Sonntag, 12. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 31
Rechtha – Rev

Rechthabertum

Die kroatische Küstenstadt Zamir kann Brockhaus schlecht kennen, da sie vor rund 10 Jahren von mir erfun-den wurde. Sie diente mir damals als Hauptschauplatz einiger Erzählungen um den jungen Kriminalkommissar Danilo Matavulj. Ein guter Freund von ihm war der deutschstämmige Akrobat und Snookerspieler Fritz. Dieser baumlange, blonde Mann nistete sich nach dem Unfalltod seiner Gefährtin am Hang oberhalb der Stadt in einem ehemaligen Tagelöhnerhäuschen vom benachbarten Weingut ein. Das Häuschen war nun seine Einsiedler-klause. Bei Danilos Antrittsbesuch (es gibt gebackene Forelle unter Olivenbäumen) erzählt Fritz dem Freund die Geschichte mit dem Laufbrunnen am Waisenhausplatz.
~~~ Fritz hatte auf seinem Grundstück anfangs noch nicht einmal Wasseranschluß. Deshalb bezog er sein Trink-wasser eine Zeitlang von jenem Brunnen. Und da er ja sowieso täglich zum Brunnen mußte, um seinen Kanister zu füllen, schlug er meistens zwei Fliegen mit einer Klappe. Er stieg in seinen kurzen Hosen ins Brunnenbecken, um sich zu erfrischen, zu säubern und auch gleich noch sein Hemd und seine Socken durchzuspülen. Er sagte sich, das Wasser flösse ja ab. Doch etliche Blicke von Passanten oder Anwohnern waren weniger erquickend als das Brunnenwasser. Sie verachteten sowohl die offensichtliche Armut des langen Blonden wie dessen unnormales Treiben. Den Vogel schoß dabei ein Junge um 13 ab, der exakt dem zeitgenössischen Typ entsprach: dicklich, pomadig, Hosenbeine drei Meter lang. Da er gerade Herbstferien hatte und am Waisenhausplatz wohnte, ertappte er Fritz oft. Um den Ertappten zu zitieren:
~~~ »Als diese Tröte zum dritten Male stehen blieb und mich haßerfüllt fragte, ob ich mir meine Füße nicht zu Hause waschen könne, konnte ich mein mir verordnetes Schweigegebot nicht mehr einhalten. Ich habe kein Zuhause, entgegnete ich mit erzwungenem Gleichmut. Ich schlafe unter den Dubrina-Brücken. Diese Eröffnung konnte den Bengel allerdings nur im Augenblick verunsichern. Sein Haß verfolgte mich über Wochen – auch dort drinnen [in seinem Häuschen] beim Dielenverlegen, sogar spätabends vorm Einschlafen. Ich hätte ihm die Zähne ausschlagen können. Stattdessen fragte ich mich wie ein Sozialfürsorger, warum der Bengel das mache.«
~~~ Fritz schwieg und blinzelte zu seinen Olivenbäumen, die darauf warteten, die Abendsonne aufzuspießen. Der Hang ging gen Westen, auf die Adria. Danilo zuckte die Achseln: »Er hatte Lust, dich zu terrorisieren, mein Lieber. Du warst ihm ja ausgeliefert, weil du auf den Brunnen angewiesen warst. Und den lieben langen Tag vorm Computer zu sitzen, um Moorhühnchen abzuballern, war ihm doch zu langweilig geworden. In dir hatte er ein leibhaftiges Freiwild vor der Nase.«
~~~ Fritz nickte, sagte jedoch: »Das genügte mir nicht als Erklärung. Ich kam zu der Einschätzung, er fühle sich angegriffen. Mein Außenseitertum stellte des Bengels Innenseitertum in Frage. Körperpflege hat in häuslichen Badezimmern stattzufinden; Papa bezahlt mir‘s. Jetzt wird diese Linie bezweifelt. Es droht ihm, nicht mehr richtig zu liegen – nicht mehr recht zu haben. Alles Ressentiment gedeiht im Rechthabertum. Das trifft selbstverständlich auch ZigeunerInnen, IndianerInnen oder auch die Schwulen, wenn du nur an Dejicas Mitstreiter Grübchen denkst. In der Stadt Rosarno da drüben« – er nickte zum Meer, weil Rosarno in Italien lag – »jagen sie gerade afrikanische SaisonarbeiterInnen mit Eisenstangen, Schrotflinten oder Autos durch die Straßen, wie ich gestern im Internet gelesen habe. Da mischen solche 13jährigen sicherlich ebenfalls mit.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024

Siehe auch → Hattemer (Meinungen) → Klima, Hockeystick (s. gegen Ende)




Rechtschreibung

Der langjährige Lehrer an der Leipziger »Städtischen Realschule« Karl Klaunig (1824–62), verheiratet mit der 10 Jahre jüngeren Thecla geb. Berndt und Vater von mindestens einem Sohn namens Carl Kurt, war federführend an der Erarbeitung einheitlicher Rechtschreibregeln zunächst für die Schulen Sachsens, bald auch vieler anderer deutscher Staaten, darunter Preußen, beteiligt. Er starb auch in Leipzig, mit 37 – aber woran? Nach freundlicher Auskunft eines Leipziger Stadtarchivars (für 28 Euro) weiß man‘s wieder einmal nicht genau. Aufgrund der Personalaktennotiz »wegen gänzlicher Untüchtigkeit aus dem Militärdienst freigelassen« könne man jedoch eine schwache Gesundheit vermuten. Und in der Tat, im Leipziger Tageblatt vom 22. Februar 1862 finde sich die private Todesanzeige der Witwe, wonach ihr »guter Mann … nach langer Krankheit gestern Mittag« entschlafen sei.
~~~ Worin Klaunigs »Güte« bestand, wissen wir also auch nicht genau. Gewiß könnte einer auf Klaunigs Verdienste als Grammatiker pochen, aber mit denen will ich mich ungern beschäftigen, weil ich das in gewisser Weise schon früher tat. Hier nur das folgende. Neulich zeigte sich ein Kunstwissenschaftler, den ich um einige Auskünfte gebeten hatte, von meiner altmodischen Rechtschreibung erstaunt. Die würde doch vermutlich einige LeserInnen vor den Kopf stoßen, mir also schaden. Aber »erstaunt« ist noch höflich ausgedrückt. In Wahrheit dürfte er mich für einen greisen Kauz und Kindskopf halten, der unbelehrbar seine Grillen pflegt. So ganz falsch ist das freilich nicht. Zwar meine ich, den übergroben und nebenbei sündhaft teuren Unfug der jüngsten »Rechtschreibreform« ziemlich unwiderleglich in meinem 2016 veröffentlichten Aufsatz »Ihr tut mir Leid« dargestellt zu haben, aber selbstverständlich ist die Sache längst gelaufen. Das ist ja gerade das Schlimme. Der Mensch gewöhnt sich an alles; das »Skandalöse« einer genauso fruchtlosen wie überflüssigen Rechtschreibreform oder einer sogenannten Schweinegrippe (2009) hat er nach wenigen Jahren, ja Monaten vergessen; er paßt sich jedem Sprung von ß zu ss oder umgekehrt wie ein Chamäleon an den Wechsel von Sonnenlicht und Baumbestand an.
~~~ Es ist also nicht so, daß ich mir einbildete, durch meine winzigen Widersetzlichkeiten der Menschheit zu dienen. Ich diene mit ihnen vor allem mir selber, nämlich meinem Gewissen und meiner Selbstachtung. Auf die Sache kommt es dabei noch nicht einmal in erster Linie an. Ich könnte auch auf den Gebieten des Gartenbaus oder der Haartracht rebellieren. Nur auf allen zusammen nicht. Man muß sich, je nach persönlicher Beschaffenheit, kurzerhand ein paar bestimmte Dinge herauspicken, und in denen hat man dann konsequent zu sein. Wenn es hochkommt, hat es sogar doch eine gewisse Signalwirkung. Zum Beispiel fahre ich seit dem Ende meiner Kommunezeit (2006) kein Auto mehr – und eine etwas jüngere Freundin hält es inzwischen genauso, obwohl sie keineswegs so arm ist wie ich. Kinder kann sie ja sowieso nicht mehr kriegen – sie weiß, ich bin Gründer des BAM, des Bundes für die Abdankung der Menschheit. Sie weiß auch, daß ich mich des Fernsehens sogar schon seit inzwischen rund 40 Jahren enthalte. »Und was machst du, wenn die Zwangsimpfung kommt ..?« – »Ich hoffe, sie wird mich in meiner unauffälligen Kleinstadtrandexistenz nicht erreichen.« – »Und wenn doch ..?«
~~~ Hoffen wir, ich bleibe prinzipienfest. Die Impfschäden könnte ich wohl verkraften, denn in wenigen Jahren liege ich, soeben 71 geworden, sowieso in der Kiste. Aber diese Form der staatsterroristischen Abstempelung, die so offensichtlich an gewisse Todesstrafenpraktiken und an gewisse mit Gaskammern bestückte Barackenlager erinnert, ist zuviel. Da werde ich notfalls toben. Zuerst werden sie mich vielleicht nur schneiden und erpressen, wie jene freundlichen Email-DienstleisterInnen, die mich mit immer neuen Drohungen und Schikanen zum Genuß von Werbung zwingen wollen. Sie werden mir den Besuch meines Zahnarztes unmöglich machen, weil ich diesem keinen »Impfpaß« vorlegen kann. Rücken sie aber mit Handschellen an, werde ich mich unter Umständen an das Muster erinnern, daß Alfred Andersch (1957) in Sansibar mit seinem Pfarrer Helander gab. Ich kann das Buch getrost anführen, weil die Leute, die uns regieren und zensieren, sowieso Analphabeten sind.
~~~ Vielleicht wird sich mancher fragen, ob ich keine anderen Sorgen als orthographische oder Zahnprobleme hätte. Meine Antwort: Habe ich durchaus. Am Abend des 3. März 2021 verschwand die 33jährige Sarah Everard in Südlondon, als sie von der Wohnung einer Freundin nach Hause ging. Auf diesem Weg hatte sie sogar noch mit ihrem Freund telefoniert. Einige Tage später wurde ihre Leiche in einem Wald in Kent gefunden. Vermutlich war sie von einem 48 Jahre alten Elite-Polizisten nach Schichtende entführt und getötet worden; der Mann sitzt in Untersuchungshaft. Als es in London zu einer »ungenehmigten« Mahnwache von Frauen kam, schritt die Polizei, wegen der »Corona-Ansteckungsgefahr«, so brutal gegen verschiedene Teilnehmerinnen ein, daß sogar der Londoner Bürgermeister Sadiq Kahn und noch höhere Tiere schimpften. Jetzt wird die Londoner Polizeichefin Cressida Dick zum Rücktritt aufgefordert. Sie will aber nicht. Laut Christian Bunke* sind schon wieder gesetzliche Verschärfungen = Beschneidungen des Demonstrations-rechtes auf dem Weg ins Unterhaus, und selbstverständlich würden daran auch 50 NachfolgerInnen von Dick nicht mit vereinten Kräften rütteln. Nebenbei umfaßt der betreffende Polizeigesetzentwurf, der unter anderem auch Kindern und Frauen mehr Beistand verschaffen soll, rund 300 Seiten. Glaubt einer wirklich, die Ärsche im Unterhaus würden das lesen? Jener Elite-Polizist gehörte übrigens einer Einheit zum Schutz von Parlamentariern und Diplomaten an. Ja prima, ringsum wird der Bürger nur »geschützt«, General von Trotha (»Deutsch-Südwestafrika«) und Heinrich Himmler hätten ihre Freude daran.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.heise.de/tp/features/Mit-Corona-Regeln-gegen-Proteste-nach-Polizeimord-5988582.html, Telepolis, 16. März 2021



