Montag, 13. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 33
Scheele – Seß

Scheele, Meta (1904–42), Schriftstellerin. Obwohl dem Faschismus nahestehend, fiel sie unter das Programm Euthanasie. Die Tochter eines norddeutschen Schulrats und Heimatforschers hatte unter anderem Geschichte studiert und 1928, mit nur 23 Jahren, in Göttingen ihren Dr. phil. gemacht. Zwei Jahre darauf heiratet sie ihren Göttinger Kollegen Werner Pleister, der sie in ein »nationalkonservatives« Umfeld zieht. Sie geht mit ihm nach Berlin, wo er, als eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, von 1932 bis 1937 die Literarische Abteilung des Deutschlandfunks leitet. Er macht weiter Karriere; 1952 ist er der erste Fernsehintendant der BRD. Aber von Meta Scheele hat er sich schon 1937 getrennt – falls die Scheidung von ihm aus ging. Nun kehrt die verstörte, wenn nicht gar zerrüttete Frau in ihre Heimat zurück, nach Ratzeburg und Lübeck, und wie es aussieht, blüht sie dort keineswegs auf. Wahrscheinlich gelingen ihr nun auch keine literarischen Arbeiten mehr. Scheele hatte um 1930 begonnen, Rezensionen und Feuilletons für die Presse und auch eigene erzählende Werke zu verfassen, in denen sie Geschichtsschreibung mit Fabulieren vermischt. Sie konnte, nach ihrer Dissertation und einem Band mit Gedichten, mindestens vier solcher Bücher veröffentlichen, darunter Die Sendung des Rembrandt Harmenszoon van Rijn, die später auch als »Wehrmachtsausgabe« erschien.
~~~ Im November 1938 fand sich Scheele in der Lübecker Nervenheilanstalt Strecknitz wieder – auf wessen Betreiben, geht leider auch aus Gisela Schlüters Porträt »Die wahre Geschichte der Meta Scheele« von 2007 nicht hervor. Aber es kam noch viel dicker. Im September 1941 wurde Scheele, mit anderen »Geisteskranken«, in die sogenannte Eichberg-Klinik bei Erbach/Eltville im Rheingau geschafft – in Wahrheit eine von den Ärzten Friedrich Mennecke und Walter Schmidt geleitete Tötungsanstalt im Rahmen jenes faschistischen »Euthanasie«-Programms. Hier wird die 37jährige Ex-Schriftstellerin am 1. Juni 1942 umgebracht.
~~~ Wahrscheinlich deutet sich Scheeles bis zur Verwirrung führende Unentschiedenheit bereits in ihrem ersten Roman Frauen im Krieg an, der 1930 in Gotha erschien. Schon dem Titel mangelt es an Genauigkeit. Es geht der Autorin nämlich gerade um das Problem, daß die Frauen nicht im Krieg stehen, aber als Mütter, Gattinnen, Bräute, die zu Hause bleiben müssen, gern gewichtige Beiträge zur Verteidigung des Vaterlandes, Schmiedung der Volksgemeinschaft – kurz, zum sozialen Ganzen leisten würden. Die junge Bürgerstochter Johanna kommt sich jedenfalls reichlich überflüssig oder unausgefüllt vor, während ihre Mutter sie ans Haus fesselt und ermahnt, auf ihren sicherlich schon in Kürze siegreich aus Frankreich heimkehrenden Verlobten Klaus zu warten. Aber der Erste Weltkrieg zieht sich hin. Die Ärmlichkeit greift um sich, Mißgunst und Gehässigkeit nehmen zu, selbst die »Argumente« für den Krieg drohen schäbig oder fadenscheinig zu werden. Johanna probt den Aufstand durch Mitarbeit in einem Lazarett. Später arbeitet sie sogar in einem Kinderheim, gibt ihrem in den Revolutionswirren heimkehrenden Bräutigam den Laufpaß und reist in die Hauptstadt, um in der Zentrale eines Frauenverbandes zu arbeiten und nebenher Medizin zu studieren.
~~~ Leider bleibt Scheeles Kritik an der Männerrolle ähnlich schwach beziehungsweise verwaschen wie die am Krieg. Diese wird einmal von einer Munitionsfabrik-arbeiterin namens Bohr und später von Müttern der Heimkinder vorgebracht. Warum die von Frauen in die Welt gesetzten Kinder eines Tages als Kanonenfutter zu dienen haben, wird allerdings nie erörtert oder auch nur angedeutet. Ökonomische und politische Interessen kommen nicht vor. Entsprechend bleibt das, was Scheele als »Aufbruch der Frau« hinstellt, völlig im Nebel. Aufbruch, Frauenwahlrecht, Freiheit – wohin und wozu? Nur, um es den Männern gleich tun zu können? Diesem nebelhaften Schritt in die Freiheit wiederum entspricht der beschwörende bis pathetische Zug der betreffenden Romanpassagen. Ansonsten ist der Roman erfreulich schlicht und anschaulich geschrieben und mutet uns nur wenige Holprigkeiten zu. Er hat etwas Bescheidenes und Tapferes. Jedenfalls geht ihm jedes Gramm Zynismus ab, ganz im Gegensatz zu den Erzählungen von, sagen wir, Katherine Mansfield, die zwar die glanzvollere Stilistin, im Grunde aber noch unpolitischer als Scheele ist.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022



Scherbarth, Günter

Für mich hat der Komponist Richard Wagner im Wesentlichen nur Bedeutung, weil er einem guten Bekannten von mir Stoff für einen interessanten, großangelegten Radierungszyklus gab. Der nächste Brockhaus wird damit auftrumpfen. Scherbarth, gelernte Grafiker, geboren 1930, lehrte am Westberliner Einsteinufer Schrift. Mich schätzte und beschäftigte er öfter privat als Künstlermodell, mein damaliger Broterwerb. Einmal steckte ich den Kopf in seinen Unterricht und konnte belustigt feststellen, er hielt viel von Wilhelm Busch und geizte auch nicht mit verbalen und gestischen Einlagen aus dessen Werken. An Schriftzügen baute er wie ein leidenschaftlicher Architekt an Häuserzeilen. Aber noch lieber zeichnete, radierte oder malte er – und zwar »nach der Natur«, was bei ihm vor allem hieß: nach der menschlichen Gestalt. Seine Aktstudien sind unzählbar. Er selber trat in altmodischen Kleidern auf, in denen man eher einen sogenannten Penner als einen sogenannten Professor erwartet hätte. Von seiner Schülerin Silke Kruse gibt es ein 1990 entstandenes Ölgemälde Günter radiert am Ring. Die dürren Beine übergeschlagen, hockt er auf einem Schemel. Seine kralligen Hände halten die Zinkplatte und die Kaltnadel. Die lächerliche Jacke wird von einem Knopf zusammengehalten, der uns ins Gesicht zu springen droht. Alles beherrschend der kantige Schädel mit dem Bürstenschnitt. Die verstülpten Lippen ergeben einen langen Strich. Lotrecht dazu finsteres Gewölk über der Nasenwurzel. Die eulenartigen Augen senden die Frage an uns aus: Sind etwa Sie die Krone der Schöpfung?
~~~ Scherbarth hatte viel Sinn für Humor und scherzte in allen Lebenslagen. Diese Neigung schlug sich natürlich auch in dem Zyklus über Wagners Ring des Nibelungen nieder, auf den sich Kruses Porträt bezieht. Auf 120 Blätter veranschlagt, konnte er den Zyklus nahezu vollenden, ehe ihn 2000 Wotans Speer ins Herz traf. Da ihm das Verschwommene nicht lag, zog Scherbarth die Licht- und Schwarzalben, Helden und Walküren aus den dräuenden Nebeln und betörenden Geständnissen, die sie verbreiten – und er zog sie aus. Sie handeln überwiegend als Akte. Aber er stellte sie nicht bloß. Wie immer wir uns ausstaffieren, verbrämen wir alle auf vielfältige Weise die eine uns auferlegte Vergänglichkeit. Auch Schreibpapier ist ja geduldig. Scherbarth war in einem Brief Wagners mit Genugtuung auf die Bemerkung gestoßen, am liebsten würde er die Sängerdarsteller des Ringes nackt auf die Bühne bringen. Ich konnte ihn dann mit einem Wagner-Zitat zum Parsifal erfreuen, das ich in Martin Gregor-Dellins Wagner-Biografie gefunden hatte: »Ach! Es graut mir vor allem Kostüm und Schminke-Wesen; wenn ich daran denke, daß diese Gestalten wie Kundry nun sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!«
~~~ Scherbarth war von der globalen Jagd nach Macht und Geld, Ruhm und Unsterblichkeit gefesselt, die uns Wagner in seinem langatmigen und – streng genommen – tautologischen Rührstück vorführt; schließlich steckt die Dramatik bereits in der Musik. Die Helden und Unholde, die sich dort stabreimend in die Brust werfen, wären in der Tat besser in den Orchestergraben gefallen. Scherbarth zeigt in seinen Blättern nur das Wesentliche. Auftrumpfen hilft nicht! Das ist seine Botschaft. Denn früher oder später bleibt es keinem erspart ins Gras zu beißen.
~~~ Als sich Scherbarth im Sommer 1983 erstmals näher mit der großangelegten Ränkeschmiede befaßte, die Wagner im Dunstkreis altgermanischer Sagen angesiedelt hat, war ihm gerade eine neue Niere eingepflanzt worden. Wahrscheinlich hatte er sich die Krankheit bei Kriegsende zugezogen, als er im »Volkssturm« Deutschland gegen die Russen verteidigen sollte. Der 15jährige Berliner Bengel zog es vor, sich nach Bayern durchzuschlagen. Durch die Nierentransplantation von 1983 waren ihm nun noch 17 Jahre in vergleichsweise großer Bewegungsfreiheit beschieden, sodaß er die 70 erreichte. Aber er mußte sich ständig zeit- und kräfteraubenden Kontrollen in der Klinik unterziehen und Medikamente nehmen, die andere Organe schädigten. Mir gegenüber zuckte Scherbarth einmal die Achseln: »Der Mensch weiß hier mal wieder weniger, als er tut.«
~~~ Leider ist Scherbarths mutmaßliches Hauptwerk, der Radierungszyklus, gleichfalls in der Sparte »Unsichtbares Theater« zu Hause, bislang jedenfalls. Die Blätter ruhen auf mehrere Mappen verteilt in irgendeiner Kommodenschublade. Wer sich einmal ernsthaft für sie interessieren sollte, kann sich an Silke Kruse aus Briedel wenden. Das ist jene Schülerin, der die Plattenschachtel Leon übrigens ihr pfiffiges Titelblatt verdankt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024



Schiffahrt

Neben Knoten und Schraube dürfte der Anker zu den einfallsreichsten Verbindungsweisen des Menschen zählen. Dabei stellt er im Grunde nur eine Klammer dar, wie schon die Sorten Anker andeuten, die beispielsweise zwei senkrecht stehende Verschalungen miteinander verbinden. Der Schiffsanker übertrumpfte einst das schlichte Verfahren, das Boot durch ein Seil, an dessen Ende ein dicker Stein verknotet war, mitten auf dem Wasser festzumachen. Brockhaus bildet das verbreitete Modell des eisernen »Stockankers« ab. Der Stock sitzt quer zu den beiden hakenförmigen »Flunken« (Armen) am Schaft. Durch Zug an der Ankerkette legt sich der Stock flach, wodurch sich ein Flunken in den Gewässerboden eingräbt. Der Sturm heult, aber das Schiff liegt fest. Man darf diese Bemerkung zu Ankern als Ergänzung meiner Betrachtung über den → Knoten auffassen.
~~~ Selbst wenn wir davon absehen, daß Ankerketten hin und wieder auch rissen, läßt sich das waghalsige Unternehmen »Schiffahrt überhaupt« wohl kaum als besonders sicher rühmen. 1878 stieß der mit 800 Leuten überfüllte Ausflugraddampfer Princess Alice, wohl aufgrund eines Fahrfehlers des Kapitäns, auf der Themse mit dem riesigen Kohlefrachter Bywell Castle zusammen. Die Alice brach in zwei Stücke und sank innerhalb weniger Minuten. Es gab rund 640 Tote, überwiegend Frauen und Kinder. Von den Verletzten und Schockierten schweigen wir großzügig. Der Untergang der Titanic 1912 ist bekannt – 1.500 Tote. 2011 kamen beim Untergang des heillos überfüllten tansanischen Fährschiffes Spice Islander I unweit von Sansibar mindestens genauso viel Menschen um, laut Statista vom August 2021 sogar 2.967. Und bereits 1987 war die gleichfalls überfüllte philippinische Fähre Doña Paz nahe Mindoro mit einem Tanker zusammengestoßen. Amtliche Todesopferzahl: Knapp 4.400.
~~~ Eine Schätzung sämtlicher Todesopfer der Schiffahrtsgeschichte kann ich nicht finden. Es dürften aber einige Millionen sein. Schon 255 v.Chr. fielen schlagartig bis zu 100.000 Tote an, weil starke Stürme bei Sizilien die gesamte römische Kriegsflotte zertrümmerten, 384 Schiffe einschließlich der gekaperten karthagischen Kähne.
~~~ Viele Schiffe gingen »natürlich« bei sogenannten Forschungsreisen oder im Rahmen von Auswanderung drauf, und das bereits in der Antike oder in unserem Mittelalter. Dabei wäre es gelogen zu behaupten, in Germanien sei es eben immer viel zu eng gewesen. Um 800 hatten wir keine zwei Millionen Hanseln hier, die in den riesigen Urwäldern eher zu vereinsamen drohten. Die wahren Antriebe für Ausflucht oder Ausweitung dürften freilich bekannt sein: Dreck am Stecken, Habgier, Neugier. Allein um seine Neugier zu stillen, setzt der dünnfellige Zweibeiner mehr oder weniger bedenkenlos sein Leben beziehungsweise das von ein paar Hundert Mitmenschen aufs Spiel. So gesehen, fällt jede Art von Schiffahrt unter Extremsport. Achten Sie einmal darauf: Genügsamkeit ist in den jüngsten Jahrzehnten teils zum Fremdwort, teils zum Schimpfwort geworden.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 2, November 2023



