Montag, 13. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 32
Ritter – Schau
Ritter – Schau
ziegen, 09:32h
Ritter, Christiane (1897–2000), Eismeerfreundin. Weiter oben erwähnte ich den betagten Polarjäger Hilmar Nöis aus Spitzbergen, bei dem der Schriftsteller Alfred Andersch um 1965 eine Stippvisite machte. Die im Nordatlantik gelegene Inselgruppe ist bald so groß wie Irland, besteht aber nahezu ausschließlich aus Fels, Eis und Schnee. Die Temperaturen bewegen sich die meiste Zeit des Jahres zwischen minus 10 und minus 40 Grad. Viele Uneingeweihte fragen sich noch heute, womit Nöis und seine wenigen, über das Ödland verstreuten Kollegen eigentlich heizten. Die Eingeweihten konnten es bereits 1938 aus Christiane Ritters Buch Eine Frau erlebt die Polarnacht erfahren. Sie nehmen vor allem Treibholz, daneben Kohle. Diese wird oder wurde sogar, bei Longyearbyen, auf der Hauptinsel selbst gefördert. Das Treibholz besteht nicht selten aus ganzen Baumstämmen. Über beträchtliche Strecken angeschwemmt, beispiels-weise aus Sibirien, ist es fast immer bleich wie ein Gerippe.
~~~ Ritter, bei ihrem Jahresaufenthalt 1934/35 Ende 30, vertreibt durch ausgiebiges Brennholzsägen so manches Gespenst, während sie über Tage oder gar Wochen bei klirrender Kälte und heulendem Schneesturm auf die Rückkehr ihrer beiden (männlichen) Mitbewohner wartet, die gerade Polarfuchsfallen abgehen oder der Fährte eines Eisbären folgen. Die enge Hütte mit Flachdach ist nicht mehr als ein Holzkasten, von dem nur schwer geglaubt werden kann, die Stürme hätten ihn nicht längst nach Grönland geblasen, weil man dort ebenfalls Treibholz schätzt. Einmal kommen die Männer, der Österreicher Hermann Ritter und der Norweger Karl Nicolaisen, mit Hundegespann und einem hünenhaften Kollegen mit »hellen Augen, hellen Wimpern und buschigen Brauen« zurück, dem das Gespann gehört. Er sei jedoch »tadellos rasiert« gewesen, fügt die Autorin hinzu. Das war Nöis, damals vermutlich noch keine 50 Jahre alt. Er hat sogar Post dabei. Um sie zuzustellen, nahm er in der zerklüfteten Eiswüste einen Umweg von 280 Kilometern in Kauf.
~~~ Wie sich versteht, sägte Ritter von Hand. Ohne dabei die Härte eines solchen Daseins zu beschönigen, stellt ihr erstaunlich gut geschriebener Bericht in der Tat vor allem ein Lobgesang auf jenes Einfache Leben (Wiechert) dar, auf das ich bereits in dem Text über Nöis anspielte. Einmal vertreiben sich die drei HüttenbewohnerInnen den Abend, indem sie die Zeitungsinserate studieren, die sich auf dem Papier finden, in das ein aus Tromsø, Norwegen, stammender neuer Glaszylinder für die Petroleumlampe eingewickelt war. Da preisen die Kaufleute ihre Vanillestangen, Dauerwellen, Leichenkisten nebst einem bequem per Telefon zu alarmierendem Elektro-Reparaturdienst bei Ausfällen der Bürobeleuchtung oder der Kühltruhe. »Eigentlich rührend, finden wir, wie sich da unten in der Menschenwelt einer dem anderen unentbehrlich zu machen weiß. Wie einer vom anderen abhängt, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nein, wir dürfen nicht herabschauen auf die Zivilisation, [..] dürfen sie nicht als emporgeschraubtes Pflanzstadium verurteilen, wie wir das in unserer spartanisch genügsamen Weltabgesondertheit gern tun möchten. Nein, schon aus Nächstenliebe müssen wir uns verzierte Särge, ondulierte Köpfe, Waschtische mit fließendem Wasser und Rohrbrüche gefallen lassen.«
~~~ Verblüffenderweise versichert Ritter sogar, selbst »der Hunger nach Musik« fehle auf Spitzbergen völlig. Immerhin stammt die junge Frau aus zugleich wohlhabendem und musischem böhmischem Hause. Man bedenke auch die vielen, mal vom Wetter, mal von der Abwesenheit der Jäger erzwungenen Mußestunden in der verrußten Hütte. Ritter malt und zeichnet öfter, denn das ist von Hause aus, noch vor der Musik, ihre Hauptleidenschaft. Dem Buch sind auch einige Bilder und Skizzen beigegeben. Ritters Lob der Schlichtheit hindert sie allerdings nicht daran, keinen Furz darüber fallen zu lassen, wie es zwei Männer und eine Frau bei dieser einzimmrigen Enge und diesen Schneeverwehungen rings um die Hütte mit der Verrichtung ihrer Notdurft halten. Seehund schießt und ißt sie; für das Weitere war sie vielleicht doch zu prüde erzogen.
~~~ Den Kapitän und Jäger Hermann Ritter, der in den folgenden Jahren mehr unterwegs als in ihren Armen weilte, hatte sie mit 20 geheiratet. Und damit kommt die nächste Merkwürdigkeit. Sie läßt sich schließlich brieflich zu einer Überwinterung auf Spitzbergen verlocken – als sie jedoch in der Kingsbai an Land geht und von ihrem Gatten begrüßt wird, sind weder Wiedersehensfreude noch gar Zärtlichkeiten im Spiel, wie man aus ihrem Bericht schließen muß. Und so bleibt es die ganze Zeit, ein Jahr lang. Zu allem Überfluß hat ihr der Gatte auch noch eröffnet, er habe sich einen Gehilfen genommen; somit hat sie, jedenfalls überwiegend, mit zwei Männern in jenem Holzkasten zu hausen. Was hätten Romanciers daraus gesponnen! Sie aber, Christiane Ritter, bringt es fertig, diesen Zündstoff von der ersten Seite bis zum letzten Satz des Nachwortes kurzerhand auszusparen. Einmal erwähnt sie einen, möglicherweise nur aus der nervtötenden Enge im Hüttenhaushalt entstehenden Streit mit ihrem Mann, das ist schon viel. Gelegentlich wird das Ehepaar sogar von dem 27jährigen Karl für Tage oder Wochen allein gelassen – nicht ein Hauch von Andeutung, daß und vor allem wie es die Liebenden für prickelnde oder auch katastrophale Zweisamkeit ausnutzen. Der Hüttenherd schadhaft, das Bettzeug klamm, die Wände zumeist vereist – nicht unbedingt festliche Bedingungen für ein Liebespaar.
~~~ Gewiß ist es ebenso denkbar, die beiden hatten sich schon gehörig voneinander entfremdet, wobei es vielleicht auch blieb. Aus Ritters Nachwort, 1990 in hohem Alter geschrieben, geht darüber nichts hervor. Auf der Webseite cms.huskyfotos.de heißt es, die Familie Ritter – Töchterchen Karin war bei der Oma geblieben – habe sich bald nach der Rückkehr in Leoben, Steiermark, niedergelassen. Ebendort sei Hermann Ritter 1968 mit 76 Jahren gestorben. Die betagte Witwe siedelte später nach Wien über, wo sie erst 2000 starb – mit 103 Jahren. Über berufliche Tätigkeit und finanzielle Verhältnisse ist von Ritter, wie schon in ihrem Bericht, so gut wie nichts zu erfahren. Vermutlich wirkte sie vornehmlich als Hausfrau und Buchillustratorin. Nötig hatte sie Erwerbstätigkeit wahrscheinlich kaum, denn ihr in etliche Sprachen übersetztes Buch erschien und erscheint in zahlreichen Auflagen bis heute. Das erwähnte Nachwort ist beispielsweise in der mir vorliegenden 21. Ausgabe von 2007 abgedruckt. Einschlägige Trekking-Webseiten geben Ritters Buch durchgehend als das bekannte Muß aus. Ritters Gatte Hermann, offenbar sowohl erfahrener Jäger wie patentierter Schiffsoffizier, soll sich bei Kriegsbeginn widerstrebend dem NS-Regime als Wetterbeobachter in Grönland zur Verfügung gestellt haben. Nach Entdeckung durch eine für die USA tätige Schlittenpatrouille und Loyalitätskonflikten (Jägerkameradschaft!) habe er sich jedoch zu den Amis abgesetzt. Mehr erfährt man über ihn nicht.
~~~ In diesem Zusammenhang muß Ritters Buch ein weiteres schmerzliches Desiderat angekreidet werden. Die Strukturen des Erwerbslebens eines Polarjägers erhellt sie so wenig wie das zeitgeschichtliche/politische Umfeld, in dem sich die drei, wie randständig auch immer, doch ohne Zweifel zu orientieren haben. Brummt Nöis bei seinem Besuch, nein, Krieg sei noch nicht, soweit er gehört habe, ist es schon wieder viel. Immerhin verliert die Autorin einmal einige Sätze über die Beweggründe eines Jägers, seinem Gewerbe ausgerechnet in menschenleerer Eiswüste nachzugehen – aber für mein Empfinden stellen sie keine wirkliche Erklärung dar. Ritter versichert, die Polarjäger seien bei ihrem »fast unmenschlich« anstrengenden Gewerbe nicht auf Ruhm aus. »Sie leben weitab vom Getriebe der Welt. Sie leben fast alle ohne Heim und Familie. Eine unbändige Liebe fesselt sie an das Land. Sie leben berauscht von dem Lebensatem dieser wilden Natur, aus der zu ihnen die Gottheit spricht.« Ja, mein Gott – und warum, bitteschön? Warum lieben sie ausgerechnet diese unbarmherzige Öde, deren Farb- und Formspiel Ritter allerdings beeindruckend zu beschreiben versteht? Warum suchen sie nicht die Nähe, vielmehr die Ferne ihrer Mitmenschen? Warum hat dann Hermann Ritter überhaupt geheiratet? Und warum ließ sich Christiane Ritter ausgerechnet von ihm heiraten? Warum wird es ihr im Zuge ihres Jahresaufenthaltes immer wichtiger, sich »der gigantischen Unfruchtbarkeit« Spitzbergens, ja mehr noch, sich »dem Grauen vor dem Nichts« zu stellen – aus freien Stücken sogar, da sie ja von niemandem zu diesem »verrückten« Wagnis gezwungen worden war?
~~~ Ich vergaß zu erwähnen, daß sich Spitzbergen durch krasse Lichtverhältnisse auszeichnet, Stichwort »Polarnacht«. Dort wird es einen Gutteil des Jahres nie dunkel und einen anderen Gutteil des Jahres nie hell. Solche Krassheit verstärkt das Grauen in der Einsamkeit sozusagen naturgemäß ungemein. Ritter beschreibt diese physikalischen Phänomene gewiß ausgezeichnet – aber einen psychologischen (und damit auch biografischen) Zug billigt sie ihnen nicht wirklich zu. Sie zieht sich auf esoterische Formeln wie »das Eigentliche«, »die Gottheit«, »heilige Stille« zurück. In einer Phrase, mit der ich schließen will, verknüpft sie ihre unpersönliche Betrachtungsweise auch noch erschreckend einfältig mit der schon gerügten unpolitischen Sicht: »Vielleicht werden Menschen späterer Jahrhunderte in die Arktis gehen, so wie Menschen in biblischen Zeiten in die Wüste zogen, um zur Wahrheit zurückzufinden.«
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Die Legende vom guten, edelmütigen Räuber des englischen Mittelalters dürfte bekannt sein. Aber in der Folge sprossen die Robin Hoods auch in anderen Gegenden Europas wie schillernde Pilze aus dem Boden. Diese späteren NamensträgerInnen soll es sogar nachweislich leibhaftig gegeben haben. Eine andere Frage ist, wie mitfühlend, armenfreundlich und uneigennützig sie tatsächlich waren. Meistens nicht so viel.
~~~ Hinter dem »Robin Hood der Rhön« verbirgt sich der ehemalige Weilarer Schäfersknecht Johann Heinrich Valentin Paul (1736–80), ein uneheliches Kind armer Leute. Er wird auch Rhönpaulus genannt. Da ihm die Mittel zu einer Heirat fehlten, ging er zu den Soldaten und zog ins Feld. Aufgrund einer Verwundung setzte er sich mit knapp 30 jedoch wieder ab. Er verbarg sich in einer am Neuberg bei Glattbach (Dermbach) gelegenen Höhle seines Heimatgebirges, wo er sich nun mit Beraubung Wohlhabender, Wilderei und Schmuggel (vornehmlich von Salz) über Wasser hielt. Angeblich* vermied er jede Körperverletzung seiner Opfer. Teile der Beute habe er notleidenden Einheimischen zugesteckt – bis er verraten und 1780, wohl mit 44 Jahren, aufgeknüpft worden ist.
