Dienstag, 14. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 34
Sich – Spiel
Sich – Spiel
ziegen, 09:32h
Für Heinrich Böll war die Sicherheitsnadel wichtig genug, um sie (1957) bereits auf der ersten Seite seines Irischen Tagebuchs vorzustellen. Das irische Volk, dem Armut weder als Schande noch Ehre gelte, habe dieser Nachfolgerin der alten keltisch-germanischen Fibel offensichtlich zu der ihr gebührenden Beliebtheit verholfen: »… wo der Knopf wie ein Punkt gewirkt hatte, vom Schneider gesetzt, war sie wie ein Komma eingehängt worden; als Zeichen der Improvisation förderte sie den Faltenwurf, wo der Knopf diesen verhindert hatte. Auch als Aufhänger für Preisschildchen, als Hosenträgerver-längerung, als Manschettenknopf-Ersatz sah ich sie, schließlich als Waffe, mit der ein kleiner Junge durch den Hosenboden eines Mannes stach …« Später weist Böll zudem auf die vielgenutzte Möglichkeit hin, etliche Sicherheitsnadeln, die in einer weiteren Sicherheitsnadel schaukeln, als Reserve mit sich zu führen, etwa unter dem Mantelkragen versteckt.
~~~ Ich selbst fahre im Hochsommer nie ohne Sicherheitsnadel Rad. Wegen der Hitze auf ein Hemd verzichtend, lege ich mir lediglich ein Handtuch um die Schultern, was den Sinn hat, dieselben vor Sonnenbrand zu schützen. Da mir das Handtuch jedoch aufgrund des Fahrtwindes wegflöge, pflege ichs unterm Kinn mit Hilfe der Sicherheitsnadel zu verriegeln. Der Mensch hat unzählige Arten des Riegels erfunden, aber die Sicherheitsnadel dürfte unser Riegel mit dem größten Anwendungsbereich sein. Ich sah sparsame oder faule Frauen, die ihre Fenstergardinen daran aufhingen, und im Umkleideraum eines Hallenbades, es war im Winter, ertappte ich einmal einen älteren Mitbürger, der den ausgeleierten Gummizug seiner langen Unterhose gestrafft hatte, indem er ihn an zwei Stellen gefaltet hatte. An diesen Stellen staken zwei Sicherheitsnadeln in dem Gummizug.
~~~ Die noch heute gebräuchliche Form der Sicherheitsnadel wurde von dem US-Mechaniker Walter Hunt erfunden, Patenterteilung 1849. Allerdings hatte man schon seit der Bronzezeit Kleidungsstücke oder -teile durch Fibeln zusammengehalten, wie ja Böll bereits angedeutet hat. Ihr Name geht auf lateinisch fibula = Spange, Klammer zurück. Diese vielgestaltigen »Gewandschließen« wurden oft, wie Broschen, als Schmuckstücke gearbeitet. Sie gingen den Riegeln namens »Knöpfen« voraus. Sinnt man darüber nach, ergibt sich bereits allein bei Kleidungsverschlüssen eine erstaunliche Vielfalt. Ich nenne aus dem Stegreif Schnürsenkel und andere Bänder, Druck- oder Manschettenknopf, Reißverschluß, Miederhaken, Klettverschluß. Doch nichts von diesen Kurzwaren erreicht die Breite des Einsatzfeldes einer Sicherheitsnadel auch nur annähernd, um nicht zu sagen, -nähend. Unsere Mütter schlossen dereinst unsere Windeln mit ihr, und hatten wir alle Kinderkrankheiten glücklich überlebt, um ins Schlachtfeld ziehen zu dürfen, legten uns die Schwestern in den Lazarettzelten die Verbände ebenfalls mit Hilfe der Sicherheitsnadel an, falls wir noch nicht gleich »gefallen« waren.
~~~ Heute wird die Aufrechterhaltung des weltweiten kriegerischen Geschehens durch die regelmäßige Abhaltung von Sicherheitskonferenzen sichergestellt. Auf denen schaukeln dann die Namensschilder oder Ausweishalter ihrer TeilnehmerInnen an Sicherheitsnadeln. Früher trug ich eine Anti-Atomkraft-Plakette mit Hilfe der hinten angeschweißten Sicherheitsnadel auf der Brust, aber die mußte ich unlängst durch einen aufgenähten Blauen Stern ersetzen: »Mutti, schnell in den nächsten Hausflur, da vorn kommt ein Blauer!« Gemeint bin ich, der Ungeimpfte.
∞ Verfaßt 2022
Skandale und Katastrophen
Ludwig, Oliver († 1976), Junge aus Hamburg-Eidelstedt, wo er selber, sein 13jähriger Bruder Thomas und der 10jährige Stephan Behrmann wohnten.* Am 6. September 1976 gingen die Drei zum verwilderten Betriebsgelände der ehemaligen Chemischen Fabrik Dr. Hugo Stoltzenberg. Sie streunten umher, sammelten einige Dinge oder Stoffe ein und kehrten in den häuslichen Keller zurück, um mit ihrer Beute zu experimentieren. Was sie allenfalls verschwommen wußten: auf dem Gelände lagerten illegal und höchst fahrlässig rund 80 Tonnen lebensgefährlicher Chemikalien und Sprengstoffe, darunter Gasgranaten. Prompt kam es im Keller der drei Jungen zu einer Explosion. Der achtjährige Oliver wurde getötet, die beiden anderen zogen sich schwere Verletzungen zu. Ferner löste die Explosion den üblichen Skandal, die bekannten Lügen und solche Reformen aus, die weder den Kapitalismus noch die Kriegslüsternheit antasten.
~~~ Schon 1928 hatte es bei Stoltzenberg Hamburg eine mittlere Katastrophe gegeben. Der Vorfall wurde auch von Carl Ossietzky in der Weltbühne aufgriffen: »Gasangriff auf Hamburg«, 29. Mai. Damals waren große Mengen Phosgen entwichen, die eine Giftgaswolke über der Großstadt bildeten. Nur günstige Winde verhinderten das Schlimmste. So sorgte das Unglück »lediglich« für mindestens 10 Tote und rund 300 Verletzte. Hugo Stoltzenberg selber, gestorben 1974 mit 90, ist dafür, so weit ich weiß, nie belangt worden.
~~~ Noch früher, im April 1915, stand Stoltzenberg Schulter an Schulter mit dem berühmten und noch heute hochgeehrten Chemiker Fritz Haber, damals sein Chef, bei Ypern an der Westfront. Und was hatten sie da zu suchen? Sie hatten die Chlorgashähne zu öffnen, um den Franzmännern einmal zu zeigen, was eine Harke ist. Sie hatten das erste deutsche Giftgas für Kriegszwecke gemeinsam entwickelt. Der Einsatz war »erfolgreich«; Haber wurde gleich zum Hauptmann befördert. Seine Ehefrau Clara → Immerwahr, ebenfalls Chemikerin, fand dies alles, den Charakter ihres Gatten eingeschlossen, gar nicht erhebend. Am 2. Mai erschoß sich die 44jährige mit Habers Dienstwaffe im Park der gemeinsamen Berliner Villa.
~~~ Ich komme noch einmal auf das Phänomen der Skandale und Katastrophen zurück. Womöglich haben einige LeserInnen eine gar zu weitgefaßte Vorstellung von ihm. Daß weltweit Jahr für Jahr Millionen von Menschen an Hunger, verseuchtem Wasser, Arzneimangel verrecken, während fast zwei Billionen Dollar für Militärisches verpulvert werden, ist kein Skandal. Dazu ist es zu allgemein, zu üblich, zu normal und zu günstig = unauffällig gestreut. Das gleiche gilt für jährlich grantiert 3.000 Straßenverkehrstote und 500 tödliche Badeunfälle allein in Deutschland. Sie stellen keine Katastrophen dar. Etwas anders sähe die Sache aus, wenn der Badeunfall beispielsweise einer prominenten deutschen »Kuratorin« auf den Kanarischen Inseln widerführe. Dann könnte man prüfen, ob es auf Fuerteventura StrandwächterInnen gibt, und wenn ja, ob die rund um die Uhr schlafen. Dieser Skandal wäre womöglich ein zureichender Grund, den spanischen Botschafter einzubestellen oder ihm gleich die Kriegserklärung zuzustellen.
~~~ Damit dürfte schon einiges klargeworden sein. Nur vergleichsweise ungewöhnliche und vergleichsweise brandneue Vorfälle sind skandal- und katastrophenfähig. Ferner müssen bestimmte, wichtige Personen vorhanden sein, an die das Schlimme geheftet werden kann. Schüttelte Rudi Dutschke die Faust, genügte es bereits. Der Skandal war da. Benno Ohnesorg dagegen mußte erst erschossen werden. Dadurch kam etwas in Bewegung. US-Präsident Carter sah sich erst dann genötigt, der Geierbande, die Nicaragua 40 Jahre lang ausgeweidet und in Blut gebadet hatte, seine Unterstützung zu entziehen, als ein Nationalgardist Somozas im Juni 1979 in Managua den US-Fernsehreporter Bill Stewart (37) abgeknallt hatte. Wäre Queen Elizabeth vom Rinderwahnsinn befallen worden, hätten Blair und Bush sofort die Viehweiden und Regenwälder der ganzen Welt besprühen lassen. Aber sie hatte ihn nicht nötig.
~~~ Hier drängt sich ein weiterer Gesichtspunkt auf, der vielleicht sogar der wichtigste ist. Vergangenes ist nie skandal- und katastrophenfähig. Schließlich liegt der Sinn der Vergangenheit gerade darin, uns Gegenwärtige zu entlasten. Deshalb haben wir nichts mit den Kanzleramtsakten zu tun, die Helmut Kohl beziehungsweise böse Bedienstete verschwinden ließen, bevor sie 1998 den Sessel im Bundeskanzleramt mit neuem Kalbsleder für den nächsten Fürstenarsch bezogen. Kohl selber, der Abgedankte, ging dann wieder seinem ursprünglichen Beruf als promovierter Historiker nach. Und schon gar nicht kann man uns für die »robusten« Maßnahmen haftbar machen, die einst der US-hörige General Suharto in Indonesien ergriff. Der Mann ließ ungefähr 500.000 »Kommunisten« umbringen, ferner jede Menge Chinesen. Nebenbei zweigte er in seiner »Regierungszeit« 15 bis 30 Milliarden Dollar für sich und seine Getreuen ab. Keinen geringen Teil davon verdankte er der CIA, wie bei Tim Weiner zu lesen ist. 1998 zum Rücktritt gezwungen, läßt sich Suharto im Jakartaer Nobelviertel Menteng nieder, wo er sich noch für 10 Jahre unbehelligt seiner unglaublichen Schandtaten erinnern kann. Er stirbt mit 86 im Januar 2008. Wen interessiert das schon? Seine Schandtaten sind vorbei.