Ihr tut mir Leid / 20 Jahre Rechtschreibreform --- Mit ihrer Nummer 15 des Vorjahres, erschienen im August 2015, schwenkte auch die oft erfreulich kritische, roteingeschlagene Zweiwochenschrift Ossietzky ein. Sie schreibt jetzt ebenfalls »reformiert«. Sie wolle damit vor allem der Verwirrung aller schulpflichtigen und jüngeren LeserInnen vorbeugen, hieß es kurz und befremdlich zur Begründung. Die Zeit hätte dazu wahrscheinlich höflich angemerkt: endlich hat auch dieses Blättchen, nach uns Großen und der Jungen Welt, »klein beigegeben«. So steht es in einem Interview mit Ex-Kultusminister Zehetmair, auf das ich noch zurückkommen werde.
~~~ Dafür fand am 1. August 2015, somit zufällig zur selben Zeit, ausgerechnet die FAZ zu ungewohnten antiautoritären Tönen.* In Gestalt ihrer Berliner Korrespondentin Heike Schmoll zog sie die niederschmetternde Bilanz eines »obrigkeitlichen Gewaltaktes der Kultusbürokratie«. Gemeint war eben die jüngste, ab 1996 eingeführte, »mehrere Milliarden teure« deutsche Rechtschreibreform, die sich dann durch beflissene wiederholte »Nachbesserungen«, so das widerliche Modewort, noch verheerender auswirkte, als sie schon vom Kern her war. Für gewisse Verlage und HerausgeberInnen von Wörter- und Schulbüchern, ja selbst von sogenannten Klassikern, stellte sie allerdings ein Segen dar. Duden und Wahrig etwa, kraft ihres quasi-amtlichen Monopols schon immer eine Kuh, die nie versiegenden Honig gab, bekamen nun auch noch goldene Hufe.
~~~ Für Schmoll hat die Reform zugleich für Chaos und Uniformierung gesorgt. Die neuen Schreibungen hätten zahlreiche Möglichkeiten feiner Unterscheidungen »sprachlich und gedanklich planiert«. Ähnlich äußerte sich kurz zuvor, am 30. Juli, Steffen Könau in der Mitteldeutschen Zeitung. Aus seiner Sicht hat die Reform nicht weniger als die Auflösung der sprachlichen Verbindlichkeit bewirkt. »Das Ergebnis ist jeden Tag auf Whatsapp, Facebook, Twitter und den Diskussionsforen der Nachrichtenportale zu besichtigen. Regellosigkeit ist die Regel. Nach dem Komma und all den anderen Satzzeichen stirbt die Grammatik, sterben Satzbau und der Anspruch, Gedanken geradeaus zu formulieren.« Damit das Chaos perfekt wird, bieten Duden wie Wahrig in vielen Fällen Wahlmöglichkeiten an, setzen jedoch die Prioritäten unterschiedlich, sodaß sich die Konkurrenz jener beiden GralshüterInnen auch in den »Hausorthographien« zahlreicher renommierter Blätter oder Anstalten fortsetzen kann – FAZ eingeschlossen, wie ich einer Ankündigung vom 2. Dezember 2006 entnehme.
~~~ Das Reformergebnis »Orientierungslosigkeit« könnte so manchem Hirten, der gern Schafe regiert, durchaus gefallen – und womöglich fällt es auch kaum mehr auf, weil ja den Schafen das Denken zunehmend von Computern und Robotern abgenommen wird. Die werden immer »autonomer«. Bald werden sie die Texte nicht nur automatisch richtig, sondern automatisch selber schreiben. Das entlastet die Schafe. Nun finden diese die Muße, ihre sogenannte Übergewichtigkeit zu bekämpfen, indem sie wie die Affen in den Bäumen turnen. Man erwäge einmal, was uns seit zwei Jahrzehnten schon alles unter dem beflügelnden »fortschrittlichen« Deckmantel der Reform übergebraten worden ist: lauter Rückschritte. Die Reform der Streitkräfte machte Deutschland, Frauen eingeschlossen, wieder kriegslüstern; die (Riester-)Reform der Rente machte die RentnerInnen ärmer und die Versicherungskonzerne fetter; die Reform des Arbeitsmarktes – ich erspare mir das. Ich fürchte schon seit längerem, in kapitalistisch verfaßten Demokratien könnten sämtliche staatlich geleiteten »Reformen« eigentlich nur zwei Ergebnisse haben: mehr Unterdrük-kung oder mehr Chaos. Wobei wahrscheinlich das zweite Ergebnis in vielen Fällen wiederum der Herbeiführung des ersten Ergebnisses dient.
~~~ Etliche BeobachterInnen, die wie Schmoll und Könau den inzwischen herrschenden »Wirrwar« beklagen, erinnern an die einstigen Beteuerungen der Reformer-Innen, ihnen liege vor allem die Vereinfachung der Rechtschreibung am Herzen. Ja eben – ihre Verflachung … Tatsächlich sei aber das Gegenteil eingetreten. So hat sich durch Mißbildungen wie »Missstand« oder »Schifffahrt«, zottelhaarige Mammuts wie »Aftershavelotion«, Wendungen wie »einer steht Denkmal artig vor dem Bundeskanzleramt« (also nicht etwa ungehorsam), Einsparung von Kommas, Angebot des Wählens zwischen Varianten und ganz allgemein die verstärkte Beliebigkeit in der Rechtschreibung die Lesbarkeit der Texte nicht erhöht, sondern verringert. Darin aber liegt eigentlich der Sinn einer allgemeinverbindlichen Rechtschreibung: sie will nicht etwa recht behalten, wie man bei ihrem irreführenden Namen denken könnte; sie will uns vielmehr entlasten. Indem sie Verkehr und Verständnis sowohl vereinfacht wie erleichtert, ermöglicht sie uns a) die Konzentration auf den Geist des Textes, b) die Befassung mit anderen Aufgaben. Der Mensch hat ja weißgott Wichtigeres zu tun, als mühsam durch die jeweilige Variante der Rechtschreibung zu stolpern und sich dabei endlos Beulen und Kränkungen einzufangen. Oder als in den Bäumen zu turnen …
~~~ Aber die ReformerInnen beteuerten auch, ihnen liege das Wohl unserer SchülerInnen am Herzen. Die Fehlerquote in den Diktaten und Aufsätzen sei viel zu hoch. Und nun – haben sie es geschafft? Ja, nach Auskunft verschiedener Studien, die Dankwart Guratzsch am 7. November 2013 in der Welt anführt, ist es den Reformern tatsächlich gelungen, die Fehlerquote im Schnitt zu verdoppeln. Kurz darauf, am 15. November, gibt Guratzsch im selben Blatt einen kurzen historischen Abriß der Reform und weist dabei die vielgehörte Lüge zurück, es habe ein breites Bedürfnis nach ihr gegeben. Vielmehr sei sie von einem Häuflein fanatischer Linguisten und unter Bemühung des Ost-West-Konfliktes losgetreten worden. Zeitgenössische deutschsprachige SchriftstellerInnen haben sie jedenfalls nie erbeten, wie wahrscheinlich schon hinlänglich die Latte von Namen unter der Frankfurter Erklärung von 1996 beweist.** Aber gerade diese Fachleute wurden nun nicht etwa in die maßgeblichen Gremien der ReformerInnen gebeten. Vielleicht war die AkademikerInnenquote unter den SchriftstellerInnen noch zu niedrig.
~~~ Übrigens wird die Liste der UnterzeichnerInnen, aus alphabetischen Gründen, von Ilse Aichinger angeführt, die es allen (Schulbuch-)Verlagen ausdrücklich untersagte, ihre Texte für den Abdruck umzufrisieren. Ob sich die Verlage an dieses Verbot hielten und halten, steht auf einem anderen Blatt. Ich kann es kaum überprüfen, weil ich seit Jahrzehnten keinen Zugang mehr zu unserem Schulsystem habe. Am besten, man schafft es ab, dann erübrigt sich auch die Frage, für welche Rechtschreibfehler unsere Schulen Strafanstalten sein sollen. Der St. Gallener Schullehrer Stefan Stirnemann wies 2013 auf Verfälschungen von »Klassikern« durch sogenannte renommierte Verlage hin.*** Die Stadtbücherei in Bad Dürrheim, Schwabenland, nahm im August 2015 auf Geheiß des Regierungspräsidiums eine deftige »Aussortierungsaktion« vor, bei der es nur noch erstaunt, daß die betreffenden, zu wenig gelesenen oder aber falsch geschriebenen Bücher nicht sofort auf einem Scheiterhaufen landeten. Im Zeichen des erwähnten Ost-West-Konfliktes könnte man sich hier auch an die Stalinisten erinnert fühlen, die nach jeder Kehrtwende in der Generallinie eine rückwirkende Umschreibung der Geschichtsbücher verordneten. Einige Werke brockten sich ihre Ächtung wegen ungebührlichen »Wordings« ein, weil in ihnen beispielsweise »Hexen« oder 10 oder 20 kleine »Negerlein« vorkamen. Aftershavelotion und Wording! Das ehrt die deutsche Sprache ohne Zweifel viel mehr als ein Neger. Solche hirnrissigen Zensurmaßnahmen fördern mit der Geschichtslosigkeit und Unselbstständigkeit die Dummheit. Sie entsprechen übrigens dem bekannten Verfahren, unliebsame Parteien, zum Beispiel faschistische, zu verbieten, statt den Geist oder die Wirtschaftsweise zu bekämpfen, von denen sie getragen werden.
~~~ Wen wundert es, wenn man selbstkritische Äußerungen im Lager der BefürworterInnen und VerwalterInnen der Reform mit der Lupe suchen muß. Bernd Busemann, damals Kultusminister in Niedersachsen, räumte im August 2004 in einer amtlichen Verlautbarung ein: »Sprache und Rechtschreibung sind etwas Fließendes, das man dem Volk nicht mit einem politischen Beschluss verordnen kann.« Er tat es immerhin pflichtschuldig mit Doppel-s. Johanna Wanka, damals Kultusministerin von Brandenburg, ließ sich Ende 2005 von Spiegel-Journalisten**** das Eingeständnis abringen: »Die Kultusminister wissen längst, dass die Rechtschreibreform falsch war. Aus Gründen der Staatsräson ist sie nicht zurückgenommen worden.« Hans Zehetmair, damals bayerischer Kultusminister, machte sich kürzlich, in der Zeit 31/2015, sogar persönliche Vorwürfe. »Die Nation wäre nicht zerbrochen, wenn wir nichts gemacht hätten. Wir hatten und wir haben drängendere Probleme.« Doch das sind Ausnahmen. Am 16. November 2015 wies Albrecht Müller auf seinen NachDenkSeiten auf den Triumph der Tendenz in unseren westlichen »Demokratien« hin, weder für wichtige Entscheidungen breite Zustimmung zu suchen noch die sich häufenden Fehlentscheidungen in wichtigen Fragen auch nur ansatzweise zu kritisieren, nachdem sie sich als Schlag ins Wasser erwiesen haben, oder gar ihre TrägerInnen zu bestrafen. Ich glaube jedoch, Müller macht sich noch Illusionen. Wenn er hier von »Fehlentscheidungen« spricht, liegt er falsch. Noch nie haben Herrschende zuungunsten des Volkes »Fehler« gemacht. Sie machen dies alles absichtlich. Riester wußte, wen er mit seiner Rente füttert, und Schröder/Fischer wußten, warum der Balkan mit Bomben zertrümmert werden muß. Wer von ihnen Selbstkritiken und Korrekturen erwartet, macht den Bock zum Gärtner. Und die Schafe schauen zu diesem Gärtner empor.
~~~ Sind wir schon bei Fehlern, möchte ich die Bemerkung wagen, auch so manche GegnerInnen der Rechtschreibreform waren und sind nicht gegen sie gefeit. So berufen sie sich auffällig oft auf die »Logik«. Friedrich Georg Jünger (Sprache und Denken, 1962) hat mir dagegen schon vor Jahren eingebläut, Sprache habe keine Logik. Vielmehr sei sie ein Gebilde, das alle Logik, alle Exaktheit und alle Widersprüche umfaßt. Weit davon entfernt, sie zu beseitigen, hilft sie »lediglich«, die Widersprüche aufzudecken. Wahr sind die Phänomene, nie dagegen ihre Namen. Eine Unterbindung mag etwas mit Fesselung zu tun haben; sie kann jedoch genauso gut oben stattfinden. Drei Jahrzehnte, und wir fänden die Oberbindung normal. Gewisse bellende Vierbeiner statt dog oder Matz Hund zu nennen, ist weder natürlich noch logisch oder unlogisch. Es verdankt sich vielmehr einer willkürlichen, wenn auch stets gewachsenen gesellschaftlichen Übereinkunft.
~~~ Eignet aber der Sprache keine Logik, dann auch deren Schreibung nicht. Das ist nur logisch. In einer Erläuterung zum Wort »tragisch« versichert mein antiquierter Brockhaus (Band 22 von 1993), es bedeute u.a. »schicksalshaft«. Mein sogar noch etwas älterer Duden (von 1983) schreibt dieses Wort jedoch ohne s, nämlich »schicksalhaft«. Man könnte vermuten, der damalige Brockhaus-Korrektor habe auf die Analogie mit »schicksalsgläubig« oder »schicksalsschwer« vertraut – zwei Wörter, die der genannte Duden in der Tat mit s schreibt. Alle drei Worte sind Adjektive und weisen nach dem fraglichen s oder nicht-s einen Konsonanten auf. Aber Duden, der alte, schreibt sie verschieden. Nun will ich nicht ausschließen, eifrig studierte Linguisten, Grammatiker oder SprachwissenschaftlerInnen wüßten hier eine Regel oder deren Ausnahme aus dem Hut zu zaubern, die auch diese Unregelmäßigkeit »logisch« erklärt. Alle Umtriebe dieser Art halte ich allerdings für von Doktorhüten gekrönte Haarspaltereien. Für mein Empfinden handelt es sich sowohl bei der Sprache wie beim Problem ihrer Schreibung um ein derart komplexes und letztlich unbegreifliches Phänomen, daß es sterblichen Menschen niemals gelingen wird, sie auf eine Weise handhabbar zu machen, die sogar Computer und Roboter begreifen. Das teilen Sprache und Schreibung natürlich mit vielen anderen Phänomenen. Gieße ich aber beispielsweise das Wort »Klima« und meinen Hohn über die Weltreligion des 21. Jahrhunderts aus (die da Kampf dem Klimawandel heißt), komme ich niemals zum Ende. Oder ins Blatt.
~~~ Eine Abschweifung muß ich mir noch herausnehmen. Führte ich eben »dog oder Matz oder Hund« an – wo bleiben denn dann die Hündinnen, bitteschön? Auf meiner Webseite behauptete ich bereits 2012, es wäre um 1995 ungleich notwendiger gewesen, Tonnen an Schaffenskraft und viele Millionen DM in den Versuch zu stecken, das grammatische Defizit hinsichtlich der Rolle der Frau zu beheben oder wenigstens das Bewußtsein für dieses Defizit zu schärfen. In dieser Hinsicht herrscht bis zur Stunde tote Hose. Nie ist das im Grunde soziologische Problem der patriarchalen Durchseuchung der deutschen Sprache auch nur annähernd so rege diskutiert worden wie die sogenannte Rechtschreibreform. Aber der Wildwuchs mit allen furchtbaren Binnen-I‘s, Binnen-Unterstrichen oder Binnen-Löchern gedeiht, und wenn wir so weitermachen, sind wir im 22. Jahrhundert nicht bei der nächsten Weltreligion, vielmehr bei der absoluten Unlesbarkeit angekommen.