~~~ Der Westerwald liegt ungefähr auf halbem Wege zwischen Bonn und Koblenz östlich des Rheins. In diesem wenig bekannten Mittelgebirge wuchs Andreas Balzar (1769–97) auf. Er stammte sogar aus einem Pfarrhaus. Die Weihen eines »Robin Hoods des Westerwalds« verpaßte er allerdings, falls mich die Quellen nicht täuschen. Während Theologensprößling Andreas in Herborn die Hohe Schule besuchte, schulte er sich aus offenbar krimineller Neigung im fürstlichen Park in Wilderei. Als ihn sein Erzeuger verstieß, ging er möglicherweise nach Rußland. Er soll es dort bis zum Kapitän einer zaristischen Leibgarde gebracht haben. Ob wahr oder nicht, ersparte es ihm jedenfalls einige Jahre später, 1797 in Westerburg, die Schmach des Enthauptens oder Erhängens. Er wurde nur erschossen. Aus undurchsichtigen Gründen in den Westerwald zurückgekehrt, hatte Balzar seinen eigenen Verein aufgemacht, eine Räuberbande. Auch mit ihr blieb er vorwiegend der Wilderei treu. Damals war der Westerwald ein Zankapfel französischer und österreichischer Truppen. Als sich angeblich ein französischer Offizier an Balzars Flammersfelder Braut verging, blies er seine Mannen wie auch alle einheimischen mutigen Burschen erst recht gegen die Franzosen, was ihm in manchen Nachschlagewerken immerhin den Ruf eines »Freischärlers« oder wenigstens »Widerstandskämpfers« eingebracht hat.** Zu einer allgemeinen Volkserhebung reichte es nachweislich nicht. Balzar wilderte weiter, verbündete sich gelegentlich mit österreichischen (»kaiserlichen«) Einheiten, wurde von den Franzosen als Le capitain noir (Der schwarze Hauptmann) gejagt. Der übliche Verrat brachte ihm mit 28 die Verhaftung und das Todesurteil ein. Darauf blühten die Legenden. Gut 200 Jahre später schwang sich der Weilburger Schulmeister Christian Spielmann, später Direktor des Stadtarchivs Wiesbaden, sogar zu dem Erzählwerk Balzar von Flammersfeld. Roman vom Westerwalde auf, das ich allerdings nicht kenne. Erschienen 1906 in Leipzig, dürfte es heute so gut wie verschollen sein.
~~~ Der »Robin Hood des Hunsrücks« hieß Schinderhannes. Er kam 1803 in Mainz mit ungefähr 25 unters Fallbeil, wobei rund 30.000 Schaulustige ihre Unterhaltung gehabt haben sollen.*** Heute wird übereinstimmend angenommen, die Legende des volksfreundlichen Schinderhannes habe nur sehr wenig mit dem Bärenbacher Schinder-Lehrling Johannes Bückler zu tun, dessen Geburtsjahr umstritten ist. Nach manchen Quellen eröffnete er seine Gangsterlaufbahn damit, seinem Meister, woanders auch »Abdecker« genannt, einen Stapel Kalbsfelle zu entwenden. Vielleicht standen sie ihm ja wirklich zu, wie er später behauptete, aber was er in der Folge mit wechselnden Spießgesellen bei zahlreichen, vornehmlich jüdischen Krämern und Viehhändlern der Gegend zusammenstiehlt, um sich nicht mehr »schinden« zu müssen, geht in moralischer Hinsicht kaum auf eine Kuhhaut. Von »Wohltaten« keine Spur. Das ficht natürlich Carl Zuckmayers Drama Schinderhannes von 1927 nicht an, mit dem sich der Rheinhesse einen guten Teil seines Weltruhms erschrieb. Vermutlich wäre er der historischen Wahrheit auch mit Andreas Balzar nicht näher gekommen, ging doch Zuckmayers Trachten dahin, ein Gegengewicht zu Piscators politischem Theater zu setzen, wozu es eben eines uns ans Herz greifenden Räubers bedurfte. In Wirklichkeit dürften auch einige Tote aufs Konto der Bückler-Bande gehen, nur nicht aus den Reihen der Fuggers oder Fürsten.
~~~ Der gelernte Maurer Bernhard Matter (1821–54) wirkte vornehmlich im Kanton Aarau, Schweiz. Normalerweise hätte man ihn als Berufsdieb bezeichnet, von denen es bekanntlich viele gibt. Da sich die Einbrüche, Schmuggeltouren und Überfälle Matters, die er teils allein, teils mit Bande vornahm, ausschließlich gegen wohlhabende MitbürgerInnen richteten und er zudem einen guten Teil der Beute zu Spottpreisen unter die armen Leute gebracht haben soll, erwarb er sich jedoch, neben dem Ruhm als Meisterdieb, Herzensbrecher und Ausbrecherkönig, im Laufe der Legendenbildung den Titel des »Schweizer Robin Hoods«. 1854, ein Jahr nach seinem jüngsten Ausbruch, wurde der »von allen Maitli« begehrte Gastwirtssohn, wohl durch Verrat, in einer Teufenthaler Herberge aufgespürt und noch im selben Jahr in Lenzburg von Staats wegen, mit dem Schwert, enthauptet. Wieviele Morde der erst 33jährige auf dem Gewissen hatte? Keinen. Es heißt, er habe nicht einem Opfer oder Ordnungshüter auch nur ein Haar gekrümmt.**** Aber er hatte hartnäckig das heiligste Menschenrecht des Kapitalismus verletzt, das Eigentum.
~~~ Wir schließen mit dem Wiener Wald. Im Ersten Weltkrieg war der Arbeiterjunge Johann »Schani« Breitwieser (1891–1919) desertiert. Jetzt verlegte er sich auf das Knacken von Geldschränken. Sein letzter Coup galt der Hirtenberger Waffen- und Munitionsfabrik der Sippe Mandl, die sich auch noch um den Zweiten Weltkrieg verdient machte. Wegen Juniorchef Fritz Mandl wird sich 1924 eine Schauspielerin erschießen, Eva May. Aber so eine Gans, die noch nicht einmal in der Selbstmordart Unabhängigkeit beweist, können wir getrost übergehen. Breitwieser erntet bei jenem »Bruch« eine halbe Million Goldkronen, wird allerdings kurz darauf in St. Andrä bei Wien von der Polizei in seinem damaligen Unterschlupf aufgespürt und im Eifer der Fahndung in die Lunge geschossen. Er stirbt am folgenden Tag. Seinem Begräbnis wohnten, je nach Quelle, 10.000 bis 40.000 Menschen bei. Der knapp 28jährige dunkelhaarige Ganove, auf Polizeifotos zünftig mit Oberlippenbart, genoß nämlich einen Ruf als »Robin Hood von Meidling« – nach dem Wiener Arbeiterbezirk, aus dem er stammte. Tote lud er offenbar nie auf sein Gewissen. Zu Hause hatte er das ärmliche Los von, je nach Quelle, 11 bis 15 Geschwistern zu teilen.***** Schließlich brachte er sich Feilen, Schießen, Schweißen und auch die erforderlichen PR-Kniffe bei. Damals konnte man in vielen Fällen noch wirkungsvoll mit Nachschlüsseln zu Werke gehen. So soll er einmal vor Kriegsende einer Menge, die sich nach Ladenschluß mit großen Augen vor dem gut gefüllten Schaufenster einer Bäckerei herumdrückte, im Vorübergehen mit seinem Dietrich die Eingangstür aufgeschlossen haben, bevor er sich mit seinen Kumpanen verzog. Die Menge habe die Bäckerei gern geentert. Möglicherweise war das nicht nur eine PR-Maßnahme, falls es stimmt. Breitwieser wußte, was Hunger ist.
∞ Verfaßt 2023
* https://www.rhoenline.de/rhoenpaulus.html, Stand 2009
** Hessische Biografie, Stand 2020: https://www.lagis-hessen.de/pnd/122781406
*** Florian Stark, https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article235164056/Schinderhannes-Die-Henker-bemuehten-sich-sein-Blut-aufzufangen.html, 21. November 2021
**** https://www.muhen.ch/portrait/geschichtliches/bernhard-matter/ (o. J.)
***** Andreas Liberda, https://www.w24.at/News/2019/3/Schani-Breitwieser-Der-beste-Einbrecher-den-wi, 29. März 2019
Der österreichische Komponist Hans Rott (1858–84) zählte zu den Lieblingsschülern Anton Bruckners. Dagegen hieß sein August Ahlqvist – falls Sie sich noch an den Verreißer des Schriftstellers → Kivi erinnern – Johannes Brahms. Hugo Wolf soll Brahms, der 1880 Rotts Sinfonie in E-Dur kritisiert hatte, sogar »den Mörder Rotts« genannt haben. Dummerweise war die Kritik des Bruckner-Antipoden und Kuratoriumsmitgliedes Brahms mit der Nichtvergabe eines Staatsstipendiums verbunden. Die Sinfonie – später von Rotts Mitschüler Gustav Mahler als bahnbrechend gerühmt und heute, laut Uwe Harten (2005), oft gespielt – kam noch nicht einmal zur Aufführung. Daraufhin verließ der 22jährige Geschmähte Wien, um eine Stelle als Musikdirektor und Chorleiter in Mülhausen, Elsaß, anzutreten, aber auch daraus wurde nichts. Im Zug bedrohte Rott, dem sicherlich auch noch andere Enttäuschungen zusetzten, einen Mitreisenden, der sich eine Zigarre anzünden wollte, mit dem Revolver. Denn Brahms, so Rott zur Erklärung, habe den Zug mit Dynamit füllen lassen. Man beförderte Rott nach Wien zurück und steckte ihn, nach einem Klinikaufenthalt, in die Landesirrenanstalt. Das war dann die damals übliche Fahrkarte zum Friedhof.* Rott starb in seiner Klapsmühle, nach mehreren Selbstmordversuchen, im Sommer 1884 mit 25 – angeblich an Tuberkulose. Das war wenigstens eine »Todesursache«, die nicht aus dem Rahmen fiel.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Eckhardt van den Hoogen 2002/2018 auf https://www.hans-rott.de/vdhd.htm
Ruhm, Kult
Sicherlich kennt man Heinz Rühmann (1902–94) ähnlich prompt wie Napoleon, Stalin oder dessen Kumpel und Nachfolger Chruschtschow. Und was verbindet diese Herrschaften? Sie alle maßen keine 1,70 – für Herrscher ziemlich peinlich. Chruschtschow war immerhin listig. Er ließ sich vom italienischen Modeschöpfer Angelo Litrico Schuhe machen, die durch ihr ausgeklügeltes Innenfutter eine unauffällige Vergrößerung ihres Trägers bewirkten. Heinz Rühmann, der für kleine Helden am Theater keine Chancen sah, hatte sich am Beginn seiner Laufbahn noch mit Einlagen zu behelfen. Sie alle wären glatt aus ihrem Grab gefahren, hätten sie um 2000 die damalige Heutige Jugend rotzfrech wie auf Dampfbügeleisen durch die Straßen staken gesehen.
~~~ Zwar konnte der begabte Schauspieler und Kokettierer mit den Einlagen seine 1,65 und seine Gagen anheben, doch im Charakter wuchs er weniger stark. Darauf deutet bereits der Umstand, daß er in drei verschiedenen deutschen Regimen gleichsam Mustergatte und Großverdiener blieb. Mit der Titelrolle im Lustspiel Der Mustergatte nach Avery Hopwood hatte er 1922 seinen Durchbruch erzielt. Wolfgang Liebeneiners Kinofassung von 1937 wurde ein Kassenschlager. Rühmanns erste Nachkriegsrolle auf der Bühne war ebenfalls Der Mustergatte. Die Gagen für seine Filmrollen wurden fetter als Ludwig Erhard. Immerhin mußte Rühmann davon das Honorar für den bekannten Maskenbildner Josef Coesfeld abzwacken, den der eitle Star auch privat beschäftigte. Das beste Schnäppchen machte er, als er schon mit einem Bein in der Kiste stand, wie von Fred Sellin (2001) zu erfahren ist. Für seinen letzten Fernsehauftritt in Linz 1994 handelt der schmächtige, gebrechliche 92jährige eine Gage von knapp 40.000 Mark aus. Per riesigem Mercedes in seinem Hotel abgeholt, hat er sich dann in einer beliebten Show mit Thomas Gottschalk für vier oder fünf Minuten zu zeigen. Wie sich versteht, wird der kleine Greis mit dem bübischen Lächeln fanatisch beklatscht.
