge. Die Sträucher des Pfaffenhütchens (Früchte kaltrot mit einem Maiskorn statt einer menschlichen Birne drin) stehen fast in jedem Auwald, sogar in meiner Gartenwildnis. Dagegen habe ich die kleine Blume Katzenpfötchen erst einmal in meinem Leben getroffen, und zwar bei Trendelburg oberhalb der Diemel an einem sonnigen Hang. Sie reckt ihren rosig-haarigen Blütenstand in der Tat wie eine auf dem Rücken liegende einbeinige Katze empor. Sehenswert auch die Pilze Ziegenbart (alternativ: Goldgelbe Koralle) und Specht-Tintling. Dieser meist schlanke Pilz erinnert, schwarz-weiß, an das Gefieder von einigen Spechten oder der Elstern.
~~~ Damit bietet sich noch ein Blick auf ein paar Vögel an. Bienenfresser, Neuntöter und Zaunkönig sind ohne Zweifel überzeugend benannt. Etwas ärgerlich stößt mir stets die Wasseramsel auf. Diesen sich hin und wieder behaglich auf einem Stein im Bach wiegenden Wirbelwind nur wegen der Nähe in Kleid (vorwiegend braun) und Größe Amsel zu nennen, war ja wohl ein schlechter Scherz. Im Gesang liegen geradezu Welten zwischen den beiden. Und beobachten Sie einmal die Jagd des Wirbelwindes nach diversem Wassergeziefer. Oft scheint der Vogel im Wasser um sich zu schlagen oder vom Bachgrund wie ein Korken wieder empor zu schnellen. Eine Freundin schlug deshalb einmal treffend vor, künftig vom Wasserboxer oder Wasserkorken zu sprechen – aber sie war keine Päpstin, ihr Vorschlag bürgerte sich nicht ein.
~~~ Ein wahrer Skandal ist der Name Mittelspecht. Möchten Sie, falls sie von Berufs wegen Häuser entwerfen, gern als Herr Mittelarchitekt angeredet werden? Ich habe ihn insgeheim Bartlosenquäker getauft, wegen seinem angeblichen Gesang, der zum Weglaufen ist. Es gibt also mehrere Sorten Spechte. Folglich werden Familien oder Gattungen ausgerufen, beispielsweise ähnlich einfallslos: die Meisen = die Schwächlichen. Und da sie nun alle winzig sind, fängt der Ornithologe an, sie nach Blau-, Kohl-, Weiden-, Hauben-, Beutel- und Pepitameisen zu verlesen. Genauso armselig wäre es, alle führenden PolitikerInnen Banditen zu nennen. Laut Brockhaus sind das »gewerbsmäßige Verbrecher«, die sich oft in »förmlichen Genossenschaften« zusammenschließen. Aber das greift dem Stichwort Kriminelle Vereinigung vor.
~~~ Ich hätte fast meine Rosen vergessen. Als ich vor rund 15 Jahren hier einzog, fand ich drei VertreterInnen vor, die ich vom Häuschen aus stets im Blick habe. Es geht ihnen gut, obwohl ich sie keineswegs, durch Gießen und Düngen etwa, verhätschele. Am größten ist die zart rosa blühende Heckenrose, ein üppiger Busch. Versäumt man es zwei oder drei Jahre, sie zurückzuschneiden, benötigt man für den Durchgang eine Machete. Dieser Busch wird von zwei Zuchtrosenstöcken flankiert. Der recht Stock blüht flammend rot, geradezu revolutionär. Der linke dagegen weiß, wobei er vor allem im Oktober an den Blüten einen Anflug von Rosa zeigt. Er blüht nämlich zweimal im Jahr, kaum zu glauben. Leere ich morgens einen Eimer mit Schmutzwasser oder meinen Aschekasten aus, versäume ich es nie, meinen Zuchtrosen zuzunicken und ein paar freundliche Worte mit ihnen zu wechseln. Das Problem ist nur, daß ich bislang die korrekte Anrede umgehen muß, weil ich mich nie entscheiden konnte, welche Zuchtrose nun Sanja Milenkovic und welche Pauline Groß sei.