∞ Veröffentlicht 2016 im Online-Magazin Telepolis, leicht verbessert
* Heike Schmoll, https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/kommentar-chaos-im-schreiben-und-denken-13729172.html, 1. August 2015
** https://home.uni-leipzig.de/horst-rothe/rechtfra.htm
*** Just Ossietzky bringt inzwischen (Nr. 11/2022, S. 364) auch Friedensworte, die Bertolt Brecht 1952 verfaßte, in reformierter Schreibweise.
**** Jan Fleischhauer / Christoph Schmitz, »Hit und Top, Tipp und Stopp«, Nr. 1/2006: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45168987.html


Nachträgliche Anmerkungen --- Zum eben verfluchten »Binnen-I«: Ich pflege in dieser Hinsicht einen persönlichen Kompromiß. Ich bringe das Binnen-I allenfalls in Wort-Situationen, wo es die gewohnte Grammatik nicht geradezu vergewaltigt und den Sprachfluß nicht furchtbar hemmt, und ich bringe es keineswegs mit Vollständigkeitsdrang, vielmehr lediglich, um immer mal wieder an »das andere Geschlecht« und die offene Frage seiner grammatischen Behandlung zu erinnern. Ich sage also unter Umständen »LehrerInnen«, niemals jedoch »LinguistInnen«.
~~~ Zur eingangs angeführten Tirade Heike Schmolls gegen die quasi-preußische Ministerialmanier, in der uns die »Reform« von der Kultusbürokratie verordnet wurde, passen ergänzend ein paar Sätze des Historikers und Essayisten Friedrich Dieckmann. Um 1790, bemerkt er in seinem Buch Deutsche Daten von 2009, hätten sich Verleger und Autoren »auf der Basis neuster Sprachwissenschaft« auf eine vereinheitlichte Rechtschreibung geeinigt, die sich in den folgenden 200 Jahren durchgesetzt und bewährt habe. Diesem »Konsens der Zuständigen« – und nicht umgekehrt – seien die Schulen und Ämter gefolgt. Das umgekehrte, uns von den jüngsten »Reformern« zugemutete Vorgehen wäre, so Dieckmann, »nicht bei Spaniern, Franzosen oder Engländern – in keinem vergleichbaren Kulturvolk« möglich gewesen.
~~~ Aber den Deutschen, so wieder von mir, kann man ja sogar »Revolutionen« verordnen, wie uns Bismarck, Ebert und Gauck bewiesen haben.