~~~ Rühmanns Güte war nur das halbe Gesicht. Sellin zufolge konnten den Golf spielenden Auto-, Motorboot- und Flugzeugnarr schon geringste Verfehlungen in der Etikette beleidigen. Er ist unnahbar, wirkt oft überheblich, schulmeistert gern. Aufs Vertuschen versteht er sich auch ohne Mitwirkung seines Maskenbildners. 1954 leistet er sich nach einem Autounfall – er war in München gegen einen Laternenmast gefahren, wahrscheinlich betrunken – Fahrerflucht, obwohl seine junge Begleiterin Margarethe Hirmer gegen die Windschutzscheibe des gemieteten Borgwards 1800 prallt und nach dem Aussteigen bewußtlos zusammenbricht. Da alle Freunde, Beamte, Journalisten, mit denen er es in der Folge zu tun hat, beim Vertuschen mitmachen, kommt der beliebte Schauspieler mit 600 Mark Buße wegen Fahrlässiger Körperverletzung und mit gesundem Ruf davon.
~~~ Weil das Wort Klassenjustiz gar zu antiquiert klingt, spricht man heutzutage in solchen Fällen vom Wirken des Prominentenbonus. Sellin fügt seiner interessanten Erzählung noch hinzu: »Zur gleichen Zeit wird vom gleichen Gericht ein Beleuchter des Residenztheaters wegen Diebstahls zu fünf Monaten Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Der junge Mann hatte vier Glühbirnen, einen wasserdichten Lichtschalter, zwei Wandleuchter und Werkzeug mitgehen lassen.«
~~~ Eigentum verpflichtet – die Klassenjustiz.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Mit dem türkischen Politiker Turgut Özal, streckenweise Ministerpräsident, will ich mich um Gotteswillen nicht beschäftigen. Er läßt jedoch aufhorchen, weil er, auch laut Brockhaus, 1983 die Mutterlandspartei (ANAP) ins Leben rief. Vielleicht gab es ja schon eine Vaterlandspartei, von der man sich abgrenzen mußte. Oder sollte Özal Feminist gewesen sein? Wohl kaum, zeigte seine Partei doch deutliche islamische Züge.
~~~ Wie auch immer, ist gewieften PR-Leuten seit vielen hundert Jahren sonnenklar, wer auffallen will, muß die anderen mit verblüffenden Lösungen ausstechen. Oft genügt es bereits, einfach das Gegenteil von dem zu machen, was die anderen machen. Plötzlich zäumte der Knappe den Gaul von hinten auf, das kam an. Oder der Edelmann lief mit Mi-Parti-Hosen über das Aachener Kopfsteinpflaster: ein Bein rot, das andere blau gefärbt. Irgendwo sah ich einmal eine moderne Grafik mit einem Pferdeschädel. Sie werden sagen, das sei nicht unbedingt neu gewesen. Aber der Künstler hatte dem Gaul das Hufeisen auf die Stirnblesse genagelt! Das zog. Dann nahm er seine Baseballkappe ab, deren Schild »natürlich« nach hinten gewiesen hatte, und bat die BetrachterInnen seines Werkes, Kollekte gehend, unter schelmischem Augenzwinkern, bitte nur echte Pferdeäpfel in die Mütze zu werfen. Er war nämlich Dadaist und durch einen günstigen Vertrag mit einem Galeristen sowieso schon stinkreich.
~~~ Um 1970 verblüffte der aufstrebende Kasseler Filmemacher Adolf Winkelmann die Passanten auf der »verkehrsberuhigten« Königstraße, indem er ihnen mit einer Kamera entgegenkam, die er mit Hilfe eines Gestelles vor seinem langnasigen, grinsenden Gesicht hertrug. Der Witz: das Objektiv war nach innen gerichtet, auf ihn selbst, Winkelmann. Er filmte also hauptsächlich die eigene Visage, allerdings auch die staunenden oder Vögelchen zeigenden BürgerInnen, die ihm gleichsam über die Schultern guckten.
~~~ Ich selber bin freilich auch nicht völlig einfallslos. Als ich um 2012 mehrere in eigener Regie aufgenommene CDs mit »Zwergliedern« auf den Markt warf, nannte ich das dreiteilige Gesamtwerk im Obertitel Nie wieder Lieder. Wie sich versteht, wurde es mir aus den Händen gerissen. Ich bekam den Mainzer Kleinkunstpreis und flog erst mal nach Malibu bei Los Angeles, dem Eigentümer eines ausgedehnten, küstennahen Landsitzes Bob Dylan zeigen, was eine Harke ist.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 28, Juli 2024
Ich hoffe, ich muß Ihnen nicht erzählen, was eine Sachertorte ist. Der dunkelfarbige Zungenschmelz, nach einem Wiener Hotelier benannt, hat im Brockhaus immerhin vier Zeilen. Eine Meisterin im Anfertigen dieser Köstlichkeit war meine Tante Toni Barta vom Wartberg bei Gudensberg. Sie stammte nämlich aus Mähren, das zu ihrer Zeit österreichisches Kronland war. Allerdings herrschte im Haus Rübezahl der Bartas meistens Geldnot, sodaß uns Toni ihre Sachertorte viel zu selten vorsetzte. Dann kramte sie zum Ersatz eine Rolle De Beukelaer-Kekse aus dem Vorrat der kleinen Gastwirtschaft, die sie mit ihrem Gatten Max nur nebenberuflich betrieb. Das waren die bekannten Doppelobladen, in denen eine schokoladenbraune Pampe klebte. Ein schmerzlicher, jäher Abfall im kulturellen Niveau, wie ich sogar als achtjähriger Pimpf erkannte.
~~~ Den Hotelier hatte es übrigens leibhaftig gegeben, Franz Sacher, um 1850. Einen Torten-Renner, und der Mann war schlagartig weltberühmt! Nun stellen Sie sich aber einmal vor, Sie müßten im nächsten Edel-Cafe »Reitmeiertorte« bestellen. Peinlich! Unmöglich! Der Hotelier hatte also auch mit seinem griffigen Namen Glück. Wäre ich vor rund 30 Jahren darauf erpicht gewesen, mit den ersten Manuskripten, die ich an Verlage schickte, Weltruhm einzuheimsen, hätte ich mir doch wohlweislich erst einmal einen besseren, klangvolleren Namen zulegen müssen. Remarque beispielsweise. Und um ehrlich zu sein: damals war ich darauf erpicht. Aber nach zwei oder drei Einreichungen und zwei oder drei Zeitschriftenbeiträgen aus meiner Feder war der Zug natürlich abgefahren. Der Unfug »Reitmeier« war aus den Hirnen der beteiligten Lektoren und Redakteure nicht mehr zu tilgen.
~~~ Der vergleichweise überaus erfolgreiche und entsprechend gut betuchte österreichische Schriftsteller Stefan Zweig machte sich in seinen Erinnerungen* einmal bemerkenswerte Gedanken zum Thema. Publizität jeder Form störe das natürliche Gleichgewicht eines jeden Menschen. Der anschwellende Name gaukele eine aberwitzige Wichtigkeit vor. Die meisten Erfolgreichen blähten sich dann unwillkürlich auf, um mit ihrer Person das Volumen ihrer äußeren Wirkung zu erreichen. Ihm selber sei jedoch die Publizität auch der eigenen Person stets ein Greuel gewesen. Ihn habe es von Natur aus nach Freiheit, Unabhängigkeit, Anonymität der Existenz verlangt. Nicht, daß er den Erfolg verschmäht hätte; unter seiner »Prominenz« jedoch habe er viel gelitten. »Wenn ich heute noch einmal anfangen könnte, würde ich darum trachten, diese beiden Glückszustände, den des literarischen Erfolgs und den der persönlichen Anonymität gleichsam verdoppelt zu genießen, indem ich meine eigenen Werke unter einem anderen, einem erfundenen Namen, unter einem Pseudonym veröffentlichte; denn ist schon das Leben an sich reizvoll und voll von Überraschungen, wie erst das Doppelleben!«
~~~ Das trieft natürlich von bürgerlicher Schizophrenie und Ideologie, leuchtet mir freilich durchaus ein, solange der ersehnte Neuanfang unter den alten kapitalistischen Bedingungen stattzufinden hat.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 32, August 2024
* Stefan Zweig, Die Welt von gestern, ursprünglich 1944, hier Ausgabe Fischer-TB 1989, S. 368–72
Siehe auch → Balcke (Lyriker) → Bashkirtseff (Bonus) → Faschismus, Fieseler (Flieger) → Gogh (Kanon) → Kivi (Verkennung) → Literaturbetrieb, Sebastian → Nobel Alfred → Rott (Komponist) → Titel → Band 4 Düster, Freundschaftsdienst, Kap. 5 (Förster Pahl) → Band 5 Döhnerichs Durchbruch + Schotter für Conradi + Mann im Trafoturm
Rundfunkbeitrag
Meine Diener, die Räuber vom Rundfunk --- Wie ich der Webseite Rundfunkbeitrag.de mit einem gewissen Erstaunen entnehme, wird just durch »die Arbeit des Beitragsservice mit seinen rund 1.000 Beschäftigten … ein unabhängiger, hochwertiger und vielfältiger öffentlich-rechtlicher Rundfunk in Deutschland« ermöglicht. Das hätte ich gar nicht gedacht. Dieser sogenannte Service pflegt sich alle zwei Jahre bei mir in Erinnerung zu bringen. Dann muß ich nämlich ein neues Antragsformular auf Befreiung vom Rundfunkbeitrag ausfüllen. Das Anrecht auf die Befreiung habe ich, weil meine äußerst schmale Altersrente vom Gothaer Sozialamt aufgestockt wird. Nur kann ich den neuen, mit einer Bescheinigung aus Gotha untermauerten Befreiungsantrag dieses Mal wegen einer Verzögerung in meinem Briefverkehr mit dem Sozialamt erst am 17. August 2023 nach Köln abschicken. Stichtag war der 1. August. In Köln sitzt der liebe Service. Prompt fordert mich dieser mit Datum vom 22. August auf, gefälligst meinen Rundfunkbeitrag zu zahlen – zunächst 55,08 Euro für das kommende Quartal. Schön und teuer gedruckte Überweisungsformulare liegen gleich anbei. Aber ich ignoriere diese Aufforderung, wenn sie mich auch etwas kränkt und gewaltig wurmt. Wenige Tage später darf ich aufatmen: mit Datum vom 28. August teilt mir der »Beitragsservice« mit, er habe meinem neuen Befreiungsantrag stattgegeben. Jene kränkende Zahlungsaufforderung übergeht auch er. Wenn nicht, hätte er schließlich einräumen müssen, wie in großen deutschen Behörden so üblich, komme es auch in Köln gelegentlich vor, daß diverse Abteilungen kräftig gegeneinander oder durcheinander arbeiten. Bei 1.000 Beschäftigten ist das vielleicht kein Wunder.
~~~ Man könnte besänftigend abwinken: Laß es gut sein, Alter, jetzt hast du doch für ganze zwei Jahre wieder Ruhe vor dieser Räuberbande. Ich fürchte allerdings, diese Ruhe behagt mir nicht mehr. Schließlich kommt hier doch einiges zusammen. Schon die Eigenbezeichnung »Service« ist ein genauso hinterhältiges wie widerliches Hüllwort, wenn man es sich einmal gründlich überlegt. Die Damen und Herren Knechte des Kapitals erwecken so den Eindruck, nicht ich müßte ihnen was zahlen, vielmehr täten umgekehrt sie mir einen Gefallen. Sie dienen mir! Und lassen sich dafür anständig bezahlen. Laut Statista betrug der Gesamtertrag des Rundfunkbeitrags in Deutschland im Jahr 2022 rund 8,57 Milliarden Euro. Zu dem, was damit veranstaltet wird, komme ich noch. Zunächst müssen wir von diesen Milliarden gerechterweise die Kosten des Gebühreneinzuges abziehen. Wie mir das Internet verrät, verdient ein Verwaltungsfachangestellter durchschnittlich 2.500 Euro brutto im Monat. Mal 1.000 Beschäftigte genommen, wären wir bereits bei 2 ½ Millionen monatlich. Die SpitzenmanagerInnen werden ja wohl ungefähr von den hauseigenen Lehrlingen oder den Sträflingen diverser Arbeitsagenturen aufgewogen. Nehmen wir die 2 ½ Millionen nun noch mal 12 Monate, landen wir bei einem Gesamtjahresgehalt der Kölner Behörde von 30 Millionen Euro. Das ist kein Klacks. Dabei habe ich die Sachkosten noch gar nicht berücksichtigt. Jene 1.000 Bürokraten müssen schließlich irgendwo sitzen, wenn nicht unter Kölner Brücken oder in ihrem »homeoffice«, und den Verbrauch an Computern, Strom, Parkplätzen, Werbefritzen und sogenannten Werbegeschenken wage ich gar nicht zu schätzen.