~~~ Beide Mädchen bissen mit ungefähr 15 Jahren ins Gras. Sanja, sonst Gymnasiastin in Belgrad, erwischte es am 30. Mai 1999 in ihrem mittelserbischen Heimat-städtchen auf der inzwischen traurig berühmten Brücke von Varvarin. Ein Tornado-Kampfflugzeug der Nato hatte die Moravabrücke jenseits allen Kriegsgeschehens am hellichten Sonntag zerschossen. Es hinterließ im ganzen 10 Tote und 17 Schwerverletzte, alles harmlose PfingstmarktbesucherInnen. Sanja war jedoch das jüngste Todesopfer, nur deshalb meine Heraushebung. Ihr Tod brachte ihre Mutter Vesna an den Rand des Wahnsinns.
~~~ Das Sinti-Mädchen Pauline war ab 1940 mit ihren Eltern und Geschwistern in verschiedene »Zigeunerlager« der Stadt Frankfurt/Main gesteckt worden. Das Internet kennt diese Pauline nicht. Im ganzen werden die Todesopfer des deutschen Faschismus aus den Reihen der Roma & Sinti, je nach Quelle, auf 200.000 bis 500.000 geschätzt. Viele davon kamen in einem KZ um. Viele wurden auch zuletzt noch in den »Zigeunerlagern« ermordet. Was Pauline angeht, soll sie 1945 im Lager Kruppstraße noch kurz vor Kriegsende an Unterernährung gestorben sein.*
~~~ Das angeführte schmale Buch bringt ein Porträt-Foto, das die dunkelhaarige Pauline Groß, mit Schleife im Haar, wohl als ungefähr 10jährige zeigt. Der Gesichtsausdruck kann nur erschütternd genannt werden. Dabei spricht keineswegs nackte Angst, ja noch nicht einmal Eingeschüchtertheit aus ihm. Man blickt der Hoffnungslosigkeit und unheilbarem Mißtrauen in die leicht verkniffenen dunklen Augen. Man mache sich einmal die elende Kindheit solcher Mädchen und Jungen klar. Man fahre einmal über Weihnachten nicht nach Mallorca, sondern nach Gaza.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 3, Dezember 2024
* Barbara Bromberger / Katja Mausbach, Frauen und Frankfurt. Spuren vergessener Geschichte, Verlag VAS in Ffm, 1987, S. 72/73
Mit der Lennestädter Schriftstellerin und Malerin Josefa Berens-Totenohl (1891–1969), nach Fotos andernorts eine stämmige, bäuerlich wirkende Frau, legt sich Brockhaus lieber nicht an. Für ihn war sie »Lyrikerin und Erzählerin ihrer sauerländischen Heimat« – und nicht etwa für Lesungen umworbene Nazitante und Zuarbeiterin der damaligen Berliner Blut- und Boden-Politik. 1956 wünschte ihr der westfälische sozialdemokratische Ministerpräsident Fritz Steinhoff zum 65. Geburtstag alles Gute. Ich will mich aber nicht mehr näher mit ihr beschäftigen. Stattdessen schwebt mir eine Bemerkung zu ihrem auffälligen Nachnamenszusatz Totenohl vor – was zur Stunde freilich noch auf gewisse Schwierigkeiten stößt. Frau Berens hatte ihn gewählt, um sich unverkennbarer zu machen. Dabei hielt sie sich anscheinend an einen Ort oder Landschaftsteil ihrer Gegend, zu dem ich jedoch in keiner Quelle eine Erläuterung finde. Ich vermute lediglich, es handle sich um eine feuchte Wiese in Gewässernähe oder gar um einen richtigen Sumpf, denn eben so etwas wird in besagter Gegend »Ohl« oder »Aul« genannt. Meine entsprechende Nachfrage an das Lennestädter Stadtarchiv hatte allerdings unter unerwarteter Höherer Gewalt zu leiden. Mitarbeiterin B. erklärte mir nach gewisser Verzögerung am 18. Dezember freundlicherweise, mit zahlreichen anderen Kommunen Südwestfalens sei Lennestadt Ende Oktober »von einem Cyber-Angriff« heimgesucht worden. Deshalb stünden ihr die gewohnten, digitalen Recherchemittel nicht zur Verfügung und die Bearbeitung meiner Anfrage nehme etwas mehr Zeit in Anspruch. Auch könne sie Dokumente einstweilen nur als Kopie auf dem herkömmlichen Postweg verschicken. Darauf lauere ich also jetzt, im Neuen Jahr.