Von Schuläden und Schuhlbüchern --- Ob reformiert oder nicht – unsere Rechtschreibregeln sind grundsätzlich zum Lachen. Schreibt man das eigentlich groß oder klein? Allein zum »lachen/Lachen« bringt mein Duden (von 1983) Dutzende von Unterscheidungen, die man mühsam nachschlagen und erwägen muß. Neulich versuchte ich die Geheimnisse der je nach »Fällen« und sonstwas unterschiedlichen Beugung (= Formveränderung) von Eigenschaftswörtern, etwa »groß / größer / des großen«, zu ergründen, wobei es, laut Heringer, Grammatik und Stil, Ffm 1989, auch noch mal »schwache«, mal »starke« Endungen (und, im Reihungsfalle, »parallele Deklinationen«) gibt – nach zwei Stunden strich ich meine Groß- und Kleinsegel. Ich begreife es einfach nicht. Es ist die Groteske der Zivilisation, der Ausdifferenzierung, der Feinschmeckerei. Auf meiner Schweinsblaseninsel würden sie sich vor Lachen am Boden wälzen, wenn einer oder eine der Inselchronik mit solchen Spitzfindigkeiten zu Leibe rücken wollte. Für die Päpste der Rechtschreibung, führende ReformgegnerInnen eingeschlossen, meistens LehrerInnen, ist die Groteske freilich Pfründe und narzißtischer Jungbrunnen. Bei denen hat die Rechtschreibung die Stelle der »überwundenen« Religion eingenommen. Vergölte man unseren Schülern und Schülerinnen allein die Zeit, die sie aufs Rechtschreiben verwenden, wären sie schon nicht mehr auf Bafög oder Hartz IV angewiesen. Nähme man auch Schadenersatz für all die Kopfschmerzen, Magenkrämpfe, Gewissensqualen hinzu, die sich der Undurchsichtigkeit der orthographischen Phänomene verdanken, hätten sie bereits das »Ruhegeld« eines Kultusministers oder doch wenigstens eines Lehrers, der mal vier Jahre im Bundestag absaß, im Sack.
~~~ Gewisse Vereinbarungen sind sicherlich unerläßlich, sonst läse der eine »Hütte«, der andere »Hüte«. Warum aber bekommt nur der Schuhladen einen sogenannten Dehnungslaut, nicht dagegen die Schule? Und aus welchem Grund sollte die Großschreibung beider Einrichtungen unerläßlich sein? Oder die sorgsame Unterscheidung zwischen »manch gutem« und »manch guten« Buch beziehungsweise Büchern, je nach Genus, Kasus, Numeri und so weiter? Oder die Pflicht, zwischen zwei durch »und« verbundenen Hauptsätzen ein Komma zu setzen? Der einzige Grund kann die Forderung nach Verständlichkeit, Klarheit sein. Oder gäbe es weitere unabdingbare Gründe? Aber ich fürchte, mit jener Forderung mischt sich sofort das Bedürfnis nach Auslegung, Abgrenzung, Profilierung, poetischer Gestaltung usw. ein. Um diese Flut einzudämmen, bedarf es dann doch wieder des Katalogs oder Kanons, gerade wie in der Rechtsprechung, die sich bekanntlich unaufhaltsam aufbläht. Wahrscheinlich ist es ein Teufelskreis.
~~~ Jedenfalls in der deutschen Sprache, die bekanntlich zu den kompliziertesten Sprachen dieses Planeten zählt. Sind die Chinesen also weniger gebildet und feinfühlig als wir Nachfahren von Kaiser Wilhelm, Max Schmeling und Angela Merkel, soll doch das Chinesische wohltuend »flexionsarm« sein? Oder als die Briten, die, soweit ich weiß, bei den meisten Wörtern und Wortarten völlig auf Beugung verzichten? Bauen wir schnell einen Beispielsatz. »Sie stellte den Krug in den Schatten eines Baumes und griff erneut zu ihrer geliebten Sense. – She placed the pitcher in the shade of a tree and reached for her beloved scythe again.« Ja, das ist natürlich ärgerlich: wählen wir der Fairneß halber auch einen »Er«, müßten wir auch im Englischen nach ihrer/seiner Sense unterscheiden, also nach dem Geschlecht der handelnden Person. Wahrscheinlich ist der Beispielsatz ohnehin zu einfach. Man (!) hätte eine Miniatur aus meinem Reigen »Vor der Natur« nehmen sollen. Ich fürchte jedoch, bei Poetischem oder Philosophischem versagen meine Englischkenntnisse. Vom Esperanto ganz zu schweigen.
~~~ Man macht sich übrigens selten klar, wie künstlich bereits das »normale« Deutsche ist. Von Hause aus gab es gar keine deutsche Sprache. Zwischen Ostsee und den südtiroler Alpen wurden vielmehr zahlreiche germanische Mundarten gesprochen, die dem jeweiligen Fremden schlicht ein Rätsel waren. Noch heute ist ja eine Verständigung zwischen einem mecklenburgischen und einem allgäuer Bauern ohne Bemühung des »Hochdeutschen« oder eben des Englischen nahezu unmöglich. Im Zuge des Mittelalters und der anbrechenden Neuzeit wurden diese Dialekte durch das sogenannte Hochdeutsche wie durch eine frühe Dampfwalze plattgemacht. Das »durchaus künstlich konstruierte Idiom« des Hochdeutschen war ein Akt der Globallisierung und der Folter. Es führte millionen germanische SchülerInnen geradewegs in die »Hölle der Rechtschreibung und Grammatik«, wie schon einer vor bald 90 Jahren fluchte.*
~~~ Mit meinem Ausflug ins Englische hat sich auch noch die leidige Geschlechterfrage in die kurze Erörterung eingeschlichen. Noch vor wenigen Jahrzehnten wurde der Deutsche nicht von ihr gequält. Der Schriftsteller und Kunstkritiker Karl Scheffler erwähnt in seinem 1946 veröffentlichten Lebensrückblick Die fetten und die mageren Jahre, zu Zeiten Kaiser Wilhelms habe im Berliner Westend von Freitag auf Samstag »jeder fünfte Mann« das schmale braune Heft von Hardens Wochenschrift Zukunft in der Hand gehalten. Die emanzipierten Damen mit den kecken Pony- oder Pagenfrisuren hielten es vielleicht zwischen ihren Füßen. Im 1967 veröffentlichten Roman Licht über weißen Felsen, der in einem US-IndianerInnen-Reservat spielt, dürfen Farmerin Mary Booth »Ratsmann« für Ökonomie und Studentin Victoria »Dichter« werden, ohne sich den Widerspruch der Autorin Liselotte Welskopf-Henrich einzuhandeln. Sie lebte in der DDR. 1991 (Band 15) versichert der wiedervereinigte Brockhaus nebelhaft, Emmy Noether sei als »die bedeutendste Mathematikerin« des 20. Jahrhunderts anerkannt. Da dürfen wir rätseln, ob hier die männlichen Mathematiker schon einbezogen sind, was Noethers Bedeutung natürlich enorm erhöhte. Diesen Nebel darf sich heute zumindest in kritischen Kreisen keiner oder keine mehr leisten – und sei es, er oder sie mutierte dadurch zum Umstandskrämer oder zum steilen Zahn (Indianer- und MathematikerInnen).

∞ Verfaßt 2018
* Walther Borgius, Die Schule – ein Frevel an der Jugend, Berlin 1930, Teil II »Grundsätzliches«, Kapitel »Die deutsche Sprache«




Reform(ismus)

Der gelernte Gärtner und städtische Beamte in Wien Franz Siller (1893–1924) war ein Pionier der dortigen Kleingartenbewegung. Jetzt wurde jedes brach liegende Fleckchen zwischen den Miets- und anderen Kasernen von einbeinigen, hungernden Kriegsversehrten mit Rosenkohl bepflanzt oder mit Kaninchen bevölkert. Leider soll Aktivist Siller selber herzkrank gewesen sein. Wahrscheinlich starb er, bereits mit 30, in einem Wiener Krankenhaus. Man hat ihn mit etlichen Denkmälern geehrt, dafür jedoch mit Einzelheiten seines Lebenswandels ausgesprochen gegeizt. Über meinen ungefähr gleichaltrigen Großvater Heinrich weiß ich zum Beispiel beträchtlich mehr. Auch er, im Brotberuf Naturkunde- und Werklehrer an der Bettenhäuser Volksschule (in Kassel-Ost), war leidenschaftlicher Schrebergärtner, allerdings weder Karnickelmäster noch Imker. Ich aß sein Gemüse durchaus gern. Ich schmökerte auch gern im Grase liegend unter seinem Pflaumenbaum, falls er mich nicht zum Unkrautjäten abkommandierte. Auf dem Balkan um 1943 hatte er, als Hauptmann, eine Kolonne der »Brückenbaupioniere« unter sich. Ja, ich glaube, so hieß die Schar, die ihm treu ergeben war. In der Kirchen-, Kapital-, Staats- und Reformfrömmigkeit bin ich ihm aber nie gefolgt. Das sollte ich vielleicht kurz erläutern.
~~~ Was soll das, eine riesige unwirtliche Stadt auch noch mit Kleingärten zu pflastern, damit man es nur umso länger in ihr aushält? So ein aufgeblähter Unfug gehört sofort aufgelöst: unübersichtlich, ungesund, unwirtschaftlich, unmenschlich, wie er doch zweifellos ist. Man merkt es schon, hier scheint die uralte Streitfrage Reform oder Revolution? auf. Radikale wie ich verdammen »Sozialklempnerei«, weil diese die Errichtung freiheitlicher, gerechter und friedlicher gesellschaftlicher Verhältnisse garantiert verhindert. Das haben uns zahlreiche USPDs jeglicher Sorte oder Farbe seit Sillers Geburtszeit tausende von Malen bewiesen. Stets versichern sie, eine ganze Stadt aufzulösen oder das Geld oder den Krieg abzuschaffen, lasse sich leider nicht über nacht bewerkstelligen. Fangen wir also klein an, mein Freund – irgendwann schlägt die Quantität in Qualität um, das haben schon Marx und Engels gewußt. Einige Dutzend Kleingärten nebeneinander drängen mit Macht zum Paradies. Bis dahin reibt sich das Kabinett von Kapitals Gnaden bei jeder Eröffnung einer neuen Kleingartenkolonie, Suppenküche oder »Tafel«, an der unsere Hartz-IV-EmpfängerInnen abgespeist werden, die Hände, weil es auf diese Weise Millionen »sparen« kann, die es umgehend europäischen oder nordamerikanischen Agrarkonzernen in den Rachen schmeißt, als »Subventionen«, wegen der Bedürftigkeit dieser Unternehmen. Und siehe da, der Kleine Mann dankt es dem Kabinett auch noch, preist die Wohlfahrt im Lande und spart für das nächstschnellere Auto.
~~~ Das Gegenteil der absolut raren Radikalen sind also die Reformisten. Aber auch von denen gibt es zwei Sorten. Die Profis unter ihnen, Leute wie Joschka Fischer, Bodo Ramelow, Sahra Wagenknecht, sind viel zu gebildet und scharfsinnig, um nicht zu wissen, wie sehr ihr Reformwerk am gegebenen Herrschaftssystem der Sanierung des gegebenen Herrschaftssystems gleichkommt. Das finden sie freilich gerade gut so. Nur wir finden es nicht so gut, und deshalb bequasseln oder betrügen sie uns nach Strich und Faden. Dagegen meinen es die Amateure unter den Reformisten wirklich ehrlich. Solche habe ich in vielen Familien und leider auch in etlichen anarchistischen Kommunen angetroffen. Bei ihnen handelt es sich um herzenswarme Menschen, die sich meiner Argumentation verschließen müssen. Sie erreicht sie nicht. Diese MitbürgerInnen können nicht anders, als zu lieben, zu helfen, Not zu lindern, sobald sie sich blicken läßt. Für sie ist nicht das herrschende System zynisch, vielmehr meine Argumentation.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


Wie Brockhaus wahrscheinlich nicht ohne Hintergedanken betont, war der Thüringer Ernst Abbe (1840–1905) nicht nur Physiker, sondern auch »Sozialreformer«. Er bescherte den Proletariern der Jenaer Linsenschleiferei Zeiss beispielsweise Urlaubsgeld, Gewinnbeteiligung, Pensionsberechtigung und Arbeitszeitverkürzung auf acht Stunden. Allerdings deutet Brockhaus den Hintergedanken erst in Band 18 an. Dort heißt es unter dem Stichwort Reform, es stelle den »Gegenbegriff zu Revolution« dar. Staatliche Reformpolitik verfolge in der Regel das Ziel, ein bestehendes politisches System an veränderte politische oder gesellschaftliche Bedingungen »anzupassen«. Ja, bei »Anpassung« klingelt es in meinem Kopf immer, das ist antrainiert. Da sich die gesellschaftlichen Bedingungen insbesondere in der Moderne häufig, dazu beschleunigt wandeln, wimmelt der Planet seit rund 250 Jahren geradezu von Sozialreformern, jedenfalls in Europa und Nordamerika. Das Ergebnis sehen wir heute: der Kapitalismus und die Herrschaft von sogenannten Eliten sind einfach nicht totzukriegen, da helfen alle Hungersnöte, Krisen und Kriege nichts. Ganz im Gegenteil.
~~~ Blicke ich aus dem Fenster auf meine verwilderten Obstbäume, dämmert mir, daß ich selber nie das Zeug zum Sozialreformer hätte. Man muß diese Bäume lieben. Man muß ihnen Licht und Luft verschaffen. Man muß sie gießen, düngen und geschickt beschneiden, am besten mit Scheren, die in jeder Saison anders lackiert sind, denn das Rotgrün wird auf die Dauer langweilig. Nur eins dürfen Sie nicht: ihre Wurzeln im Privateigentum an Produktions-mitteln antasten, sonst gehen sie ein. Schon das Besprühen oft nützlicher Parasiten, wie zum Beispiel Großhändler-Innen, Mietskasernenbetreiber und Millionenerben, wäre zu gefährlich.
~~~ Ein interessanter Reformer war übrigens schon der persische Schah Abbas I., der Große (1571–1629), wie Brockhaus nicht verschweigt. »Reformen des Heeres und des Steuerwesens ermöglichten es ihm, eine Zusammenfassung der Macht auf Kosten der regionalen Kräfte durchzusetzen.« Schon dieser Wüstenscheich war sich demnach darüber im Klaren, »Reform« klingt immer sehr gut. Es klingt nach Befreiung von Lasten und nach allgemeiner Volksbeglückung. Deshalb findet man in der Postmoderne kaum ein Hüllwort, das breiter gestreut wäre.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 1, November 2023