~~~ Weitere, im Grunde wichtigere Bedenken habe ich kurzentschlossen in den Entwurf eines Briefes an meine Kölner Diener gegossen. Ich stelle ihn hier zur Diskussion.
~~~ >>Sehr geehrte Damen und Herren,
vermutlich in der Annahme, mir Gutes zu tun, haben Sie mich zuletzt, auf meinen neuerlichen Antrag hin, bis Ende Juli 2025 von der sogenannten Rundfunkbeitragspflicht befreit. Nach reiflicher Überlegung möchte ich jedoch in Zukunft keinen entsprechenden Antrag mehr stellen. Allerdings werde ich gleichwohl die Zahlung des Rundfunkbeitrages verweigern. Beides zusammen hat folgende Gründe.
~~~ Erstens. Gebühren nach dem Muster von »Kopfpauschalen« sind unsittlich. Denn jeder hat einen anderen Kopf. Der von einem Bankier zum Beispiel steckt voller Goldbarren, während ich mit einer Altersrente auskommen muß, die trotz Aufstockung durch das Gothaer Sozialamt (»Grundsicherung«) schmäler als eine Scheibe Gouda ist. Mich treffen also Mehrwertsteuer oder Rundfunkbeitrag ungleich härter als den Bankier.
~~~ Zweitens. Gebührenbefreiung klingt mir doch zu sehr nach Begnadigung. Ich möchte aber keine huldvolle Alimentierung durch eine Hohe Behörde. Das Sozialamt sitzt wenigstens in Gotha und nicht auf dem Mond. Falls Sie von meinem Wohnort Waltershausen noch nie gehört haben: Bis Gotha rund 11 Kilometer, sogar Straßenbahnanschluß.
~~~ Drittens. In meinem Fall ist der Zwangsbeitrag auch deshalb unsittlich, weil ich schon seit Jahrzehnten Radio- und Fernsehgeräte gar nicht mehr nutze und besitze. In meiner Knabenzeit habe ich noch zuweilen Kulenkampff geguckt – Sie wissen schon: Einer wird gewinnen … Aber dann gaben mir um 1980 Fernsehberichte über angeblich undemokratische Hausbesetzungen und Bürgerproteste in Westberlin den Rest. Dort wohnte ich damals. Ich glaube, mein letzter Fernsehkonsum fand anläßlich der Ausstrahlung von Fassbinders Serie Berlin Alexanderplatz statt. Das war ebenfalls ein Fehler. Inzwischen zähle ich Literaturverfilmungen zu den Schwerverbrechen. Jedenfalls bin ich nun schon seit rund 40 Jahren Abstinenzler – durch lange Jahre zu Unrecht von den Häschern der berüchtigten GEZ gejagt. Heute finde ich, es wäre doch das Mindeste, nur von solchen Leuten Beitrag zu verlangen, die den gesendeten Segen benötigen wie das tägliche Brot oder Bier. Allerdings gebe ich zu, das würde auch wieder einen gewissen Kontroll- und Verwaltungs-aufwand erfordern. Deshalb schlage ich vor, die AussenderInnen des Segens lieber »pauschal« abzuschaffen. Das wäre auch aufgrund der beiden folgenden Umstände und Erwägungen sehr gut.
~~~ Viertens. Die unansägbare Mästung durch Zwangsgebühren hat die Öffentlich-Rechtlichen Sender in den zurückliegenden Jahren offensichtlich und nachweisbar dazu verführt, zu fuschen, zu lügen oder zu manipulieren, daß sich in jedem anständigen deutschen Haushalt die Balken biegen. Zur Manipulation zählt unter anderem die so gern geübte Kunst des Weglassens und der Verdrehung. Eine objektive, ausgewogene Berichterstat-tung findet so gut wie nicht mehr statt, jedenfalls nicht in den wesentlichen Fragen, etwa Altstadtsanierung, Mietwucher, Corona, Ukraine, Grundrechtsverletzungen, »Rettungspakete«, obszöne Unternehmensgewinne überhaupt. Die Anstalten wandeln sich zielstrebig in Einpeitschplätze zugunsten des Bundeskanzleramtes, des Weißen Hauses und des sogenannten Weltwirtschafts-forums. Roberto De Lapuente hat den verhängnisvollen Freibrief für die gebührenfinanzierten Rundfunk- beziehungsweise Flunkeranstalten bereits vor knapp zwei Jahren in einem empfehlenswerten Artikel beklagt.* Daneben gibt es inzwischen zahlreiche andere Aufsätze sowie Bücher zu dem verderblichen Kurs unserer MeinungsmacherInnen, die ich Ihnen notfalls angeben oder sogar referieren könnte. Eine jüngste kritische Stellungnahme gab das nicht ganz unbekannte Autorengespann Bräutigam / Klinkhammer gerade in diesen mich aufbringenden Tagen ab.**
~~~ Fünftens. Zentral gesteuerte Radio- und Fernsehprogramme sind grundsätzlich unsittlich. Sie verlärmen, verbildern, zerhacken, vermüllen die Welt, bis man von der Wahrheit oder wenigstens der Wirklichkeit kaum noch ein Körnchen sieht. Sie pusten dem »Verbraucher« die letzte schüttere Neigung zu Eigenver-antwortung, Unternehmungslust und Selbstbestimmung aus. Sie füttern die Wahlschafe derart unerbittlich mit Belanglosigkeiten, daß sie bereits mit 40 von Parkinson und mit 50 von Altersdemenz befallen werden – zum Wohl der Renditen der Gesundheitsindustrie.
~~~ Mit freundlichen Grüßen vom Thüringer Wald: H. R.<<
∞ Blog-Beitrag vom September 2023. Es gab sogar ein paar freundliche Stimmen von Kollegen oder Rechtsanwälten. Sie bestärkten mich durchweg in meiner Sicht, rieten mir allerdings gleichwohl, wenn auch teils durch die Blume, von meinem erwogenen Vorstoß (der Verweigerung) ab, weil er mir außer Magengeschwüren null Früchte eintrage. Das sähe möglicherweise anders aus, wenn jemand mindestens 250.000 Verweigerer zusammenbrächte. Sahra Wagenknecht wird dieser Jemand aber jede Wette nicht sein. Sie lebt ja vom Rundfunk, wie alle postmodernen ÜberredungskünstlerInnen.
* Roberto De Lapuente, https://www.manova.news/artikel/gebuhrenfinanzierte-tyrannei, 24. Nov. 2021
** Bräutigam/Klinkhammer, »>Hunger als Waffe< – Baerbocks gehässige Zwecklüge«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=103167, 1. September 2023
Rüsselzwergfledermaus
Im Hochsommer muß sich der Vogelfreund nach Alternativen umsehen. Läßt sich in meinem Garten, der vorwiegend aus Bäumen und Gestrüpp besteht, zuweilen noch das Gelächter eines gelangweilten Grünsprechts oder das öde Verslein »Ich / Ringel / taube, ich / alte / Schraube« vernehmen, ist es schon viel. Die vier Silben »Taube« und »Schraube« trägt sie übrigens doppeltschnell vor, wodurch sie auch noch Platz für den nächsten Auftakt ihres ermüdenden Schlagers schafft. Bei ihr erklingt er ausschließlich auf »uh«, und sie variiert ihn auch im Rhythmus so gut wie nie.
~~~ Wegen dieser sinnlichen Armut lenke ich mein Fahrrad im Hochsommer recht häufig bei Ludwig vorbei, der stolzer Besitzer eines über mannshohen Schmetterlingsflieders ist. Da der Strauch unweit des Gartentors steht, muß ich Ludwig noch nicht einmal stören, wenn mir nach einem Viertelstündchen Naturbeobachtung zumute ist. Ludwig hockt in der Regel vor seinem mit drei bis sechs Programmen bestückten wandteppichgroßen Computerbildschirm und hackt emsig auf die Tasten. Lästermäuler könnten seinen Schmetterlingsflieder ebenfalls zur Hardware rechnen. Eigentlich hasse ich diesen Strauch mit seinen etwas ledrig, ja beinahe wächsern wirkenden lanzettlichen Blättern und seinen violetten Blütenständen in Gestalt zugespitzter Walzen oder chinesischer »Schandhüte«. Er ist asiatische Importware. Als Chinese würde ich möglicherweise Thüringer Klöße mit Rotkraut und Bratworscht hassen, wenn sie vor meinem Haus wüchsen, aber das Schicksal verurteilte mich nun einmal zum Deutschsein. Trotz meiner Intoleranz bin ich natürlich nicht blind: Ludwigs Schmetterlingsflieder ist im Hochsommer, wie es der Name schon andeutet, ein Tummelplatz für Falter aller Art, für Weißlinge, Pfauenaugen, Füchse, Admirale beispielsweise, die ja fast jeder kennt. Wer aber hat schon einmal die Rüsselzwergfledermaus gesehen?
~~~ Am Anfang, nachdem ich sie entdeckt hatte, dachte ich, sie hat eine Meise. Während sie trotz ihres gedrungenen, rund drei Zentimeter langen, vorwiegend grau gefärbten behaarten Körpers über der jeweils angepeilten Walze dank rasenden Flügelschlages in der Luft stand, tunkte sie ihren mordslangen, biegsamen Rüssel (der zwischen zwei dünnen »Hörnern« sitzt) so blitzschnell von einer kleinen Blüte in die andere, daß ich mit dem Zählen und Messen kaum mehr nachkam. Der NABU versicherte mir später, der winzige Wirbelwind könne »in fünf Minuten mehr als hundert Blüten besuchen«. Das wären in 60 Sekunden 20, macht nach Adam Riese pro Besuch drei Sekunden. Und so etwas nennt der NABU Besuch!
~~~ Hier feiert offensichtlich die Oberflächlichkeit Triumphe, und nicht nur das. Dieses Schwirren der Rüsselzwergfledermaus auf der Stelle, bei Falken oder Fliegenschnäppern »Rütteln« genannt, muß ja Unmengen an Energie kosten, die sie kaum aus einem ganzen Wald von Schmetterlingsfliedersträuchern beziehen könnte, dabei hat nur Ludwig den einzigen Schmetterlingsflieder-strauch weit und breit! Das hatte er sich jedenfalls eingebildet, als er den Strauch pflanzte. Wäre die Rüsselzwergfledermaus klug genug, am Tage im wesentlichen auf der faulen Haut zu liegen, reichte es völlig aus, den Rüssel dreimal täglich in irgendeine Friedhofspetunie zu tunken. Aber nein, sie schwirrt in einer Hektik durch Ludwigs Strauch, die neben dem Energiesparen auch jede Systematik vermissen läßt. Als hüpften die fressenden LPG-Rinder wie von der Tarantel gestochen im Zickzack über die Weide! Aber eine Rüsselzwergfledermaus denkt gar nicht daran zu grasen, dazu ist sie sich zu schade; sie rast. Sie springt in einer Planlosigkeit zwischen den Blütenständen hin und her, die mir Tränen des Mitleids in die Augen treibt. Nach zwei Augustwochen hat sie vermutlich jede zweite Blüte der Walzen schon fünfmal »besucht«, obwohl ja, aus reiner Selbstverschuldung, gar nichts mehr darin zu holen ist, von der Konkurrenz ganz zu schweigen.
~~~ Ludwig nennt sie übrigens Zwergkolibri, weil er eben eine Meise fürs Exotische hat. Der NABU dagegen spricht deutsch; er spricht vom Taubenschwänzchen, auch kein übler Name, wie man einräumen muß.*
~~~ Vielleicht noch ein Wort zu dem sogenannten süßen Duft, der den zahlreichen winzigen, übrigens vierblättrigen Blüten des Schmetterlingsflieders entsteigt. Schnuppert Ludwig daran, verdreht er jedesmal vor Entzückung die Augen und versichert mir einmal mehr, im Vergleich dazu rieche der Jasminstrauch, der unweit meiner Haustür steht, nach Ferkelurin. Gegen Ludwigs Geschmacks-verirrung ist kein Kraut gewachsen. Für mich stinkt ein einzelner Schmetterlingsfliederstrauch aufdringlicher als ein ganzes Pariser Parfüm- und Seifengeschäft, das ich allerdings nur vom Hörensagen kenne. Auch das wird sich bald ändern: dann rufen wir mit einem Mausklick die Duftnote ab.