~~~ Wenn man an die schrecklichen Zeiten noch um 1800 denkt, wo es nur unter mühsamem Aufwand möglich war, etwa die eine oder andere Stadtverwaltung lahmzulegen! Man mußte zum Beispiel nächtens ins Rathaus einbrechen und durfte um Gottes Willen kein Baumwolltaschentuch mit eingesticktem Monogramm verlieren. Oder man hatte alternativ mindestens drei Bedienstete der Stadt zu bestechen, den Nachtwächter eingeschlossen, und konnte dann nur beten, von denen nicht verpfiffen zu werden. Heute dagegen geht man einfach über ein paar schützende Umwege ins Internet, ruft die fragliche Webseite der Stadtverwaltung auf und setzt sein bewährtes Hacker-Programm zur Änderung des Paßwortes ein, das allen Bediensteten anvertraut worden ist, damit sie auch schön »Home-Office« machen können. Jetzt geben diese Tröpfe wie die Verrückten ihr vertrautes »Sauerkraut« ein, während ich dafür gesorgt habe, daß die Webseite nur noch auf »Powerfrau« reagiert.
~~~ Übrigens muß Totenohl keineswegs unbedingt etwas mit Leichen zu tun haben. Aus dem Studium der Stadtgeschichten von Waltershausen, Zierenberg, Wolfhagen weiß ich nur zu gut, wie oft bei Personen- oder Flurnamen schon in wenigen Jahrhunderten die aberwitzigsten Verschiebungen vorgekommen sind, dabei aus den unterschiedlichsten Gründen, und seien es versehentliche Schreibfehler beim Kopieren von Urkunden. Zwischen den nordhessischen Dörfern Kirchberg und Gleichen (bei Gudensberg) liegt zum Beispiel ein hübscher, bewaldeter Hügel, den die Wanderkarten »Leichenkopf« nennen. Es ist mir bislang nicht gelungen herauszufinden, warum. Aber die Mutmaßung, dort habe eben mal ein Chatte einen anderen Chatten erschlagen, ist doch ziemlich abenteuerlich. Vielleicht gab es auf der Gudensberger Burg einfach mal einen Trottel von Schreiber, der von dem gültigen Namen »Gleichenkopf« das G vergaß, und schon war die Mordgeschichte festgestampft. Allerdings ist auch der Bezug auf das Dorf Gleichen abenteuerlich. Erstmals 850 als »Gilihha« beim Fuldaer Mönch Eberhard erwähnt, machte auch dieser Dorfname, wie schon angedeutet, zahlreiche Verwandlungen durch. Vermutlich hat er mit Leichen durchaus viel, mit Gleichheit dagegen sehr wenig zu tun. Das hinderte mich freilich um 2010 nicht daran, am Fuß des Leichenkopfs die anarchistisch gestimmte Landkommune Emsmühle anzusiedeln. Das dort dienstbare Flüßchen Ems mündet südlich von Gudensberg in der Eder.
~~~ Nachtrag 1. Februar 2024 Das Stadtarchiv von Lennestadt hat Wort gehalten. Es schickte mir mehrere Quellen-Auszüge. Nach einer Prüfungsarbeit von Maria Schöttelndreier (Osnabrück 2004) zog die Malerin und Schriftstellerin Josefa Berens 1925 »nach Gleierbrück an der Lenne, das früher Totenohl genannt wurde. Mit dem Erscheinen ihres ersten Romans gibt sich Josefa Berens den Namenszusatz Totenohl, um die Verbundenheit mit ihrer Heimat auszudrücken.«
~~~ Zur Herkunft des seltsamen Ortsnamens führt Schöttelndreier mit einigen anderen Autoren die rastenden Begräbniszüge an. Denen liegt laut Heimatforschern eine Sage oder Legende zugrunde, nach der sich ein Siedler namens Irmingam zum Christentum bekehrt und an besagter, im Urwald gerodeten Stelle ein Gehöft erbaut hatte. Ebendort, bei dem neuen Gehöft am Gleierbach, hätten künftig die Leichenzüge von Adeligen, die einen christlichen Friedhof in Wormbach anliefen, Zwischenstation gemacht. Daher »Totenohl«. Allerdings weisen die ForscherInnen auf Ungereimtheiten hin, die solche Begräbniszüge eher unwahrscheinlich machen. Vielleicht entsprang die Legende späterem christlichem Wunschdenken, wonach man den »Heiden« schon früh den Schneid abgekauft haben wollte.