Siehe auch → Bratt Alfred (Maggi-Würfel) → Broda Christian (Politiker) → Corona, Schauermärchen (Sozialklempnerei) → Demokratie, Übelchen → Fundamentalismus → Musik, Impfung gegen R. → Spanienkrieg, Iberien (weltweite Popelei) → Band 5 Folgen eines Skiunfalls (Manifest)




Religion

Die Inselgruppe Nikobaren (22 Inseln, davon 12 bewohnt) erstreckt sich ziemlich ausgedehnt im östlichen Golf von Bengalen, und zwar gar nicht so weit von Kuala Lumpur, Malaysia, entfernt. Sie gehört jedoch zu Indien. Hoffentlich wurde jene Boeing von 2014 nicht gerade dort versteckt, sonst kommen gar keine Touristen mehr. Neuerdings, wie behauptet wird, hat die Inselgruppe auch unter Springfluten und Erdbeben zu leiden. Vielleicht hilft beten. Brockhaus meint, die Nikobarer, ursprünglich animistisch gestimmte Landwirte und Fischer, seien schon scharenweise zum Christentum übergetreten, also nicht etwa zum Islam. Na, Gott, wer zuerst kommt, malt zuerst: das waren zwischen 1600 und 1800 die mit Kanonen und Missionaren bestückten Schiffe der Portugiesen, Briten und Dänen.
~~~ Den Animismus kennt vielleicht nicht jeder. Nach Brockhaus Band 1 bezeichnet das Wort die mutmaßliche oder offensichtliche Angewohnheit vieler Naturvölker, sich alle Welt beseelt vorzustellen, also auch Hängebauchschweine, Mangroven und Buschmesser. Daraus hätten sich dann verhältnismäßig eigenständige Geister, Dämonen, vielleicht auch Götter entpuppt. Natürlich war es geraten, sich mit diesen Wesen möglichst gutzustellen, erwiesen sie sich doch als erstaunlich wirkmächtig, vor allem, weil sie unsichtbar waren. In der christlichen Ära vereinfachte sich die Angelegenheit. Christus am Kreuz konnte jeder anfassen – und sogar essen, solange die Schiffsbäuche Abendmahlsoblaten lieferten.
~~~ Ich bemerke nur nebenbei: Rund um die beliebte »Seele« haben Theologen, Philosophen und Pädagogen sicherlich schon Tausende von Schiffsladungen voll Abhandlungen und Ratschläge verfaßt, aber noch keiner von ihnen hat die »Seele« jemals gesehen. Deshalb befragt man diese Gelehrten auch durchweg vergeblich danach, um was es sich bei der »Seele« eigentlich handele. In der Postmoderne wurde auch diese Angelegenheit vereinfacht, indem man die »Seele« in die »Psyche« oder ins sogenannte Bewußtsein verschob – somit in Vermögen, die kein vernünftiger, aufgeklärter Mensch bestreiten wird. Für die „alternativ“ gestimmten Aufgeklärten ist das jetzt alles eine Banane, nämlich der ausgedehnte Bereich des „Spirituellen“. Auch dieses, das Spirituelle, läßt sich zwar nach wie vor schwer beobachten, dafür aber umso leichter manipulieren.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 27, Juli 2024


Riesen --- Ich habe mich entschlossen, in zwei gesonderten Abschnitten noch die Themen »Mythologie« und »Sozial- und Liebesleben« der InsulanerInnen zu behandeln. Dabei droht meiner Mythologie sicherlich der händereibende Vorwurf, mit ihr säße ich genau dem Größenkult auf, den ich sonst bei jeder Gelegenheit verdammte. Darauf erwidere ich: eine andere Mythologie ist gar nicht denkbar. Der Mensch wird sich immer verloren vorkommen, wenn er sich eines Tages in eine ihm völlig überlegene Welt geworfen sieht, deren Sinn ihm niemand verrät. Hier wird er Verzweiflung und Verkrüppelung nur durch die Erklärung vermeiden können, schließlich sei er an diesem Schicksal nicht schuld. »Finstere Mächte haben uns hier hineingestoßen«, sagt er dann zu seinesgleichen, »aber das heißt ja noch lange nicht, daß wir das üble Riesen-Zwerge-Spiel auf Erden ebenfalls pflegen. Stimmt ihr mir zu?« Übrigens hat dieses Spiel in unser aller Kinderstuben begonnen. Alain baute seine Studie über Die Götter auf der verblüffenden Beobachtung auf, plötzlich seien an unseren Wiegen mehrmals täglich Riesinnen aufgetaucht – mal strahlend, mal strafend. Das waren unsere Mütter. Dieser Vorgang hatte natürlich auch die Leute auf der Schweinsblaseninsel nicht verschont. Ihre Mythologie wurde Mark eines Tages von der jungen Insulanerin J. mit den folgenden Worten vorgestellt.
~~~ Es gibt zwei Welten, zwei benachbarte: eine feste und eine flüssige. Beide sind riesig, aber nur in der festen Welt leben Riesen. Gewitter zeigt eine Orgie der Riesen an. Ihre Weiber senden aus ihren Scheiden Blitze, um ihre Bereitschaft und ihre Standorte zu signalisieren. Darauf schlagen die Kerle ihre Penise an Bäume, daß es nur so donnert. Nun wissen die Weiber: aha, sie kommen.
~~~ In grauer Vorzeit standen da so ein paar Riesen zusammen auf einem Berg nahe der Grenze, blickten über das endlose Wasser und seufzten: »Mein Gott, das ist ja furchtbar, diese Einöde, da wird man ums Haar schwermütig, wenn man da immer draufgucken muß, ohne den geringsten freudigen Anhaltspunkt zu haben!« Deshalb kamen sie überein, wenigstens ein bißchen Abhilfe zu schaffen. Der Stärkste von ihnen nahm einen Klumpen vom Berg und warf ihn mit aller Kraft hinaus, so weit er konnte. Aus diesem Klumpen erwuchs das, was du Insel nennst, mein lieber Mark. Und weil er den Klumpen vorher in seinen Atemstrom gehalten hatte, erwuchsen dem Klumpen wiederum das, was man möglicherweise Zwerge nennen könnte, obwohl es eigentlich überflüssig ist. Das waren also wir, die BewohnerInnen der Insel. Nun sind wir zwar durchaus keine Zwerge, aber es stimmt, unser Land ist klein. Deshalb warf damals eine Riesin eine Ovaríanuß hinter dem Klumpen her. Aus dieser Nuß sprießten dann die schönen und nützlichen Sträucher, die du ja inzwischen kennst und zu schätzen weißt. Indem sich unsere Männer und Frauen von Anbeginn der Ovaríanuß bedienten, wenn sie keine Kinder zu machen wünschten, blieb die Inselbevölkerung immer schön klein. Denn es wäre ja Wahnsinn gewesen, in einem fort Kinder aufs Land zu setzen, daß sie sich schon bald auf die Füße treten und um den letzten Bissen Hasenkeule oder die letzte Kartoffel prügeln.
~~~ Die Riesen schicken täglich die Sonne. Aus Dankbarkeit wurde ihnen deshalb vorzeiten ein hübsches Relief in jenen dir bekannten mächtigen Granitfelsen gehauen, der nach Osten geht. Abends holen die Riesen die Sonne immer wieder zurück, indem sie ihre Unterwasserangel einziehen. Das Relief soll den lachenden Reichtum der Insel andeuten, falls du es noch nicht erkannt hast, mein Schatz. Es muß aber wegen der Witterungseinflüsse regelmäßig aufpoliert werden, damit es weiterhin schön spiegelt und also von den Riesen gesehen und genossen wird. Dieser eher unaufwendige, aber nicht ganz ungefährliche Ehrendienst an der Reliefwand ist ausgesprochen beliebt. Er wird auch als Auszeichnung verstanden. Bei den halbjährlichen Bootswettkämpfen unserer Kerle wird er zuweilen als Preis vergeben.
~~~ Soweit J. zur Mythologie. Ich füge noch ein paar Bemerkungen zur Frage des Totenkultes und der Rechtspflege hinzu. Durch sie läßt sich nebenbei unterstreichen, daß sich die InsulanerInnen, Riesen hin und Riesen her, über das, was die abendländischen Philosophen mit Bierernst meist »Jenseits« nannten, eher lustig machen. Sie haben nämlich gar keine nennenswerten Jenseitsvorstellungen. Wozu auch? Das Land ist gut, und einer Hölle bedarf es ebensowenig, weil just bei Lebzeiten gebüßt wird, falls jemand unrecht tat. Die Hauptbuße besteht darin, das Unrecht wieder gut zu machen, soweit möglich, und weiterem Unrecht vorzubeugen. Prügel- und (aufwendige) Gefängnisstrafen gibt es nicht. Jeder Häftling würde sich in einem Gefängnis sowieso umgehend umbringen. Bei schweren Vergehen und Uneinsichtigkeit beziehungsweise Wiederholungs-gefahr wird der Täter getötet. Dadurch wird unter anderem verhindert, daß er seine Anlagen vererbt. Hat er (oder sie) bereits Kinder, werden wohl auch diese getötet, aus demselben Grund, und nicht etwa wegen Sippenhaftung. Hinrichtungen haben, wie alles, nicht den geringsten sadistischen Zug.
~~~ Über das Jenseits, das Geschick nach dem Tode, läßt sich also nichts Genaues sagen. Dummerweise schließt das die Unkenntnis darin ein, ob oder was Leichen empfinden. Deshalb hat es sich, für alle Fälle, auf der Insel eingebürgert, die Leichen so kurz und schmerzlos wie möglich zu beseitigen. Sie werden mit brennbarer Flüssigkeit überschüttet und in ein prasselndes Feuer geworfen. Gedenkstätten gibt es nicht. Die aktuellen Toten werden auf den Vollversammlungen erwähnt, bis der nächste Insulaner gestorben ist.
~~~ Das Wort »töten« kommt in der Inselsprache nicht vor. Für die Jagdbeute hat man ein anderes Wort. Ist es hin und wieder unumgänglich, einen Insulaner zu töten, wird ihm, schweren Herzens, »das Leben genommen«. So kam einmal ein Insulaner vor, der von Wahnsinn und Tobsucht befallen wurde. Nachdem er, gefesselt, drei Tage geschrieen hatte, entschloß sich der genervte Konsens, ihn zu töten. Das wurde mit allerlei Bitten um Entschuldigung und Büßmaßnahmen vergolten. Alles in allem dürfte sich freilich schon deutlich gezeigt haben: Wie sie von keinem König oder Kapitalisten beherrscht werden, stehen die SchweinsblaseninsulanerInnen auch nicht unter der Knute ihrer eigenen Ängste. Es sind »unverkrampfte« und »gradlinige« Leute, wie Mark sich einmal ausdrückte. Das dürften sie nicht unerheblich der Tradition ihres Sozial- und Liebesliebens verdanken [→ Erziehung, Schweinsblaseninsel].