~~~ Hexenverbrennungen und Conterganaffären; Sklavenhandel, Raketenabstürze und alle »Kollateral-schäden« unseres sogenannten Gesundheitswesens, Impfmaßnahmen eingeschlossen, werden bestenfalls zu ein paar Worten in Lexika und Fachbüchern. Die Toten und Einbeinigen und seelisch Zerrütteten leiden nicht mehr. Das sind alles eingebildete Kranke, denn die Zeit heilt Wunden. Wer weiß, ob es diese Leute und diese Verluste überhaupt gegeben hat. Wir merken nichts von ihnen. Ernst Kreuder sprach von unserem unausrottbaren Gegenwartsstolz. Real ist, was wir auf unseren hängeschrankgroßen Bildschirmen anzappen können. Und erfreulicherweise sind es stets die anderen, die vor unseren Augen mit Schweißbrennern oder Trennscheiben aus ihren zusammengestauchten Blechkisten geschält werden. Unser Auto steht vor der Tür.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Uwe Bahnsen, https://www.welt.de/welt_print/vermischtes/hamburg/article4472392/Die-Giftfabrik-des-Dr-Stoltzenberg.html, 6. September 2009
Über die gut drei Seiten zur Sklaverei will ich nicht meckern. Unter dem Sozialreformer und Kanzler Gerhard Schröder, um 2000, kamen dann massiv Nachgeburten namens Zeitarbeit, Leiharbeit, Billigarbeit, Gar keine Arbeit auf – Sie dürfen aber nicht denken, er habe das erfunden. In Westberlin waren Sklavenhändler lange vor ihm bekannt. Ich war 1975 in die Frontstadt gegangen, weil ich dort ohnehin schon eingebürgert gewesen war, hatten mir doch drei Instanzen der Kriegsdienstverweigerung meine Gewissensgründe nicht abgenommen. Verfügte man damals über einen in Westberlin ausgestellten Behelfsmäßigen Personalausweis, mußte man nicht »zum Bund«. Auslöser meines Umzugs war die Auflösung meiner Ehe gewesen. Ich war der mobilere Ex-Gatte, weil ich keine feste Arbeitsstelle hatte.
~~~ Aufgrund dieses Ortswechsels hatte ich allerdings kaum noch Freunde. Einen Gipfel meines Verlassenheits-traumas erlebte ich in der riesigen Halle der Reinicken-dorfer Hammerschmiede Hugo Kummers. Sie war nahezu leer. Hugo, ein rosiger Koloß mit Spinnenbeinen und Orang-Utan-Armen, schmiß das Büro, während sein Bruder Hans, ein Schweißer, hin und wieder auftauchte, um mir das kalte Biegen von Profileisen zu zeigen oder an seinem Porsche einen neuen Heckspoiler anzubringen. Mein einziger Kollege war ein Jungarbeiter, der seine kurzangebundene Berliner Schnauze zum Frühstück mit Matjes-Filets und Springers B.Z. fütterte.
~~~ Nach Kummer schlug ich mich nur noch tagelöhnernd bei jenen, allen Scherben-Fans wohlbekannten Sklavenhändlern durch.* Ich arbeitete lediglich, um mir Schmalz für meine Stullen und ein Tenorbanjo für meine neue Wirkungsstätte im Straßentheater Kreuzberger Asphaltoper kaufen zu können. Den Vogel schoß ein Verleiher ab, der gleich in dem Hochhaus am Zoo-Eingang residierte. Angeblich hatte er mich fürs eigene Büro als Bote angeheuert. Dann stellte sich heraus, daß ich vormittags in alle Bezirke zu düsen und an Wohnungs-türen zu klingeln hatte, um einmal nachzusehen, warum Kollege A. oder Z. mal wieder nicht auf seiner Leiharbeitsstelle erschienen sei.
~~~ Diesen eigentlich schmeichelhaften Posten als Sklaventreiber gab ich rasch wieder auf. In der Asphaltoper widmeten wir uns vor allem der Mieteragitation. Wir holten uns in den Hinterhöfen mit unseren aufwieglerischen lustigen Liedern Genickstarre und jedesmal ein paar Groschen oder Fuffziger. Wie ich den Medien entnehme, könnten wir diese Mission inzwischen nahtlos wieder aufnehmen, weil es die Rotgrünen als ihre vornehmsten Aufgaben betrachten, Elektroautos, Schützenpanzer und Wohnungsnot produzieren zu lassen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* https://www.youtube.com/watch?v=-tMvqjH5EYo (1971)
Die Karibikinsel Hispaniola, ein Nachbar Kubas, besteht heute aus den Staaten Haiti (im Westteil) und der östlichen Dominikanischen Republik. Der Westteil, früher »Saint-Domingo« genannt, war einträgliche Kolonie der Franzosen gewesen. Auf den Plantagen wurde vorwiegend Zuckerrohr und Kaffee angebaut. Als haitianischer »Freiheitsheld« gilt auch im Brockhaus der schwarze Einheimische Toussaint Louverture (1743–1803). Ursprünglich Sklave in Saint Domingo, habe er sich 1791, nach der aus Paris proklamierten Sklavenbefreiung und schon fast 50, den Aufständen von Schwarzen und Mulatten angeschlossen, die sich gegen die weißen Herrschaften richteten. Er konnte lesen und schreiben und stieg rasch auf. Schließlich sei er »im Dienst der französischen Revolutionsregierung« sogar zum Oberbefehlshaber Saint Domingos erhoben worden. Nachdem er den spanischen, größeren Teil der Insel Hispaniola erobert hatte, habe er deren Unabhängigkeit verkündet (1801). Darauf jagten und besiegten ihn jedoch französische, inzwischen napoleonische Truppen und schafften ihn als Gefangenen nach Frankreich. Die Sache stinkt nach Verrat und bleibt zumindest im Brockhaus offen.
~~~ Wie ich Roi Ottleys Buch über die Sklaven Nordamerikas entnehme*, schlugen die Kämpfe auf und um Hispaniola auch in den damals noch jungen USA hohe Wellen. Einerseits mußten ungefähr 25.000 weiße, als Herren entthronte Flüchtlinge aus Saint Domingo untergebracht werden; andererseits sahen sich die nordamerikanischen schwarzen Sklaven in ihren eigenen Freiheitsbestrebungen beträchtlich beflügelt. Der durchschnittliche US-Bürger wurde derweil mit den schon damals beliebten Greuelgeschichten über die Revolutionäre gefüttert. Gegen diese Lügen oder Verzerrungen hätte sich sogar der britische Konsul James Stephens verwahrt, behauptet Ottley. Der Konsul schlug seinem Mutterland die Entlassung Hispaniolas in die Unabhängigkeit vor. Was den »Freiheitshelden« angeht, muß er auch nach Ottley sowohl in militärischer wie in politischer Hinsicht ein Schlitzohr gewesen sein. Er habe zerlumpte Haufen in schlägkräftige Truppenteile verwandelt und Frankreich, Spanien und England geschickt gegeneinander ausgespielt. »Er erklärte die Unabhängigkeit Haitis, die zunächst von Napoleon anerkannt wurde. Aber später sah Napoleon in Toussaint ein Hindernis für einen französischen Imperialismus in der Neuen Welt. So sandte er 25.000 [Mann starke] Truppen unter seinem Schwager Le Clerc nach Haiti, um die Republik zu zerstören. Durch Verräterei wurde Toussaint gefangengenommen, und er starb in einem französischen Gefängnis.«
~~~ Ottley versteht unter »Haiti« die ganz Hispaniola umfassende neue »Negerrepublik«. Deren Chef saß nun in der Festung Fort de Joux, die bei Pontarlier in Ostfrankreich lag. Die deutsche Wikipedia behauptet, dort sei er im April 1803 »an den Folgen der harten Haftbedingungen« gestorben. Die englische Schwester bietet an: Erschöpfung, Unterernährung, Schlaganfall, Lungenentzündung und möglicherweise Tuberkulose. Toussaints Bezwinger, das liebe französische Mutterland, hatte die überseeische Sklaverei inzwischen wieder für rechtmäßig erklärt, durch Napoleon im Mai 1802. Die karibische »Negerrepublik« konnte sich natürlich nicht lange halten, obwohl es Toussaints Nachfolger Dessalines gelungen war, auch Leclercs Mannen von der Insel zu vertreiben. Laut Ottley trafen damals auf Dessalines Einladung hin sogar nahezu 30.000 ehemalige Negersklaven aus den USA in Haiti ein. Es kam zu neuen Machtkämpfen und Teilungen auf der Insel. 1915 zeigte sich, welcher Imperialist in Zukunft das Sagen in der Karibik haben würde: Die USA rückten ein und erklärten ihre gnädige Bereitschaft, Haiti unter ihre »Schutzherrschaft« zu nehmen. Da waren die Enkel jener 30.000 Ex-Sklaven vom Regen in die Traufe gekommen.
~~~ Ein jüngster deutschsprachiger, durchaus lesenswerter Magazinbeitrag** ist von der Überzeugung geleitet, die damalige haitische Revolution habe »dem System von Kolonialismus und Sklaverei einen entscheidenden ersten Schlag« versetzt. Mal sehen, ob ich den letzten noch erlebe.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* Roi Ottley, Die schwarze Odysee, deutsche Ausgabe Hamburg 1949, S. 112–17
** Carlo Greppi, »Happy Birthday, Toussaint Louverture«, https://www.jacobin.de/artikel/toussaint-louverture-haiti-revolution, 20. Mai 2024
Siehe auch → Gewalt, VerbrecherInnen
Snooker
Shot to nothing --- Das Billardspiel Snooker bietet einige Merkwürdigkeiten. So gibt es eine Art Stoß mit Netz. Meistens geht er über eine längere Strecke – die Diagonale eines Snookertisches mißt immerhin rund vier Meter. Beim Shot to nothing kann sich der Spieler eine gewisse Chance ausrechnen, die angepeilte Zielkugel mit Hilfe seines durch Lederkuppe wohlabgefederten, kerzengeraden Billardstockes und des weißen »Spielballs« in einer Tasche zu versenken; für den Fall des Mißerfolges sorgt er jedoch dafür, daß die Weiße in einer (meistens entlegenen) Region des Tisches zur Ruhe kommt, wo der Gegner erst einmal kein Unheil anrichten kann. Denn nach jedem Fehlstoß – dazu zählen auch Fouls – wechselt die Aufnahme: der Gegner ist am Zug.
~~~ Aber das Snookerspiel betört seine gläubigen, zuweilen auch süchtigen AnhängerInnen nicht nur durch die taktischen Spielräume, die es gewährt. Kann es doch selbst bei vorhandenem Gegner von vorn bis hinten allein gespielt werden! In diesem Fall wechselt eben die erwähnte Aufnahme nie, sieht man einmal von einem kurzen Auftaktgeplänkel ab, in dem keine Kugeln fielen. Nun locht (oder pottet) man Kugel um Kugel und verwandelt den Mitspieler durch die immer eindrucksvoller werdende Serie in einen Zuschauer, der freilich nichts zu lachen hat. Um solche Serien oder Breaks zu schießen, sind zentimetergenaue Ablagen unumgänglich. Die Weiße soll dort zum Stillstand kommen, wo ich sie brauche, um die nächste Rote oder Farbige, je nach dem, in einer Tasche verschwinden zu lassen. In der Regel müssen Rote und Farbige abwechselnd versenkt werden. Versenkte Farbige kommen wieder auf den Tisch, wozu sie feste Lagepunkte haben. Sind alle Roten verbraucht, geht es auch den Farbigen an den Kragen. Der Tisch wird abgeräumt.
~~~ Gewisse Spitzenspieler setzen dabei ihren Ehrgeiz nicht nur ins Erreichen der höchstmöglichen Punktzahl von 147; sie wollen dieses Maximum Break auch noch möglichst schnell erzielen. In der Thüringenliga (dritthöchste Ebene des deutschen Amateursnookers) rechnen die Mannschaften mit einer durchschnittlichen Spieldauer pro Frame von 30 Minuten. In Laienkreisen schleppen sich die jeweiligen Kontrahenten oft doppelt so lang über den Teppichboden und das gebügelte, grüne Tischtuch, weil einfach keine nennenswerten Serien zustande kommen. Da ist der Weltrekord für das zügigste vollständige Abräumen eines Snookertisches doch etwas anderes. Der Brite Ronnie O'Sullivan hält ihn mit 5:20 Minuten. In dieser Rekordzeit hat er 1997 in einem Turnier-Frame abwechselnd 15 Rote (15 Punkte) und 15 mal die wertvolle Schwarze (105) und abschließend die sechs Farbigen (27) versenkt – macht nach Adam Riese 147 Punkte.