∞ Verfaßt 2022
* https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/insekten-und-spinnen/schmetterlinge/nachtfalter/05175.html
Sauerbruch, Ferdinand
Im Gegensatz zu seinem Patienten Heinrich Greif (1907–46), einem kommunistischen Schauspieler, ist der Chirurg Ferdinand Sauerbruch selbstverständlich im Brockhaus (Band 19) vertreten, sogar mit Foto. Dafür fehlt jeder Hinweis auf Sauerbruchs charakterliche Mängel, Nazinähe eingeschlossen. Was nun Greif angeht, hat dieser, neben einem nach ihm benannten Film- und Fernsehpreis der DDR, die makabere Ehre, wahrscheinlich das erste von nicht wenigen Todesopfern der fortschreitenden Altersdemenz des berühmten Professors Sauerbruch (1875–1951) gewesen zu sein. Obwohl diese chirurgische Kapazität im Faschismus eine zumindest zweifelhafte Rolle gespielt hatte, nahm die junge SBZ/DDR Sauerbruchs Bereitschaft, sowohl an der Ostberliner Humboldt-Universität wie an der dortigen Charité zu wirken, gerne an, begriff sie ihn doch als glänzendes Aushängeschild für den real existierenden Sozialismus. Aus demselben Grund fiel man ihm auch, entgegen dem Wissen der teils entsetzten Eingeweihten, erst Ende 1949 in den Arm: da wurde er zwangspensioniert. Als der Buchautor Jürgen Thorwald die Latte der Sauerbruchschen »Kunstfehler« und das Scheunentor ihrer Deckung »von oben« um 1960 enthüllte, gab es die zu erwartenden Aufschreie und gerichtlichen Auseinandersetzungen. Es wäre nebenbei interessant zu wissen, ob sich Thorwalds Enthüllungen bis in die 1974 in Ostberlin erschienene Biografie Heinrich Greif, Künstler und Kommunist von Curt Trepte und Renate Waack niederschlugen. Jedenfalls konnte ein Wochenmagazin bereits 1960 und offenbar bis heute* ungestraft feststellen, Mitte Juli 1946 habe sich der 39 Jahre alte Schauspieler in der Charité eingefunden, um sich von Sauerbruch an seinem Leistenbruch operieren zu lassen. Im Ergebnis lag Greif im Sarg. Er hatte eine tödliche Nachblutung erlitten, so das Magazin, weil Sauerbruch beim Operieren Greifs Hauptschlagader (am Bein) verletzt hatte. Die damalige Reaktion der Angehörigen oder Freunde ist mir nicht bekannt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* »Tod des Titanen«, Spiegel 47/1960: https://www.spiegel.de/kultur/tod-des-titanen-a-40b1e276-0002-0001-0000-000043067521. Die Bemerkung zu Greif findet sich ungefähr in der Mitte. Aber der ganze Beitrag ist ein lesenswerter Krimi.
Schach
Der Philosoph und Schachmeister Carl Göring (1841–79) wurde in Brüheim an der Nesse geboren – und damit in nächster Nachbarschaft zum Schauplatz meines Romanes Konräteslust … Allerdings wuchs er dann südlich von Eisenach im Thüringer Wald auf, nämlich auf dem Gut Epichnellen, das seine Eltern um 1845 erworben hatten. Die Eltern galten als vermögend. Der einzige Sprößling studierte Geisteswissenschaften und war zeitweise Gymnasiallehrer, bis er sich als Privatgelehrter in Leipzig niederließ. In Rudolf Eislers Philosophen-Lexikon, Berlin 1912, wird Göring als Vertreter des »kritischen Empirismus« und »Positivismus« ausgegeben. Die wenigen Zeilen des Eintrags legen selbst Uneingeweihten, sofern sie nur SkeptikerInnen sind, bereits zur Genüge die Ahnung nahe, bei solcher durchaus zeitgemäßen und salonfähigen philosophischen Forschung, wie sie also auch Göring betrieb, handle es sich um ein ziemlich müßiges, abwegiges, fruchtloses Sandkastenspiel. Aber dieses Mal war es eben ein akademisches. Unter Görings Werken oder Vorhaben werden auch ein System der Kritischen Philosophie genannt, von dem bei seinem Tode immerhin zwei Bände vorgelegen haben sollen, erschienen Leipzig 1874/75, sowie die Schrift Über die menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit, 1876. Offenbar gab es damals noch zu wenig philosophische Systeme. Überdies soll Göring auch regelmäßiger Mitarbeiter oder gar Redakteur verschiedener philosophischer oder literarischer Zeitschriften gewesen sein.
~~~ In einem recht ausführlichen und wohl auch ziemlich sachkundigen Nachruf, der im Juni-Heft 1879 der Deutschen Schachzeitung zu lesen war, wird behauptet, der soeben »aus dem Leben Geschiedene« habe bereits als Anwärter auf einen »ordentlichen« Lehrstuhl gegolten. Einstweilen hatte er als »außerordentlicher« Professor an der Leipziger Universität gewirkt. Daneben galt er jedoch als »genialer« und unter Kameraden »ungemein beliebter« Schachmeister und Förderer dieses Spiels. Ein Gruppenfoto von einem 1877 in Leipzig stattfindenden Schachkongreß zeigt den hünenhaften und vollbärtigen, dafür stirnglatzigen Professor etwas steif in vorderster Reihe sitzend. Der Nachruf hebt seine »herkulische Stärke«, seine in Gesellschaft »gemessen-heitere« Art des Auftretens und seine »vielen« Freunde sowohl in Leipzig wie in Eisenach hervor. Zwei Jahre nach diesem Kongreß soll sich Göring nahe Eisenach, der Stadt seiner Schulzeit, im »Reservoir« der Knöpfelsteiche umgebracht, also vermutlich ertränkt haben – knapp 38 Jahre jung. Hatten ihn Schaffensfreude und Kampfgeist jäh verlassen?
~~~ Göring dürfte bereits als Schüler »Primus« gewesen sein. Der Nachruf führt sein Reifezeugnis vom Eisenacher Carl-Friedrich-Gymnasium an – man traut seinen Augen kaum. Es verzeichnet 11 Noten. 10 davon sind Einsen. Lediglich in Mathematik reichte es, merkwürdigerweise, nur zu einer Zwei. Der Text spricht aber auch von Krankheit und Überarbeitung. 1872 sei der kraftstrotzende Gutsbesitzersohn an Gelenkrheumatismus erkrankt, und trotz mancher Kuren und Linderungen habe ihn dieses qualvolle Gebrechen nicht mehr verlassen. Immer mal wieder habe sich »Schwermuth« dazu gesellt. Im letzten Winter seines Lebens habe Göring gleichwohl hartnäckig »wissenschaftlich« gearbeitet – vermutlich an seinem unvollendeten System. Kam er etwa mit der Fortsetzung nicht zurecht? Der anonyme Nachrufer, falls es ein Mann war, verrät es uns nicht. Mit dem Ende des Wintersemesters verlegte Göring seinen Arbeitsplatz ins Haus seiner betagten Eltern, die inzwischen in Eisenach wohnten. Plötzlich, Anfang April 1879, hätten sich »höchst bedenkliche« Symptome einer Geistesstörung bei dem Sohn eingestellt, Stichwort »Verfolgungswahn«. Von einem Spaziergang kam er nicht mehr zurück. Holzfäller fanden Görings Leiche am 3. April in dem erwähnten Wasserbecken.
~~~ Von einer amtlichen Untersuchung des Todesfalls ist nirgends die Rede. Dessen ungeachtet scheinen alle (spärlichen) Quellen »todsicher« einen Selbstmord anzunehmen. Allerdings wird diese Bezeichnung genauso vermieden wie das Wort »ertränken«. Man sollte ja sowieso vermuten, ein athletisch gebauter Gutsbesitzerssohn sei des Schwimmens mächtig, zumal er am Ufer des Flüßchens Elte aufwuchs (wohl daher der reizvolle Guts- und Ortsname Epichnellen, heute Ortsteil von Förtha). Somit dürfte das Sichertränken nicht gerade kinderleicht zu bewerkstelligen gewesen sein. Man könnte jedoch argumentieren, der Schub des Wahns war eben riesig. Der unbekannte Nachrufer gibt die auf den 3. April datierte Todesmeldung aus der Eisenacher Zeitung wieder. Danach hatte sich Görings der Wahn bemächtigt, er werde verfolgt, man stelle ihm nach und trachte ihn zu vernichten. Warum und von wem solches Trachten, verrät das Blatt nicht. Es sind ja durchaus Feinde oder Mißgünstige denkbar, etwa aus literarischen oder sportlichen Kreisen. Dagegen scheiden die üblichen finanziellen Motive, beispielsweise Schuldentilgung, im Falle Görings wohl eher aus.
~~~ Hier bietet sich, eingeschoben, zur Tröstung ein verallgemeinernder Merkabsatz aus Mathias Bröckers Vortrag Schach und Paranoia von 2006 an: »Tiefe Skepsis und ständiges Mißtrauen gegenüber dem Offensichtlichen, große Vorsicht vor falschen Spuren und verborgenen Fallen, sowie die Kenntnis möglichst aller Fakten – diese Grundzüge des Schachs entsprechen exakt denen der Paranoia, des Verschwörungsdenkens. Deshalb kann es eigentlich nicht wundern, dass besonders geniale Schachspieler auch einen besonderen Hang zur Paranoia haben – auf dem Brett überleben nur die Paranoiden, wer im Schach nicht paranoid ist, spinnt. Erst wenn diese von Spitzenspielern in Perfektion praktizierte Paranoia vom Brett ins wirkliche Leben überschwappt, wenn sie nicht mehr nur der Stellung der Holzfiguren mit permanentem Mißtrauen begegnen, sondern auch ihren Mitmenschen und ihrer Umwelt, wird es problematisch.«
~~~ Dafür streut der Nachrufer aus der Schachzeitung ein Detail ein, das mich, vielleicht zu unrecht, hellhörig macht. Vor seinem abendlichen »Spaziergang« in den Tod habe Göring bereits am Nachmittag (des 2. April) einen Spaziergang gehabt, nämlich in Begleitung eines »ihm nahe befreundeten Arztes«, mit dem er sich sogar auf 18 Uhr »wie gewöhnlich« zu einem »Rendez-vous verabredet« habe. Nur habe Göring dann die elterliche Wohnung schon um halb fünf verlassen, um eben allein in den Wald zu gehen. Ob man dieser Wortverwendung den Beigeschmack eines amourösen Stelldicheins geben darf, kann ich schlecht beurteilen. Es würde mich aber nicht verblüffen. Nirgends ist von Görings Familienstand oder gar von seinem Liebesleben die Rede. Er erscheint als klassischer oder eingefleischter, zu allem Überfluß auch noch Philosophiebücher und Schacheröffnungen ausbrütender Junggeselle. Kurz, ich wäre nicht überrascht, wenn Göring homosexuell gestimmt, dabei einigermaßen enttäuscht und gebeutelt gewesen wäre. Das ist natürlich reine Spekulation. Nichts für biedere Publikationen des Jahres 1879, zumal ja Görings Eltern noch lebten.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Der berühmte russisch-französische Schachspieler Alexander Aljechin (1892–1946) starb mit 53 Jahren nahe Lissabon, somit weder in Rußland noch in Frankreich. Warum, dürfen Sie Brockhaus nicht fragen. Das hätte den Eintrag von knapp fünf Zeilen unnötig aufgebläht. War der langjährige Weltmeister womöglich an einem Granatsplitter verendet, ob von der Westfront oder aus der Hotelküche?