~~~ Eher trifft der landschaftliche Ursprung zu. Nach Namenskundlern meinte »ol« oder »aul«, später »ohl«, in der Regel einen feuchten Landstrich, vielleicht von einem Bach umflossen. Wir befinden uns ja in der Tat im Lennetal. Überdies mündet der Gleierbach just beim Dörfchen Gleierbrück in die Lenne. Was nun den vorderen Namensteil betrifft, bezeichnete »toyt« oder »teut« eine Spitze, wohl meist einen ins Auge stechenden Hügel oder Berg. Trifft dies in unserem Fall zu, sind die »Toten« eine nachträgliche Erfindung.
~~~ Nebenbei stoße ich im Internet auf eine 2021 verfaßte bebilderte Betrachtung* des Essener Heimatkundlers Dieter Bonnekamp, wonach das ansehnliche, »1938 in Gleierbrück-Totenohl« errichtete Fachwerkgehöft unserer Dichterin zumindest in den 1990er Jahren Wanderer mit einem Hakenkreuz im Giebel grüßte. Oder vorbeigekarrte Leichen. Bonnekamp zeigt Berens-Totenohl auch von uniformierten Nazirecken flankiert.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024
* https://vor-ort.kolping.de/kolpingsfamilie-essen-burgaltendorf/wp-content/uploads/sites/2417/2021-1-josefa-berens.pdf
Nun halten Sie doch solchen trockenen Langweilern wie Hans, Fritz, Dieter einmal ein paar slawische Vornamen entgegen. Schon Boleslaw, laut Brockhaus »mehr Ruhm«, schüttet alle drei auf einmal mit Klangfülle zu. Ich führe ferner, aus dem Stegreif, Bolek, Milutin, Mirko an. Jener Boleslaw hat allerdings den Nachteil, massenhaft Herrscher unter seinem Dach zu versammeln. Liest man überdies deren Beinamen, etwa der Grausame, der Fromme, das Schiefmaul, vergeht einem der Neid auf diesen klangvollen Vornamen.
~~~ Heinrich ist leider nicht viel besser. Nach verschiedenen Herleitungen hat der Name stets mit Macht, Reichtum, Hohem Rang zu tun. Was Wunder, wenn er im Spätmittelalter zu den Spitzenreitern der Jungen-Taufe zählte. Auch mein Großvater hieß noch Heinrich, obwohl er mit den genannten Eigenschaften wenig am Hut hatte. Henner ist eine Verkleinerungs- oder Koseform, die zu meiner Zeit in Hessen durchaus beliebt war. In humorigen Sendungen des Hessischen Rundfunks hieß immer mindestens einer Henner. Heute wäre ich schon auf Knien dankbar, brächte der HR auch nur einen einzigen Titel von unserer Platte Leon unter die Leute, meinetwegen die Nummer 3 kleiner bahnhof (mp3, 4,181 KB) . Da besingt einer ein verrammeltes stillgelegtes Dorfbahnhofsgebäude und träumt von einem großen Empfang.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024
Sehe ich grammatische oder stilistische Unarten, die er eigentlich liebt, im Brockhaus hier und dort außer Kraft gesetzt, breche ich schon fast in Begeisterung aus. So teilt er vom griechischen Politiker Theodoros Delijannis (1826–1905) mit, er sei »wiederholt« Minister und »viermal« Ministerpräsident gewesen. Der betreffende Autor war demnach kein Anhänger jenes Mehrfachens, das ich bereits mehrmals gerügt habe. Mit dem sich unmittelbar anschließenden Eintrag über den Berufskollegen Epameinondas Delijeorjis (1829–79) wird mir die Begeisterung allerdings gleich wieder in den Hals gerammt. Der Mann war »mehrfach« Minister und Ministerpräsident, ein vielköpfiger Supermann also. Vielleicht mußte hier krankheitshalber ein Gastautor einspringen. Oder der Lektor des Bandes 5 war jäh von dem Delirium befallen worden, das auf der nächsten Seite (220) behandelt wird.