~~~ Soweit ich sehe, gibt es kein anderes Spiel, bei dem dies möglich ist: trotz Vorhandenseins eines Gegners das Spiel ganz allein zu bestreiten. Es sei denn, man nennt das Schreiben ein Spiel. Hierbei sind zwar Legionen von Gegnern vorhanden, doch sie stehen nur im Lexikon.
~~~ Mein jüngster Versuch, als Frührentner nicht nur am Schreibtisch hocken zu müssen, erwies sich leider als Schuß in den Ofen. Mit einem Freund hatte ich der »Öffentlichkeit« im Kreis Gotha per Presse, Rundfunk, Aushänge und Mundpropaganda mitgeteilt, nichts sei naheliegender und einfacher, als die Region endlich mit einem hübschen Snookerclub zu bestücken und zu beglücken, am besten in der riesigen Stadt Waltershausen, wo wir zufällig leben. Aber die Öffentlichkeit hustete uns etwas – niemand biß an.
~~~ Am Thüringer Wald kann der vernagelte Kulturzustand der hiesigen Bevölkerung nicht liegen, denn Ilmenau, auch nicht gerade eine Weltstadt, schmiegt sich ebenfalls an den nördlichen Rücken dieses bewaldeten Höhenzuges – und es hat einen Snookerclub. Dieser rührige Club verfügt sogar über vier Tische. Ein Snookertisch nimmt ungefähr den Platz eines leergefegten Frisiersalons ein und kostet, jedenfalls fabrikneu, 3.500 bis 5.000 Euro. Schon eine neue Bespannung (mit grünem Tuch) – die möglichst jährlich erfolgen sollte – macht den Club um 500 Euro ärmer. Die vier Tische in Ilmenau sind in gepflegtem Zustand, wie ich kurz vor den diesjährigen Profiweltmeisterschaften (2011) mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Fingerkuppen ertasten konnte. Allerdings finden die Profiweltmeisterschaften nicht in Ilmenau statt. Ich hatte mich Ende März (per Eisenbahn) zum letzten Spieltag der Saison eingefunden, der die Entscheidung über den jüngsten thüringischen Mannschaftsmeister bringen würde. Wie sich herausstellte, war ich der einzige Zuschauer.
~~~ Das flache Vereinsheim liegt etwas unattraktiv im Osten von Ilmenau im Schatten etlicher Plattenbauten. An diesem Sonntag steht ein Pkw mit Erfurter Kennzeichen im Hof: aha – der Gegner! Während in den beiden Bundesligen pro Mannschaft vier Leute antreten, beschränken sich die unteren Ligen auf drei Leute – die sogar in einen Trabi passen. Bei den Mannschafts-wettbewerben spielt jeder gegen jeden. Wie sich bald zeigt, kommen die Recken aus Erfurt und Ilmenau, obwohl sie vorschriftsmäßig geschniegelt sind (kurze Lederhosen oder Baseballkappen sind verboten), selten über zwei oder drei Kugeln in Folge hinaus, sodaß man Sitzfleisch oder nicht zu enge Schuhe benötigt. Natürlich kennen und schätzen sich die Spieler. Beim gemeinsamen Mittagstisch, den die einzige Frau zubereitet hat, die im Vereinsheim zu erblicken ist, tauschen sie Neckereien und Anekdoten aus. Ich nutze die Chance, um mich ebenfalls etwas in Szene zu setzen, habe ich doch zufällig mein schmales Buch mit Kriminalerzählungen aus Thüringen Der Fund im Sofa dabei. Ich lobe es als Highest-Break-Preis aus. Zweieinhalb Stunden später ist es für eine Serie von 38 Punkten an einen Erfurter Spieler gegangen. Den 6:3-Gesamt-Sieg fährt freilich die Heimmannschaft ein. Damit heißt der neue Thüringenmeister (der Saison 2010/11) Ilmenau. Goethe wäre begeistert gewesen – er hielt sich am Kickelhahn (860 Meter) gern zur Sommerfrische auf.
~~~ Zum Leidwesen vieler schwarzrotgold gestrickter Fans hat Deutschland, trotz »Wiedervereinigung« und zunehmender Kommerzialisierung des Bundesliga-betriebes, noch keinen berufsmäßig spielenden Snookerstar hervorgebracht. Dazu bedürfte es wiederholter Startberechtigung und dauerhafter Behauptung in der sogenannten Maintour. Die Profis schlagen sich nämlich, im Rahmen der Ranglistenturniere, die ihr Verband im jährlichen Turnus ausrichten läßt, gleichsam »international« um die Preis- und Werbegelder. Die meisten Turniere der Maintour finden in Großbritannien und China statt. Ein Snookermekka ist die mittelenglische Stadt Sheffield, Austragungsort des jährlichen Weltmeisterschaftsturniers.
~~~ Die im Kreis um höchstens zwei Snookertische angeordneten Ränge des Sheffielder Crucible-Theaters bieten rund 1.000 eingeschworenen Fans Platz, die für ihr Ticket pro Spieltag jeweils 60 bis 175 Pfund (im Finale), also beim derzeitigen Wechselkurs immerhin rund 75 bis 220 Euro auf den Tisch gelegt haben – auf den Tisch des Kassenhäuschens selbstverständlich. Das grüne Tuch der Snookertische wird in jeder Matchpause gebürstet und gebügelt. Schließlich sollen die Kugeln wie an der Schnur gezogen laufen, es sei denn, der Spieler wünscht seinem Stoß einen eleganten Bogen zu verleihen: er gibt dem Spielball Seiteneffet. Wie sich versteht, wird das sakrale »Ereignis« von Fernsehkameras (BBC oder Eurosport) in alle Welt getragen, sogar nach Waltershausen. Allerdings habe ich kein Fernsehen. So pflege ich mich mit ein paar Video-Aufzeichnungen zu begnügen, die mir das Internet bietet. Der zeitliche Rückstand juckt mich nicht die Bohne. Lese ich in einer Biografie über den britischen Schriftsteller D. H. Lawrence, seine Bekannte Dorothy Brett habe es (um 1915) geliebt, in der Kneipe unversehens auf den Snookertisch zu springen, ihren Rock zu lüften und auszurufen: »Nur zu, Jungs, versenkt die Rote!« – lese ich es jetzt. Es erfüllt mir den Augenblick, als wäre ich mit am Zug oder Stoß gewesen.
~~~ Der hochklassige Reißer zwischen Ding Junhui und Stuart Bingham aus dem Achtelfinale liegt bereits hinter mir. Der junge Chinese schlug den stämmigen Engländer denkbar knapp mit 13:12. Gleichwohl ist mein Eindruck vom Auftreten der Stars nicht der beste. Gewiß verhalten sie sich in der Regel fair und höflich, aber sie wirken durchweg verbissen und kalt, dies auch dann, wenn sie einmal lächeln. Nette oder solidarische Gesten untereinander sind so gut wie nicht zu beobachten. Jeder denkt nur an den eigenen Sieg – nicht um jeden Preis, aber in diesem Fall um 250.000 Britische Pfund.
~~~ Diesen Batzen gibt es allein für den Finalsieg. Gelingt einem Spieler das höchste Break des Turniers, kassiert er um 10.000 Pfund unabhängig von seiner Plazierung. Wie sich versteht, bringen WM-Erfolge, und sei es »nur« das Erreichen des Viertelfinales, noch zahlreiche weitere Rubel ins Rollen, vom sogenannten Weltruhm einmal abgesehen. Der Schotte Higgins, der sich trotz vieler Patzer erneut ins Halbfinale gemogelt hat, bekam neulich eine Sperre wegen eines mutmaßlichen Versuchs zum Wettbetrug – es ficht die Fans nicht an. Schließlich betrügen wir alle gern, wie zumindest Frisöre und SchriftstellerInnen wissen. Man bewundert die Kunst der Pointe, des Safes (Sicherheitsstöße, eingeschlossen Shot to nothing) und der Ausrede, also auch die Kunst, sich bei sogenannten Unregelmäßigkeiten, die vom Bilanzfälschen bis zur Vorbereitung eines Angriffskrieges gehen können, nicht erwischen zu lassen. Higgins war nichts nachzuweisen. Nun steht er im Finale. Während die wichtigsten Begegnungen bei Amateur-Turnieren häufig nur über Best-of-Five oder -Seven gehen, ist das WM-Finale für Best-of-35 ausgeschrieben, was bedeutet, um jene rund 300.000 Euro reicher ist der Spieler, der zuerst über die Hälfte der Gesamtzahl kommt, also 18 Frames für sich entschieden hat. John Higgins gewinnt das Finale (gegen Judd Trump) mit 18:15.
~~~ Lasse ich hier in der Regel bei »Spielern« die »Innen« weg, handelt es sich nicht um Betrug. Snooker ist nämlich trotz enorm wachsender Beliebtheit nach wie vor Männerdomäne. Das spiegelt sich leider auch im Wikipedia-Artikel über Snooker wieder (Stand März 2009), der weder Spielerinnen noch das Problem weiblicher Randexistenz im Snookergeschehen kennt. Yvonne Kampmann vom 1. SC Dortmund, amtierende westfälische Landesmeisterin in der Frauensparte, schätzt den Anteil der registrierten Spielerinnen im deutschen Snookergeschehen auf fünf Prozent. Frauen ziehen traditionell dem Gegen- das Miteinander vor, etwa beim Ballspielen oder Tanzen. Die Eleganz des Snookerspiels kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es den Typ des einsamen Killers bevorzugt. Schließlich ist dieses Spiel, wie oben schon festgestellt, geradezu darauf angelegt, den Gegner so wenig wie möglich ins Geschehen eingreifen zu lassen, ja ihn am besten zur völligen Untätigkeit zu verdammen. Man ist versucht, von Onanie oder Sodomie zu sprechen. Der Billardstock – Queue genannt – wird zum unfehlbar rasenden Dolch, mit dem der Champion das auf dem grünen Tuch liegende Schwein schlachtet. Auch im Amateursnooker stoßen Frauen so gut wie nie in Finalrunden oder Bundesligamannschaften vor. Sie sind zwar überall zugelassen, doch in ihrer Not spielen sie meistens separate »Damen«-Turniere, an denen keine männlichen Spieler teilnehmen dürfen.