~~~ Aus dem Internet läßt sich ein Foto fischen, das wohl schon oft reproduziert wurde. Von ihm her könnte man glauben, der untersetzte, derb gestaltete Slawe mit der hohen Stirn (fast wie Lenin) sei in seinem Armlehnstuhl beim einsamen Speisen in einem Zimmer des Hotel do Parque in Estoril, Portugal, lediglich eingenickt. Er ist aber tot. Ein Kellner hat Alexander Aljechin vormittags als Leiche vorgefunden. Verletzungen oder gar Verwüstungen sind nicht zu sehen. Im Gegenteil, ein säuberlich aufgebautes Schachbrett auf dem Beistelltisch deutet an, welcher Sport hier wieder einmal ein »Genie« verloren hat. Um 1930 hatte Aljechin das weltweite professionelle Schachgeschehen fast nach Belieben beherrscht. Selbst bei seinem Tod war er noch amtierender Weltmeister, obwohl er sich seit einer empfindlichen Niederlage gegen den Holländer Max Euwe im Jahr 1935 auf dem absteigenden Ast befand. Und der britische Schachverband hatte ihm soeben, im März 1946, seine Bereitschaft mitgeteilt, ihm in London einen Titelkampf gegen seinen Landsmann Michail Botwinnik zu ermöglichen. Angesichts einer solchen Chance legt man wohl kaum Hand an sich selbst, es sei denn, man schlottert vor Angst, das ersehnte Match am Ende zu verlieren.
~~~ Wäre Aljechin ein Hasenfuß gewesen, hätte es ihm wohl eher zur Zierde gereicht. In meinen Quellen kommt er nämlich, was den Charakter angeht, ziemlich schlecht weg. Der Sohn eines adeligen, sehr wohlhabenden russischen Offiziers neigte zu Geltungssucht, Jähzorn und Unaufrichtigkeit. Zu seinem angeblich um 1925 an der Pariser Sorbonne erworbenen juristischen Doktorhut fand sich nie die passende Doktorarbeit. Selbst in seinen veröffentlichten Schachanalysen nahm er gern kleine Fälschungen vor, um sein Genie in noch besseres Licht zu rücken.* Aljechin haßte sowohl Juden im allgemeinen wie bestimmte Schachrivalen im besonderen. In politischer Hinsicht war er Opportunist, was bedeutete, er schlug sich jeweils auf die Seite des Stärkeren. Nach der siegreichen Revolution versuchte er es zunächst mit den Sowjets, zog es dann aber 1921 wie so viele, in der Regel enteignete Personen aus seinen Kreisen vor zu emigrieren. Auf die Seite der Nazis schlägt er sich 1941, nachdem sie begonnen haben, den »Bolschewismus« vor Ort, in Rußland also, aufzurollen. Er absolviert zahlreiche Turniere im jeweiligen faschistischen Machtbereich und läßt sich mit Nazi-Größen sehen. Seinen Wohnort verlegt er freilich schon bald, von Prag aus, gen Westen, um nicht etwa seinerseits mitaufgerollt zu werden. Er läßt sich zunächst im francistischen Spanien, dann im benachbarten, mit diesem verbündeten Portugal nieder.
~~~ Wie sich versteht, kamen nach der Verbreitung jener Fotografie aus dem portugiesischen Park-Hotel auch Mordtheorien auf (die nie verstummten). Estoril, ein Seebad für Betuchte nahe Lissabon, war damals zugleich ein Tummelplatz für Geheimagenten aller Lager – Lager, zwischen denen Diktator Salazar trotz seiner engen Beziehungen zu Franco und den Briten eifrig lavierte. Offiziell war Portugal »neutral«. Vielleicht hatten die Alliierten Aljechin zur Strafe für seine faschistischen Umtriebe Gift ins Abendessen gemischt? Oder hatten antifaschistische Rächer aus der französischen Resistance zugeschlagen, die ihm zum Beispiel Grace geb. Wishaar übelnahmen? Aljechin war mehrmals verheiratet, angeblich durchweg mit Frauen, die ihn im Alter deutlich übertrafen. Die letzte Gattin (1934) war 16 Jahre älter als der berühmte Schachweltmeister. Grace Wishaar, verwitwet, stammte aus den USA, verstand sich als Bildende Künstlerin, spielte daneben selber ausgezeichnet Schach, doch ihr größter Zugvorteil dürfte ihr beträchtliches Vermögen gewesen sein. So besaß sie in Frankreich einen Landsitz in der Normandie und ein Atelier in Paris.
~~~ Die meisten Quellen habe ich, befremdlicherweise, vergeblich danach befragt, wo sich die Dame denn im Winter 1945/46 befunden habe, während ihr Gatte in seinem vornehmen, wenn auch schlecht geheizten Hotelzimmer (das Foto zeigt den Speisenden im Mantel) über Vereinsamung und sogar über Armut klagt. Schließlich erfahre ich im Eintrag der englischen Wikipedia über Grace Alekhine geb. Wishaar, im Gegensatz zu ihrem aus Frankreich verbannten Gatten habe sie vom dortigen Vichy- und Besatzerregime keine Ausreisepapiere bekommen und deshalb, von ihrem Pariser Studio aus, notgedrungen versucht, ihre Besitztümer einigermaßen zusammenzuhalten. Ihr Schloß bei Dieppe hatten sich die Nazis bereits unter den Nagel gerissen. Nach dem Krieg soll es ihr unter US-Schutz gelungen sein, es zu verkaufen. Davon hatte freilich ihr im Armlehnstuhl frierender Gatte nichts mehr. Wishaar starb 1956 in Paris mit knapp 80.
~~~ Die meisten Quellen halten einen Mordfall für unwahrscheinlich und betonen, es seien dafür auch nie Belege beigebracht worden. Was natürlich in humanen Zusammenhängen nahezu immer im Spiel ist, nicht nur bei Aljechin, das ist der Wille zur Verschönerung, sprich zum Betrug.** So weist der Schachhistoriker Edward Winter*** auch im Hinblick auf das erwähnte bekannte Foto, das offenbar in vier Varianten um die Welt ging und noch geht, auf gewisse Ungereimtheiten hin. Da zeigen sich kleine, möglicherweise in der Tat unerhebliche Unterschiede, etwa eine Zeitung neben Blumenvasen betreffend, die mal dort liegt, mal nicht. Und zu jenem günstig im Vordergrund plazierten Schachbrett versichert der damalige portugiesische Schachmeister und Freund des Toten Francisco Lupi, es sei erst zum Zwecke der Aufnahme in die Szene geschoben worden. Freund Lupi war damals kurz nach der Entdeckung der Leiche ins Hotel gerufen worden. Der Fotograf, Luís C. Lupi, war zufällig sein Stiefvater, Leiter des portugiesischen AP-Büros und Mitarbeiter der PIDE, Salazars Gegenstück zu GPU, Gestapo und so weiter.
~~~ In der Regel traut man dem offiziellen Befund. Unter Leitung des angesehenen Pathologen Dr. Asdrúbal d’Aguiar war damals nämlich eine Autopsie der Leiche vorgenommen worden. Danach war Aljechin bei dem betreffenden Mahl an einem Bissen Fleisch erstickt, der sich in seinem Kehlkopf fand. Also wohl ein Mißgeschick? Einige Quellen nehmen eher einen Herzanfall als Todesursache an, der dann das Stück Fleisch an der Fortbewegung hinderte. Immerhin war der überaus trink- und rauchfreudige und vielfach angefeindete alternde Champion seit Jahren mindestens leber- und magenkrank. Aber das dürfte Jacke wie Hose sein, kommt es doch so oder so dem eingangs zurückgewiesenen Selbstmord ziemlich nahe.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 2, November 2023
* Laut dem Nürnberger Schachspieler und Journalisten FM Johannes Fischer, Jahrgang 1963, siehe »Brillantes Schach und menschliche Schwächen«, o.J. auf https://karlonline.org/kol18.htm
** Für Egon Friedell (Kulturgeschichte der Neuzeit, 1927–31, einbändige Sonderausgabe 1974, S. 796) feierte die »endemische«, nebenbei auch ausgesprochen geschwätzige »Verlogenheit« bereits vor rund 2.500 Jahren bei den Hellenen Triumphe, womit er Winckel-manns »klassizistischem« Ideal der »edeln Einfalt und stillen Größe« eine kräftige Ohrfeige versetzt.
*** Edward Winter: Wohl Engländer, Jahrgang 1955, siehe »Alekhine's Death«, 2003/2023, online https://www.chesshistory.com/winter/extra/alekhine3.html
Schachnarren könnten Brockhaus vorwerfen, den polnisch-jüdischen Sportler Akiba Rubinstein (1880–1961) eiskalt geschnitten zu haben, obwohl er lange Zeit zur Weltklasse gezählt worden war. Den Höhepunkt seiner Laufbahn erlebte Rubinstein 1912/13 mit einer ungewöhn-lichen Serie von Turniersiegen. Ein Titelkampf gegen Weltmeister Lasker scheiterte nur am Kriegsausbruch. 1950 verlieh ihm der maßgebliche Weltschachverband den damals noch jungen Titel eines Internationalen Großmeisters – nur galt der Pole da schon längst als verrückt und verdämmerte seine Jahre in einem Brüsseler Altenheim.
~~~ Laut deutscher Wikipedia gibt der niederländische Schachspieler Evert Jan Straat ein Streiflicht aus Rubinsteins allmählichem Niedergang in den 1920er Jahren zum Besten. Hoffen wir, er hat es nicht selbst gestrickt. In einem Turnier in Den Haag hatte Rubinstein 1921 hinter Aljechin und Savielly Tartakower nur den dritten Platz belegt. Nach dem Turnier von Straat auf den Verlauf und Rubinsteins Niederlage gegen Aljechin angesprochen, habe der polnische Meister mitten auf der Amsterdamer Leidenstraße geschrieen: »Aber ich bin der größte Stratege, ich bin der größte Stratege der Welt!« Und dabei habe er sich auch noch heftig auf die Brust geschlagen.
~~~ In der Tat war insbesondere Rubinsteins Orientierung auf das Endspiel und seine damit verbundene Zielstrebigkeit gerühmt worden. Größen- und Verfolgungswahn kennt man allerdings auch von nicht wenigen anderen Schachassen. Ich verweise diesbezüglich auf Bemerkungen von Mathias Bröckers, die ich neulich in meinem Nasen-Eintrag über Carl Göring angeführt habe. Jedenfalls fand Rubinstein offensichtlich zwischen den beiden Weltkriegen nie mehr zu seiner alten Glanzform zurück. Entsprechend schmälerte sich sein Einkommen, wobei ihm freilich auch die Inflation Vermögen raubte. 1926 ging der Pole mit Gattin und Kind nach Brüssel. Ein »koscher« geführtes Restaurant der Gattin wird zur Haupternährungsquelle der Familie. 1932 zieht sich Rubinstein erklärtermaßen aus dem Turniergeschehen zurück. Seine inzwischen zwei Söhne sollen später von der Niedergeschlagenheit ihres Erzeugers gesprochen haben. Im selben Jahr 1932 erscheint sogar ein Spendenaufruf zugunsten der Rubinsteins in der Wiener Schachzeitung. Den Nazis entgeht Rubinstein wohl deshalb, weil ihn seine Frau Eugenie 1942 in eine Nervenheilanstalt einweisen ließ. Frau und Söhne versteckten sich auf dem Land. Sohn Sammy wurde freilich zeitweise in ein Lager gesteckt und erst im Herbst 1944 von Briten, mit 16, befreit. Das Entrinnen der ganzen Familie muß sicherlich als knapp bezeichnet werden. Somit dürften auch die mörderischen politischen Verhältnisse bei Rubinsteins (angeblicher) nervlichen Zerrüttung mitgespielt haben.
~~~ Nach Schachhistoriker Winter* kann Rubinstein mit Kriegsende wieder zu seiner Familie zurückkehren. Er wird zunehmend wortkarg, spielt aber öfter sowohl mit seinen Söhnen wie mit starken Fachkollegen Schach und erörtert Partien. 1946 gibt er in Lüttich eine Simultanschach-Vorstellung. Immerhin geht er bereits auf die 70 zu. Nach dem Tod seiner Gattin (1954) bringen ihn die Söhne in einem jüdischen Altenheim unter. Die oft bemühte Formel von der »Geisteskrankheit« nebst der Geschichte über jahrzehntelangen Sanatoriumsaufenthalt scheint, nach Winter, lediglich ein Schauermärchen zu sein. Andererseits liegt Rubinsteins Gemütszustand eher im Dunkeln. Ein Sohn berichtet, der Vater habe immer gern Zeitungen aus etlichen Sprachen gelesen, habe gern geschwommen und Gymnastik betrieben. Aus Fotos zu schließen war er ein massiger Mann. Der Sohn deutet freilich auch das Loch an, das sich mit dem Wegfall des Turnierschachs und der winkenden Weltmeisterehre vermutlich vor Rubinstein auftat. Einen Ersatz oder Ausgleich gab es anscheinend nie. Aber dieses Problem sollen ja viele professionelle Spezialisten haben. Ich denke etwa an einige JudokämpferInnen, außerdem RomanschriftstellerInnen. Selbst von DDR-Chef Ulbricht wird berichtet, außer den politischen Ränkespielen habe er keine Leidenschaften gekannt. Er hatte nur Glück: im Gegensatz zu dem polnischen Schachmeister wurde er (1971) erst im hohen Alter abgesägt.