∞ Teil der Schweinsblaseninsel-Skizze, 2017

Siehe auch → Achtundsechzig, Tamera (Kommune) → Anthroposophie → Bliss (Priester) → Gandhi, Shrimad (Nachsicht mit Frommen) → Kapp (spiritueller Autor) → Kirche → Ritter C (spirituelle Polarreisende) → Band 5 Vor der Natur, Lichtenberg (Gewitter)




Vom prominenten deutschen Erzähler Erich Maria Remarque (1898–1970) stellt Brockhaus zunächst seinen »Welterfolg« Im Westen nichts Neues heraus, erschienen 1929. Der Antikriegsroman wurde bislang in mindestens 50 Sprachen übersetzt. Mein Lieblingsbuch von dem Villenbesitzer im schweizer Tessin heißt jedoch Die Nacht von Lissabon. Ich sage das, obwohl mir die titelgebende Nacht (des Jahres 1942) entschieden zu lang vorkommt. Aber dazu später.
~~~ Dieser Roman von 1962 spielt also im Zweiten Weltkrieg. Im Kern geht es darin um die abenteuerliche und anrührende Rettung einer Ehe, die andernfalls im Mittelmaß versunken wäre. Ein deutscher, antifaschistisch gestimmter Flüchtling in Paris hat einige Zeit vor besagter Nacht den Paß eines verstorbenen Österreichers ergattert, dazu etwas Geld und ein paar wertvolle Zeichnungen. Nun heißt er Josef Schwarz. Plötzlich ergreift den Mittvierziger die verrückte Idee, mit Hilfe dieser Ausstattung den umgekehrten Weg anzutreten, nämlich nach Osnabrück, also ins faschistische Deutschland und damit in die Höhle des Löwen. Dort ließ er vor Jahren seine Gattin Helen zurück. Man spürt, er hängt noch an ihr; die Trennung ist unbewältigt. Er redet sich ein, es gehe lediglich um einen Besuch. In der Tat gelingt ihm die gefahrvolle Einreise. Das Paar findet gleichsam über nacht zu neuer Nähe. Als Schwarz seine Rückreise vorbereitet, eröffnet ihm Helen, sie werde ihn begleiten. Sie will dem »Dritten Reich« die Treue aufkündigen, obwohl ihr Bruder Georg bereits »Obersturmbannführer« ist, Georg Jürgens. Eben dieser Nazi setzt dem Paar in der Folge hartnäckig zu. Nach der Besetzung Frankreichs durch die Deutschen gelingt es ihm sogar, seine abtrünnige Schwester und den ihm verhaßten Schwager in Marsaille aufzuspüren. Schwarz wird gequält und gedemütigt, kann Jürgens jedoch auf einer Autofahrt mit Hilfe einer Rasierklinge töten. Das Paar nutzt die schicke Nazi-Limousine gleich zur Weiterfahrt nach Lissabon. Schwarz hofft auf Ausreise nach den USA und die dazu erforderlichen Visa. Inzwischen erhärten sich freilich wiederholte Andeutungen, wonach Helen schwer erkrankt ist. Offenbar wird sie unaufhaltsam von Krebsgeschwüren zerfressen. Sie droht zu verfaulen und übel zu »riechen«. Während Schwarz nach den Visa jagt, bringt sie sich deshalb, auch Josef zuliebe, in einer Lissaboner Absteige rechtzeitig um. Schwarz ist natürlich erschüttert. Er erwägt den Gang in die Fremdenlegion, um die Nazis vielleicht in Afrika oder sonstwo zu bekämpfen. Soweit die eigentliche Geschichte.
~~~ Um nicht als »Illegaler« aufzufliegen oder auch nur zwecks Beruhigung der Nerven hatte sich so mancher Flüchtling gern im Pariser Louvre aufgehalten, bei den berühmten Gemälden und Skulpturen. Papiere waren in der damaligen Barbarei der »malenden Tierrasse« alles. Ohne korrekte Papiere galt der Mensch keinen Pfifferling. Jetzt, auf der sommerlichen Flucht vor Wehrmacht und Gestapo, finden Josef und Helen am ehsten Zuflucht in der Natur. Sie verlangte weder Paß noch Arierausweis. »Sie gab und nahm, aber sie war unpersönlich, und das war wie eine Medizin.« (S. 202) Eine Zeitlang kann sich das Paar in einer verlassenen Waldvilla verstecken. Neben gut verkorkten Weinflaschen findet Helen alte Kleider, Masken und Kerzen und regt eine gespenstische Kostümparty an, die mit Gelächter endet. Auch dazu bedarf es keiner Personalpapiere. Im Grunde ringen die beiden den äußerst widrigen Umständen, trotz verschiedener Gefängnis- oder Lageraufenthalte und Helens tödlicher Krankheit, einen Sieg ab. In Osnabrück dagegen hätten sie, mit Helens Worten, jede Wette nur ein »mittelmäßiges, langweiliges« Leben geführt, die jährliche »Urlaubsreise« eingeschlossen. Deshalb bereuen sie ihren Ausbruch nicht (220).
~~~ Remarque erzählt die Geschichte durchaus fesselnd, anschaulich und, für mein Empfinden, auch unsentimental. Die oben angedeutete, mich verärgende Streckung geht überwiegend aufs Konto der zeittypischen »Rahmenhandlung«. Das war damals modern. Remarque mußte unbedingt einen gleichfalls auf die Ausreise hoffenden Ich-Erzähler bemühen, dem Schwarz, nach Helens Begräbnis, die ganze Geschichte im Laufe der Nacht in diversen Lissaboner Kneipen häppchenweise unterbreitet. Diese Konstruktion ist völlig überflüssig, da der konturlose Ich-Erzähler bis zum Ende weniger als ein Abklatsch von Schwarz bleibt. Es genügt, wenn er zwei Ohren hat und ab und zu bestätigend nickt. Zu Spannung oder Erkenntnis trägt die »Rahmenhandlung« nicht das Geringste bei, im Gegenteil: sie sorgt für die lähmende Länge. Selbst vor wiederholten banalen Streiflichtern aus Lissabons Nachtleben schreckt Remarque nicht zurück, um seine Geschichte tüchtig zu strecken. Triftigere Aussagen, die er hier und dort in das Kneipengespräch einflicht, etwa über Verfolgung und Vergänglichkeit, hätte er ohne Zweifel genausogut beziehungsweise besser in Schwarzens Geschichte einbauen können. Aber dann wäre der Roman »zu einfach« ausgefallen – und eben zu kurz. Der Verleger nimmt dem Romancier die Geschichte nur ab, wenn er sie vielfach »gebrochen«, also durch Streuung von Splitterhäufchen und Ameisenstraßen hinreichend aufgeblasen hat. Meine Bertelsmann-Lesering-Ausgabe (o. J.) hat rund 280, nicht sehr eng bedruckte Seiten. Als Lektor hätte ich daraus vielleicht 180 gemacht.
~~~ In der Tat wollte ich es Anfang 2023 wissen. Gerade unschlüssig, welches Schreibprojekt ich aus meinem Eisschrank ziehen sollte, warf ich mich jäh auf Remarques Roman. Ich benötigte keine drei Wochen, um das Werk auf rund 100 Manuskriptseiten zu stutzen. Die »Rahmenhandlung« flog selbstverständlich hinaus. Ferner berichtigte ich etliche kleinere stilistische und dramaturgische Mängel. Zurück blieb ein, wie ich glaube, temporeicher, enorm spannender Text, der Remarques heutige Erben womöglich in wutschnaubende Stiere verwandeln würde, falls sie ihn zu Gesicht bekämen. Die Nagelprobe darauf könnte ich aber frühstens im Jahr 2040 machen, soweit ich das Urheberrecht kenne (70 Jahre Schutz ab Tod des Autors). Möglicherweise lebe ich dann gar nicht mehr. Das wäre Pech – aber meinen Spaß mit der »Verhunzung« habe ich jedenfalls gehabt.
~~~ Remarque starb schon mit 72, angeblich an dem gern bemühten gummihaften »Herzversagen«. Da hatten ihm also die ganzen kostbaren Maßanzüge, Teppiche und Gemälde in seiner Villa nichts mehr genützt. Nach verschiedenen Internetquellen muß er ausgesprochen eitel gewesen sein. Manche denken sich das freilich schon, wenn sie in den Vorspannen der Artikel lesen, von Hause aus hätte der Künstler »eigentlich« Erich Paul Remark gehießen. Ja Mensch – wer will denn schon ein Buch von einem kaufen, der »Paul Rückenmark« oder so ähnlich heißt! Also hat er sich Erich Maria Remarque genannt. Und später wahrscheinlich eine gewisse Marlene Dietrich, der er nachlief, wegen ihres unmöglichen Namens ausgelacht.
~~~ Übrigens erschien Die Nacht von Lissabon, auf Lizenz, auch in der DDR. Bloggerin Claudia Meerbach aus Dresden behauptet allerdings, in der Aufbau-TB-Ausgabe habe man damals am Schluß zwei Sätze über russische Emigranten gestrichen; abtrünnige SowjetbürgerInnen durften nicht sein.* Trifft ihre Behauptung zu, wäre es eine betrübliche Fälschung von vielen betrüblichen Fälschungen, die sich Kommunisten schon herausnahmen. Alles im Dienst der Weltrevolution.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 31, August 2024
* https://ueberdenkastanien.wordpress.com/2016/04/05/erich-maria-remarque-die-nacht-von-lissabon/