~~~ Wären wir im Tennis, könnten wir ihr Schattendasein mit körperlicher Schwäche erklären, doch beim Snooker sind Arme im Format von Oberschenkeln eher hinderlich. Da Klugheit keine Männerdomäne ist, bleibt zur Erklärung nur der erwähnte Killerinstinkt. Kampmann und ihre Kameradin Christiane Mommert von Astoria Walldorf betonen allerdings zwei andere Gesichtspunkte. Zum einen falle Frauen im allgemeinen bekanntlich räumliche Orientierung schwer – auf dem Billardtisch, wo es um zentimetergenaue »Ablagen« geht, ein echtes Manko. Zum anderen neigen sie dazu, allzu rasch die Flinte ins Korn zu werfen. Das vertreibt sie unweigerlich aus jedem Snookersalon, denn das Spiel ist zu kompliziert, um rasche Erfolgserlebnisse bieten zu können. Mit Liebe ist hier wenig auszurichten – und zu Glaube und Hoffnung haben sich erbittertes Training und eiserne Disziplin zu gesellen. Die entsprechenden Bedingungen werden Frauen oder gar Mädchen im deutschen Snookergeschehen noch zu wenig geboten, beklagen Kampmann und Mommert. Die Britin Reanne Evans, damals 23, legte 2008 Breaks von 82, 109 und (gegen Suzi Opacic) sogar 140 vor.*
~~~ Aber vielleicht ist die Erotik des Snookerspiels letztlich doch zu einseitig gepolt. Seine »Männlichkeit« läßt sich ja kaum übersehen. Ein Stab buhlt um die Gunst entzückender Kugeln. Die Lederkuppe küßt die Kugel; der Stock stößt sie ins Loch. Daß sie zumeist rot gefärbt ist, dürfte kaum Zufall sein. Siehe die oben erwähnte Dorothy Brett.
Nachtrag. Täusche ich mich nicht, sieht Steve Davis, sechsmaliger Profi-Weltmeister und inzwischen Star-Kommentator in der Branche, die Sache sehr ähnlich wie ich. Um in die höheren Etagen des Snookergeschehens vorzudringen, ermangele es dem Weibe an einer typisch männlichen Besessenheit und Verbissenheit, die sich noch die stumpfsinnigste »Konzentration« verordne, um auf einem bestimmten, in diesem Fall völlig abwegigen Terrain den Blumentopf zu gewinnen, versichert er 2014 Caroline Rigby von BBC.** Der hagere, einst rothaarige britische Fuchs, Jahrgang 1957, scheut hier selbst das Wort »idiotisch« nicht. Nur das Ziehen verschiedener Parallelen erläßt er sich – sofern es nicht Rigby war. Die oben bereits erwähnte Top-Spielerin Reanne Evans widerspricht Davis nicht, dämpft freilich ab. Typisch weiblich.
∞ Verfaßt 2011. Kern ist mein Artikel „Der Meister spielt allein“, der 2000, wenn ich mich recht erinnere, im Wochenblatt Zeit erschien. Lang, lang ists her. Aber die Überschrift des zuständigen Redakteurs muß ich rühmen.
* Anfang 2018 erzielt die 18jährige Thailänderin Nutcharat Wongharuthai, genannt Mink, im Training eine sehenswerte 109: https://www.youtube.com/watch?v=9mveBhTAzOM
** Caroline Rigby, »World Snooker: Steve Davis says women will never match top men«, https://www.bbc.com/sport/snooker/27253279, 2. Mai 2014
Das nette nordhessische Städtchen Hofgeismar (bei Kassel) hat sogar noch immer einen Bahnhof, dafür jedoch keinen Ligaclub des Snookersports mehr. Von diesem Verlust erfährt man natürlich nicht durch Brockhaus. Den Snookerclub gibt es freilich noch, wie mir ein freundlicher Aktiver auf Anfrage mitteilt. Um 2000 hatte sich der Hofgeismar Snooker Club sogar bis in die 2. Bundesliga hochgeschossen. 2004 verpaßte er aber den sogenannten Klassenerhalt, und bald darauf blieb er dem Spielbetrieb der Liga überhaupt fern. Er hatte zuviele bewährte Spieler verloren. SpielerInnen gab es in dem Provinzclub sowieso nie. Noch heute habe man, bei 33 Mitgliedern, nicht eine Frau im Club.
~~~ Ein Makel liegt auch in der räumlichen Enge des einzigen heimischen Snookersalons. Er hat nur zwei Tische. Das reichte gegenwärtig für die 2. Bundesliga, die mindestens drei verlangt, ohnehin nicht aus. Das »spielerische Potential« für solche höheren Aufgaben hätte man dagegen inzwischen wieder, versichert mir der Gewährsmann. Jetzt sei geplant, sich zur neuen Saison 2024/25 wieder in der Hessenliga anzumelden. 2006 errang der SC sogar den Pokal des Hessenmeisters. Und wenn er das erneut schafft und in der 2. Bundesliga anklopft ..?
~~~ Ich wüßte ja eine Lösung zur Behebung der Platznot des Clubs. Man müßte nur den Bürgermeister Torben Busse, vor allem jedoch die Kirchenbosse von ihr überzeugen. Im heimischen Park Gesundbrunnen gibt es seit 1790 ein ansehnliches klassizistisches Gebäude mit dem unverzichtbaren Säulen-Vorbau, ursprünglich Sommerresidenz der kurfürstlichen Trottel aus Kassel.* Brockhaus erwähnt es sogar. Seit 1952 sei es »Tagungsstätte« der Hofgeismarer Evangelischen Akademie.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Schl%C3%B6sschen_Sch%C3%B6nburg#/media/Datei:Schloss_Sch%C3%B6nburg_2017.jpg
Siehe auch → Corona, Hunter (Top-Spieler) → Medien, Xu Si (dito) → Band 4 Bott, Schnee Kap. 1 (Meditation)
Solidarität
Im April 1943 wirft sich Myrtek Stanowitsch, Anfang 20, wegen Drohungen des Nazi-Ortsgruppenleiters, er werde gemeldet und folglich erschossen, bei Metz vor einen Zug.* Der polnische Kriegsgefangene und »Fremdarbeiter« im Saarland hatte wohl einst Elektriker gelernt. Sein Vergehen: »Rassenschande«. Stanowitsch hat nämlich Aline Söther geschwängert, geboren am 10. September 1923. Die Landwirtschaftshelferin und Tochter eines einheimischen, wenn auch kommunistischen Bergmanns liebt ihn sogar, heißt es. Aber es ist verboten. Und bald nach dem Unglück und der Geburt ihrer Tochter Rita (die zu den Großeltern kommt) wird Söther nach Ravensbrück verschleppt, wo sie 1945 mit erst 21 Jahren umkommt, angeblich durch Typhus. In Wahrheit sei sie, kurz vor der Befreiung des KZs, von SS-Schergen erschossen worden, behauptet die Saarbrücker Zeitung 2015.** Im selben Jahr wurde in Söthers Heimatdorf Beckingen ein Platz nach ihr benannt.
~~~ Zwar erwähnt die Lokalpresse anläßlich der Platzeinweihung auch eine Enkelin Söthers, sogar namentlich, doch mein Versuch, mit dieser ins Gespräch zu kommen, scheitert. Ich fürchte allerdings, die Enkelin hätte ebenfalls keine Einzelheiten über das Temperament, die Wünsche und die Liebe der Bergmannstochter gewußt. Solche Opfer: Bergmannstöchter und radbrechende Elektriker, sind der Welt meistens nicht sonderlich wichtig. Dafür gibt es über den DDR-Bergmann Adolf Hennecke Literatur in Förderturmhöhe, wie ich stark vermute. Über Söthers Geliebten Stanowitsch scheint die Nachwelt noch nicht einmal einen Teelöffel voll zu wissen. Hat er aber Glück, wird er im Saarland noch als zukünftiger Held ausgegraben, weil er immerhin kein Russe war.
~~~ Es liegt mir freilich fern, Stanowitsch beleglos zu verklären. Zum Beispiel könnte ja geargwöhnt werden, er habe Söther glatt im Stich gelassen – und gleich auch noch mit einem Kind. Nebenbei spricht der noch heute beliebte »Schienensuizid« auch nicht unbedingt für Stanowitsch. Ob die beiden eine Flucht oder einen sogenannten Paarselbstmord erwogen, wissen wir nicht. Beides wäre kaum verblüffend gewesen, weil auf Söthers »Vergehen« schließlich bekanntermaßen KZ stand. Ich selber wälze die Frage, wie ich mich im Ernstfall am besten umbringen könnte, seit Jahren um und um. Mit Aline hätte ich vielleicht sogar meiner Höhenangst getrotzt. Man erklimmt nach Schichtende gemeinsam den erwähnten Förderturm, nimmt sich oben bei der Hand und macht am besten die Augen zu. Vielleicht noch ein letzter Kuß – und dann auf Wiedersehen!
~~~ Was denn ein Ernstfall wäre ..? Na, ich denke etwa an die Gründung eines grünen BDM (Bund Deutscher Mädels) durch dessen zukünftige Generalsekretärin Annalena Baerbock.
∞ Verfaßt 2023
* Margit Stark, https://www.saarbruecker-zeitung.de/saarland/merzig-wadern/beckingen/gedenken-an-verfemte-liebe_aid-1589959, 10. September 2015
** Norbert Becker, »Zum Gedenken an NS-Opfer«, Saarbrücker Zeitung, 14. September 2015
Da mir die stellenweise spitzfindige soziologische Sülze, die Brockhaus auf knapp drei Seiten zur Solidarität serviert, nicht sonderlich schmeckt, will ich mir ein paar eigene Gedanken machen. Unvergeßlich ist mir zum Beispiel der 2001 ergangene Aufruf unseres Bundeskanzlers Gerhard Schröder, jetzt gelte es, dem von Terroristen bedrohten oder regierten nordamerikanischen Volk unsere »uneingeschränkte Solidarität« entgegen zu bringen. Glücklicherweise hatten die Anschläge auf Twintowers und Pentagon den Präsidenten Bush nicht zum Einarmigen gemacht. Ein solcher hatte laut Jost Herbig nachgewiesenermaßen in der Neandertaler-Horde von Shanidar gelebt, wo er sogar das vergleichsweise biblische Alter von rund 40 Jahren erreichte. Ob die NeandertalerInnen das Gefühl hatten, ihn »mitschleppen« zu müssen, ist nicht überliefert. Jedenfalls taten sie es, obwohl er durch einen Geburtsfehler arg behindert war. Die »Solidarität« mit den Starken war vielleicht in der Altsteinzeit noch nicht so hoffähig. Da mußte erst Sozialdemokrat Schröder kommen.
~~~ Auf dem Floß der Medusa wäre der Einarmige vermutlich als einer der ersten zu den Haifischen gewandert. Die französische Fregatte La Meduse war 1816 vor der Küste Westafrikas in Seenot geraten. Da die Rettungsboote nicht ausreichten, wurde eilends ein Floß gezimmert. Die Boote nahmen dergestalt 200 Personen in Schlepp. Angesichts der rettenden Küste wurden die Taue jedoch gekappt. Das Floß trieb ab. Mit den Vorräten und dem Trinkwasser schrumpften auch die guten Sitten. Schwache wurden ins Wasser gestoßen und ertranken. Trinkwasserdiebe wurden erwürgt. Je schmäler die Floßbesatzung, desto höher die Überlebenschancen, rechnete sich jeder aus. Man aß bereits Tote. Als das Floß nach 12 Tagen endlich entdeckt wurde, lebten nur noch 15 Personen. In der Hoffnung, sie seien resozialisierbar, hätte man aus ihnen immerhin noch eine Landkommune bilden können. Die solidarische Linie auf dem Floß der Medusa wäre selbstverständlich gewesen, keinen zu opfern. Man trägt Mangel, Leiden und Risiko gemeinsam. Wenn schon Untergang, dann für alle.