~~~ Hier ist vielleicht auch ein Lobeswort über Stig Dagerman nachzutragen, von dem ich neulich das 1947 veröffentlichte Buch mit Reportagen Deutscher Herbst streifte. Bezüglich der auf den Buchmärkten weltweit gehätschelten daß-Seuche ist dieser schmale Band eine seltene, wohltuende Ausnahme, und das bei so einem jungen Autor! Vielleicht liegt es am Schwedischen, da bin ich überfragt. Jedenfalls umschifft Dagerman die daß-Klippe in mindestens 7 von 10 Fällen. Ich greife willkürlich heraus: »Weil die Zustände in den Kellern waren, wie sie sind, ist es falsch zu sagen, die Wahlresultate deuteten auf einen politischen Instinkt des deutschen Volkes hin, aber richtig, die Angst sei offenbar größer als der Hunger.« (S. 18)
~~~ In den 1960er Jahren gab es in Mitteleuropa leider keinen Lektor, der das prominente französische Krimiautorengespann Boileau/Narcejac daran gehindert hätte, ihre Studie Der Detektivroman auf den Markt zu werfen. Ich sage jedoch der Fairniß halber, hier und dort glänzt das Gespann erstaunlicherweise mit rühmlichen daß-Vermeidungen: »Häufig hat man den Eindruck, er suche die Selbstverbrennung, die Auflösung.« (S. 117) Nur verärgert es auch mindestes genauso oft durch entsprechende Häßlichkeiten: »Wenn man zugibt, daß zwischen der Lösung des Problems und der Affektivität des Lesers eine gewisse Übereinkunft besteht, erkennt man implizite an, daß der Detektivroman nicht durchaus ein Problem ist. Man anerkennt unausgesprochen, daß es zwischen Rätsel und Ermittlung eine Proportion, eine geheime Harmonie gibt und daß die Literatur, die man zu eliminieren suchte, sich in dem Detektivroman aufs neue einstellt.« (S. 100)
~~~ Mit diesem Zitat deuten sich gleich noch ein paar andere sprachliche Laster des Gespanns an, etwa die Vorliebe für einschüchternde Fremdworte sowie für Schachtelsätze, die nur verwirren können. Aber die Klarheit haben sich diese Intelektuellen sowieso nicht auf die Druckfahnen geschrieben. Wahrscheinlich wüßten sie an vielen Stellen oft selber nicht zu sagen, was sie da eigentlich gerade gesagt hätten. Sie sind die leider typischen Feuilletonisten, denen das Klingeln mit Worten viel wichtiger als die Vermittlung ihrer aufklärerischen Anliegen ist. Sie sind Nebel- und Weihrauchwerfer, die E. G. Seeliger jede Wette Schöndünster genannt hätte. Entsprechend dürftig ist ihr denkerischer Ertrag, soweit ich das in dem Nebel und Weihrauch erkennen konnte. Lesen Sie das Buch selber einmal. Aber kaufen Sie es nicht. Stehlen Sie es in irgendeiner Öffentlichen Bibliothek; viele NutzerInnen der Einrichtung nach Ihnen werden Ihnen dankbar sein.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
Teilt Brockhaus mit, der südafrikanische Schriftsteller niederländischer Herkunft Johannes van Melle (1887–1953) hätte die Wahrheit gesucht und sich dabei sogar auf Ironie und Humor verstanden, könnte ich mir vielleicht überlegen, mich einmal näher mit ihm zu befassen. Aber ein abschließender Hinweis schreckt mich wieder ab. Er habe wiederholt »die Unfähigkeit der Sprache« beklagt, »eine Brücke der Verständigung zwischen den Menschen zu schlagen.« Das kenne ich leider schon von vielen anderen modernen Schriftstellern, mich selber eingeschlossen. Erfreulicherweise hing ich dieser Klage aber nur in meiner jugendlichen Weltschmerzphase an. Später dämmerte mir, in der Sprache wahrscheinlich das beste Verständigungsmittel zu haben, das der Menschheit überhaupt zur Verfügung steht. Das soll nicht heißen, sie würde es auch erfolgreich benutzen. Ganz im Gegenteil, wie der heillose Verlauf der Weltgeschichte beweist. Das darf man aber nicht der Sprache anlasten. Das Übel liegt im falschen Umgang mit