Von den knapp 4.000 irdischen Schlangenarten sind möglicherweise ein Fünftel Giftschlangen. Uns Menschen bringen aber die wenigsten davon Lebensgefahr. Mit Schmerzen, mitunter auch einem Krankenlager, muß man natürlich rechnen, wenn sie einem den Giftzahn ins unbestiefelte Bein schlagen. Merkwürdigerweise scheint ihnen selber das Gift nichts auszumachen, obwohl sie es keineswegs aus Apotheken, vielmehr aus ihren in der Oberlippe versteckten Giftdrüsen beziehen. Brockhaus verdeutlicht das durch eine Kopfschnittzeichnung, erklärt es freilich nicht. Ich nehme an, der meist längliche Gift-behälter der Schlangen wurde von einer durchtriebenen »Schöpfung« aus einem widerstandsfähigen Material geschmiedet, das noch den Neid von zahlreichen Chemikern oder Rüstungsfabrikanten erregen sollte. Hier und dort soll es auch UnternehmerInnen geben, die speziell Schlangengift gewinnen und verkaufen, etwa für medizinische Zwecke. Sie halten die Viecher in ihrer »Schlangenfarm« und lassen sie durch angelernte, nicht zu teure Fachkräfte regelmäßig »melken«. Damit ist gemeint: die Schlange soll in eine Attrappe (Gummi-Membrane) beißen, unter der ein Auffangbehälter versteckt ist. Man sieht, die »Schöpfung« arbeitet mit allen erdenklichen Haken und Ösen.
~~~ In unseren Breiten ist man vor Giftschlangen vergleichsweise sicher, sofern man die neuen, meist rotgrüngelb gestreiften Politikerinnen nicht mitzählt. Man hat also selten Gelegenheit, beim Wandern oder Schwimmen von einer giftigen Schlange gebissen zu werden. Aus diesem Grunde entschloß sich der Deutsche Dieter Zorn um 1980 zu einer Laufbahn als Schlangenbändiger, weil er die Tiere auf diese Weise immer um sich haben würde. Er zog mit einer Reptilien-Show, die auch Pythons, Skorpione, Vogelspinnen und Echsen umfaßte, durch Europa und überstand rund drei Jahrzehnte unbeschadet. Im Juni 2013, als ihn endlich die eigene Aspisviper nicht mehr verschmähte, war er schon 53 Jahre alt, trug einen fuchsroten Rauschebart zur Glatze und gastierte gerade im südfranzösischen Dorf Faugères. Die Viper biß ihn mehrmals, ehe es ihm gelang, sie wieder in ihr Vivarium zu verfrachten. Zwar nahmen sich sofort Sanitäter seiner an, aber auch deren Blutgerinnungsmittel richtete hier nichts aus: Zorn erlitt noch am Unglücksort einen Herzstillstand. Die Presse* wies anderntags genüßlich auf Zorns erklärtes Firmenleitmotiv hin, dem Publikum die Angst vor Schlangen zu nehmen.
~~~ Von Zorns Herkunft, Werdegang und Fachausbildung ist im Internet nichts zu erfahren. Er scheint noch nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag zu haben. Hoffen wir, er hatte wenigstens einen Gewerbeschein. In diesem Fall würde es nämlich keine Rolle spielen, ob bei seiner Entscheidung für ein solches Erwerbsleben außer Tierliebe und Reiselust noch andere, nebensächliche Beweggründe mitschwangen. Hauptsache, er starb legal.
~~~ Meine Großmutter Helene weilte hin und wieder zur Kur im berühmten Taunusort Schlangenbad (bei Wiesbaden). Gebissen wurde sie aber nie. Wappentier der Einheimischen ist die Äskulapnatter, die sich derzeit noch in geschätzt 10.000 Exemplaren in der 100 Quadratkilometer großen Gegend aufhalten soll.** Sie ziert auch das bekannte rote Apotheker-A. Oft in Komposthaufen wohnend, Mäuse und Ratten vertilgend, soll sie in den fraglichen Taunusdörfern beliebter als die öde Hauskatze sein. Zwar ist die um 1,50 Meter lange bräunliche oder graue Natter nicht augenschmeichelnd bunt, dafür jedoch garantiert ungiftig.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 14, März 2024
* https://www.welt.de/vermischtes/kurioses/article117268527/Schlangen-Experte-stirbt-waehrend-Show-durch-Biss.html, 19. Juni 2013
** Sven Siebenand, https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-352016/schlange-der-apotheker/, 29. August 2016




Der sowjetische Schriftsteller Michail Scholochow, offenbar in Ehren ergraut und 1984 erst mit 78 Jahren gestorben, gilt zumeist als regimetreu. Gleichwohl stellt sein Hauptwerk Der stille Don, eine umfangreiche Erzählung aus den »revolutionären« Jahren um 1917, Gott sei Dank, oder wem auch immer, alles andere als ein Brevier des Bolschewismus dar. Ich beziehe mich auf die Ostberliner Ausgabe von 1964 (hier 14. Aufl. 1987), die rund 2.000 Seiten und ein damals frisch verzapftes Nachwort von Alfred Kurella hat. Daß dieses so wenig »sowjetfreundliche« Werk in der SU und damit auch in der DDR erscheinen durfte, finde ich schon erstaunlich. Ich wüßte einstweilen keine Erklärung dafür, müßte nachforschen. Mit dem Donkosaken Grigori Melechow wird den Lesern ein unentschiedener, wankelmütiger, wenig gebildeter, dafür letztlich jedoch schollenbewußter »negativer« Hauptheld zugemutet, mit dem sie auch noch »sympathisieren« müssen, so wie ihn Scholochow gibt. Grigori kämpft nur kurzzeitig auf roter, sonst auf weißer, also »konterrevolutionärer« Seite. Dabei wird er unaufhaltsam kriegs- und politikmüder. Die roten und die weißen Machthaber nähmen sich nichts, darf er feststellen, ohne daß ihn der Autor auf der Stelle mit Hammer & Sichel niedermacht. Zwar schließt er sich gegen Ende, in seiner Heimatlosigkeit und seiner Angst, von den neuen Sowjet-Kommissaren eingekerkert oder gar hingerichtet zu werden, einer »Armee« aus plündernden Banditen an, doch sie widern ihn an und er beschließt, mit seiner frühen Geliebten Aksinja den Versuch einer Auswanderung und eines Neuanfangs zu wagen. Dabei wird Aksinja von einer roten Streife vom Pferd geschossen. Grigori muß ihr im Verborgenen mit seinem Säbel ein Grab ausheben. Allein, niedergeschmettert, ohne auch nur einen Funken Lebenslust kehrt er dann in sein Heimatdorf zurück, um wenigstens seine Kinder noch einmal zu sehen. Damit endet das Buch.
~~~ Für jeden freiheitsliebenden Leser ist es durchaus gut vorstellbar, daß jener Neuanfang gelungen wäre. Aber es durfte nicht sein. Mit einem derartigen positiven Ausgang versehen, hätte dieses Buch zu stalinistischen Zeiten schon gar nicht erscheinen können. Nachwortautor Kurella, ranghoher treuer »Kulturarbeiter« in Diensten der SED, unterstreicht das noch, indem er Melechow mit der Brechstange, gegen Scholochows behutsamen, oft sogar ausweichenden Text, als bedauerlichen Gescheiterten und eins der vielen Opfer hinstellt, die bei jeder Erkämpfung einer großen und edlen Sache unvermeidlich anfielen. »In diesem Rahmen ist Grigoris Untergang wie ein blutrotes Siegel an der Urkunde, die den Sieg auch der Donkosaken über die alte Welt verkündet, über die Welt des Eigentums und Eigennutzes, der alten patriarchalischen Knechtschaft und der kapitalistischen Ausbeutung, in der fortschrittliche, glück- und wahrheitsuchende Menschen zu verkommenen Subjekten, zu Banditen, ja zu Bestien werden konnten.«
~~~ Wie sich versteht, trat dieses Gesindel nicht mehr in den Kreisen um Lenin, Trotzki, Stalin und Ulbricht auf. Für Kurella beschränkte sich die realsozialistische Funktionärs- und Staatsgewalt von Zigtausenden und deren Befehlsstrukturen auf den sogenannten »Personenkult um Stalin«. Massenmorde an »eingliederungsunwilligen« Kosaken und zahlreichen anderen Völkern oder Volksschichten erwähnt er schon gar nicht. Scholochow dagegen bringt wiederholt ungeschminkte Beispiele von Willkür und Brutalität auch auf Seiten der Roten – Kurella reduziert sie auf Melechows Schwager Michail Koschewoi, den neuen »revolutionären« Machthaber ihres Heimatdorfes, den er als fehlgeleiteten Emporkömmling hinstellt, der Abtrünnigen oder Zögerlichen wie Melechow einfach zu wenig Kredit gebe. Sonst hätte auch aus diesem ein glückliches Mitglied der inzwischen fortschrittlichen Gesellschaft werden können. Aber für mich ist Melechow, so wie ihn Scholochow gibt, keineswegs am gesellschaftlichen Umbruch, vielmehr an den Brüchen gescheitert, die offenbar jeder Mensch, gleich unter welchen politischen Bedingungen, mit sich herumzuschleppen hat. Hier paaren und reiben sich Mut mit Falschheit, Hilfsbereitschaft mit Heuchelei, Zärtlichkeit mit Zerstörungswut, unerklärliche Laune mit Vierjahresplan und so weiter und so fort. Scholochow malt dies alles breit, jedoch unaufdringlich aus. Er predigt oder schulmeistert nie. Manchmal vermisse ich sogar eine gewisse Nachdenklichkeit, etwas mehr philosophische Strenge, wie ich einmal sagen möchte. Was am Ende zurückbleibt, ist nicht Kurellas gescheiterter, dem Untergang geweihter Anti-Held des Buches, vielmehr der hilflose Autor des Buches. Das wildwuchernde, schaurig-schöne Leben hat sich als seinen Verstandeskräften überlegen erwiesen.
~~~ Gleichwohl zollt auch der skeptische Scholochow dem programmatischen »revolutionären« Rahmen Tribut, in den er eingespannt war. Er wahrt den Anschein; er stellt das offizielle Programm nie unverhohlen in Frage. In Wahrheit, das geht mir jetzt auf, müßte man den Weltverbesserungsdrang, den sogar etliche »Anarchisten« bekunden, nicht nur Kommunisten, Liberale und Philanthropen, als das Hauptübel aller PolitikerInnen brandmarken. Überall maßen sie sich an, dem Bruder, Kollegen, Mitbürger, Nachbarn, ja selbst den entlegensten Landstrichen das Heil zu bringen. Was haben Moskauer Bolschewisten am südlichen Don oder gar am Baikalsee zu suchen? Faktisch unterjochen sie dann die jeweiligen Kosaken oder Kalmücken, die sie gerade »befreit« haben. Das Hauptübel ist die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes. Entweder helfen sich die Leute da, wo sie gerade miteinander leben, selber – oder ihnen ist eben nicht zu helfen, so muß man das sehen. Sollen sie doch in ihren Sittenkorsetten verrecken, wenn sie es wünschen. Die von den »Roten« erzwungenen Kollektive sind mindestens genauso schlimm.
~~~ Daneben muß ich Scholochow auch einen gewissen Hang zur Volkstümelei ankreiden. Er bringt viel Verständnis für das befremdliche Naturell der Kosaken auf, zu denen er selbst gehörte. Sie können grausam, räuberisch, abergläubisch, säuferisch, frauen- , juden- und fremdenfeindlich sein bis zum Erschrecken, Scholochow dämpft es mit Samthandschuhen und Augenzwinkern ab und läßt dafür auch die eindrucksvollen Hochzeitsbräuche, die Blumenliebe und die Rührseligkeit der Kosaken nicht fehlen. Ihre Roheit zeigt sich übrigens schon daran, wie sie ihr Hausvieh behandeln. Liebevolle oder brüderliche Gesten ihrem treuen, feurigen Gaul gegenüber, der sie schon so oft aus dem Schußfeld ihrer Feinde trug, sind selten. Die junge Dunjaschka hat eine eilige Nachricht zu überbringen, muß aber trotzdem erst ihr Kopftuch suchen, da es sich für ein unverheiratetes Kosakenmädchen nicht schickt, mit losem, fliegendem Haar durchs Dorf zu rennen. Die Männer dürfen mehr. Dunjaschkas Bruder Grigori ist eigentlich mit Natalja verheiratet, die auch seine beiden Kinder zur Welt bringt. Doch er kommt immer wieder auf die schon erwähnte Nachbarin Aksinja zurück. Als er einmal länger im Frontdienst steht, läßt sich diese mit einem Gutsherrnsohn ein. Für dessen furchtbare Züchtigung durch den zurückgekehrten Grigori versteht dann Autor Scholochow Verständnis zu erwecken, obwohl Grigori selber die liebe Aksinja ihrem Gatten Stepan ausgespannt hat. Woanders – als am Don – nennt man so etwas Doppelmoral, um nicht schon wieder von Falschheit zu sprechen.