RetterInnen

Wie mir kürzlich bei Formatierungsarbeiten für meinen Blog aufging, verdankt sich die thüringische Zwergrepublik Konräteslust in beträchtlichem Maße einer geistesgegenwärtigen, freilich auch nicht ganz ungefährlichen Lebensrettung. Judith Lämmerhirt hechtet sich (im März 1991) vom Brückengeländer in die Hochwasser führende Nesse, weil das kaum des Laufens mächtige Söhnchen des Landrats Wenkenmöller in den Fluß gefallen ist. Ohne das Hochwasser hätte sich die junge Frau wahrscheinlich schon durch den Hechtsprung den Schädel an einem Stein im Flußbett eingestoßen, gleicht doch die Nesse in Konradslust eher einem Bach als einem Fluß. So aber fischt sie das Unfallopfer heraus, kommt mit einer Erkältung davon und geht nebenbei als Heldin in die Republikgeschichte ein.
~~~ Ich nehme diese Entdeckung zum Anlaß, ein paar weitere RetterInnen vorzustellen. Sie finden sich überwiegend in meinem aufgelösten Lexikon der Frühverstorbenen. Der in Fürstenfeldbruck stationierte US-Bürger Richard W. Higgins (1922–57) war Jäger-Pilot und dreifacher Familienvater. Am Vormittag des 5. Aprils 1957 hatte er über der bayerischen Stadt einen Triebwerkschaden an seinem Jagdflugzeug. EinwohnerInnen sahen die Maschine mit Rauchfahne im Schlepp in anfänglich nur 300 Meter Höhe über die Dächer preschen, während sie weiter an Höhe verlor.* Statt gemäß der Anweisungen vom Kontrollturm des nahen Luftwaffenstützpunktes sofort »auszusteigen« (Schleudersitz), bugsierte der 34jährige aber seine Maschine noch über freies Feld, um ein Inferno in der Stadt zu vermeiden. Dort zerschellte er mit ihr. Seine offensichtliche, mit eigenem Kopf oder Herzen gefällte befehlswidrige und uneigennützige Entscheidung hatte er ohne Zweifel in Sekundenschnelle treffen müssen. 10 Tage später beschloß der Stadtrat, Higgins durch Benennung einer Straße zu ehren. Zum Beschluß, den Fliegerhorst zu schließen, wo die Freunde aus den USA unter anderem westdeutsche Kampfpiloten zur Abwehr der bolschewistischen Gefahr ausbildeten, konnte man sich leider nicht durchringen. Bleibt noch zu hoffen, die Achse München–Bonn–Washington hat uns mit ihrer Version des Absturzgeschehens nicht einmal mehr an der Nase herumgeführt.
~~~ Der Nachname dieses aus Massachusetts stammenden »Helden von Fürstenfeldbruck« weckt meine Erinnerung an einen fesselnden, erstmals 1975 erschienenen und alsbald verfilmten Roman des Briten Jack Higgins: Der Adler ist gelandet. Dieser »Bestseller« dreht sich um den tollkühnen Versuch einer deutschen Fallschirmjägergruppe, Winston Churchill (1943) bei einem Truppenbesuch aus der Höhle des englischen Löwen zu entführen. Der Coup unter Oberstleutnant Kurt Steiner mißlingt wahrscheinlich nur, weil die gleichfalls erfolgreich eingedrungenen Soldaten Sturm und Brandt bei einer dem Dorf vorgespielten Übung der Royal Army zwei vom morschen Steg gefallene Kinder aus dem reißenden Mühlbach retten, indem sie sie ans Ufer werfen. Sturm wird dabei im Mühlrad zermalmt. Brandt kann dessen Leiche bergen, macht aber den Fehler, bei ihrer Untersuchung einen Teil von Sturms Zweit-Uniform zu enthüllen – es ist die von der deutschen Wehrmacht. Das bekommen die dankbaren Dörfler entsetzt mit. Gleichwohl ist Steiner später auch noch so großherzig, sie alle, die Geiseln waren oder sein könnten, aus der Dorfkirche abziehen zu lassen, wo sich das aufgeflogene Kommando verschanzt hat. Er und seine Leute seien nicht die Hunnen, als die man die Deutschen beschimpfe.
~~~ Das ist genau Higgins‘ Programm. Er nimmt die übliche Verherrlichung von Gewalt, Krieg und Heldentum unter dem Deckmantel des fairen oder ehrenvollen Kampfes, der unbedingten Kameradschaft und eines stillen oder schnoddrigen »Antifaschismus« vor, der die »Männer« selbstverständlich nicht daran hindern kann, ihre gottverdammte Pflicht zu tun, also sich fleißig und durchaus brutal fürs sogenannte Vaterland zu schlagen. Für dieses Programm setzt Higgins leider seine große dramaturgische und stilistische Begabung ein. Da er natürlich auch gebildet ist, garniert er es mit skeptischen Äußerungen seiner Helden – nicht etwa über den politökonomischen oder sozialpsychologischen Sinn des Blutbades, sondern über den Sinn des Daseins schlechthin. Eine billige Melancholie: sie kostet nichts, man muß sein Leben nicht ändern.
~~~ Man halte sich einmal vor Augen, wie jung die Kindergärtnerin Nelly Pütz (1939–59) selber noch war. Wieviele Lebens- und Heiratspläne, wieviele Blütenträume vom persönlichen Glück muß sie gehegt haben! Sekunden der »spontanen« Entscheidung, und dies alles ging gleichsam den Bach hinunter. Die knapp 20jährige aus Düren war an einer Sommerfreizeit der Kindergruppe der Aachener Arbeiterwohlfahrt im belgischen Nordseebad Middelkerke als Betreuerin beteiligt, wofür sie sogar eigens Schwimmen gelernt hatte.** Am 22. Juli 1959 erspähte sie an einer fürs Baden gesperrten Stelle belgische Kinder, die in der Brandung offensichtlich um ihr Leben kämpften. Zwei von ihnen konnte sie an den Strand bringen, bevor sie, beim dritten Versuch, selber von der tückischen Strömung erfaßt wurde und ertrank. Nach Pütz sind mehrere pädagogische Einrichtungen benannt. Der belgische König ehrte sie. Drei Kinder kamen mit ihr ums Leben.
~~~ Der schwäbische Fußballer Otto Schmid (1922–63) war »schon« 41, als er seine Tierliebe mit dem Leben büßte. Eher klein, aber sprungkräftig, hatte er langjährig das Tor des VfB Stuttgart gehütet. Zeitweise war er außerdem Spielführer des Clubs, mit dem er 1950 immerhin den Titel des »Deutschen Meisters« errungen hatte. Zwei Jahre darauf hängte Schmid seine Torwarthandschuhe an den Nagel und übernahm das Amt des Jugendtrainers. Sohn Peter erwähnt***, damals habe es als Meisterschaftsprämie pro Kopf 500 DM plus Sachgeschenke gegeben, während es 1992 schon 50.000 DM gewesen seien. Schmids Mannschaftskamerad Erich Retter, ein Verteidiger, berichtigt allerdings, es seien 1950 letztlich 2.000 DM gewesen, die just unter Schmids Anführung bei der Clubleitung herausgeschunden wurden.**** Jedenfalls dürften die damaligen Ballkünstler noch keine »Vollprofis« und Millionäre gewesen sein. Schmid etwa war hauptberuflich als Bauingenieur im städtischen Hochbauamt angestellt. Zum Zeitpunkt seines Todes (am 16. März 1963) war er laut Nachruf in den VfB-Vereinsnachrichten (Nr. 68, März–Mai 1963) schon seit längerem als Bauleiter im Stuttgarter Vieh- und Schlachthof stationiert. Einzelheiten deutet Sohn Peter auf der erwähnten Webseite an: »Eine Halle brannte, er ließ die Tiere heraus und bekam nicht mehr genügend Luft, ein Hirnschlag beendete sein kurzes Leben.« In die lokale Poesie war der 41jährige zweifache Vater bis dahin längst als »Der Gummi-Schmid, der Gummi-Schmid / hält besser noch als Glaserkitt« eingegangen … Schmid galt allgemein als heiter und hilfsbereit. Sohn Peter schildert ihn als streng, aber gerecht. Ob das herausgelassene, eigentlich zum Abmurksen bestimmte Vieh in die Wälder entkam, ist nirgends zu erfahren.
~~~ Am 5. Oktober 1982 wurde die Überwachungskamera in der Sparkasse am Koblenzer Schenkendorfplatz durch zwei furchterregende Räuber aus ihrer Langweile gerissen. Der eine von ihnen soll in jüngeren Jahren auch noch »Superbulle« in der polizeilichen Elitetruppe SEK in Köln, also eigentlich auf der falschen Seite gewesen sein. Nun nahm das Ganoven-Gespann für fast 15 Stunden neun Geiseln und erpreßte dadurch eine Beute von 1,2 Millionen DM. Um auch noch ein flottes Fluchtfahrzeug gestellt zu bekommen und die Zusicherung auf »freies Geleit« zu erlangen, schoß einer der Räuber dem 19jährigen Detlef Becker (1963–82), Bankkaufmann im heimgesuchten Geldinstitut, aus 10 Zentimeter Entfernung in die Kniekehle. Laut Spiegel***** hatte sich der blutjunge Mann »freiwillig« als Objekt der brutalen Einschüchterung angeboten, laut deutscher Wikipedia anstelle einer ursprünglich dafür vorgesehenen weiblichen Geisel. Ich nehme an, in der Mitmach-Enzyklopädie war wieder einmal ein kurzentschlossener Dichter am Werk, der die Geschichte etwas farbenfroher und herzergreifender machen wollte. Im Spiegel heißt es lediglich, die Gangster hätten »mehrfach« gedroht, »jemanden ins Knie zu schießen«. Gemeint war wohl »wiederholt« oder »mehrmals« gedroht, aber wir wollen nicht päpstlicher sein als Karl Kraus. Das falsche Mehrfachen ist sehr beliebt.
~~~ Nun war der junge Bankkaufmann, den vermutlich niemand zu seiner Berufswahl gezwungen hatte, jedenfalls angeschossen. Während ihn ein Vermittler (Pfarrer) nach draußen zum Krankenwagen schleppte, durften die Räuber aufgrund dieses Warnschusses in Begleitung von zwei Geiseln den bereitgestellten BMW besteigen. Immerhin überstanden diese Geiseln, zu denen sich unterwegs anscheinend noch ein Postbeamter zu gesellen hatte, die Flucht unbeschadet. Becker dagegen, der sich womöglich in der Tat aus freien Stücken zum Krüppel hatte schießen lassen, erntete für seine Selbstlosigkeit sogar den Tod: nach knapp zwei Wochen erlag er im Krankenhaus einer Thrombose und einer Lungenembolie. Während die Räuber bald nach dem Überfall gefaßt und später zu hohen Haftstrafen verurteilt wurden, kam Beckers Verwandtschaft, soweit ich sehe, mit einer Klage wegen eines ärztlichen »Kunstfehlers« nicht zum Zug. Becker war das einzige Kind seiner Eltern gewesen. Man verlieh ihm posthum das Bundesverdienstkreuz.
~~~ Der schweizer Skispringer Markus Gähler (1966–97) starb als Feuerwehrmann. Möglicherweise hatte er allerlei wahnsinnigen Fliegern zumindest im uniformierten Nebenberuf einen sinnvollen Mut voraus. Im Mai 1997, rund fünf Jahre nach seinem Rücktritt als aktiver Halsbrecher-Sportler und inzwischen 31, wurde Gähler bei einem Wohnhausbrand in Walzenhausen (AR) als eingesetzter Feuerwehrmann von einer einstürzenden Zimmerdecke begraben. Laut Rolf Niederer, Lutzenberg******, hatte der gelernte Schreiner Gähler »bereits als Kindergärtler einen in den Feuerweiher im Weiler Haufen gefallenen Kameraden vor dem Ertrinken« gerettet.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Michael Volpert, »Vor 50 Jahren starb Richard Higgins bei einem Flugzeugabsturz«, Webseite Fürstenfeldbruck, April 2007: https://archive.is/20120801063239/https://www.fuerstenfeldbruck.de/ffb/web.nsf/id/li_blat7stc67.html
** Nelly-Pütz-Berufskolleg des Kreises Düren: https://www.nelly-puetz-bk.de/wir-%C3%BCber-uns/
*** https://web.archive.org/web/20070927095014/https://www.hefleswetzkick.de/VFB/VFB_Inside/Die_Personen/grosse_Maenner_des_vfb/Alle_Spieler/S/Schmid_Otto.htm, Juni 1992
**** https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.legende-des-vfb-stuttgart-im-interview-trainer-wurzer-war-besser-als-jeder-arzt.8f8e50b1-0dc0-4c6e-be6c-8b74b31c1716.html, 22. September 2013
***** »Zack, rein und weg«, Nr. 18/1983, online 1. Mai 1983: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14022625.html
****** »Markus Gähler, Lutzenberg 1966–1997«, Appenzellische Jahrbücher, Band 125 (1997): https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=ajb-