ihr. Gerade durch ihren erstaunlichen Reichtum bietet die Sprache eine Möglichkeit der Klarstellung, die etwa gestischen, vor allem jedoch gefühligen Verständigungsmitteln der religiös gepolten ZweibeinerInnen weit überlegen ist. Was erleben wir aber? Die Aussagen werden verwaschen, bis man durch ein nebelverhangenes Neandertal zu torkeln hat. Sie werden undurchdringlich aufgetürmt. Es wird gelogen, daß sich die Balken biegen. Statt der Wahrheit ans Licht zu helfen, wird alles getan, um sie zu verbergen. In vielen Fällen dürfte hier noch nicht einmal böse Absicht im Spiel sein. Ein Hauptgebrechen der Moderne ist die Flüchtigkeit. Man liest und schreibt gleichermaßen hastig, oberflächlich, ohne jedes Verantwortungsbewußtsein. Die von Van Melle gesuchten Brücken müßte man pflegen, doch meine Zeitgenossen lassen sie verrotten. Sie bilden sich kurzerhand ein, sie flögen über sie, mit dem Smartphone vor der Nase.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 25, Juni 2024
Zum Schönbär gibt Brockhaus keine Abbildung, sonst hätten ihm vielleicht PelztierschützerInnen die Hölle heiß gemacht. Scherz beiseite, soll es sich um eine bis fünf Zentimeter spannende Art der Bärenspinner-Schmetterlinge handeln, die sogar bei uns heimisch ist – falls man das Glück* hat, sie zu treffen. Wie das Internet verrät, heißen die Bärenspinner nach ihren behaarten Raupen so. Angeblich hilft denen die dichte Behaarung gegen Freßfeinde. Diese könnten die Raupe so nur schwer fassen. Das sind natürlich wieder sonderbare Ausklügelungen, von wem auch immer. Ähnlich merkwürdig finde ich freilich die Idee, Insekten nach Bären zu taufen. Im Grunde schlägt das sicherlich auf unser Benennungswesen überhaupt zurück. Gehen Sie einmal ein paar Dutzend Namen durch und Sie werden finden, fast alles ist üppig aufeinander bezogen: Nebelkrähe, Apfelschimmel, Bunsenbrenner, Pulverschnee, Alphorn, Düsenjäger und so weiter. Warum hat nicht jedes Ding einen Namen für sich, wie der Bürger im Staate schließlich auch? Die Antwort liegt auf der Hand: So viele Eigennamen wie es Dinge gibt könnte einer weder erfinden noch behalten. Und wenn doch, würde der Mensch schnell verrückt. Das spinnennetzartige, bezugreiche System Sprache erleichtert ihm also das Ordnen und Überschauen. Jedenfalls theoretisch ist es so.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 34, September 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Sch%C3%B6nb%C3%A4r#/media/Datei:Callimorpha.dominula.jpg
Siehe auch → Berufskünstlertum, Pratolini (Schreiben) → Dienstboten (für Autoren) → Erkenntnis, Mandelkern (Herausbildung) → Fremdworte → Gewalt, Keulenworte + Schlagworte → Grammatik → Horten (Schreiben, Weglassen) → Inseln, Inseln (Lawrence, Schreiben) → Krieg, Zamenhof (Plansprachen, Schreiben) → Literaturbetrieb → Lyrik → Musik, Remler (Herausbildung) → Rechtschreibung → Band 4 Düster 2 Kap. 3 (Ortsnamen)
Staat
Bei den Pereiras im Brockhaus fehlt ein wichtiges, mahnendes Todesopfer: Fernando Pereira (1950–85), Fotograf und Umweltschützer. Im Juli 1985 lag das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in Aukland, Neuseeland, vor Anker – ein Dorn im Auge Frankreichs, das im Südpazifik seit Jahren Atomwaffenversuche zu Lasten einheimischer InselbewohnerInnen durchführte. In der Nacht gab es zwei Explosionen, und das mit 12 Leuten besetzte Schiff sank. Dafür hatten Sprengstoffexperten und Taucher des französischen Auslandsgeheimdienstes gesorgt. Der 35jährige niederländisch-portugiesische Greenpeace-Fotograf, Vater von zwei Kindern, war das Todesopfer des Tages beziehungsweise der Nacht. Pereira ertrank im Bauch des Schiffes, als er versuchte, seine Kamera zu retten.