~~~ Es böte sich an, den Stillen Don mit Boris Pasternaks Shiwago zu vergleichen, aber das überfordert mich vielleicht. Im ausweichenden Zug nehmen sie sich nicht viel: beide Autoren vermeiden deutliche politische oder philosophische Stellungnahme. Pasternak kommt mir in sprachlicher Hinsicht vermögender und betörender vor. Im Vergleich mit ihm erzählt Scholochow gradlinig, chronologisch, ausgiebig – und etwas langweilig. Während Pasternak eher ein Skatblatt gibt (10 Karten), blättert Scholochow das ganze Spiel auf den Tisch. Er neigt zur Langatmigkeit. Insbesondere die vielen Schlachtenberichte stellen meines Erachtens fruchtlose Wiederholungen dar. Das gilt selbst für seine im einzelnen schönen Landschafts- und Milieuschilderungen – es ist immer wieder dasselbe. Das Werk im ganzen ist sowieso viel zu dick.
~~~ Ich will mich ersatzweise noch ein wenig mit Nachwortautor Alfred Kurella befassen. 1895 als Sohn eines niederschlesischen Arztes und Psychiaters zur Welt gekommen, tritt Kurella nach einer schwärmerischen Wandervogelzeit schon 1918, in ihrem Gründungsjahr, als Aktivist der KPD auf. In Gustav Reglers Erinnerungen von 1958* kommt er nicht viel besser weg als Walter Ulbricht. Der ehrgeizige und »immer doppeldeutige« Münchener Studentenführer, Schriftsteller, Moskauer Komintern-Funktionär, Sekretär solcher berühmten Männer wie Barbusse und Dimitroff sei stets in erster Linie Agent und Polizist gewesen, was ihm, Regler, 1934 in Moskau auch Kurellas Bruder Heinrich bestätigt habe, der dann 1937 mit 32 Jahren als sogenannter »Versöhnler« und angeblicher »Konterrevolutionär« wahrscheinlich mit Billigung Alfreds erschossen wurde. 1956 war die SED schamlos genug, Heinrich Kurella, wie so manche andere Leichen, zu »rehabilitieren«, ohne es den DDR-Bürgern auf die Nase zu binden. SED-Mitglied Alfred Kurella war zu dieser Zeit Literaturinstitutsleiter in Leipzig. Martin Schaad zufolge** hatte Kurella 1947 mit dem Propagandabuch Ich lebe in Moskau einen »traurigen Tiefpunkt« in seinem literarischen Schaffen erreicht; darin habe er die Terrorerfahrung im Exil schönzufärben und »sogar die Hinrichtung seines eigenen Bruders« zu rechtfertigen versucht (Schaad auf Seite 160). Später brachte es Kurella noch bis zum Sekretär der Kulturkomission beim Politbüro des ZKs in Ostberlin und damit zum obersten Kulturfunktionär der DDR. Er zählte bis zuletzt (gestorben 1975) zu den Einpeitschern des sogenannten Sozialistischen Realismus, obwohl er, laut Regler, zeitlebens an einem »Zungenfehler«, einer Sprechbehinderung also litt. Er geriet leicht ins Stottern. Regler erlebte das bereits 1918 in München mit, als er einmal gemeinsam mit Kurella durch die brodelnde, umkämpfte Stadt lief. Auf dem Stachus eine Volksmenge laut dazu auffordernd, Räte zu bilden und dabei hilflos die R's und die B's stammelnd, sei Kurella, zu Reglers Betretenheit, ausgelacht worden. 45 Jahre später ließ Kurella jenes Nachwort zu Scholochows Roman mit dem Titel »Von Schönheit und Härte, Grausamkeit und Größe der Revolution« versehen.
~~~ Zwar erwähnt auch Martin Schaad Kurellas Stottern, doch geht er darauf so wenig wie auf andere möglicherweise wunde Punkte des schlanken und eigentlich anziehend wirkenden Bürgersohnes ein, etwa Kurellas schmale, fast nach innen gestülpten Lippen, die ihm einen Strichmund bescherten, seine frühe Lungenkrankheit (Tuberkulose?), eine bei Schaad namenlose »uneheliche Tochter« (S. 160) und seine »dritte Ehefrau« Elfriede Cohn-Vossen (S. 119), die sich wohl 1938 mit Kurella verheiratet hatte. Deren Vorgängerinnen, darunter vielleicht Geliebte oder Angebetete, die sich nicht mit Kurella verheirateten, streift Schaad mit keinem Wort. Den Potsdamer Historiker scheint das gesamte Liebes-, ja Gemütsleben seines Untersuchungsgegenstandes kaum zu interessieren. Selbst Kurellas öfter erwähnten Wandervogel-Jahre sucht Schaad nie unter diesem Gesichtspunkt zu rupfen. Er beläßt es bei Kurellas naturmystischem, nach Erlösung dürstendem Begehren, in einem (Volks- oder wenigstens Partei-)Ganzen aufzugehen, das Kurella freilich mit zehntausenden anderen jungen Leuten teilte, die noch nicht einmal Kinder von Psychotherapeuten gewesen sein müssen. Im übrigen hat sich Schaad dem (angeblichen) Nachweis gewidmet, Kurellas um 1936 entstandener Roman Die Gronauer Akten (erschienen erst 1954) sei in erster Linie ein ausgefuchstes Unternehmen gewesen, sich bei den Moskauer Parteioberen, nach verschiedenen Vorwürfen und Bedrohungen gegen Kurella und dessen Amtsenthebung als Komintern-Mitarbeiter, wieder einzuschmeicheln und dadurch zu rehabilitieren. Das ist streckenweise spitzfindig, mal vergnüglich, mal langweilig – und vielleicht sogar richtig. Nur trägt es wenig zu der Frage bei, warum nun ausgerechnet auch dieser etwas schüchtern und doch geheimnisvoll wirkende blonde, blasse Wandervogel Kurella mit seinen scharfen Gesichtszügen keine andere Lebensmöglichkeit sah, als sich einer »großen Sache« zu verschreiben und dabei alle Kehrtwenden der Parteilinie getreulich mitzuvollziehen.
~~~ Laut Evelyn Lacina*** war Alfred Kurella immerhin viermal verheiratet, und zwar mit der Gymnasiallehrerin Margret Hahlo (Heirat 1920), der Pelzhändlertochter Walentina Nikolajewna Sorokoumowskaja (1930), der erwähnten Ärztin Elfriede Cohn-Vossen, die 1957 starb, und dann mit Sonja Matthäus (Sonja Kurella-Schwarz, 1958, geb. 1924, in der DDR zunächst Lehrerin, dann gleichfalls Kulturfunktionärin). Er habe fünf Kinder und drei Stiefkinder gehabt. Im Ersten Weltkrieg war der junge Kurella zunächst Freiwilliger – er wurde zweimal verschüttet und Pazifist. Von Lacina ist zu erfahren, 1916 habe der »seit seiner Kindheit« stotternde Soldat seine Sprechstörung dazu genutzt, sich als »Behinderter« »kriegsuntauglich« schreiben zu lassen. Klug genug, aus der Not eine Tugend zu machen, war er also schon immer gewesen. Kurellas zeitweiligem Sekretär Erhard Scherner zufolge**** (geb. 1929) verunglückte Cohn-Vossen bei einem Urlaub im Kaukasus. Die nächste und letzte Gattin Sonja (knapp 30 Jahre jünger als er) habe Kurella noch einmal »Vaterfreuden« beschert. In diesen DDR-Funktionärs-Zeiten sei Kurella stets von »Personenschutz«, zwei Leibwächtern nämlich, begleitet worden. Selbst Scherner erwähnt Kurellas »gelegentliche Sprachstörungen«, die dieser demnach auch im Alter noch nicht losgeworden war.
~~~ 1972, schon seit knapp 10 Jahren (von Ulbricht) kaltgestellt, erlitt Kurella einen Herzinfarkt – »die Kraft für einen umfassenden Lebensbericht war aufgezehrt«, schreibt Scherner. Schaad dagegen führt den Umstand, daß Kurella nie eine Autobiografie zustandebrachte, auf die unzähligen selbstbiografischen Versionen zurück, die Kurella im Laufe der Jahrzehnte bereits vorgelegt hatte, etwa für die Kaderabteilungen: sie alle widersprächen sich, er hätte sie niemals unter einen Hut bekommen.
~~~ Ich will noch einen Blick auf die erwähnte Pfarrerstochter und Ärztin Elfriede Cohn-Vossen (1909–57) werfen. Aufgewachsen in Thüringen und Sachsen, hatte sie den Kommunisten Kurella um 1938 kennengelernt und geheiratet. Mit diesem hatte sie zwei Kinder, Stefan und Brigitte. Vorher war sie mit dem Mathematiker Stefan Cohn-Vossen verheiratet gewesen, dessen Name sie beibehielt. Zuletzt Professor in Moskau, war der jüdische Wissenschaftler 1936 ebendort, wie es heißt, einer Lungenentzündung erlegen. Mit Kurella teilte die neue Gattin vielleicht die Vorliebe für den Kommunismus der sowjetischen Art, gewiß jedoch für das Wandern, und zwar insbesondere im Kaukasus. Das sollte ihr Verhängnis werden.
~~~ Nach Auskunft***** des gemeinsamen Sohnes Stefan Kurella, geboren 1939, hatte das Ehepaar bereits nach dem Krieg für einige Jahre im Kaukasus gelebt, wobei Cohn-Vossen in Ps'chu, Abchasien, ein Dorfkrankenhaus leitete. Später war die Familie, von Leipzig oder Ostberlin aus, regelmäßig in diesem wilden Riesengebirge Zelten und Wandern. Am fraglichen Julitag 1957 war man in der heutigen georgischen Region Chewsuretien unterwegs. »Von Djuta aus begleitete uns mit seinen Pferden Gigla Arabuli nach Archoti, wo wir vom Lyriker Guram Rtscheulischwili erwartet wurden, um gemeinsam im Dorf Achieli das bei den Chewsuren bedeutende Fest Athangena bzw. Athangenoba zu begehen. Knapp zwei Kilometer vor dem Dorf verunglückte Elfriede. Was geschah? Wir hatten den 3.286 Meter hohen Archotistavi-Pass hinter uns und stiegen in das Tal der Assa hinab. Meine Mutter ritt, ich folgte ihr zu Fuß. Der Pfad war tief in den steilen Hang geschnitten. Das Pferd hatte den Pfad verlassen, meine Mutter wollte absteigen. Genau in diesem Moment brach das Pferd mit den Hinterbeinen den Grassoden ab, auf dem es stand, bekam einen Schreck und rannte den Hang hinunter. Meine Mutter wurde Opfer zweier Fehler: ihr Bergschuh blieb im Steigbügel stecken und sie hatte die Zügel fallen gelassen (anstatt sie fest zu halten). So konnte das Pferd sie zu Tode schleifen.«
~~~ Die 48jährige wurde noch am selben Tag in der Unglücksgegend begraben. So hatten es seine Eltern auf Gegenseitigkeit für Unglücksfälle vereinbart, sagt Kurella. Der erwähnte Lyriker Guram Rtscheulischwili habe einen Bericht über den Vorfall verfaßt, der wiederholt auch im georgischen Rundfunk zu hören gewesen sei. Eine amtliche Untersuchung gab es sehr wahrscheinlich nicht. Schwester Brigitte weilte in jenem Sommer in einem Pionierlager auf der Krim, fällt also als Augenzeugin aus. Streng genommen, müssen freilich auch alle anderen Zeugen als mehr oder weniger befangen gelten, sodaß es nicht Wunder nimmt, wenn später unterschiedliche Versionen des Vorfalls und auch Gerüchte über Faulspiel umliefen. Ich persönlich halte Stefan Kurellas Darstellung für glaubwürdig, weil er seinem Vater, nach meinem Eindruck, eher kritisch gegenübersteht.
~~~ Guram Rtscheulischwili, geboren 1934, soll übrigens auch nicht mehr lange gelebt haben. Dabei war er noch keine 30, als er, wahrscheinlich 1960, bei einer berauschenden Party am Schwarzen Meer (angeblich) versuchte, einen trunkenen Freund vorm Absaufen zu retten. Dabei soll der Schriftsteller selber ertrunken sein. Belege für diese Geschichte nehme ich dankbar entgegen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Gustav Regler, Das Ohr des Malchus, bes. S. 98, 290, 510
** Martin Schaad, Die fabelhaften Bekenntnisse des Genossen Alfred Kurella, Hamburg 2014
*** Evelyn Lacina, Artikel in der Neuen Deutschen Biographie, Band 13 von 1982
**** Erhard Scherner, »Junger Etrusker erteilt Unterricht. Eine Erinnerung an Alfred Kurella«, in Utopie Kreativ Nr. 201-202, Juli/August 2007
***** Stefan Kurella: Brieflich im Februar 2016. Der Ethnologe Kurella aus Oranienburg macht sich seit Jahren für die ärmliche Kaukasus-Region Swanetien stark.