~~~ Genauso verfuhr – trauen wir Bruno Franks ausgezeichnet geschriebenem Roman* über ihn – Miguel Cervantes rund 200 Jahre früher unweit von Algier, wobei er sich allerdings bös in die Nesseln setzte. Um der höllischen Sklaverei unter dem Korsarenchef Dali-Mami zu entkommen, hatte er sich mit zwei Dutzend anderen Elenden, die er aus der Stadt gelotst hatte, in einem Garten versteckt, wo sie ihr Fluchtschiff erwarteten. Solange es nicht eintraf, schlich sich der junge Dorador wiederholt unter Lebensgefahr in die Stadt zurück, um für alle neue Nahrungsmittel zu besorgen. Schließlich kam das Schiff – aber Dorador blieb aus. Cervantes beschwor sowohl seine Mitsklaven wie den Kapitän, den Dorador jetzt nicht im Stich zu lassen. Sie murrten stark, denn natürlich hätten sie sich lieber auf der Stelle in Sicherheit gebracht. Sie wollten schon ablegen, da tauchte Dorador endlich im Garten auf. In seinem Gefolge hatte der Verräter den grinsenden Dali-Mami mit seinen Schergen. Jetzt hätten die Flüchtigen Cervantes nur zu gerne gelyncht.
~~~ Das Verrätertum ist allerdings ein »Kulturfolger«, das die schönsten Moraltheorien in Makulatur verwandeln kann. Nebenbei bemerkt, zählen die SchriftstellerInnen im allgemeinen zu den unsolidarischsten Banden der Welt. Alles, was ihre Konkurrenten um die Palme der Poesie abwertet, boykottiert oder aus dem Verkehr zieht, ist ihnen willkommen. Für sie ist Ruhm unteilbarer als die Menschenwürde. Müßten sie mit ihren noch unbekannten Kollegen, die am Hungertuch nagen, die »Gemeinsame Kasse« anarchistischer Kommunen praktizieren, würden sie lieber aufhören zu schreiben und zu signieren und in talkshows zu glänzen und Literaturpreise einzustreichen. Ein Krösus wie Martin Walser schwingt seine »Moralkeule« eher gegen Antifaschisten statt gegen Kapitalisten oder Auflagenkönige. Um unsolidarisch sein zu können, muß man die Fähigkeit besitzen, sein Langzeitgedächtnis wie einen Laptop ausschalten zu können. Das gelingt Großen, die nie klein waren.
~~~ Neulich erzählte mir meine Berliner Freundin U., die gerade ein Plakat entworfen und abgeliefert hatte, das einzige, wofür sich die PR-Frau der auftraggebenden Bühne interessiert habe, seien der Schriftzug und die Adresse eben dieser Bühne gewesen – ob sie nicht ein bißchen zu klein geraten seien? U.s Bemerkungen über Plakatgestaltung, Sehgewohnheiten, Blickfänge gingen an der Dame vorbei: sie wollte ihre Bühne größer haben. Also tat ihr U. den Gefallen, schließlich brauchte sie das Geld. Mir gegenüber schimpfte sie dann auf den »Narzißmus« und »Autismus« ihrer Kundin. Diese Wortwahl verblüffte mich, hätte ich selber doch eher vom üblichen »Eigennutz« der Menschen gesprochen, der mich seit Jahren mindestens jede Woche einmal zur Weißglut bringt, und stachele er auch in mir selbst. Die Dame wollte eben ihr Theater gewürdigt sehen – U. wollte ihr Geld …
~~~ Die Sache mit dem eigenen Hemd, das einem stets am nächsten sei, ist ein derartiger Gemeinplatz, daß man kaum darüber zu schreiben wagt. Gleichwohl fürchte ich, nicht jedem Menschen ist die Tragweite der Angelegenheit klar – eingeschlossen deren Tragik. Es ist ja genau diese Eigennützlichkeit, die sämtliches gesellschaftliches Leben zersetzt – und sehr wahrscheinlich ist sie unvermeidbar. Denn auch in dieser Hinsicht sind wir nur Tiere. Aber die Tiere sind nicht mit der menschlichen Schmerzempfindlichkeit geschlagen. Sie hätten es viel einfacher als wir, diese ganzen Ideen von Gerechtigkeit, Brüderlichkeit, Solidarität und so weiter zu verwirklichen. Natürlich denken sie gar nicht daran, da wären sie ja blöd. Alle mir zugefügten Schmerzen (eine Begleiterscheinung des Bewußtseins) treffen mich ungleich mehr als den Bruder. Entsprechend die Lust. Niemand wird jener PR-Frau vom Theater den Mückenstich, das Sterben und jenes Loch abnehmen, das ein viel zu kleines Theater-Logo auf dem Plakat in ihr Herz gebrannt hat. Wahrscheinlich ist dieses Loch auch die Quelle der beliebten Doppelmoral, die ich in jedem dritten Beitrag beklage.
~~~ Der jüngste Corona-Terror war vermutlich ganz im Sinne Schröders. Gegen die Feinde muß das Volk die Reihen schließen, die Impfstoffe rausschießen und die Querköpfe aus der Volksgemeinschaft ausschließen. Die Feinde waren eben die angeblich furchtbaren Corona-Viren. Passend denkt der Arzt und Medizinhistoriker Gerd Reuther soeben über Seuchengefahr und die sogenannte Weltgesundheitsorganisation WHO nach.** Ich fasse zusammen: Laut Reuther sind Seuchen stets regional. Es gibt sowenig einen globalen Klimawandel wie eine globale Gesundheit. In Wahrheit sind bei der Anfälligkeit die persönlichen und sozialen Verhältnisse entscheidend, und die sind niemals überall gleich. Das schmeckt freilich unserer (nie gewählten) WHO ganz und gar nicht. Sie faßt nämlich zu gerne »Pandemien« ins Auge und hält dazu stets diverse Erreger-Kandidaten bereit. Dabei waren bereits Pest und Spanische Grippe (1347 und 1918) lediglich betrügerische Inszenierungen großflächiger Seuchen. Dann wurden sie, in der Geschichtsschreibung, von Jahr zu Jahr größer.
~~~ Unter dem Strich stellt Reuther fest, bei einer »Pandemie« handele es sich keineswegs um einen »Fachausdruck für ein Krankheitsgeschehen«, vielmehr um eine Waffe interessierter herrschender Kreise, um den »Obrigkeitsmodus« einschalten zu können. Die nächste kommt bestimmt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* Bruno Frank, Cervantes, 1934, hier Ausgabe Ostberlin 1978,
S. 159–62
** Gerd Reuther, https://www.manova.news/artikel/die-pandemiedrohung, 17. August 2024
Siehe auch → Abstumpfung und Schaulust (China) → Eigennutz
Sorben
Die DDR-Organistin Lubina Hollan-Raupp (1927–64, auch: Holanec-Rawpowa u.a.) wurde in Kleinbautzen als Tochter des sozialdemokratischen Lehrers und Kantors Ernst Hollan geboren, der unter den Nazis (1934) wegen antifaschistisch-sorbischer Gesinnung aus dem Schuldienst entlassen worden war.* Studium in Leipzig und Prag, Konzertreisen im Ostblock, wiederholt preisgekrönt. In ihrem Programm war Hollan-Raupp vielseitig, ungefähr von Bach bis Hindemith, darunter etliche tschechische Komponisten, beispielsweise Alois Hába. Sorbische Musik für die Orgel lag allerdings zu ihrer Zeit kaum vor. Auf diesem Gebiet griff sie aufs Klavier zurück, etwa als Liedbegleiterin. Sie unterrichtete auch Klavier am Sorbischen Institut für Lehrerbildung. Zur Todesursache teilt mir das heutige Institut mit, in den Nachrufen heiße es, Hollan-Raupp sei, mit knapp 37 Jahren, »nach langer Krankheit« verstorben. Carmen Schumann** wußte es 2004 genauer: Krebs. Dessen Opfer war mit dem Musikwissenschaftler und Komponisten Jan Raupp verheiratet (ein Sohn), der als »Nestor neuer sorbischer Musik« galt. Er starb 2007 mit knapp 80.
~~~ Die eher kleine westslawische Volksgruppe der Sorben, auch Wenden genannt, siedelte seit Jahrhunderten in Nieder- und Oberlausitz, also beiderseits der Spree im Bereich der heutigen Städte Lübben, Cottbus, Hoyerswerda, Bautzen. Den sorbischen Einzelhöfen dienten häufig Wasserläufe als Dorfstraßen. Die sorbischen Frauen glänzten durch ausladende Hauben, die bald die Kähne kentern ließen. Diese slawische Minderheit wurde oft benachteiligt und unterdrückt. Im deutschen Faschismus war sogar der Gebrauch der sorbischen Sprache verboten. Die DDR dagegen war um Förderung der sorbischen Eigenständigkeit bemüht – bis zum Anarchismus ging das aber nicht. In Werner Bergengruens dickleibigem Mittelalter-Roman Am Himmel wie auf Erden kommen die Wenden ganz gut weg. Der brandenburgische Kurfürst Joachim hat sogar einen wendischen Kutscher, Juro. Diese Schonung könnte mit zur Ächtung des eigentlich obrigkeitsfreundlichen Werkes durch die Nazis beigetragen haben.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Detlev Kobela, »Lubina Hollan-Raupp«, in: Lětopis – Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur (Bautzen), Nr. 17, 1974, S. 127–31
** Carmen Schumann, https://www.saechsische.de/plus/eine-virtuosin-im-besten-sinne-des-wortes-666067.html, 6. Mai 2004
Sozialdemokratie → Ankommen, Ausreißer (Schröder, Erler) → Brandt, Willy
Spanienkrieg
Abschied von Iberien --- Falls Sie es noch nicht wußten: Die Unterlegenen im Spanischen Bürgerkrieg waren (1939) die Franco-Leute. Daraufhin zogen diese es verständlicher-weise vor, die Iberische Halbinsel in Scharen zu verlassen, was der anarchistisch geprägten Volksfront nur recht sein konnte. Sie rief sofort die Freie Republik Iberien aus, schaffte das Geld ab, riet den Republikanern, die eigenen und erbeuteten Schußwaffen gut zu reinigen und einzufetten, und teilte die Halbinsel in rund 70 Tinas auf. Die Tinas, auf deutsch Wanne oder Kübel, waren entfernt den nordamerikanischen Countys vergleichbar. Die Algarve, Südportugal, in der sich schon wenige Monate nach der siegreichen Schlacht am Ebro der aus Paris herbeigeeilte Russe Victor Serge niederließ, war zum Beispiel auch eine Tina. Jede Tina hatte einen von den Grundorganisationen (GOs) gewählten regionalen Rat. Darüber gab es nur noch den Republikrat, der stets, schön zentral gelegen, in der ehemaligen spanischen Hauptstadt Madrid saß. Hier winkt leider schon ein großes Problem (das der Größe), auf das ich noch zurückkommen werde.
~~~ Wie man sich denken kann, war der Sieg nur geglückt, weil die Volksfront auf die Unterstützung der Sowjetunion bauen konnte. Diese Unterstützung wiederum fußte auf einer Aktentasche, die AnhängerInnen Nestor Machnos, der kürzlich in Paris gestorben war, gleich am Beginn der Kampfhandlungen der Volksfront zugespielt hatten. Die Aktentasche enthielt Fotografien von verschiedenen Dokumenten, darunter ein Obduktionsbericht und ein Sitzungsprotokoll georgischer Bolschewiken. Diese Unterlagen bewiesen: die junge Tifliser Schneiderin und Modistin Ketewan Swanidse war im Jahr 1907 mitnichten an Typhus oder Tuberkulose gestorben, wie es später in allen Nachschlagewerken hieß. Vielmehr hatte der nicht minder junge Genosse Stalin, damals vorwiegend Bankräuber zugunster der Parteikasse, sie vergiftet. Die beiden waren seit gut einem Jahr verheiratet gewesen. Es lag auf der Hand, daß sich Stalin nun, als Staatschef, zähneknirschend ins Unvermeidliche fügte, als ihn UnterhändlerInnen in das Geheimnis dieser Aktentasche einweihten. Er, der Kapitän des Bollwerks des Kommunismus, mußte der ersten nennenswerten anarchistischen Republik auf Erden unter die Arme greifen und ihr auch in der Nachkriegszeit wohl oder übel die Stange halten. Das bescherte Iberien unter anderem einen eher lästigen Sitz in der UNO und einen Höflichkeits-besuch des Genossen Walter Ulbricht, Ostberlin.