~~~ Neuseeland tobte, jedenfalls offiziell. Als die üblichen Ausflüchte nicht mehr zündeten, räumte die französische Regierung das Verbrechen ein. Geheimdienstchef Pierre Lacoste, als Marineoffizier »Admiral«, und »Verteidigungsminister« Charles Hernu verloren ihre Posten. Später verkündete Lacoste sogar, der damalige Präsident François Mitterrand sei über die Aktion im Bilde gewesen und habe sie gebilligt.* Ich wüßte allerdings nicht, daß die drei Herren jemals strafrechtlich belangt oder wenigstens regreßpflichtig gemacht worden wären. Die fetten Entschädigungssummen waren aus dem Steuertopf geflossen. Es ist demnach so: ein französischer Agentenboß, ein US-Präsident, ein Berliner Impfpapst können mit ihrer wahrlich »kriminellen Energie« anstellen, was sie wollen – sie bleiben straflos und lassen die Wahlschafe noch dafür zahlen.
~~~ 2005 soll Admiral Lacoste öffentlich versichert haben, Pereiras Tod laste schwer auf seinem Gewissen. Nimmt man ihm diese Erklärung ab, war seine interne Abwehr erstaunlich fit. Er starb nämlich erst im Januar 2020 – mit knapp 96 Jahren.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* WDR: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-franzoesischer-geheimdienst-versenkung-greenpeace-schiff-100.html, Stand 10. Juli 2020
Siehe auch → Autorität, Katte → Demokratie, Gewaltmonopol des S. → Imperialismus
Städte
Auf der ersten Seite des Bandes 13 verblüfft Brockhaus gleich durch ein Wunder. Die hessische Stadt Lahn, am 1. Januar 1977 durch Zusammenschluß der Städte Gießen und Wetzlar sowie 14 weiterer Gemeinden gebildet, sei im Sommer 1979 aufgrund starker Proteste schon wieder aufgelöst worden. Das sorgte für viel Spott und noch mehr Kosten, aber immerhin, der gute Wille hatte sich einmal gezeigt. Seitdem gibt es also wie vorher die Ortschaften Gießen, Wetzlar, Heuchelheim, Lahnau, Wettenberg und so weiter. Eine beträchtliche Steigerung dieses antizentralistischen Rückschritts bahnte sich dann 2021 an, als ich (in der Erzählung »Der Sturz des Herkules«) den Rhein-Oder-Bund (ROB) ins Leben rief. Während sich die Räteregierung des neuen Bundeslandes Hessen just Gießen zum Amtssitz erkor, entstand im benachbarten Wetzlar eine Metallfabrik, die den GO‘s des Landes die Bleche und Stempel (Druckformen) für ihre Hundemarken genannten GO-Ausweise liefert. Wie sich versteht, wurden Gießen und Wetzlar im Lauf der folgenden Jahre noch einmal zielstrebig ausgedünnt. Auf sogenannte Wettbewerbs-, also Kapital-, Konsum-, Befehls- und Gleichschaltungsinteressen mußte schließlich keine Rücksicht mehr genommen werden. Die meisten RepublikanerInnen leben sowieso lieber auf dem Land. Die ehemaligen Großstädte werden durch Abrisse und Gärten entschieden gelichtet und ähneln früher oder später den herkömmlichen dörflichen Gegenden. Näheres können Sie auch in meinen restlichen utopischen Erzählungen erfahren.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
Siehe auch → Anarchismus, Mahmud (Asien) + Higashiōsaka → Größe, Hochhaus → Krieg, Montevideo → Spanienkrieg, Iberien (Madrid) → Waltershausen, Löffler (Kleinstadt im MA) → Band 5 Schnitzeljagd (Sanierung) + Folgen eines Skiunfalls (Mammutisierung, Manifest)
Statistiken → Automobilisierung, Statistiken
Stierkampf
Die stechende Sonne treibt mich unter die Obstbäume am Hang. Im nächsten Dornengestrüpp jammert der Neuntöter, weil ich seinen Unterricht störe. Er bringt seinen flüggen Sprößlingen bei, »Schlachtbänke« anzulegen, behauptet die vogelkundliche Literatur. Die erbeuteten Hummeln oder Laubfrösche werden zwecks bequemer Zubereitung, manchmal auch aus Gründen der Vorratshaltung, zwischen die Dornen geklemmt oder auf sie gespießt … und sorgsam mit Pökelsalz eingerieben.