Schule

Der US-Schauspieler, Schüler, vielleicht auch Zeitungsjunge Billy Laughlin (1932–48) aus Kalifornien hatte zwar schon mit acht Jahren (1940) beim Film debütiert und in etlichen erfolgreichen Kurzfilmen um Die kleinen Strolche sowie, neben Robert Mitchum und Simone Simon, in Joe Mays Kassenfüller Johnny Doesn't Live Here Any More mitgewirkt, aber dann, 1944, hielten ihn seine »vernünftigen« Eltern dazu an, erst einmal die Schule zu beenden. In der Tat soll »Froggy« Laughlin (dicke Brille, schrille Stimme) das Schülerleben diesseits des Rampenlichts durchaus genossen haben – bis zum 31. August 1948.
~~~ An diesem Tag, wohl gegen Abend, war der 16jährige mit einem gleichaltrigen Freund in La Puente (bei LA) per Cushman Motor Scooter unterwegs. Nach zeitgenössischen Presseberichten unternahm der heute witzig wirkende Motorroller auf dem »Valley boulevard« eine Art jähe Kehrtwende, worauf ihn ein entgegen kommender Lastwagen umfuhr, der angeblich nicht mehr ausweichen konnte. »Froggy« (von Frosch) hatte auf dem Rücksitz des Rollers gehockt. Er starb kurz darauf im Krankenhaus. Freund W., der Fahrer des Rollers, kam mit leichten Verletzungen davon. Der 25 Jahre alte Lkw-Fahrer blieb unbelangt. Laut Sterbeurkunde, so wird behauptet, waren die beiden Teenager nicht oder nicht nur zum Vergnügen, vielmehr »while at work« unterwegs – möglicherweise zwecks Zeitungszustellens. Zur Stützung dieser Annahme dient, soweit ich sehe, die eher freie Behandlung des angeblichen amtlichen Eintrags.* Jedenfalls standen die Freunde am nächsten Tag selber in den Zeitungen. Deren Berichte (siehe eingangs der verlinkten Diskussion) scheinen allerdings die verbreitete Geschichte mit dem Arbeitsunfall nicht unbedingt abzudecken. Durch diese Geschichte wird der ganze Vorfall jedoch interessanter, weshalb sie auch in Wikipedia (deutsch und englisch) zu lesen ist. Mehr noch, steigert sie unser Mitgefühl für die unglücklichen Jungen – wie im Kino.
~~~ Eine zweite Fragwürdigkeit stellen selbstverständlich Froggys »vernünftige«, auf Schulbesuch pochende Eltern dar. Für meinesgleichen sind Schulen schon immer Orte des Schreckens gewesen. Darüber sehen neuerdings viele Liberale und Linke gern hinweg, wenn sie die Schulschließungen im Zeichen der Göttin Corona beklagen. Schulen verdanken sich in Demokratien wie Diktaturen gleichermaßen der Anmaßung des Staates, seine BürgerInnen auch durch die von ihm verordnete sogenannte Allgemeinbildung zu normieren. Er maßt sich an zu wissen, was »man« wissen muß. In seinem Verständnis natürlich alles, was der Aufrechterhaltung seiner gut geschmierten Megamaschine nützt, die wiederum seiner Elite dient. In Wahrheit gibt es unter den Menschen – solange sie noch nicht erfolgreich angepaßt worden sind – eine derart große Vielfalt an Naturellen, Bedürfnissen und Lebensformen, daß sie alle ihrer eigenen, darauf zugeschnittenen Bildung oder auch Schwänzerei bedürften. Aber man läßt sie nicht. Schulpflicht, Meldepflicht, Steuerpflicht, Versicherungspflicht, Sommerzeitpflicht, Wehrpflicht, Impfpflicht – Sie können darauf wetten: sobald die Enthaltungsrate bei den Wahlen unerwartet steil ansteigt, wird auch die Wahlpflicht eingeführt. Schließlich müssen sich die Pensionsberechtigten im Bundestag irgendwie legitimieren.
~~~ Sind Sie Lehrer, werden Sie vermutlich einwenden, wenn jeder gerade unterrichten oder lernen dürfte, was und wie er wollte, bräche doch das Chaos aus. »Sollen die Behördenformulare von Analphabeten ausgefüllt werden? Die Fabriken von Leuten in Gang gehalten werden, die nicht bis drei zählen können?«
~~~ Ach du meine Güte! Nein, die Behördenformulare, die Fabriken und die Staaten müssen weg. Der Mensch der Zukunft lernt in selbstorganisierten Basisgruppen, wie es etwa in meinem Kurzroman Konräteslust geschildert wird.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »The Death of Froggy«, Diskussion auf The Little Rascals im Sommer 2013, bes. 6. Aug. 2:14am: https://littlerascals.proboards.com/thread/1259

Siehe auch → Grammatik → Komik, Albernheit → Mündlichkeit → Rechtschreibung → Band 4 Mollowina Luchse Kap. 13 (Bildungsgruppen)