~~~ Von einem bedenklichen Alkoholgenuß Rubinsteins ist nirgends die Rede. Dafür soll der vermutlich fromme und abstinente Mann starker Kaffeetrinker gewesen sein. Man ahnt hier doch eine enorme Verbissenheit. Rubinsteins Kindheit kann übrigens kein Deckchensticken gewesen sein. 14 Kinder in der Familie, fast alle sterben früh. Auch sein Vater stirbt bereits einige Wochen vor Akibas Geburt. Der Stiefvater ist Rabbiner in Bialystok. Knabe Akiba will oder soll in seine Fußstapfen treten, frönt dann aber in Gastwirtschaften lieber dem Schachspiel, das er gerade erst entdeckt hat. Er mausert sich zum stärksten Spieler der ostpolnischen Großstadt. Mit der Volljährigkeit kann er sich anscheinend nach Lodz absetzen, einer Schachmetropole. Damit begann sein unaufhaltsamer Aufstieg. Sein Fall zog sich dann ebenfalls hin. Ich stelle mir Rubinsteins Niedergang als ein zähes Festhalten vor. Anderen gelingt es hin und wieder, über nacht umzusatteln und auf ein neues Pferd zu setzen. Die größten Glückspilze sind allerdings die Leute, die überhaupt keine Pferde benötigen. Sie gehen überall zu Fuß.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 32, August 2024
* Edward Winter, »Akiba Rubinstein‘s Later Years«: https://www.chesshistory.com/winter/extra/rubinstein1.html, Stand 2024
In seinen zwei Spalten zum Schachspiel geht Brockhaus leider mit keinem Komma auf den mental-militärischen Gesichtspunkt des beliebten Zeitvertreibes und Sportes ein. Dabei lebt im Grunde sogar Stefan Zweigs berühmte, im Eintrag nicht erwähnte Schachnovelle von diesem Zug. Ich sprach ihn soeben mit Akiba Rubinstein und nebenbei auch mit Carl Göring aus meinen Nasen an. Im Falle Görings, der sich 1879 (in Eisenach) umgebracht haben soll, sind zumindest die Beweggründe für den Selbstmord undurchsichtig. Man glaube aber nicht, im Falle des britischen Schach-Asses Jessie Gilbert (1987–2006) seien wir klüger, weil wir inzwischen auf Sensationsjournalismus und Internet bauen könnten. Ich führe Gilberts Fall an, obwohl sie natürlich für den Brockhaus viel zu jung war.
~~~ Immerhin darf man vielleicht annehmen, Jessie hätten nicht nur die großen Hoffnungen gedrückt, die auf ihr ruhten. Mit 12 Jahren hatte das britische Mädchen als jüngste Spielerin aller Zeiten die Schach-Amateurweltmeisterschaft der Frauen gewonnen. Darauf Sportminister Tony Banks: »We are extremely proud of what Jessie Gilbert has achieved for chess and for this country.« Das war 1999 gewesen. Jessie errang weitere Titel und ein Stipendium, um in den USA mit Großmeister Edmar Mednis zu trainieren. Nebenbei erwarb sie sich das Anrecht, ab September 2005 Medizin in Oxford zu studieren. Im Dezember 2005 schlug sie in ihrem Heimatclub Coulsdon den englischen Großmeister Danny Gormally. Im Februar 2006 gewann die inzwischen 19jährige die Korean International in Südkorea. Alexander Baron bescheinigt der stämmigen, sommersprossigen und »unscheinbaren« jungen Frau, die stets in Jeans auftrat, sie sei zwar hochintelligent gewesen, aber auch schüchtern – ihr Selbstbewußtsein habe »die Stärke einer Briefmarke« besessen. Damit eilte sie also von Erfolg zu Erfolg. Nachdem sie im Mai desselben Jahres an der Schacholympiade in Turin teilgenommen hatte, wo die Frauen und Männer aus Großbritannien keinen Medaillenrang belegen konnten, fuhr sie in die ostböhmische Stadt Pardubice, um an den alljährlich ausgetragenen Czech Open teilzunehmen. Das Ende dieses angesehenen Turniers erlebte sie nicht mehr. In der Nacht vom 26. auf den 27. Juli 2006 fiel sie unter bis heute ungeklärten Umständen aus dem Fenster ihres im achten Stockwerk gelegenen Hotelzimmers, wobei sie zu Tode kam.
~~~ Jessie hatte sich das Zimmer mit ihrer besten Freundin A. geteilt, einer erst 14jährigen Nachwuchsspielerin. Das Fenster war wegen der Sommerhitze (oder aus kühler Berechnung) offen geblieben. Angeblich nahm die Freundin von dem tödlichen Vorgang nichts wahr, weil sie unterdessen mit Übelkeit im Bad verschwinden mußte. Die beiden hatten einiges getrunken. Die Quellen schweigen darüber, ob Dritte Zugang zum Zimmer hatten und ob sie, wenn ja, ein Mordmotiv gehabt hätten. Was das Opfer betraf, brachte man auch Jessis Neigung zum Schlafwandeln ins Spiel. Zudem stellte sich heraus, daß sie Medikamente gegen Depressionen nahm und bereits mindestens einen Selbstmordversuch mit Tabletten hinter sich hatte. Sie war damals, 2004, aufgrund einer Überdosis Paracetamol im East Surrey Hospital aufgewacht. A. sagte aus, Jessie habe sich in jüngster Zeit wiederholt Schnittwunden beigebracht, ohne darüber mit ihrer Mutter zu sprechen. Solche Wunden wurden auch gefunden. Allerdings sind für Jessies Tage in Pardubice keine mündlichen oder schriftlichen Äußerungen bekannt, die eine selbstmörderische Absicht bekundet hätten. Englische Gerichte führten eine Untersuchung durch. Im September 2007 erklärten sie den Fall zum open verdict, was bedeudet, aufgrund von Ungereimtheiten läßt sich der betreffende Tod vorläufig nicht zweifelsfrei der einen oder anderen üblichen Todesursache zuordnen.
~~~ Die Mutter der toten Schachhoffnung glaubt an Selbstmord.* Jessies Eltern Angela and Ian Gilbert, sie Wissenschaftlerin, er Bankmanager, hatten sich 2003 getrennt. Jessie lebte mit ihren drei Schwestern bei ihrer Mutter in Reigate, Südostengland, der Vater in London. Wenige Tage nach dem rätselhaften Tod seiner Tochter stellte sich Ian Gilbert als Angeklagter in einem Verfahren um sexuelle Gewalt heraus. Es soll um wiederholte Vergewaltigungen und unzüchtige Handlungen, auf mehrere Opfer verteilt, gegangen sein. Was Wunder, wenn die Presse daraufhin bald argwöhnte, auch Gilberts Tochter könne zu diesen Leidtragenden zählen. Die Verhandlungen gegen Ian Gilbert begannen erst Ende August des Jahres 2006. Seine Tochter konnte also nicht mehr aussagen, weil sie schon einen Monat vorher gestorben war.
~~~ Allerdings legte der Staatsanwalt im November ein Tonband-Vernehmungs-Protokoll der Polizei vor, wonach Jessie ihren Vater schon vor längerer Zeit bezichtigt hatte, sie erstmals als Achtjährige und dann über Jahre hinweg nachts belästigt und geängstigt zu haben. Er sei auch ins Bad gekommen, wenn sie duschte, und einmal, im Januar 2003, habe er sie, aus nichtigem Anlaß zornig geworden, mit einem Kabel zu erdrosseln versucht. Sie hatte gemault, weil ihr Vater leihweise ihren Laptop benutzen wollte. Bei diesem Vorfall war sogar Polizei ins Haus gekommen, ohne daß er gerichtliche Folgen nach sich gezogen hätte. Er löste nur die Scheidung der Eltern aus.
~~~ Im Dezember 2006 wurde der 48jährige Gilbert, dem seine neue Ehefrau Sally beistand, die zufällig Rechtsanwältin ist, von allen Vorwürfen freigesprochen. Was seine Tochter betrifft, hatte er während der Verhandlung vermutet, sie habe sich mit ihren Aussagen an ihm rächen wollen, etwa wegen der Trennung von ihrer Mutter oder wegen jenes Übergriffes mit dem Kabel. Was die Mutter angeht, berichtete die Presse zwei Tage nach der Urteilsverkündigung, die 53jährige sei vorübergehend von der Polizei verhaftet worden, weil sie angedroht habe, ihren Ex-Gatten zu töten. Der Staatsanwalt werde diese Sache aber auf sich beruhen lassen. Als Polizeipsychologe von Scotland Yard hätte ich die Gelegenheit genutzt, mich einmal bei der Wissenschaftlerin zu erkundigen, ob sie es für denkbar halte, gleichfalls einen Anteil am folgenschweren Werdegang ihrer hochbegabten Tochter zu haben. Entrüstung! Dienstaufsichtsbeschwerde!
~~~ Obwohl er Ian Gilbert ausdrücklich für einen »schlechten Vater« und einen nicht minder schlechten Ehemann hält, ist auch der Schachspieler Alexander Baron davon überzeugt, Gilbert habe seine Tochter weder mißbraucht noch sie getötet. Landsmann Baron, Jahrgang 1956, war einige Male gegen Jessie angetreten, wobei er offenbar auch Niederlagen einstecken mußte, obwohl er erheblich älter und erfahrener als seine Gegnerin war. Inzwischen hat er eine Bibliographie über Jessies Partien verfaßt und betreibt zudem die Webseite The Jessie Gilbert Virtual Archive zu ihrem Gedenken. Für Baron besteht kein Zweifel daran, daß sich Jessie geplant und eigenhändig aus jenem Fenster warf – die große Frage sei nur, wer oder was sie »geschoben« habe, wie er 2011 im Internet schreibt.** Barons Antwort lautet: es waren Geister, Alpe, Dämonen. Man erinnere sich an Jessies Neigung zum Schlafwandeln – früher auch mit der Wendung umschrieben, jemand sei »vom Nachtschreck« besessen. Jessies Sehnsüchte und Ängste sowie ihren Medikamentenmißbrauch hinzugenommen, könnte man natürlich auch kurzerhand von Wahnvorstellungen sprechen. Dazu neigen SchachspielerInnen ohnehin gleichsam von Berufs wegen, wie der Autor Mathias Bröckers meint (siehe Nasen-Göring). Für Baron hat sich jener gewalttätige, nie geahndete Übergriff ihres Vaters (Versuch des Erdrosselns) auf eine Weise mit Alpträumen und Halluzinationen verbunden, die sie tatsächlich davon überzeugt sein ließen, er habe sich an ihr vergangen. Insofern hätte sie die vernehmenden Polizeibeamten keineswegs belogen.
~~~ Diese Vermutungen erklären freilich weder, warum sie nur den Ausweg des Selbstmordes sah, noch warum sie diesen – falls es einer war – ausgerechnet kurz vor Ende des hochrangigen Schachturniers in Pardubice beging (12.–29. Juli 2006). Mit vier Unentschieden und einem Sieg hatte sie sich bis dahin (26. Juli) in dem stark besetzten Turnier durchaus beachtlich gehalten. Ihre Mutter sagte dem Evening Standard 2007, durch das Match, das Jessie am Nachmittag vor der Unglücksnacht spielte, habe sie ihre Ranglistenposition im Women's International Master erneut verbessern können. Gleichwohl kann Jessi an »Versagensangst« gelitten haben. Aber auch von diesem, eigentlich naheliegenden Gesichtspunkt ist in den Quellen nie die Rede.