~~~ Die Weidenröschenstauden am Bachufer jenseits der Viehweide erinnern stark an Himbeereis – leider nur im Fernglas. Mit den rotbraunen Milchkühen, die gemächlich grasen, schiebt sich ein auffallend wuchtiges, euterloses Exemplar an meinem Himbeerhorizont vorbei. Ich vermute den »freilaufenden Bullen« in ihm, vor dem die Schilder am Elektrozaun warnen. Er schleppt sich freilich besorgniserregend schwankend dahin; gleich wird er vor lauter Kraft auf seinen blitzenden Nasenring fallen. Ab und zu beschnüffelt er die Schwanzwurzel einer Kuh, dann rupft er wieder lustlos ein paar Grashalme.
~~~ Im Gegensatz zu sämtlichen Kühen zeigt der Koloß kein Gehörn, dafür aber einen gewaltigen Kehllappen. Nimmt man seinen berstend prallen Hodensack hinzu, der ihm bald auf den Hinterhufen schleift, ist der Taumelgang des Bullen schon erklärt. In einer Stierkampfarena dürften solche Wesensmerkmale ein echtes Handicap darstellen. Spanien sieht jährlich rund 2.000 Stierkämpfe, bei denen rund 40.000 Stiere daran glauben müssen – an was? An die Gerechtigkeit bestimmt nicht. Doch F. G. Jünger behauptet in Die Spiele, zwischen Stier und Matador herrsche Gleichheit. Strenge Spielregeln hielten Riesenstärke und Zwergenscharfsinn in der Waage. Auch sei ja dieses bewegende Schauspiel ohne den Stier gar nicht denkbar. Am Ende, Degen im Schlund, werde er sogar eins mit dem siegreichen Matador.
~~~ Wäre aber vielleicht eine Welt ohne Matadoren denkbar? Dergleichen Fragen umgeht Jünger so elegant und vollständig wie die Qualen des Stiers. Selbst die Sozialistin Simone de Beauvoir bricht in Der Lauf der Dinge eine Lanze für den Stierkampf. Sie hat die Stirn zu betonen, allerdings dürfe kein Mensch zu diesem waghalsigen Kräftemessen gezwungen werden – etwa aus materieller Not oder angestacheltem Ehrgefühl. Demnach begibt sich der Stier aus freien Stücken in die Arena. Er kann es kaum erwarten – wie Jünger schreibt – des Kampfes »ruhender Pol« zu werden.
~~~ Der zeitweilige Spanienberichterstatter Ilja Ehrenburg bringt die Sache (in seinen Memoiren) auf den Punkt. »Der Stierkampf war mir stets zuwider. Wie oft habe ich darüber mit Hemingway gestritten! Die aufgeschlitzten Bäuche alter, ausgedienter Pferde, die Pfeile im Nacken kopfscheu gewordener Stiere, das Blut auf dem Sand der Arena – all diesen Dingen konnte ich überhaupt nichts abgewinnen. Ich fand sie schlichtweg abscheulich. Am allerabscheulichsten jedoch fand ich den Betrug: Der Stier kennt die Spielregeln ja gar nicht. Er läuft direkt auf den Feind zu, während dieser rechtzeitig um ein weniges zur Seite weicht.«
~~~ Der Mensch die Krone der Schöpfung? – Ja, als Verkörperung der Hinterhältigkeit.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
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