Schutz

Am 26. September 2012 kochte der gebürtige Marokkaner und »Langzeitarbeitslose« Ahmed S. (52) bereits vor Wut, ehe er im einstigen Arbeitsamt von Neuss die Verkörperungen der neuen Namen »Arbeitsagentur«, »Jobcenter« oder »CTP (Come Together Point)« überhaupt auf sich hatte wirken lassen. Nun suchte er vergeblich nach einem bestimmten Mitarbeiter, den er wegen eines Schriftstücks zur Rede stellen wollte, bei dem er nur Bahnhof verstanden hatte. Er befürchtete Datenmißbrauch. Durch den Mißerfolg seiner Suche noch wütender geworden, betrat er ersatzweise ein Zimmer der Abteilung Visionen 50plus – ungelogen. Die 32jährige Sachbearbeiterin Irene N. hatte das Pech, daß es ihr Zimmer war. Nach kurzem Streit zog S. ein langes Fleischermesser aus seiner Kleidung und stach auf die Frau ein. Sie starb kurz darauf im Krankenhaus. Das Pech dieser Lückenbüßerin war das Glück jenes Kollegen, den der aufgebrachte S. nicht gefunden hatte. Nun war dieser sofort geständig. Da er von der Eingangstür an zwei Messer mit sich geführt hatte, verurteilte ihn das Düsseldorfer Landgericht ein halbes Jahr darauf wegen Mordes zu Lebenslänglich.*
~~~ Mit dem Geld, das die damaligen Umbenennungen und »Umstrukturierungen« auf dem »Arbeitsmarkt« verschlangen, hätte man wahrscheinlich alle marokkanischen Wüsten in Gärten verwandeln können. Aber all diese reformerischen Maßnahmen werden bekanntlich nur ergriffen, um das erwerbstätige Volk vor Verelendung zu schützen. Und nicht etwa, um es zu täuschen, zu verhöhnen und zu entwürdigen. Bedenkt man es recht, hat sich das Wort Schutz in den jüngsten Jahrzehnten gerade Deutschland zum Tummelplatz erkoren. Schon Kaiser Wilhelm hatte die großartige Idee, Schutztruppen nach Südafrika zu entsenden, um die dortigen Neger mit knusprigem Schiffszwieback vor der Verelendung zu bewahren. In der Heimat wirkte derweil die Schutzpolizei – hat es je einen freundlicheren und gemütlicheren dicken Mann gegeben als den »Schupo« an der Ecke? Na also. Später kamen Einrichtungen wie die Erhebung von Schutzgebühren für die Mafia oder Heinrich Himmlers Schutzstaffel (SS) oder die Anstalten der ARD und natürlich der Verfassungsschutz hinzu, ferner Maßnahmen wie die Schutzhaft, die Schutzimpfung und die Atemschutzmaskenpflicht für besonders gefährdete Kommunisten und Kinder – und jetzt haben wir, seit März 202o, ein unablässig verbessertes »Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite«, das der Bundestag selber, in griffiger Kürze, auch Bevölkerungsschutzgesetz nennt.** Für ihn, den Deutschen Bundestag, soll dieses Instrument vor allem »vereinheitlichen«, also nicht etwa gleichschalten. KritikerInnen meinen, es sei vor allem eine Berliner Abrißbirne gegen die spärlichen Überreste des deutschen Föderalismus‘. Der war dereinst antifaschistischen Beweggründen entsprungen.
~~~ Wer all diese Hürden nimmt und mit 80 oder 90 »natürlich« wegstirbt, muß wahrlich einen Schutzengel besessen haben. Gustav Unfried (1889–1917) hatte keinen. Der schwäbische Fußballer, überwiegend bei den Stuttgarter Cickers aktiv, hatte mehrere Meisterpokale und eine Länderspielteilnahme (gegen die Niederlande) ergattert. Seine Position war Mittelläufer gewesen. Ich fürchte allerdings, Mitläufer war er auch. Schon vor dem »Ausbruch« des Ersten Weltkrieges soll sich der gelernte Landvermesser in dem Gebilde namens Deutsch-Ostafrika aufgehalten haben – vermutlich nicht, um zu kicken, sondern um eben das Gebilde zu messen. Da hatte er gut zu tun, war das Gebilde, auch »Schutzgebiet« genannt, doch beinahe doppelt so groß wie das »schützende« Kaiserreich. Im Krieg selber soll Unfried dann 1916 das Eiserne Kreuz errungen haben. Wo, bleibt unklar. Er soll aber wieder »Angehöriger« der sogenannten Schutztruppen des Gebildes gewesen, nur leider, als solcher in Gefangenschaft geraten sein. Allerdings setzten ihn nicht die einheimischen Neger oder Mohren fest, vielmehr die Briten. In deren Obhut soll der 28jährige im September 1917 verstorben sein. Näheres scheint in den zwei oder drei Sport-Nachschlagewerken nicht zu stehen. Vielleicht erlag Unfried der sogenannten Spanischen Grippe oder brachte sich vorsorglich um. Recht hätte er gehabt.
~~~ Ich nehme stark an, die Nachschlagewerke vermeiden auch den Hinweis auf die schweren Verwüstungen, die das Schutzgebiet als Schlachtfeld zwischen Deutschen und Briten/Belgiern zu erleiden hatte. Anderswo ist etwa von mehreren Hunderttausend Todesopfern unter den Einheimischen die Rede. Sie starben als TrägerInnen unserer tapferen Truppen, sie verhungerten oder steckten sich mit den zeittypischen Seuchen an. Wer nicht starb, hatte vielleicht nur noch ein Bein und schleppte sich auf Krücken bis ins nun britische Gebilde Tanganjika durch. Ab 1964 hieß der Hauptteil des ehemaligen »Schutzgebietes« Tansania. Dort kam kürzlich der dunkelhäutige Staatspräsident John → Magufuli auf undurchsichtige Weise um.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Tim Röhn, https://www.welt.de/regionales/duesseldorf/article115034002/Lebenslange-Haft-fuer-Mord-in-Neusser-Jobcenter.html, 5. April 2013
** »Bevölkerungsschutzgesetz: Bundesweite Notbremse beschlossen«, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2021/kw16-de-infektionsschutzgesetz-834802



Das kleine Sultanat Brunei, zwischen Malaysia und dem Südchinesischen Meer eingeklemmt, liegt an der Nordküste der riesigen Insel Borneo. Was sollten Sie von diesem Ländchen außerdem wissen? Zumindest das: es hat bis 1984 »unter britischer Schutzherrschaft« gestanden. Dabei ist Brockhaus unverschämt genug, das Wort Schutzherrschaft ohne Gänsefüßchen zu schreiben. Ich habe schon andernorts einiges zu dem weltweit beliebten Decknamen »Schutz« gesagt. Im Bereich der Kolonialpolitik geht es selbstverständlich darum, die Arbeitskräfte und Bodenschätze des betreffenden Landstrichs vor der imperialistischen Konkurrenz und nicht etwa vor Hunger und Hochwasser »zu schützen« – nur möchte man das nicht so deutlich verkünden.
~~~ Vielleicht noch ein paar Takte zur »Schutzhaft«. Nach Brockhaus (Band 19) sind zwei Arten zu unterscheiden. Die erste Sorte ist angeblich harmlos oder sogar segensreich, daher auch in sogenannten Demokratien vorgesehen. Die Polizei darf Personen festnehmen, wenn sie gefährdet sind, ob durch andere oder durch eigene Schuld. Paradebeispiel ist der hilflose stockbetrunkene Penner, der zu erfrieren droht. Im zweiten Fall dagegen soll nicht die Person vor der Gefahr, vielmehr der Staat vor der Person »geschützt« werden. Daher 1933, gleich nach dem Reichstagsbrand, die »Verordnung zum Schutz von Volk und Staat«, die wahre Rudel von Systemgegnern hinter Gittern führte, obwohl sie gar nichts Strafbares getan hatten. Aber sie drohten es eben zu tun! Es war also die reinste Vor- und Fürsorge seitens des Staates. Nebenbei hat der oben behandelte Cheforganisator der Gestapo Werner Best unter anderem sofort für die Beibehaltung und Verschärfung der Schutzhaft-Regelung gesorgt. Nun lag die Maßnahme allein im Belieben der Geheimpolizei, jenseits aller richterlichen Überprüfbarkeit. Die Geheimpolizei hatte also ihre Argusaugen auf allem, was nach »potentiellem Straftäter« roch, wie es Jahrzehnte später im deutschen demokratischen Diskurs genannt wurde. Wenn Sie mich fragen, wird die faschistische Schutzhaft-Praxis demnächst durchaus amtlich abgesegnet wiederaufleben. Man wird sich vielleicht einen neuen Namen dafür einfallen lassen. Der aufgeweckte Junge aus dem zukünftigen BSW-Jugendverband, der die geeigneten Argumente und Hüllwörter finden wird, sitzt bereits in der einen oder anderen deutschen Unterprima vorm Computer.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024

Siehe auch → Kapitalismus, Schutzumschlag




In seinem Essay Über die Bücher teilt Montaigne mit, seine bevorzugte Lektüre stellten Lebensbeschreibungen dar, darunter wieder besonders jene, die sich »eingehender mit den Absichten als mit den Begebenheiten befassen, und mehr mit dem, was aus dem Innern kommt, als dem, was von außen geschieht.« Dies dürften am ehsten Autobiografien leisten. Nun habe ich Günther Schwarbergs Erinnerungen Das vergess ich nie wiedergelesen, die 2007, noch knapp vor seinem Tod, erscheinen konnten. Zwar lassen sie an Schärfe, Straffheit und Glanz nichts zu wünschen übrig – doch von sich selber spricht der 1926 geborene Journalist und Buchautor kaum. Gegen ihn ist sogar Victor Serge ein Herzausschütter. Da hilft es nur, Schwarbergs Werk nicht als Autobiografie sondern als bedeutenden Beitrag eines linken »Nestbeschmutzers« zur Zeitgeschichte zu nehmen.
~~~ Schwarberg, bei Bremen aufgewachsen, wurde nahezu ununterbrochen angefeindet, gab jedoch nie auf. Vor allem als stern-Redakteur unter Henri Nannen (Herausgeber des Hamburger Wochenblattes bis 1983) konnte er etliche enthüllende, sorgfältig recherchierte Reportagen veröffentlichen, die einiges bewirkten. Am nachhaltigsten erwies sich darunter sein Eintreten für Die Kinder vom Bullenhuser Damm; diese 20 Kinder waren noch im April 1945 im Keller einer Hamburger Schule ermordet worden, nachdem SS-Ärzte grausame Experimente an ihnen durchgeführt hatten. Der verantwortliche SS-Obersturmführer Arnold Strippel wird wie üblich halbherzig verfolgt und nie belangt.
~~~ Soweit ich weiß, verstand sich Schwarberg nie als Kommunist; gleichwohl fällt sein milder Umgang mit DDR und SU auf. Einerseits rühmt er SpanienkämpferInnen, andererseits ging der kommunistische Verrat in diesem Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg an ihm vorbei. Eine autoritär verfaßte DDR, die begierig westliches Wirtschaftswunder nachzuäffen wünscht, hat er nie gesehen. Zwar rügt er etwa das »Mißglücken« der Bodenreform (Enteignung der Junker), doch einen Begriff von der Mammutisierung, etwa durch LPGs, scheint er nicht zu haben. Im Gegenteil erlaubt er sich den Traum, die Kommunisten der »Zone« hätten nach Kriegsende über jene »Macht der Bilder« verfügt, die später beispielsweise der stern so geballt und gezielt einzusetzen verstand (245). Der östliche PR-Apparat war also unvollkommen. Sonst wären die dummen Bauern scharenweise »freiwillig« in der SED-Schürze untergeschlupft. Hier will Schwarberg befremdlicherweise nicht geduldig argumentieren, vielmehr geschickt manipulieren. Aber er war eben professioneller Journalist.
~~~ Zu den Glanzstücken des Buchs, die einen trübsinnig stimmen können, zählt Schwarbergs Erzählung den berüchtigten, nie gefaßten Ausschwitz-Arzt Josef Mengele betreffend. Dem hesssischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war zu Ohren gekommen, Martha Mengele halte sich in Zürich auf und habe möglicherweise vor, dort gemeinsam mit ihrem Gatten dessen 50. Geburtstag zu begehen. Bauer bat Schwarberg um »Amtshilfe«. Tatsächlich machte der erfahrene Journalist Martha und sehr wahrscheinlich auch Josef Mengele am 4. März 1961 als frische Mieter einer Wohnung in Zürich-Kloten aus. Schwarberg alarmierte die Polizei, die das Haus auch observierte. Doch nach einigem Hin und Her (viele Telefonate oder Fernschreiben mit Bern und Bonn) ließ die schweizer Polizei das Paar aus der Klotener Mietwohnung unbehelligt in einen blauen VW mit Günzburger Kennzeichen steigen und – zum Beispiel – nach Italien reisen. »Noch nicht einmal die Grenzstationen sind benachrichtigt.« Der dickste Hammer: Tags zuvor hatten die FahnderInnen einen Zettel in Martha Mengeles Briefkasten mit der Bitte um Rücksprache im Klotener Gemeindebüro gesteckt. Dadurch habe man eine Reaktion provozieren wollen. Ja, die erfolgte auch prompt: Flucht. Schwarbergs Fazit: »Fritz Bauer muß den Auschwitz-Prozess ohne den Hauptangeklagten Josef Mengele beginnen.«
~~~ Schwarbergs Darstellung (224–30) legt den dringenden Verdacht, man habe einen der übelsten Massenmörder der jüngeren Weltgeschichte mit Absicht durch die Lappen gehen lassen, mehr als nahe. Es wäre auch weißgott kein Präszedenzfall gewesen. Grundsätzlich dürfte sich die viertelherzige Verfolgung faschistischer VerbrecherInnen unter anderem einem stinkenden Kuhhandel verdankt haben, wenn ich mich recht an andere kritische Quellen erinnere. Jerusalem sagt hinter vorgehaltener Hand: wir drücken ein Auge über eure Nachsicht mit den Globkes und Mengeles zu, falls ihr unsere Atomwaffen mit Schweigen bedeckt. Bonn nickt.
~~~ Wie es aussieht, wurde Schwarbergs Verdacht geraume Zeit später zumindest vom schweizer Nationalrat Jean Ziegler geteilt, brachte der doch am 19. März 1999 im Parlament eine diesbezügliche Einfache Anfrage an die Regierung der Schweiz ein, wie das Internet weiß.* Die abwiegelnde Antwort der Regierung ist dreist genug, sich nach Anrichten eines wüsten Amtsdeutsch-Salates auf den Umstand zurückzuziehen, aus den damaligen Polizeiakten gehe nicht hervor, »ob es der Kantonspolizei gelang, die Person Mengeles klar festzustellen und zu identifizieren. Auf jeden Fall fehlen Belege für seine Anwesenheit in Zürich und es fehlen Hinweise, wonach tatsächlich eine konkrete Möglichkeit zu seiner Verhaftung bestanden hätte.« Das stinkt bis nach Rom nach Ausflucht. Schon bei Schwarberg läßt sich die Behauptung finden, der schweizer Staatsanwalt Grob habe im Nachhinein notiert: »Seltsam, warum gerade von diesem Tage kein Überwachungs-rapport vorhanden ist …« Aber der schweizer Regierung von 1999 ist der in ganz Europa seit Jahrhunderten gern geübte Brauch, Fluchthilfe zu leisten und Akten ähnlich gut zu frisieren wie die MinisterInnen, offensichtlich unbekannt. Er hat um die Alpen einen Bogen gemacht. Ob sich Schwarbergs schweizer Zwischenspiel wenigstens in der umfangreichen Literatur über Mengele niedergeschlagen hat? Das wäre so schön wie erstaunlich.
~~~ Schwarbergs Buch stellt eine Fundgrube für Doppelmoral, Buchstabengläubigkeit, Spitzfindigkeiten, Lügen, Verleumdungen, Kommunistenhetze und sonstiger Niederträchtigkeit deutscher Nachkriegsgeschichte dar. Etwas unglücklich kommt mir die Erzählform im Präsens vor, die sicherlich die Stetigkeit repressiver deutscher Nachkriegspolitik andeutet, aber die Unterscheidungs-möglichkeiten bei Vor- und Rückgriffen beschneidet. Nehmen wir gleich einen Rückgriff vor: Im März 2003 titelte Bild in Riesenlettern (und wohlweislich in Gänsefüßchen) Tötet Saddam – am 1. Juni 1961, kurz vorm Mauerbau, war das Blatt mit der Schlagzeile Notfalls Krieg erschienen, wie von Schwarberg zu erfahren ist (216). Nur schade und merkwürdig, wie ich finde, daß Schwarberg den verlogenen Überfall der Nato auf Jugoslawien 1999 übergeht. Der auf Libyen blieb ihm erspart. Schwarberg starb, nach schwerer Krankheit, 2008. Die flammenden Aufrufe, das libysche Volk von seinem blutrünstigen Knechter Gaddafi und beiläufig von seinen Bodenschätzen zu befreien, konnten Schwarbergs Krankheit nicht mehr beschleunigen.
~~~ Leider behandelt Schwarberg auch das Phänomen, daß die Menschen in zwei Geschlechter unterteilt sind, von denen das eine lange Zeit im Schatten des anderen stand, mehr als stiefmütterlich. Es ist schon viel, wenn er gelegentlich erwähnt, er habe sich mit dieser oder jener Frau verheiratet. Immerhin streift er die aufsehenerregende, 1971 mit stern-Hilfe inszenierte Kampagne gegen das Abtreibungsverbot (§ 218) und deutet sein Befremden über die um 2000 geschneiderten oder geschröderten rotgrünen Kriegsbräute an (271). Diese Mode eroberte rasch die Welt. Den erwähnten Schurken Gaddafi, dem sie einige Monate vorher noch die Hand geküßt hatten, ließen die siegreichen BringerInnen der Menschenrechte (der Nato) am 20. Oktober 2011 einfangen, noch ein wenig quälen und demütigen und dann abknallen wie eine Ratte. US-Außenministerin Hillary Clinton, Stunden nach der Vollzugsmeldung im CBS-Fernsehen mit einer Moderatorin, also mit einer weiteren emanzipierten Frau plaudernd, breitet die Arme aus und strahlt: Wir kamen, wir sahen – er starb!**
~~~ Schwarberg erlebte den faschistischen Krieg in Gestalt von Bomben auf Bremen und als blutjunger Funker an der Westfront. In der Folge entging er auch einigen anderen Bedrohungen. Bemerkt er dazu auffallend häufig, »wieder einmal Glück gehabt«, gefällt es mir eigentlich, weil es die haarsträubende Zufälligkeit des Überlebens in Rechnung zu stellen scheint. Doch Schwarberg thematisiert das nie. Alles, was sich nicht klar dem Machtstreben bestimmter gewissenloser Mitmenschen anlasten läßt, beispielsweise Tuberkulose-Bakterien, Autounfälle am laufenden Meter, häßliche Erscheinung eines jungen Menschen, ignoriert oder schluckt er. Die Sinnfrage ist ihm unbekannt. Seine Nase für Philosophie, Kosmologie, Metaphysik ist ungefähr so verkrüppelt wie Frau Clintons Herzmuskel. Das letztere Leiden stellt allerdings das schlimmere dar.