~~~ Der Daily Mail zufolge neigte die tschechische Polizei zu der Annahme, die 19jährige habe Angst vor dem bevorstehenden Prozeß gegen ihren Vater gehabt. Das wäre auch kaum verwunderlich gewesen – zumal dasselbe Blatt nur zwei Tage nach dem Unglück fast die Hälfte seiner Titelseite mit einem Foto, das Jessie über Schachfiguren lächelnd zeigt, und der Balkenüberschrift ausfüllt Chess Girl's Father Is Accused Of Raping Her.*** War sie so scheu, wie Baron sie hinstellt, muß das Ganze ja eine Marter für die junge Frau gewesen sein. Möglicherweise bereute sie ihre Anschuldigungen inzwischen auch wieder. Vielleicht schämte sie sich vor ihren Schwestern oder Freundinnen. Vielleicht fürchtete sie auch, ihr eigenes Liebesleben, falls es denn vorhanden war, könne zur Sprache kommen. In allen Quellen fällt zu diesen Gesichtspunkten nicht ein Wort. Man fragt auch nie, warum sie sich, mit acht Jahren, ausgerechnet für das so scharfsinnige wie unsinnliche Schachspiel erwärmt habe. Gutshofkind Göring hätte es vielleicht erklären können. Hätte sich Jessie erst mit 18 aufs Schachspielen geworfen, läge die Angelegenheit womöglich einfacher: »Da bildet sich eine mal wieder ein, sie könne ein Trümmerfeld in ein Schachbrett verwandeln …«
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 33, August 2024
* »Abuse case chess girl Jessie Gilbert did kill herself, says mother«, Evening Standard, ursprünglich 27. September 2007: https://www.standard.co.uk/news/abuse-case-chess-girl-jessie-gilbert-did-kill-herself-says-mother-6626755.html
** Alexander Baron, »Who killed Jessie Gilbert?«, Digital Journal, 14. Dezember 2011: https://www.infotextmanuscripts.org/djetc/dj-who-killed-jessie-gilbert.html
*** (»Vater des Schachgirls beschuldigt, sie vergewaltigt zu haben«), Printausgabe 28. Juli 2006, online https://www.dailymail.co.uk/news/article-398148/Chess-girls-father-accused-raping-her.html
Schaulust und Abstumpfung
Der Vorfall ist zunächst bezeichnend für den herzlosen Zustand der zivilisierten Länder, in denen man heutzutage leben muß. In einer Gasse der Millionenstadt Foshan (Provinz Guangdong, Südchina) wurde das kleine Mädchen Wang Yue, auch Yue Yue genannt, am Nachmittag des 13. Oktober 2011 von einem Auto überfahren. Die Zweijährige war ihrer Mutter weggelaufen.* Nun blieb das Kind blutend auf der belebten Gasse liegen. Eine Minute später kam noch ein Kleinlaster, der es genauso überfuhr. Beide Fahrer hielten nicht an. Zufällig wurde das Geschehen beziehungsweise Nichtgeschehen von der Überwachungskamera einer Eisenwarenhandlung aufgezeichnet. Danach waren es in rund sieben Minuten geschlagene 18 Passanten, die dem Verkehrsopfer ebenfalls keine Hilfe leisteten. Es mußte erst eine 57jährige Müllsammlerin kommen, die sich um Yue Yue kümmerte. Doch das Mädchen starb am 21. Oktober 2011 im Krankenhaus.
~~~ Immerhin rief der Vorfall heftige Diskussionen in der chinesischen Öffentlichkeit hervor. Selbstverständlich ist er weder typisch chinesisch noch brandneu. Trotzdem drängt sich die Frage auf, was das eigentlich für ein Gesellschaftssystem gewesen sein soll, das die Leute angeblich 50 Jahre lang »kommunistisch« prägte, aber so gut wie keine entsprechenden Spuren hinterließ – keine Spuren jenes »Mitgefühls«, das etwa die Schriftstellerin Xiao Hong in den vorkommunistischen Zeiten vermißt hatte; keine Spuren dessen, was man in der DDR als »Solidarität« hochgehalten hatte, sogar nicht nur auf Spruchbändern …
~~~ Im übrigen steht zu befürchten, Schaulust und Abstumpfung hätten in der Postmoderne eine Vormachtstellung errungen, gegen die wahrscheinlich nichts und niemand mehr ankomme. Leider finde ich keine entsprechenden Statistiken oder Studien. Ich kann jedoch mit einigen weiteren sprechenden Fällen dienen, die ich meinem Archiv entnehme. Im Juni 1981 waren Scharen von Rettungskräften unter lebhafter Anteilnahme von geilen Rudeln der Medien bemüht, Alfredo Rampi (1975–81) in Frascati (bei Rom in den Albaner Bergen) aus einem Brunnen zu bergen, in den er gestürzt war. Der Brunnen war 80 Meter tief, aber nur 30 Zentimeter breit. Ungefähr auf 30 Meter stecken geblieben, rutschte der sechsjährige Junge zu allem Unglück während der Rettungsversuche noch tiefer. Alle Versuche mißlangen. Alfredo starb nach rund drei Tagen schrecklicher Gefangenschaft. Soweit ich sehe, war der Brunnen nicht oder nur mangelhaft abgedeckt, weshalb man den Grundstückseigentümer später zur Verantwortung zog. Was die Rudel der sogenannten Massenmedien angeht, sprach F. G. Jünger bereits um 1950 (in Die Perfektion der Technik) von fliegenhafter Zudringlichkeit. Ihre Rechtfertigung war nie glaubhaft. Was trug das völlig überzogene Aufsehen zu Alfredos Rettung bei? Nichts. Was hatten die Vorbeugung, was »die Wahrheit« oder »die Geschichtsschreibung« davon? Nichts. Was hier allein profitierte, waren diverse Konzerne und ihre journalistischen HandlangerInnen, die sich enorm in ihrer Bedeutung gehoben sahen. Sie waren vor Ort. Sie waren mitten drin. Aber jener »unausrottbare Gegenwartsstolz«, den Ernst Kreuder beklagt hatte, ließ natürlich auch ihr Millionenpublikum wieder ein paar Zentimeter wachsen. Heute hat der Fernsehkonsument schon fast die Höhe seines ungefähr garagentorgroßen Bildschirms erreicht. Er ist dabei. Nichts entgeht ihm – nur das, was er nach Auffassung der MacherInnen besser nicht sehen soll. Er bekommt alles mit, ohne sich auch nur von der Stelle zu rühren. Jetzt erlebt er, wie die Bohrkräne über dem tückischen Kerker des Knaben auffahren. »Ach wie gut, daß unsere Kleinen in Corona-Quarantäne sind!« nicken sich zwei Nachbarinnen in Brüheim an der Nesse erleichtert zu. »Ihnen kann so etwas nicht passieren.«
~~~ Etwas später ergatterte der südafrikanische Bildjournalist Kevin Carter (1960–94) mit seinem »Geierfoto« den Pulitzer-Preis des Jahres 1994. Ein etwa zweijähriges dunkelhäutiges Kind ist, wohl vor Entkräftung, im Sand des Sudan zusammengebrochen. Wenige Meter hinter ihm hat sich ein Geier niedergelassen, der es lauernd beobachtet. Carter will seinerseits noch bis zu 20 Minuten darauf gelauert haben, ob der Aasjäger womöglich auch noch wirkungsvoll seine mächtigen Schwingen ausbreiten würde. Das tat er nicht. In der ganzen Zeit hätte Carter das Kind beispielsweise aufheben und zur nahen Ausgabestelle der UN-Hungerhilfe tragen können, mit deren Flugzeug er an diesem Tag eingetroffen war. Immerhin scheint er durch sein über Nacht berühmtes Foto sowohl unter Freunden wie seitens der Öffentlichkeit einiges Befremden geerntet zu haben, das ihm arg zusetzte. Manche KritikerInnen drückten dies recht treffend mit der Bemerkung aus, Carter habe wohl früher oder später geahnt, auf dem Foto seien zwei Geier zu sehen; einer davon sei er selber gewesen. Noch im Erfolgsjahr brachte sich der 33jährige (in Johannesburg) um, aber wohl aus vermischten Motiven.
~~~ In meinem 2006 veröffentlichten Aufsatz »Klappe zu, Affe tot« (gegen Fotografie und Verbilderung überhaupt) erwähnte ich ein ähnliches Beispiel abgebrühter Beobachtungstätigkeit aus England. In einem Sheffielder Fußballstadion ist eine Panik ausgebrochen. Wir sehen die verzerrten Gesichter der Fans, die am Schutzgitter erdrückt zu werden drohen. Sie werden auch erdrückt. Der Fotograf Soundso schreitet nicht ein oder reißt sich, weil keine Leiter zur Hand ist, vor Verzweiflung die Haare aus; vielmehr setzt er geistesgegenwärtig einen Schnappschuß, der sogleich durch alle Zeitungen geht und später auch noch einen wichtigen Preis erringt. Indem sie starben, machten ihn die Fans unsterblich. Seine Verdauung ist in Ordnung, und auch die Chefredakteure und PreisrichterInnen schlafen gut, schrieb ich damals. Inzwischen nehme ich an, es war die »Hillsborough-Katastrophe« vom 15. April 1989, die fast 100 Todesopfer und rund 750 Verletzte forderte. Die Welt zeigt davon Bilder, darunter wohl auch das von mir gemeinte Foto vom Schutzgitter.** Den Namen des betreffenden Fotografen kann ich nicht finden. Im selben Text spreche ich, zusammen gezogen, von der Mühe- und Schamlosigkeit des Fotografierens. Kein Mißgeschick ist vor dem Druck auf den Knopf sicher, aber immer wird das Motiv so tadellos dargestellt, daß nichts zu meckern bleibt. Für eine neue Videokamera warb Canon einmal mit dem Spruch, nie sei Perfektion so leicht gewesen. Warum sich im Training mit langen Pässen a lá Günter Netzer auf Erwin Kremers oder am Klavier mit Etüden abplagen, wenn man dies alles schön vergrößert und eingerahmt an die Wand hängen beziehungsweise als Konserve in den Recorder stecken oder am Computer mit einem Mausklick abrufen kann? Dabei Bier und Pizza, wahlweise Reis-Risotto.
~~~ Damit zum jüngsten mir bekannten Fall, der jenem Vorfall in China ähnelt. Der dunkelhäutige, aus Nigeria stammende 39 Jahre alte Alika Ogorchukwu, Bürger der mittelitalienischen Küstenstadt Civitanova und verheirateter Vater eines Kleinkinds, hatte aufgrund eines Unfalls seine Arbeitsstelle verloren und betätigte sich seitdem als Straßenhändler. Er mußte sich nun mit einer Krücke behelfen. Er stand immer in einer belebten Einkaufstraße. Er galt als freundlich und friedlich. Prompt brach ein 32jähriger italienischer Kunde am hellichten Tag (29. Juli 2022) aus sehr wahrscheinlich nichtigem Anlaß einen Streit vom Zaun. Rasch zu Raserei gelangt, entwand er Ogorchukwu die Krücke, schlug ihn damit nieder, hockte sich auf ihn und erwürgte und erdrückte ihn – tot. Dann stahl er das Handy seines Opfers und flüchtete. Die Polizei faßte ihn. Sie behauptet, er habe keine rassistischen Beweggründe gehabt. La Repubblica, Junge Welt und ähnliche Blätter sehen das anders. Die Gegend ist für Haß und Gewalttaten gegen Ausländer bekannt. Ein Rechtsanwalt reklamierte pflichtschuldig »psychische Probleme« des Täters.
~~~ Nun ist aber zu beachten: Der ganze Streit einschließlich Totschlag trug sich unter den Augen etlicher Passanten zu. Niemand von denen griff ein. Stattdessen hätten viele von ihnen die Szene mit ihrem Smartphone gefilmt, versichern mehrere Quellen, darunter auch die Webseite The Nigerian Voice.*** Es habe allenfalls einige Zwischenrufe gegeben. Dieser Tatbestand ist sicherlich ähnlich bestürzend wie der Mord.
~~~ Andere Rechtsanwälte werden vielleicht einwenden, diese neuartigen Bild-Dokumentationen von Verbrechen seien doch geradezu Glücksfälle. Schließlich erleichterten sie die Überführung und Bestrafung vieler TäterInnen. Und damit liegen diese Rechtsanwälte gut im Trend. In der Postmoderne scheint es viel wichtiger zu sein, Verbrechen zu bestrafen als Verbrechen zu verhindern. Das trifft sich wiederum mit der anschwellenden Schaulust der Massen. Die Massen verlangt es nach Sensationen. Sie möchten den Totschlag sehen, die Richter in den Roben, die zusammenbrechende Braut des Täters und dann möglichst auch noch dessen Hinrichtung. Auch dabei fließt natürlich wieder viel Bier oder Rotwein die Kehlen hinab.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Henrik Bork (Peking), »Protestieren, diskutieren, schönreden«, Süddeutsche Zeitung, 25. Oktober 2011: https://www.sueddeutsche.de/panorama/unfalltod-der-kleinen-yue-yue-in-china-protestieren-diskutieren-schoenreden-1.1172201
** https://www.welt.de/sport/gallery126879507/Die-Katastrophe-von-Hillsborough.html
*** 31. Juli 2022: https://www.thenigerianvoice.com/news/310723/how-a-nigerian-citizen-was-beaten-to-death-in-italy.html
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