~~~ Sie ahnen es womöglich schon: mit der Auflösung der DDR und des gesamten Ostblocks um 1990 waren die Tage der so hoffnungsfroh stimmenden Freien Republik Iberien gezählt. Den Abschluß entsprechender Wühlarbeit bildet schon 2003 ein »Luftschlag« der Nato. Damit ist Iberien ins Reich der Westlichen Tauschwertgemeinschaft heimgeholt. Putin läßt es zu. Die in Berlin residierende Schröder-Fischer-Bande hatte mitgewühlt, wie noch zu belegen wäre. Diese Geschichte gedachte ich, beispielsweise, 2023 aus der Sicht des letzten iberischen Rates für Auswärtiges zu erzählen, der seinen Lebensabend in Abchasien am Schwarzen Meer verbringen darf. Er stammt aus einem Dorf bei Faro, Algarve, just im letzten Bürgerkriegsjahr geboren. Seine Geschichte ist auch ein gramvolles Requiem auf die Katalanin Alba Pedrell, seit 1983 (oberste) Schiedsrätin der Republik. Sie hatte am vorletzten Tag der Republik darauf bestanden, sich anstelle ihres deutlich älteren Genossen aus dem Außenamt, bei angeblich »freiem Geleit«, zwecks Verhandlungen ins Hauptquartier der von der Nato gesponserten »Rebellen« zu begeben. Sie wurde gedemütigt und heimtückisch ermordet.
~~~ Wenn ich nun von diesem Schreibvorhaben Abstand nehme, hat es mehrere Gründe. Zunächst beschlich mich der Verdacht, ich würde mich dadurch in Wiederholungsgefahr begeben, und das auch noch völlig nutzlos. Immerhin habe ich in 10 zurückliegenden Jahren drei längere »utopische« Erzählungen verfaßt, die just um Freie Republiken kreisen: in Konräteslust, in der Mollowina, auf Pingos. Während mir Konräteslust noch drei Stimmen einbrachte, erzielten die beiden jüngeren Texte null Echo. Das schließt selbst Freunde und Bekannte ein. Man gibt sich Mühe mit hübschen und wahrscheinlich sogar originellen Erfindungen – die Welt scheißt darauf.
~~~ Ferner schreckt, ja entmutigt mich, wie bereits angedeutet, das Problem der Größe. Gewiß war die iberische Halbinsel mit rund 30 Millionen bis zum Bürgerkrieg vergleichsweise dünn besiedelt – allerdings nur von der kapitalistischen, parlamentarischen Warte aus verglichen. Für meine Zwecke sind es zuviel. Zwar fiel durch den Bürgerkrieg Blutzoll von fast einer halben Million an, während es ähnlich viele Leute, siehe oben, ins Ausland trieb. Doch den Platz dieser Toten und Geflohenen nehmen jede Wette Antifaschisten aus zahlreichen europäischen Ländern, ja sogar aus Japan ein, die man auch, für den Aufbau, ohne Zweifel benötigt. Aber ich kann mir nicht helfen, 30 Millionen sind zuviel. Freie Republiken müssen überschaubar bleiben.
~~~ Als dickste Brocken hat man sicherlich die Großstädte am Hals. Was soll man mit Lissabon, Sevilla, Madrid, Barcelona und so weiter anstellen, die jeweils mehrere Hunderttausend oder gar über eine Million BewohnerInnen haben? Auf die Zertrümmerungen durch den Bürgerkrieg zu setzen, wäre nur eine wenig durchgreifende Verlegenheitslösung. Für mich wären schon Städte mit 10.000 Einwohnern viel zu groß. Soll man die übernommenen Großstädte also eigenhändig zertrümmern, nach dem Sieg? Das wird teuer. Oder soll man sie den Ratten überlassen? Aufschrei der WHO – und die UNESCO schimpft den Republikrat einen Hort der Barbaren, weil er die prachtvollen Schlösser und die prachtvollen Gemälde, die den iberischen Adel zeigen, verkommen lasse. Auch das gehört selbstverständlich zum Problem: die unumgängliche »Einbindung« in die Strukturen unserer verderbten spätkapitalistischen Welt. In der Mollowina habe ich es mehr oder weniger elegant umgangen.
~~~ Hier bietet sich eine Abschweifung zu Oskar Maria Grafs angeblich utopischem Roman Die Erben des Untergangs an, der mir, in der Zweitfassung von 1959, erst in diesem Winter untergekommen ist.* Behandelt wird die Reorganisation der Menschheit nach einem verheerenden Atomkrieg. Um es gleich zu sagen, dieses Werk des in New York City gelandeten bayerischen Schriftstellers ist rundum mißglückt. Das Thema einmal ausgenommen, fesselt es von der ersten bis zur letzten Seite durch nichts. Die Sprache schwankt zwischen UNO-Protokoll und Schülerzeitungspoesie; das anfängliche Chaos auf der Erde verläßt den Autor nie, denn dazu hätte er einer Richtschnur bedurft; statt ein paar Hauptfiguren zu profilieren, überschwemmt er uns mit einer Personenflut, die mit der Unterscheidung der Leute auch unsere Anteilnahme verhindert; die geografische Lage der Leute und ihrer »Agrostädte« oder Reiserouten hängt meistens in der Luft – man bekommt einfach kein Bein auf den Boden. Um uns bei der Stange zu halten, durchsetzt er seine langweilende Planlosigkeit mit ein paar Liebesgeschichten und Hinrichtungsszenen der Marke Groschenroman.
~~~ Dies alles hängt ohne Zweifel mit Grafs Globalisierungswut zusammen, wie man heute dazu sagen würde. Er will die Welt retten. Ergo bedarf es vor allem erst einmal einer Weltregierung. Dieser Globalisierungs-wut entspricht wiederum Grafs typisch nordamerikanische Besiedelungsmeise. Er ist alles andere als ein »Stiller«, wie er die buddhistischen ErdulderInnen nennt; er duldet im Gegenteil kein freies Fleckchen auf Erden und keinen Rückschlag in der Nachwuchserzeugung. Den Alten macht er den Mund nach »Verjüngungskuren«, den Agrostädtern nach künstlich erzeugtem Regen wässrig. Übrigens haben seine »Agrostädte« angeblich nie mehr als 20.000 EinwohnerInnen, was natürlich auch schon zuviel wäre. Die EinwohnerInnenzahl der in Nordamerika liegenden Welthauptstadt Peacetown nennt er nie, falls ich es nicht übersehen habe, doch aus Indizien wie ein neues 30stöckiges Regierungsgebäude allein für die Plan-Kommission, »breiten Autostraßen« (Marke Brasilia, nehme ich an) und überhaupt kaum umreitbaren Herden von Bürokraten darf man wohl auf einen kleinen Moloch schließen. Auf Seite 399 teilt Graf befriedigt mit, trotz des Atomkrieges und einer hausgemachten, niedergeschlagenen »Rebellion« in Asien sei man schon wieder bei 450 Millionen Erdbewohnern angelangt. Angesichts »der inzwischen unendlich reich gewordenen, völlig erschlossenen Erde« sei das freilich noch immer viel zu wenig. »So mußte es dem Rat vor allem darum gehen, die furchtbaren Verluste wieder aufzuholen und neue zu vermeiden.« Jene krasse Dezimierung als Chance zur Verkleinerung menschlicher Verhältnisse zu begreifen, kommt dem stämmigen, eher untersetzten Bayern nie in den Sinn. Das hat er vielleicht Robert Merle überlassen (Malevil, 1972), der in der Tat auch der bessere Schriftsteller ist.
~~~ Graf erweist sich als treues Kind des Fortschrittsgedankens, der Technikbegeisterung, des Glaubens an Politik. Läßt er den »Hohen Rat« der Welt sich am Buchende für das Provinzielle und die Abdankung erwärmen, mutet er uns eine völlig unglaubwürdige Läuterung zu, die vom Himmel fällt. Lenin machte uns schon das Gleiche weis: ist der Sozialismus erst einmal aufgebaut, werden die bolschewistischen Strukturen absterben. Vom Sachzwang und vom Geschmack an Machtpositionen hat Graf so wenig Ahnung wie von Politischer Ökonomie und Anarchismus. Seine neue Welt ist staatskapitalistisch eingerichtet und bedient sich all der Instrumente der Entfremdung, die man sattsam kennt: Schule, Geld, Polizei, Justiz, Geheimagenten, Lautsprecher, Verkehr (meist per Luftfahrt) ohne Ende. Und auf diesem schädlichen Krempel hockend, redet er uns unverfroren ein, jetzt sei die Menschheit, im großen und ganzen, endlich glücklich.
~~~ Sein Grundfehler ist, wie schon angedeutet, die verbohrte Absicht uns vorzuführen, die Befriedung unseres lückenlos besiedelten oder jedenfalls durchforsteten Planeten sei durchaus möglich. Das gelingt ihm selbstverständlich nicht, und so windet er sich in Krämpfen und Wunschdenken. Heute, 60 Jahre nach Grafs mißglücktem Wurf, mit kapitalistischen und bürokratischen Monstern und einer Weltbevölkerung von demnächst acht Milliarden gesegnet, ist jene Befriedung so gut wie unvorstellbar. Ich wüßte auch keinen Schriftsteller oder Wissenschaftler, der sich ernsthaft an einer Lösung dieser gewaltigen Aufgabe versuchte. So popeln die Reformisten der Welt an lächerlichen Verbesserungs-vorschlägen herum, die es vielleicht, in der Summe, schon irgendwann einmal richten werden. Das Eingeständnis, das Projekt Menschheit sei gescheitert, fürchten sie ähnlich krankhaft wie Impotenz oder Gebärmutterkrebs. Nur Corona finden sie schlimmer.
~~~ Ich erwähne abschließend noch einen dritten Grund, mein Projekt Iberien zu verwerfen: dummerweise habe ich leider ausgerechnet von Spanien und Portugal wenig Ahnung. Selbst von Rafael Chirbes kenne ich bislang nicht eine Zeile. Da war ich nie. Ich müßte mich also unter beträchtlichem Aufwand in alle wichtigen Eigenarten der Iberischen Halbinsel und ihrer BewohnerInnen einarbeiten – und das bei der guten Aussicht, auch weiterhin ignoriert zu werden. Übrigens müßte ich vor allem ganz schnöde Dinge wissen: Wetter, Hausbau- und Heizmaterial, Eßgewohnheiten, Laster, Flüche und dergleichen mehr. Mein Wissen über »den« Spanier (beiderlei Geschlechts) beschränkt sich im Augenblick auf folgendes: Er spricht mit Händen und Füßen und immer schnell; er heiligt die Siesta; er ist gesellig; er schätzt die Folterung von Stieren; leider liebt er auch den Lärm; dafür übt er viel Nachsicht mit Kindern.