∞ Verfaßt 2022
* https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=19991042
** Gudula Hörr 2016: https://www.n-tv.de/politik/So-versank-Libyen-im-Chaos-article18853481.html




Selbstmord

Der südkoreanische Berufsfußballer Lee Kyung-hwan (1988–2012) wurde 2011 gesperrt, da er mit rund 40 anderen Personen in einen fetten Wettskandal verwickelt war. Am 14. April 2012 sprang er in Incheon, einer Großstadt nahe Seoul, aus einem vermutlich höheren Wohnhaus in den Tod. Damit war der 24jährige bereits der vierte Freitodler aus der Schar der Beschuldigten, wie Dan Orlowitz berichtete.* Bis dahin hatten sich zwei Spieler und ein Trainer umgebracht. Lee, gelernter Mittelfeldspieler, habe an der Unsicherheit seiner weiteren Lebensgestaltung gelitten, wenn auch schon erwogen, zur südkoreanischen Armee zu gehen. Da wäre er wahrscheinlich gar nicht so fehl am Platze gewesen.
~~~ Allerdings, die Zeiten ändern sich. Drohnen sind Trumpf, und sofern im Außendienst noch Soldaten benötigt werden, nimmt man Kampfroboter, die sind präziser und zuverlässiger. Heute laufen eher zuviele Leute auf diesem Planeten herum, wie man ja auch von Bill Gates hört. Heute träumen Personal- und Arbeitsamtschefs nicht von Niedrigstlöhnen und »Trainingsmaßnahmen«, sondern von Massenselbstmorden á la Jonestown. Die rund 1.000 Menschen umfassende, weitgehend isolierte Siedlung im Nordwesten Guayanas war von dem Sektenchef Jim Jones geschaffen worden, einem früheren Methodisten-Pfarrer aus den USA. Am 18. November 1978 kam es dort zu einer Art Showdown. Nachdem eine durchaus freundlich empfangene Delegation des US-Kongresses, die verschiedenen Vorwürfen nachgehen wollte, in der Tat auf einige Ungereimtheiten gestoßen war, wünschte Jones vermutlich einer Enttarnung zuvor zu kommen. Seine Gorillas verhinderten zunächst den Aufstieg des US-Flugzeuges, wobei es auch schon zu einigen Toten kam; dann ließ Jones seine AnhängerInnen zum Empfang eines Gifttrankes antreten, das Himmelreich sei nahe. Auf diese Weise wurde Jonestown, teils unter Androhung des Erschießens, nahezu entvölkert. Der Urwald war mit Leichen übersät. Auch Guru Jones kam um; ob durch Selbstmord, ist ungeklärt.**

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Dan Orlowitz, https://www.goal.com/en/news/3800/korea/2012/04/16/3039296/former-k-league-player-lee-kyung-hwan-commits-suicide-after, 16. April 2012
** Berthold Seewald, https://www.welt.de/geschichte/article183999416/Massenselbstmord-Fuer-den-Gift-Cocktail-mussten-sie-Schlange-stehen.html, 17. November 2018



Die bayerische lesbische Autorin und Künstlerin Gita Tost (1965–2000), Streiterin für Gleichstellung alternativer Beziehungsformen, endete als Selbstmörderin. Neben seiner Angst vor dem Tod – die ist natürlich die höchste – hat der verantwortungsbewußte Selbstmörder mindestens drei Hürden zu nehmen. Sie betreffen den Zeitpunkt, den Tatort und das Mittel. Zum ersten kann er sich seinen Selbstmord abschminken, wenn er damit wartet, bis er das große Zittern hat, blind ist oder vom Kopf her nichts mehr auf die Reihe bringt. Zumindest sollte er beizeiten seine Vorbereitungen treffen. Zweitens hat er einen Tatort auszuwählen, der seinen Freunden und seinen Mitbürgern möglichst wenig Ungelegenheiten bereitet. Sich um Mittag vom Kirchturm auf den Marktplatz zu stürzen, scheidet also genauso aus wie der viel zu selten gegeißelte grobe Unfug, sich vor ein Auto oder eine Lokomotive zu werfen. Nummer Drei betrifft das Mittel, das der Selbstmörder wählt. Es sollte auch ohne Bemühung moderner Verkehrsmittel möglichst verläßlich greifen. Von den Hinrichtungen mit der Giftspritze ist zum Beispiel bekannt, daß es dabei auch deshalb immer wieder zu ausgefallenen Grausamkeiten kommt, weil die Betäubung vor oder bei der Hinrichtung versagt. Das liegt mal an schlampiger Verabreichung, häufiger aber daran, daß die für den subjektiven Fall angemessene Auswahl und Dosierung der Betäubungsmittel sehr schwierig, im Grunde sogar unwägbar ist. Aber den Deliquenten kurzerhand zu erschießen, und zwar noch im Gerichtssaal unmittelbar nach Verlesung des Todesurteils, kommt zumindest in den Staaten nicht in die Tüte. Es würde den US-Präsidenten und seine WählerInnen zu sehr an die täglichen innen- und außenpolitischen Aktivitäten der Yankees erinnern.
~~~ Aus diesen Ausführungen folgt: ein schlecht erwogener und ausgeführter Selbstmord kann leidvoller sein als das Übel, das ihn veranlaßt hat. Das schließt natürlich auch das drohende Scheitern des Versuchs ein sich umzubringen. Neben den ungefähr 800.000 Suiziden jährlich weltweit kommt es nach verschiedenen Schätzungen auch Jahr für Jahr zu mehreren oder gar vielen Millionen Selbstmordversuchen, also zu Fehlschlägen. Und nicht selten haben diese für den Gescheiterten äußerst unangenehme gesundheitliche und soziale Folgen, von Gewissensqualen einmal abgesehen. Konnte er beispielsweise vorher noch durchs Zimmer schlurfen, hockt er nun im Rollstuhl. Und so weiter. Kann er aber doch noch laufen, wird der Gescheiterte, soweit ich weiß, zumindest in Deutschland wegen »erheblicher Selbstgefährdung« sofort in die Psychatrie gesteckt. Aufgrund seines Suizidversuches wird ihm nämlich eine psychische Erkrankung unterstellt, die zu diagnostizieren, zu bekämpfen und möglicherweise zu heilen ist – wahrscheinlich mit Medikamenten und Methoden, von denen der Gescheiterte bei seinem Suizidversuch nur träumen konnte.
~~~ Warum sich Gita Tost in der Nacht vom 12. auf den 13. Januar 2000, wahrscheinlich in oder bei Regensburg, eine Mahlzeit aus Knollenblätterpilzen kochte, bleibt in den vorhandenen Quellen verschwommen wie ein Wald im Nebel. Den Wald scheint sie dann nach der Mahlzeit auch aufgesucht zu haben. Dort habe sie die giftigen Pilze »eigenhändig« gesammelt, schreibt Gitta Schürck.* Tost war wohl auch sonst von der »Magie des Waldes« umsponnen. Für Schürck war sie »eine krätzgurkige, herzensgute Seele«. Sie muß eine harte, leidvolle Kindheit und Jugend gehabt haben, teils in einer »miefigen« niederbayerischen Kleinstadt, stets mit viel ihr angetaner Gewalttätigkeit. Schließlich floh sie aus einer Ehe und versuchte es mit der kämpferischen Kunst.
~~~ Als sie, vermutlich nicht mehr bei Sinnen, im Wald lag, kam ein fremder Mann und brachte sie ins Krankenhaus. Eine Woche lang wurde um das Leben der 34jährigen »gerungen«, wie es ja immer heißt. Dann war sie tot. Sie selber hatte womöglich mit einigen Qualen zu büßen; der Steuerzahler dagegen mit vielen Euros für den Medizinisch-Industriellen Komplex.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Gitta Schürck, https://www.graswurzel.net/gwr/2000/04/eine-welt-ohne-gita-tost-in-eine-anderswelt-mit-gita/, GWR April 2000



Der Japaner Mishima Yukio (1925–70) war Schriftsteller, vor allem jedoch, auch laut Brockhaus, »Führer einer nationalistischen, paramilitärischen Gruppe«. Er habe rituellen Selbstmord begangen (Seppuku). Näheres verrät das Internet. Danach konnte Mishima der literarische Ruhm, den er bereits genoß, keineswegs genügen. Als Kind war er teils verzärtelt, teils gedemütigt worden. Wohl von daher entwickelte er, neben dem Trieb zu schreiben, auch eine Leidenschaft für Schauspiel, Kampfsport und Homosexualität. Schließlich bildete er, vornehmlich aus Studenten, eine Schildgesellschaft, nämlich eine Art kleines, angeblich 80 Mann starkes Freikorps, das er persönlich trainierte. Am 25. November 1970 begab er sich mit lediglich vier Getreuen ins Tokioer Hauptquartier der Armee, drang unter dem Deckmantel eines Besuchstermins bis ins Büro des diensthabenden Kommandanten vor und erklärte diesen, General Mashita, zur Geisel. Dann trat der 45jährige berühmte »Dichter« und Schwertträger auf den Balkon hinaus, wetterte gegen den Parlamentarismus und forderte die Wiedereinführung der Monarchie. Wie sich rasch zeigte, wollten das weder die im Hof anwesenden Soldaten noch die aufsteigenden Hubschrauber, die vorsorglich Lärm machten. Der Held ging wieder hinein.
~~~ Allerdings hatte Mishima mit diesem Fehlschlag seines »grotesken Staatsstreichs« gerechnet. Von daher nahm er auch seinen Selbstmord keineswegs »spontan« vor.* Er veranstaltete nun in der besetzten Kommandatur und offenbar vor den Augen des gefesselten Generals gemeinsam mit seinem erst 25 Jahre alten Vertrauten Masakatsu Morita (1945–70), der auch sein Geliebter war, jenen Seppuku. Zu dieser Sitte, die vorwiegend im alten japanischen Kriegeradel beliebt war (unter den »Samurai«), erläutert Brockhaus in Band 20, neben der Selbsttötung habe sie den Erweis von Mut, Selbstbeherrschung und Reinheit der Gesinnung bezweckt. So konnte sie »der Wahrung der eigenen Ehre, der Rettung vor Gefangenschaft oder Strafe, dem Loyalitätsbeweis gegenüber dem eigenen Herrn oder dem Widerstand gegen politische Herrschaft dienen.« Was die Ausführung angeht, kommt es anscheinend zunächst darauf an, sich im Sitzen den Bauch aufzuschlitzen. Dann läßt man sich von einem Getreuen (»Sekundanten«) blitzschnell enthaupten. Im vorliegenden Fall scheint es ein paar Pannen gegeben zu haben*, aber darauf kommt es wohl nicht an. Zwei Krieger hatten sich jedenfalls »entleibt«. Man muß sich das Blut, die Gedärme, den Kot und den Urin auf dem doch ziemlich erlauchten Linoleum des Hauptquartiers ausmalen, dann begreift man, daß Mishima ein rechter Happening-Künstler war, der die Ästhetik mit der Politik und der Gosse zu verbinden verstand. Im Westen firmiert dieses Happening meist als Harakiri.
~~~ Für die juristische Verteidigung der übriggebliebenen und natürlich verhafteten drei Getreuen soll Mishima fürsorglich Geld hinterlegt haben. Er galt sowieso als reich. Von seinem großartigen Seppuku-Abgang hatte er den meisten Quellen zufolge seit Jahren geträumt. Was General Mashita angeht, nehme ich an, er wurde zunächst einmal in die Obhut eines Militärpsychologen gegeben, bevor man ihn zur Sau machte. Dazu sagt das Internet nichts.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 26, Juli 2024
* Konrad Muschg, https://www.srf.ch/kultur/literatur/seltsamer-suizid-vom-staatstreich-zum-selbstmord-die-geschichte-des-yukio-mishima, 25. November 2016

Siehe auch → Angst, Enke (per Zug) → Birnbaum Carl (dito) → Ermarth (Politiker) → Band 5, Orthopäde, Kap. 8 (als Notlösung erwogen) + Pechvogel Feldscheune (durchkreuzt)