~~~ Das letzte wäre für meine Zwecke natürlich sehr brauchbar gewesen. Es vergeht kaum ein Tag, wo ich beim Einkaufen oder Spazierengehen nicht die Fäuste in den Taschen balle, weil irgendein Erwachsener seinen kleinen Sprößling gängelt. Das verhält sich »natürlich« schon immer so. Aber neuerdings zischt er auch noch: »Hörst du jetzt endlich auf, an deiner Atemschutzmaske herum zu fummeln!« Wenn ich wüßte, wie ich die in Erfurt, München, Berlin residierenden obersten Kinderquäler-Innen wirksam beleidigen könnte, ich würde es tun. Aber an denen prallt alles ab.
∞ Verfaßt 2021
* hier als dtv-Ausgabe München 1994
Im Sommer 1937 konnte man auf vielen spanischen Titelblättern und Hauswänden plötzlich lesen: Gobierno Negrín: ¿dónde está Nin? (»An die Regierung Negrín: Wo ist Nin?«). Der Mann war verschwunden. Im Brockhaus fehlt er leider auch. Dabei war er sogar prominent. Der Republikaner Andrés Nin (auch Andreu, 1892–1937) zählte zur Führung der als »trotzkistisch« verschrieenen POUM, die der moskauhörigen KP ein ähnlich schmerzender Dorn im Auge war wie verschiedene anarchistische Organisationen, und er war streckenweise auch Regierungsmitglied. In den Truppen der POUM kämpfte zeitweilig der britische Schriftsteller (und Ex-Polizeichef) George Orwell mit, während seine Frau Eileen O’Shaughnessy in Barcelona bei der Büroarbeit half. Kurz nach den dortigen unseligen Bruderkämpfen zwischen den beiden Lagern vom Mai 1937 wurde Nin auf Betreiben der Kommunisten verhaftet. Zunächst in eins der Gefängnisse gesteckt, die damals von den Kommunisten kontrolliert wurden, wußte doch bald niemand mehr, wo sich Nin aufhielt. Auch eine von der POUM eingeleitete und von manchen namhaften Ausländern unterstützte Kampagne brachte ihn nicht wieder zum Vorschein. In der Regel – selbstverständlich nicht unter traditionsbewußten Kommunisten – wird heute angenommen, Nin sei auf Geheiß Stalins verschleppt, ausgiebig gefoltert und schließlich am 20. Juni ermordet worden. Er war erst 45. Abtrünnige Söhne ziehen sich ja oft den besonders ausgeprägten Haß der Väter zu. Nin hatte 1921 die spanische KP mitgegründet und bald darauf in Moskau für rund ein Jahrzehnt Komintern-Arbeit geleistet. Ein bemerkenswerter Artikel über seinen Fall erschien vor knapp 30 Jahren in einer Berliner Tageszeitung, mit der man sich inzwischen nur noch den Hintern abwischen kann: Jaime Pastor, https://taz.de/Ein-Opfer-der-Normalisierung/!1625950/, 12. März 1993.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 27, Juli 2024
Sonderlich viele Frauen dürften dem Ruf der kämpfenden spanischen Republik kaum gefolgt sein. Deshalb hätte ich Gerda Taro (1910–37) durchaus in den Brockhaus aufgenommen. Während sich zum Beispiel Eileen O'Shaughnessy, Orwells erste Gattin, an den Schreibmaschinen und Telefonen der POUM nützlich machte, betätigte Gerda Taro ihre Kamera – sogar an der Front. Die Tochter eines jüdischen schwäbischen Kaufmanns hatte ab 1929 die nichtstaatliche Gaudigschule in Leipzig besucht, der es um die Förderung der Selbsttätigkeit ihrer Schützlinge ging. Nach kurzer Haft wegen antifaschistischer Umtriebe traf Taro im Herbst 1933 gemeinsam mit ihrer Freundin Ruth Cerf in Paris ein. Sie fand Arbeit in einer Bildagentur, nachdem sie den ungarischen Fotografen Robert Capa kennengelernt hatte, der ihr Lehrer und Geliebter wurde. Von da an arbeiteten sie zusammen. Capa, weitaus bekannter als sie, kam »erst« 1954 mit 40 als Kriegsberichterstatter in Indochina um, wo er auf eine Landmine trat. Zwei Jahre darauf folgte ihm sein Freund und Mitgründer der Pariser Magnum-Agentur David Seymour ins Grab. Der knapp 45jährige wurde beim Beobachten eines Gefangenenaustausches im Krieg um den Suez-Kanal erschossen.
~~~ Taro hatte ihren ersten Presseausweis im Februar 1936 erhalten. Schon im Sommer traf sie mit Capa im republikanischen Barcelona ein. Das Gespann besuchte diverse Fronten. Die »geschossenen« Fotos gingen im Rahmen verschiedener Zeitschriften um die Welt. Selbstverständlich bildete Taro, neben den Greueln des Krieges, auch gerne unerschrockene Kämpferinnen ab. Auch ihr selber hat es laut Alfred Kantorowicz‘ Kriegstagebuch nicht an Mut gefehlt. An der Cordoba-Front sei die »anmutige Reporterin« 1937 mit »Baskenmütze über dem schönen rotblonden Haar« und einem »zierlichen Revolver« im Gürtel aufgetaucht, um zu einer polnischen Kompanie vorzudringen. Sie hatte ursprünglich gleichfalls einen polnischen Nachnamen getragen, Pohorylle. Zu ihren fototechnischen Eigenheiten gehörte die Untersicht, durch die sich der Himmel weitete. Davon abgesehen, war die »lässige Schönheit« aus Schwaben, laut Irme Schaber*, der erste weibliche Frontfotograf überhaupt.
~~~ Allerdings kam sie schon nach einem knappen Jahr unter die Erde. Zu Taros letzten Arbeiten zählt ein Foto des Ortsschilds von Brunete (bei Madrid) mit bewaffneten Kämpfern davor. Am 25. Juli 1937 erlebt sie an der Brunete-Front einen anhaltenden Luftangriff der berüch-tigten faschistischen, wenn auch nicht gekennzeichneten deutschen Legion Condor. Sie hockt in einer Art Fuchsbau, fotografiert – und bleibt unversehrt. In der Nacht jedoch, beim Rückzug der RepublikanerInnen, verunglückt sie. Nach der bevorzugten Darstellung geriet sie unter einen eigenen Panzer, weil sie vom Trittbrett eines Lastwagens abgerutscht war. Der Panzerfahrer habe das gar nicht bemerkt. Die knapp 27jährige erlag anderntags ihren Verletzungen.
~~~ Als Taro am 1. August auf dem Pariser Friedhof Père Lachaise bestattet wurde, folgten Tausende dem von Pablo Neruda und Louis Aragon angeführten Trauerzug, der sich in eine Demonstration gegen die heuchlerische »Nichteinmischungspolitik« der westlichen Demokratien verwandelte. Unter der Hand lieferten sie Franco Waffen und »dämmten«, im Falle Frankreichs und Portugals, die Flüchtlingsströme ein. Was den Einsatz der Legion Condor angeht, sollte Hermann Göring später in Nürnberg schwärmen, er sei »ein ausgezeichnetes Training für Mensch und Material« gewesen. Gefeierte Bomberpiloten wie Johannes Trautloft wurden, nach 1945, nicht etwa aufgeknüpft oder mit 20 Stockhieben bedacht; sie wurden Stellvertretender Luftwaffeninspekteur der Bundeswehr und gingen (1970) als Generalleutnant in den Ruhestand.
~~~ Alberto Giacometti schuf für die verunglückte Fotografin ein Grabmal, das allerdings nicht mehr erhalten sein soll. In Stuttgart gibt es seit 2008 einen Gerda-Taro-Platz. Schaber behauptet, viele Aufnahmen von Taro seien nach dem Zweiten Weltkrieg dem berühmteren Capa zugeschrieben worden – vor allem aus kommerziellen Gründen, weil sie sich auf diese Art besser verkaufen ließen. Zudem habe Capa eingeräumt, wegen der unter anderem geschäftsschädigenden Kommunistenhatz in den USA habe es sich für ihn angeboten, eine nachträgliche Arbeitsteilung einzurichten: »Ich war der Fotograf und Gerda die Kommunistin.« Sie war ja tot.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 37, September 2024
* Irme Schaber: Gespräch mit der Deutschen Welle, 24. Juli 2012: https://www.dw.com/de/gerda-taro-pionierin-der-kriegsfotografie/a-16109547
Siehe auch → DDR, Ulbricht → Garcia Lorca (ermordet) → Geschlechter, O‘Shaughnessy → Hitler-Stalin-Pakt
Spezialisierung
Lieber KO, Ralph-Dieter, mein Mann, will dieses Jahr unbedingt Dahlien pflanzen, wieder so eine Grille. Vorsichtshalber habe ich gleich in seiner Brockhaus Enzyklopädie nachgeschlagen (Band 5 von 1989). Danach gibt es inzwischen, durch emsiges Kreuzen, immerhin schon »mehrere zehntausend Sorten« dieser um 1800 auf uns gekommenen mittelamerikanischen Korbblütlerin. Können Sie mir einmal verraten, wie ich 30- oder 40.000 Dahliensorten in unserem 28 Quadratmeter großen Vorgarten unterbringen soll? Mein Mann sagt natürlich: wählen! Ich finde jedoch, laut UNO wäre das Folter, an der man nur irre werden kann. Diese Dahlien sehen schließlich alle gleich bunt aus, und duften tut keine einzige von ihnen. In der Politik stinken sie wenigstens nach Eigennutz oder Vetternwirtschaft. Ergebenst Ihre Laura B., Ziegenrück.
~~~ Liebe Frau B., täuscht mich meine Nase nicht, haben Sie hier, mit den Dahlien, das viel zu selten gewürdigte Phänomen der Arbeitsteilung und Spezialisierung angeschnitten. Es scheint rein menschlicher Natur zu sein. Oder können Sie mir beispielsweise Schimpansinnen nennen, die die Volkswirtschaft ihres 30köpfigen Rudels mit 77 Waschmittelmarken, 77 philosophischen Systemen oder 77 verschiedenen Methoden der Haarspalterei belasten würden? Arthur Koestler erwähnt in seinem Buch Die Armut der Psychologie eher am Rande die Bananenwaschfrage, das schon. Sie hatte sich unter bestimmten japanischen Affen erhoben. Die Hälfte der Population hatte sich eines Tages aus unerfindlichen Gründen darauf verlegt, ihre Bananen vor dem Schälen und Verzehren im Fluß zu waschen. Die anderen rieben sich die Augen, hielten aber an ihrer bewährten Methode des Nichtwaschens eisern fest. Es kam nur deshalb nicht zu einem erbitterten Konkurrenzkampf oder Weltkrieg – behauptet Koestler – weil die Affen keine Sprache besaßen, in der sie den je eigenen Umgang mit Bananen als alleinseligmachend, den fremden Umgang dagegen als höchst verderblich hätten ausgeben können.