Serge, Victor (1890–1947). Im Zusammenhang mit Straßennamen erwähnte ich kürzlich andernorts seine Ansicht, die Bedeutung von Personen in der geschichtlichen Entwicklung – und entsprechend in Romanen – werde meist überbewertet. Ihn habe die individuelle Existenz immer »nur als Funktion des großen kollektiven Daseins« interessiert, »dessen mehr oder weniger mit Bewußtsein begabten Teilchen wir sind«, heißt es dazu auf Seite 294 seiner Memoiren. In der Tat, Geschichte wird nicht vorwiegend von Personen, vielmehr von Bewegungen und Strukturen gemacht. Freilich dürfte der russisch-französische Schriftsteller keineswegs den wichtigen Anteil abgestritten haben, den jede Persönlichkeit an der Art hat, wie der betreffende Mensch in die Welt blickt oder sie gar zu verändern sucht. Im Gegenteil mischen sich etwa persönliche Vorlieben, Abneigungen, Vorurteile und jede Menge Irrationalitäten ein, die einem selber oft gar nicht bewußt sind, sofern man sie nicht wohlweislich ausklammert.
~~~ Bei Serge zum Beispiel wird mir durch seine unbedingt empfehlenswerten, um 1943 im mexikanischen Exil verfaßten Erinnerungen eines Revolutionärs nicht klar, ob sein Vater eher liebenswert oder aber eher bedauerns- und belächelnswert war. Auch der Vater war schon Revolutionär gewesen. Zur Flucht aus dem zaristischen Rußland gezwungen, hatte er fortan, trotz vielseitiger Begabungen und Interessen, seine Familie in Belgien als »armer Universitätslehrer« über Wasser zu halten. Seine zweite Gattin soll zu Hysterie geneigt haben. Victor, 1890 in Brüssel geboren, eiferte dem Vater jedenfalls im Aufbegehren nach. Er verschmähte ein Studium, für das sowieso kein Geld da war, ernährte sich als Gelegenheitsarbeiter und schloß sich verschiedenen anarchistisch gestimmten Banden an. »Ich will kämpfen, wie du dein ganzes Leben lang gekämpft hast«, habe er sich damals gesagt (S. 15). »Du bist geschlagen, das sehe ich wohl. Ich will versuchen, mehr Kraft oder mehr Glück zu haben.« Aber von dieser Jugendzeit hat er mehrere Jahre in Kerkern zu schmachten. Sein erstes Buch erscheint unter dem Titel Menschen im Gefängnis. Später, in seiner SU-Zeit, werden die Manuskripte seiner stets anstößigen Aufsätze und Bücher nach Westeuropa geschmuggelt und ausschließlich dort veröffentlicht.
~~~ Als er 1947 in Mexiko City einem Herzanfall erlag, wie es meist heißt, war er keine 57 Jahre alt. Vermutlich starb er eher an seinem ganzen entbehrungsreichen und aufreibenden Leben. Der bolschewistische Umsturz in Rußland von 1917 übte trotz mancher Bedenken einen starken Sog auf ihn aus; er siedelte um. Streckenweise war er, meist in Petrograd tätig, enger Mitarbeiter von Sinowjew und Trotzki. Die Ernüchterungen ließen nicht lange auf sich warten. Schon die Niederschlagung des anarchistisch geprägten Kronstädter Aufstands (März 1921) hatte er nur mühsam geschluckt. Jetzt wird er zunehmend »von oben« geschnitten. Trotzdem hält er »der Revolution« mit erstaunlicher, vielleicht sogar idiotischer Hartnäckigkeit die Stange. Als Mitstreiter der schmalen linken Opposition versucht er das Schlimmste zu verhüten. Bevorzugungen lehnt er ab; er neigt ohnehin zur Askese. 1933 wird es den Partei- und Geheimdienstbossen zu viel: Sie lassen Serge festnehmen und verbannen ihn nach Orenburg im Ural. Nach drei Jahren darf er, dank etlicher westeuropäischer, zum Teil prominenter FürsprecherInnen, seine Staatsbürgerschaft an den Nagel hängen und wieder nach Brüssel und Paris gehen. Er wird von seiner Frau Liuba und zwei Kindern begleitet.
~~~ In einem 2007 veröffentlichten Artikel* beklagt Birgit Schmidt zurecht, Serge berichte so gut wie nie von Liuba, ja von Privatem überhaupt. Diese Aussparung liegt allerdings auf der eingangs erwähnten Leitlinie, die dadurch womöglich in etwas fragwürdiges Licht getaucht wird. Immerhin erwähnt Serge, während der Verbannungszeit habe ihn Liuba damit erschreckt, in einem Medizinischen Lexikon den Artikel Wahnsinn auf ihre Symptome hin zu studieren. In der Tat kam sie nun öfter in psychiatrische Behandlung. Bald nach der Übersiedlung wurde sie offenbar für dauernd in einer Anstalt für Geisteskranke untergebracht. Die gemeinsame Tochter Jeannine, wohl 1935 geboren, wurde in dieser Zeit, laut englischer Wikipedia, von einem Ehepaar auf dem Lande betreut. Sohn Wladimir dagegen (1920–2005) blieb bei dem Vater. Er brachte es in Mexiko zum angesehenen Kunstmaler. Während Liuba bis zu ihrem Tod im Jahr 1985 in Frankreich verblieb, wurde Jeannine 1942 von Serges neuer Gefährtin (wohl ab Paris 1937) Laurette Séjourné nach Mexiko gebracht, wo sie bis zu ihrem Tod im Jahr 2011 gelebt haben soll. Dem englischen Lexikonartikel zufolge war Laurette Séjourné (1911–2003) Archälogin und geschieden. Nachgereist, verheiratete sie sich mit Serge, der schon 1941 ins mexikanische Exil gegangen war. Sie mauserte sich zur anerkannten Altamerikanistin. Nach Serges Tod soll sie der mexikanischen KP beigetreten sein. Auch Schmidt erwähnt die Zureise mit Tochter Jeannine. Nur ist von der Tochter rein gar nichts zu erfahren.
~~~ Fotos zeigen Serge als mittelgroßen, bartlosen Mann mit beinahe klobigem, wenn auch schmallippigem Schädel. Ausgeprägte Wangenknochen verraten seine slawische Herkunft. Trotz seiner randlosen Brille glaubt man gern, daß er während der verheerenden sowjetischen Hungersnöte kurzzeitig als Landkommunarde nördlich von Petrograd die Mistgabel schwang. Die Kommune wurde oft bestohlen. Später, von Paris aus, machte sich Serge vor allem für die spanische Revolution stark – die nicht unbeträchtlich von der herrschenden SU-Clique verkauft und verraten wurde. Um 1938 sei er womöglich »der meistbeschimpfte Mann der Welt« gewesen, bemerkt Serge auf Seite 369. Wie sich versteht, feuerten auch Moskaus westeuropäische Vasallen aus allen Rohren. Während des Spanienkrieges hält Serge zur POUM, die als »trotzkistisch« verschrien war. In deren Truppen kämpfte auch George Orwell mit. Doch mit Rechthaber Trotzki überwirft sich Serge bald nach Francos Sieg von 1939. Jedenfalls angeblich (S. 392).
~~~ Das Verhältnis zwischen Serge und Trotzki ist fast ein tragikomisches Kapitel für sich. »Der Alte« scheint eine Art Übervater Serges gewesen zu sein. Während Serge nach meinem Eindruck gleichsam immer nur unfreiwillig, von seiner dogmatischen oder jedenfalls antiquierten Revolutionsauffassung erzwungen auf Seiten der »Sowjetmacht« stand, dürfte Leo Trotzki (1879–1940) die Nähe zur Gewalt geradezu geliebt haben. Als Chef der Roten Armee gewann er Kriege, verdiente sich durch die Niederschlagung jenes bereits erwähnten berühmten antibolschewistischen Aufstandes Emma Goldmans** Titel »Schlächter von Kronstadt« und duldete das Wüten der Geheimpolizei Tscheka/GPU, dem er dann selber zum Opfer fiel, nachdem er sich mit Stalin überworfen hatte. Laut französischer Wikipedia beschimpfte Trotzki 1939 in einem Aufsatz Serges »Moralismus« als Brücke, die »von der Revolution zur Reaktion« führe. Trotzki war eisenhart, während Serge die Freiheit und die Würde des einzelnen Menschen, ob Funktionär oder Bettlerin, doch immer über alles ging – selbst über die Partei- und Staatsräson. Trotzki liebte, neben der Gewalt, den Ruhm, wobei er auch dabei schlau genug für Tarnung war. Serge erwähnt, um 1920 sei Trotzki gern »in einer Art weißer Uniform ohne Abzeichen« aufgetreten. Freilich ist Serge im Hinblick auf sein in die Macht verliebtes Vorbild gespalten. Einerseits räumt er ein, gegen den »eher autoritären« Trotzki sei Lenin geradezu »zutraulich« gewesen. Viele kritische Geister hätten Trotzki »bewundert, ohne ihn zu lieben«. Aber er preist auch Trotzkis politischen Spürsinn, also sein Kalkül, reiht ihn unter die »Generation der Riesen« ein und bescheinigt ihm, er verstehe »ein großes Schicksal« meisterlich zu tragen. Da kann man schon befürchten, der Trieb des Menschen, »Größe« zu verehren, also Überlegenheit, Kraft, Macht, sei wahrscheinlich unausrottbar. Jedenfalls kommt mir Serges angeblicher »Bruch« mit seinem Lehrmeister und Ziehvater Trotzki reichlich spät und nicht wirklich radikal vor.***
~~~ In seinen letzten Jahren verfaßte Serge sogar noch ein Buch über Trotzki, wohl erst 1951 veröffentlicht, das ich allerdings nicht kenne. Vermutlich blieb er darin sowohl seiner Verehrung wie seiner Abkehr von den jugendlichen anarchistischen Wurzeln treu. Das »Ich« sei ihm zuwider, lese ich auf Seite 56 seiner Memoiren, »als eine leere Selbstbehauptung, in der ein großer Teil Illusion und ein ebenso großer Teil Eitelkeit oder ungerechter Hochmut« stecke. Er ziehe es vor, vom »Wir« zu sprechen, das sei allgemeiner und wahrer. »Man lebt niemals nur aus sich selbst, für sich selbst. Man darf es auch nicht versuchen.« Selbst unser intimstes Denken sei tausendfach an das Denken der Menschen geknüpft. »Und wer spricht, wer schreibt, ist vor allem einer, der für all die anderen spricht, die keine Stimme haben. Nur muß jeder von uns sein eigenes Problem selbst lösen.«
~~~ Nach Christoph Jünke (2014) erlitt Serge den erwähnten, anscheinend nicht ganz unerwarteten Herzschlag in Mexiko City beim Einsteigen in ein Taxi. Er sei tot zusammen gesackt, ehe er sein Fahrtziel nennen konnte. Diesen Taxi-Tod soll bereits POUM-Chef Julián Gorkin (1957) bestätigt haben, der mit Serge befreundet war. Demnach lag kein Anschlag vor. Serge, ohnehin stark leidgeprüft und von oft kleinlichen Richtungskämpfen unter den Exilanten gebeutelt, habe wohl auch das Hochlandklima nicht vertragen. Dennoch spricht die französische Wikipedia von »verdächtigen Umständen«, ohne dafür, zum Beleg, mehr als genau die gleiche Behauptung aus einem US-Blatt von 2001 anzuführen. Die Arbeiten über Serge, die das Internet-Lexikon ganz unten angibt, führen womöglich weiter.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Birgit Schmidt, https://www.jungle.world/artikel/2007/46/wenn-stalin-sich-entschlossen-hat
** Emma Goldman, Living My Life, New York 1931, deutsche Ausgabe Hamburg 2010, S. 811. Die russischstämmige Anarchistin aus den USA hatte sich zur Aufstandszeit, 1921, in Sankt Petersburg aufgehalten.
*** Zu Trotzki siehe in Serges Erinnerungen eines Revolutionärs, Hamburger Ausgabe von 1991, besonders die Seiten 119, 161, 236, 392, jeweils ff




Seßhaftigkeit

Unter Ackerbau (und Viehzucht) findet Brockhaus nur Löbliches. Plötzlich förderten gewisse gewitzte Steinzeitleute das »Pflanzenwachstum«, weil sie »hohe Erträge« an Nahrung und Rohstoffen »aus gesunden Pflanzen« anstrebten, außerdem mit Glas überdachte Gurkenbeete und blitzende Edelstahl-Doppelspülen für ihre endlich sturmfesten Küchen. Andernorts, in Band 20 unter »Seßhaftigkeit«, stellt Brockhaus ortsgebundenes Wohnen und Arbeiten sogar dreist als bedeutenden »Gegensatz« des »Zustands der Obdachlosigkeit« hin. Nur der seßhafte Zweibeiner kann in den Genuß »sozialer Integration« kommen. Nur in ihm haben wir ein Bollwerk gegen »gruppenspezifische Ausgeschlossenheit« und Krisen oder Katastrophen aller Art. Ich wäre nicht verblüfft, wenn sich in der Brockhaus-Redaktion ein Fan des Lehrers und Schriftstellers E. G. Seeliger befunden hätte. Zu etlichen Schwächen von dessen Handbuch des Schwindels zählen vor allem Deutschtümelei und Schollenseligkeit.
~~~ Vor jener historischen Wende lebten die SteinzeitlerInnen von der Hand in den Mund. Schließlich war alles da, sogar überreichlich, ohne Förderung. Ja, damals gab es auch noch viel Platz in der Welt, während diverse Förderungen bekanntlich für »Bevölkerungs-explosionen« und 20stöckige Mietskasernen sorgten. Die umherschweifenden SteinzeitlerInnen sammelten oder jagten im Schnitt nur zwei bis vier Stunden am Tag. Dann vergnügten sie sich bei allerlei Spielen oder schnarchten auf ihren Matten beziehungsweise Bärenfellen. Sie liebten die Abwechslung. Selbstverständlich stritten sie sich auch oft. Aber nie, weil es zu eng war, glauben Spätgeborene wie ich. Sie führten gelegentlich sogar Kriege, wenn auch nie wegen Grenzstreitigkeiten oder bestimmten üppigen Gebieten, die sie einzuzäunen und mit einem Häuptlingspalast und fünf Tempeln zu krönen gedachten.
~~~ Vor 15 Jahren las ich einmal eine Junge-Welt-Besprechung des anscheinend kritischen Buches Warum die Menschen sesshaft wurden von Josef H. Reichholf. Danach bieten gerade gute einjährige Gräser bestes Weideland für Wild. Es gab Fleisch im Überfluß. Siedlungen hätten nur die Jagd erschwert. Für die Jagd bedarf es keiner Möbel; leichtes Gepäck und Regenzeug genügen. Ackerbau macht abhängig vom Wetter. Die australischen UreinwohnerInnen haben sich denn auch nie auf landwirtschaftliche Experimente eingelassen, obwohl sie knapp an Ressourcen waren und das erforderliche Wissen gehabt hätten. Reichholf vermutet vielmehr, die ersten Getreideernten seien dem Bierbrauen zuliebe erfolgt. Rezensent Frank Ufen (20. November 2008): »Sumerer vor einem großen Topf, woraus sie mit Rohrhalmen Bier schlürfen – das ist die älteste Darstellung, die wir überhaupt von der Nutzung des Getreides haben.« Die SteinzeitlerInnen schätzten kollektive Rauschzustände. Entsprechend dürften die ersten dauerhaften Siedlungen aus Kultstätten hervorgegangen sein – sicherlich schon weit vor 10.000. Reichholfs Theorie hätte freilich die Schwäche, nur für Nahost, nicht dagegen für Zentralamerika und Nordostasien einleuchtend zu sein, wo die Landwirtschaft ebenfalls erfunden worden ist, jedoch mit Mais- und Reisanbau. Der US-Archäologe Brian Hayden führe viele zivilisatorische Errungenschaften auf Statuswettkämpfe der Reichen zurück. Danach waren Flaschenkürbisse, Kichererbsen, Chili und dergleichen Früchte Attraktionen bei Festgelagen. Heute sind es nuklear betriebene Armbanduhren und Smartphones, die Gewinnspannen beim Handel mit Getreide oder Mastvieh in 0,003 Sekunden ausrechnen können.
~~~ Für mich ist an jenen frühen historischen Wenden die immerselbe verhängnisvolle Spirale in Gang gesetzt worden: Ein Mangel, der möglicherweise gar keiner ist, ruft Erfindungen hervor, die garantiert für neue, noch üblere Mängel sorgen. Die schreien dann alle wieder nach Abhilfe durch noch genialere Erfindungen …

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 1, November 2023


Wie sich versteht, zieht es den geborenen Siedlungs-Masochisten auch gern in Gebiete, die für häufige Erdbeben bekannt sind. Überlebt er dann mal eins, kehrt er aus dem Krankenhaus und der Notunterkunft gleich wieder zurück, weil sich zwei oder gar fünf Erdbeben in seiner Biografie doch viel besser ausnehmen, von den Honoraren für Interviews einmal abgesehen. Brockhaus hat die fraglichen Gebiete auf einer Weltkarte mit roten Punkten markiert – und der »italienische Stiefel« glänzt ganz ordentlich mit roten Punkten.
~~~ Die auch von Künstlern und anderen Touristen geschätzte Insel Ischia im Golf von Neapel hat ebenfalls einen roten Punkt. 1883 war hier die Freundschaft von zwei jungen Gästen aus dem Norden besiegelt worden. Adolf Ginsberg, Sohn eines jüdischen Schulleiters, kam aus Niedersachsen. Es mangelte der Familie nicht an »Vermögen«, wie man ja sagt, doch dafür fehlte Ginsberg von Geburt an das Gehör. Er wurde Maler. Angeblich sind seine Werke sämtlich verschollen. Bei seiner Jugend können es freilich nicht allzuviele gewesen sein; er starb mit 26. Auch sein gleichaltriger Freund Gottlieb Boss aus Muri bei Bern, ein bereits mehrmals ausgezeichneter schweizer Maler, der zuletzt in Rom tätig war, mußte daran glauben.* Die Freunde hatten sich auf Ischia in der Villa Verde einquartiert. Dort wurden sie am Abend des 28. Juli 1883, gegen 22 Uhr, jäh verschüttet. Die Insel war von einem kurzen, heftigen Erdbeben heimgesucht worden. Dabei wurden rund 1.200 Häuser zerstört, viele weitere beschädigt, und mehr als 2.300 Menschen getötet. Schwerverletzt wurde damals der spätere Philosoph Benedetto Croce, 17. Aber auch dessen Eltern und seine Schwester Maria kamen just unter den Trümmern der im meistbetroffenen Badeort Casamicciola gelegenen Villa Verde um. Croce selber wurde noch 86.
~~~ Irre ich mich nicht, schlug das jüngste Erdbeben auf Ischia im August 2017 zu. Es soll jedoch leicht gewesen sein; es gab »nur« zwei Tote. Im November 2022 zogen dafür schwere Unwetter heran, die auch Schlammlawinen auslösten. Man spricht von mindestens 10 Toten, darunter mehrere Kinder. Hauptsorge der Einheimischen sind so oder so die Touristen: weil sie vielleicht wieder abgeschreckt werden.** Das Vermögen, sich eine Volkswirtschaft ohne Tourismus vorzustellen, ist in der Postmoderne scheints nur noch Schimpansen oder Kolkraben gegeben.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
* Hans-Michael Körner (Hrsg), Große Bayerische Biographische Enzyklopädie, Band 1, München 2005, S. 211
** https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.erdbeben-auf-ischia-warum-italien-aus-bisherigen-erdbeben-nichts-gelernt-hat.8aa30492-f001-4051-a6fb-675255bbcdf5.html, 22. August 2017

Siehe auch → Heimat, Chaltschajan (Siedlungs-Masochismus) → Kapitalismus, Elvas (Wasserversorgung, Siedlungs-Masochismus)

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