~~~ Für die neuzeitlichen Marktwirtschaften wirkte es anfänglich sicherlich belebend und segensreich, immer neue Waren und Berufe zu erfinden. Einem über alle Backen strahlenden deutschen Schrebergärtner den ersten persönlichen, rotgrün karierten Rasenmähtraktor anzudrehen, muß die reinste Lust gewesen sein. Die Hausfrau bekam endlich einen atomar angetriebenen Korkenzieher, und ihren drei halbwüchsigen Söhnen verordnete sie Schuhe mit automatisch nachwachsenden, biodynamisch einwandfreien Absätzen. Auch die Fernsehanstalten und deren Werbeprogramme vermehrten sich wie die Affen. Allerdings stiegen die Gebühren. Kurz und schlecht, auf seiten des Kleinen Mannes vermehrte sich dummerweise das Geld mitnichten im flotten Tempo der Waren, Berufe und Fernsehprogramme. Ergo blieben die paar großen, reichen Leute zunehmend auf dem von ihnen hergestellten Schund sitzen. Sie schrien nach staatlichen Ankäufen, aber die Ministerinnen wollten die atomar angetriebenen Korkenzieher auch nicht haben. Jetzt wird erwogen, die Weltwirtschaft vollends aufs ökologisch orientierte Entsorgungsgeschäft umzustellen. Die einen UnternehmerInnen kippen den Schund in die Weltmeere, die anderen holen ihn wieder raus.
~~~ Man hat bereits ein paar Experten angeheuert, die das Wahlvolk auf die Umstellung vorbereiten sollen. Der deutsche Präsentationstrainer und Autor Peter Mohr (* 1964) wird die Kernidee herausschälen. Karin-Simone Fuhs (* 1968), Professorin für Nachhaltiges Design in Bonn, übernimmt insbesondere die Gestaltung der Transportlinien zu den Meeren hin und von den Meeren weg. Die deutsche Humortrainerin, Keynote-Speakerin und Suggestopädin Margit Hertlein (* 1953) will die Leichtigkeit und Sozialverträglichkeit der großen Aufgabe unterstreichen. Bianca Wittmann (* 1978), eine Gießener Professorin für Biopsychologie, bindet die Säcke, die gefüllt oder ausgeschüttet werden, ökologisch unanfecht-bar zu. Hilft alles nichts, wird uns der niederländische Alternativmediziner und Reinkarnationstherapeut Rob Bontenbal (1945–2015) zeigen, wie es später anders besser geht.
~~~ Vielleicht noch ein Wort zu den von Koestler erwähnten Wörtern, liebe Frau B. Sie glauben ja gar nicht, wieviele um Haaresbreiten voneinander abweichende typografische Möglichkeiten es gibt, beispielsweise das Wort Ziegenrück zu schreiben. Das Internet sträubt sich, mir die Anzahl zu nennen, ich schätze sie freilich ungefähr auf Dahlienniveau. Zum Glück haben die meisten postmodernen Schriftarten aber einen Generalnenner, der sie wiederum gut handhabbar macht. Das ist ihre Unlesbarkeit.
∞ Verfaßt 2023, für Blog-Rubrik Kummerkastenonkel
Siehe auch → DDR, Tuchscheerer (Forschung) → Dunker Karl (Psychologe) → Go, Shūsaku (Vervollkommnung und Vermarktung) → Musik, Afrikanische (Marimba-Akrobaten)
Spiel
Kuhlotterie --- Der Zufall lenkt meine Wanderschuhe zum Sportplatz der TSG Hinterschwänzingen. Laute Blechmusik lockte mich an. Wie ich sehe, feiert der glorreiche Spielmannszug des Sportvereins sein 75jähriges Bestehen. Aber was im Augenblick gespielt wird, ist mir nicht ganz klar.
~~~ Soweit sie nicht dem Bratwurst- und Bierstand oder umliegenden Gebüschen zustreben, umlagern die Musikanten und ihre zahlreichen Gäste ein Spielfeld von doppelter Tennisplatzgröße, das mit Stäben und rotweiß schraffiertem Plastikband abgesteckt worden ist. Die Leute schmatzen, schwatzen, lachen, trinken sich zu, haben freilich stets ein Auge auf die Kuh. Diese strahlt wenig Begeisterung aus. Stakt sie ein paar Schritte, um den dürftigen Sportplatzrasen zu untersuchen, wirkt sie umso verstörter, wenn sie dann wieder ins Publikum äugt.
~~~ Wie mir freundlicherweise ein schon grauhaariger Einheimischer mit Goldenem Sportabzeichen am Revers erläutert, bestreitet Kuh Alma das Spiel gewissermaßen allein – ohne sich allerdings über ihre Rolle im Klaren zu sein. Die VeranstalterInnen unterteilten das Spielfeld in 200 gleich große Quadrate. Die gedachten Linien, die jederzeit durch Schnurschlag nachvollzogen werden können, sind durch Pflöcke am Spielfeldrand markiert. Zwischen diesen Pflöcken stecken kleine Tafeln mit Buchstaben oder Zahlen, die es gestatten, jedes Quadrat – wie bei einem Schachbrett – genau zu bestimmen. Gegen fünf Euro Einsatz wurden sämtliche Quadrate vor der Ziehung unter die Einheimischen gebracht. Man bediente sich dabei der Form der Verlosung, weil die äußeren Quadrate ohne Zweifel benachteiligt sind. Dort drängelt sich das Publikum. Es würde nur einen Volltreffer geben, so ist es vereinbart worden. Dabei soll der Gewinn zu gleichen Teilen an den von Alma auserwählten Quadratbesitzer und den glorreichen Spielmannszug gehen, jeweils 500 Euro.
~~~ Ich habe Glück. Wie mir mein Gewährsmann versichert, hat sich die Ziehung dieser Kuhlotterie schon über anderthalb Stunden hingezogen, doch kaum bin ich ins Bild gesetzt worden, sprutzt der Segen. Die Leute johlen bereits, bevor er sich als Fladen auf dem siegreichen Quadrat ausgebreitet hat. Es ist P-7! Nun prasselt der Beifall. Er gilt genauso dem Glückspilz, der auf die Schultern gehoben wird, wie der schwarzweiß gefleckten Glücksfee Alma, die für mein Empfinden allerdings nicht sonderlich erleichtert wirkt. Gäbe sie heute abend saure Milch, könnte es ihr wohl keiner verübeln.
~~~ Die Möglichkeiten, sich als Zweibeiner auf vergleichsweise billigem Wege etwas Vergnügen zu verschaffen, scheinen unbegrenzt zu sein, sage ich mir, während mich die Posaunen und Piccoloflöten wieder Richtung Wald blasen. Ich schreibe eben.
∞ Verfaßt um 2000
Der US-Spieleentwickler Paul Randles (1965–2003) aus dem Staat Washington erlag bereits mit 37 einem Krebsleiden. Soweit ich sehe, hat er hauptsächlich Brett- und Kartenspiele entwickelt und, zuletzt, auf eigene Rechnung verkauft. Einige Spiele aus seinem Stall, etwa Piratenbucht, sollen Renner sein. Wahrscheinlich verdiente er einen Haufen Geld. Den steckte er dann, vielleicht, in »Chemotherapien«, die ihn noch kränker machten. Laut einer Gedenk-Webseite* hatte er eine Gattin, zwei Katzen und eine ungewöhnliche Gabe zum Geben. Somit zehrte er vor allem davon, seine Freunde, ja die ganze Welt beschenken zu dürfen. Nebenbei war er Golfspieler, was übrigens auch eine Stange Geld kostet. Ein Brustbild zeigt ihn mit Golfkappe – und lachend.
~~~ Denkt man, mangels biografischen Stoffs, über das Wesen des Spiels nach, stößt man zunächst auf die landläufige Auffassung, es stehe dem »Ernst des Lebens« gegenüber. Wahrscheinlich ist sie falsch. Zwar weist F. G. Jünger in seiner betörend geschriebenen Untersuchung Die Spiele von 1953 darauf hin, der Nichtspielende sei nicht unbedingt immer ernst, während dem Spiel ein ihm eigener Ernst innewohnen könne, doch den wesentlichen Unterschied zwischen Spiel und Leben macht er meines Erachtens nicht deutlich genug: Kennzeichen des Spiels sei seine Selbstgenügsamkeit; es könne nicht an Zwecke gebunden werden, die über seine Grenzen und Regeln hinausreichen.
~~~ Danach handelt es sich um einen ganz bestimmten Ernst, der dem Spiel – in seinen gehüteten Formen – völlig fremd ist. Er liegt im Unwiderruflichen und Verketteten unseres Lebens. Im Leben vermehrt jeder Augenblick eine Last, die auf uns ruht. Wäre sie ein Tornister, könnten wir sie kurzerhand abwerfen, doch sie ist mit uns verwachsen – gleichsam unser ständig anschwellender Buckel. Hätte dieser zumindest einen Deckel, könnten wir vielleicht den einen oder anderen Augenblick wieder herausfischen, um ihn zu vernichten. Wer wüßte nicht ein Lied davon zu singen, sich jäh unter einer Beschämung zu ducken, die uns vor vielen Jahren traf, oder sich unter Reue zu winden, sobald wir an eine nicht ergriffene Chance erinnert werden, durch die wir vielleicht das Ruder unseres Lebens herumgeworfen hätten? Wer wüßte nicht, daß der Spielraum, in dem wir uns noch verändern können, mit jedem Tag enger wird? Daß niemand sich selber entkommt?
~~~ Nur das Spiel gewährt uns diese Chance. Hier werden die Karten neu gemischt, die Steine vom Tisch gewischt, alles neu macht der Mai. Mit jeder neuen Partie steigt man wie Phönix aus der Asche. Im Gegensatz zum Leben ist das Spiel wiederholbar. Und da es bestimmten und es beschränkenden Regeln folgt, ist es auch ungleich überschaubarer als jeder kleinste Abschnitt unsres Lebens. Zumal am Kartenspieltisch hält sich das Unwägbare und Unvorhergesehene – es mag schrecklich oder entzückend sein – in wunderbar engen Grenzen. Da wird nach Regeln gekämpft, die sich jeder Trottel einprägen kann. Da gilt es lediglich, Tröten ins Feld zu werfen, die seit den Pharaonen und Mona Lisen keine Miene verziehen. Und so überall. Ob du mit deinen Freunden Schach, Snooker oder Fußball spielst, du betätigst dich nicht auf einem weiten Feld, das deine treuherzigen oder ausgefuchsten Erwägungen zu »Pappelblättern« herabstuft, die »jedem Anhauch der Welt« preisgegeben sind. Das gilt erst im Profisport, der von soundsovielen finsteren Mächten gesteuert wird.
~~~ Die »Pappelblätter« stammen vom französischen Denker Alain. In seinem Buch Lebensalter und Anschauung von 1927, Kapitel »Die Spiele«, hat er sich ausführlich im obigen Sinne geäußert. Er unterstreicht darin den folgenden Aspekt. »Spiel kennt kein Erinnern und kein Denkmal: das unterscheidet es von der Kunst. Spiel will durchaus nichts wissen von erreichter Stellung, von Zeugnissen, von Vorrechten, die vergangene Dienste ins Gedächtnis rufen: das unterscheidet es von der Arbeit.« Bringt Randles also nicht mit Waschmitteln oder Drohnensteuerungen, sondern eben mit Spielgeräten Geld ins Haus, hat es nichts zu bedeuten: Er verfolgt seine berufliche Laufbahn.
~~~ Bekanntlich kürzt die Arbeit gern ab – versuchen Sie das einmal in einem Snookersalon! Sobald sie die 15 Roten mit einem Rutsch ihres Armes kurzerhand in die Ecktaschen schieben, wird ein gestrenger Mensch mit weißen Handschuhen aus dem Schatten treten und Sie am Schlawittchen packen, um Sie an den nächsten Garderobenhaken zu hängen. Im Spiel werden Fouls geahndet; im Leben belohnt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.celestis.com/participants-testimonials/paul-j-randles/
Siehe auch → Go → Schach → Snooker → Verwandlung
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