Der mexikanische Geiger, Komponist und Dirigent Silvestre Revueltas (1899–1940) dürfte hierzulande noch unbekannter als beispielsweise Marc Blitzstein sein. Ich wurde vor Jahren nur deshalb auf ihn aufmerksam, weil er mir in den vorzüglichen Erinnerungen des Schriftstellers Gustav Regler begegnete.* Regler war vorübergehend kommunistischer Politkommissar gewesen, nämlich im Spanienkrieg bei den berüchtigten Internationalen Brigaden. Wir befinden uns jetzt im faschistisch bedrängten Madrid des Herbstes 1936. In einem Saal des Hauses der Kultur, »einem charmanten Palast eines abwesenden Granden«, der neuerdings von Milizen und Arbeitern wimmelt, erklimmt ein kleiner, nicht nur stämmiger, vielmehr »wuchtiger« Mann das Podium. Er baut sich vor dem auf ihn wartenden Orchester auf und hebt seinen dünnen Taktstock. Es handelt sich um den Gast und Unterstützer aus Mexiko Silvestre Revueltas, wie Regler von einer Genossin erklärt worden ist, und er wird jetzt ein eigenes Stück dirigieren. Wie bestellt, explodiert in der Nähe des Kulturpalastes eine Bombe, als der Taktstock über Revueltas schwebt. Niemand springt auf, und auch der Dirigent scheint durch den Zufall noch an Entschlossenheit und Grimmigkeit zu gewinnen. »Die Musik war wie eine Kaskade von Kristallkugeln, dann noch härter: wie erkaltende Lava, wenn sie in scharfen Platten klirrend zusammensinkt; sie war wie ein Wetterleuchten an Hochspannungsdrähten entlang, dann wehten mexikanische Lieder hinein, um plötzlich abgelöst zu werden von fordernden Fortissimi, Sturmglocken gleich und Schreien, die lange in Kehlen festgesessen hatten. / Ich war erschrocken vor soviel Wildheit …«
~~~ Gleichwohl seien die Zuhörer, kaum da die Wildheit verklungen war, nach vorn gestürzt, um dem untersetzten Dicken, dem vermutlich ein paar schwarze Haarsträhnen auf der verschwitzten Stirn klebten, die Hände zu schütteln und eine Wiederholung des besonders »leidenschaftlichen« Schlußsatzes der »Symphonie« zu erzwingen, versichert Regler. Den Titel des Stückes nennt er nicht. Möglicherweise hatte es sich um Sensemayá gehandelt, siehe unten. Aber für ordentlich geschulte Kommunistenohren hätte wahrscheinlich jedes Werk des Mexikaners eine Anstrengung, wenn nicht Zumutung dargestellt. Heute ist das alles salonfähig, so wie damals schon Weill oder Blitzstein. Aber heute ist Revueltas nicht nur tot, sondern auch weitgehend vergessen. Zum Zeitpunkt jener sicherlich ungewöhnlichen Aufführung im umkämpften Madrid hatte der Komponist nur noch vier Jahre zu leben, was natürlich keiner ahnte. Regler kommt im folgenden nicht mehr auf Revueltas zurück, obwohl er später selber noch, erzwungenermaßen, als Exilant nach Mexiko ging. Dort traf er freilich, über die USA, erst im Laufe des Jahres 1940 ein: Revueltas‘ Todesjahr. Der knapp 41jährige Musiker erlag Anfang Oktober in Mexiko City verschiedenen Krankheiten, zu denen vermutlich, neben Alkoholismus, auch die Gefühle der Verlassenheit und der Vergeblichkeit zählten.
~~~ Erstaunlicherweise wird der Musiker aus dem fernen Mexiko im Brockhaus mit immerhin gut 10 Zeilen bedacht. Revueltas war ein Geigenwunderkind, ab Fünf oder Acht, je nach Quelle. Er stammte aus einer kinderreichen, den Künsten ergebenen Kaufmannsfamilie, studierte teilweise in den USA, erwärmte sich für Volk, Sozialismus, Revolution und war wohl von 1929–36, unter Carlos Chávez, stellvertretender Leiter des mexikanischen Sinfonischen Orchesters. Dann begab oder stürzte er sich offensichtlich in den revolutionären Spanienkrieg. Kaum war er eingetroffen, überfiel ihn die Nachricht von der Ermordung des einheimischen Schriftstellers und Musikers Federico Garcia Lorca, worauf er, im Spätsommer 1936, unverzüglich eine Homenaje an diesen schuf. Für Herbers, Schruff und andere Fachleute zählt dieses Stück zu Revueltas‘ besten Werken. 1938, als sich die Niederlage der zerstrittenen und von Paris bis Moskau verratenen RepublikanerInnen abzeichnete, nach Mexiko zurückgekehrt, hatte sich der Komponist, wie es aussieht, hauptsächlich als Musiklehrer und Schöpfer von Filmmusik über Wasser zu halten. Viele seiner Werke blieben auf Jahrzehnte hin unveröffentlicht und entsprechend unbekannt, weil es im damaligen »revolutionären« Mexiko keine Musikverlage gab. Revueltas verfiel, wohl in Mexiko City, zunehmend der Enttäuschung, der Vereinsamung und dem Alkohol. Diesem soll er allerdings bereits als junger Student in den Staaten, um 1920, gehuldigt haben. Damals starb auch sein Vater, der offenbar mehr Schulden als Vermögen hinterließ. Damit setzten Revueltas wahrscheinlich auch noch wiederholte Geldnöte zu.
~~~ Der Berliner Musikjournalist Christian Schruff spricht sogar, mit anderen, von einer »großen Armut« des Komponisten.** Das macht sich gewiß immer gut, vor allem im Falle Mozarts, bedeutet aber wenig, wenn man die Relationen nicht kennt. Laut Brockhaus war Revueltas Professor für Violine am Staatskonservatorium in Mexiko City gewesen, wenn auch nicht gesagt wird, von wann bis wann. Gewiß könnte er auch als gut besoldeter Spanienheimkehrer stets knapp bei Kasse gewesen sein, weil die Alkoholika und Barbesuche eben recht kostspielig sind. Zudem dürfte Revueltas unter deftigen Unterhaltspflichten gestöhnt haben, soll er doch zweimal verheiratet und Vater mehrerer Kinder gewesen sein. Aber wen, wenn nicht ihn selber, sollte man für diese angeborene oder erst später erworbene Trink- und Beischlaffreudigkeit verantwortlich und haftbar machen? Den Papst? »Die mexikanische Revolution«?
~~~ Auch was Revueltas‘ Ableben angeht, wird nicht mit schmunzel- oder mitleidsträchtigem Kolorit gespart. So warten etliche Quellen mit der plakativen Geschichte auf, nach einer Art Sauf- und Siegesfeier wegen des Erfolges des Films La Noche de los Mayas, zu dem Revueltas die Musik beigesteuert hatte, sei er nicht mehr auf die Beine gekommen. Da war der in der Tat sehr erfolgreiche Film allerdings schon seit rund einem Jahr in den Kinos. Schruff zufolge ist diese Geschichte von Revueltas‘ Ende eine Ente. Die genannte Filmmusik hält er für Revueltas‘ »originellste« Arbeit. Wie der Komponist nun tatsächlich (1940) das Zeitliche segnete, verrät auch Schruff nicht. Er spricht nur von einer »regnerischen« Oktobernacht. Andere Quellen erwähnen eine Lungenentzündung. Da läßt sich natürlich gut vorstellen, wie der Komponist beim Nach-Hause-Wanken in regnerischer Nacht wegen zu leichter Bekleidung zum Kotzen auch noch ins Husten verfällt.
~~~ Schruff nimmt an, nach dem Triumph des Faschismus in Spanien habe sich auch Revueltas besiegt gefühlt und deshalb seine Zuflucht verstärkt in Sarkasmus und Alkohol gesucht. Mit dieser, für den »Musikstunden«-Hörer vereinfachten Feststellung ist freilich noch lange nicht gesagt, warum sich der kurzhälsige, dicke Mann gebrochen wähnte. Jede neue Niederlage fällt schließlich auf einen bestimmten Boden, den vielleicht schon etliche frühere Niederlagen und vielleicht auch die ganz frühen Anlagen, zum Beispiel zu Kurzhälsigkeit oder Schwermut, brüchig gemacht haben. Auch in Revueltas‘ Fall sind die entsprechenden Schilderungen oder Angaben so gut wie nicht vorhanden oder jedenfalls nicht erreichbar. Wie seine diversen Familienleben aussahen, weiß oder erwähnt kein Mensch. Jedenfalls scheint er, bei seiner Zeugungsfreude, nicht schwul gewesen zu sein, woran ich zunächst gedacht hatte. Somit war er mit Aaron Copland, der sich für ihn einsetzte, »nur« kollegial befreundet. Vielleicht hatte er ja überhaupt keine Freunde, weil sein Charakter, ob unverträglich, schwierig, weinerlich, dafür nicht geschaffen war. Aber eben von diesem Charakter erfährt man wenig – nimmt man Revueltas‘ auffallend widersprüchliches Schaffen einmal aus.
~~~ Das schon erwähnte Orchesterstück Sensemayá zum Beispiel, vor Revueltas‘ Abreise nach Spanien aufgrund eines Gedichts des Kubaners Nicolás Guillén entstanden, weht mit Grusel verbreitender Feierlichkeit durch den Saal. Da zieht wohl fast jeder unwillkürlich seinen Kopf ein. Jenes Gedicht soll den Titel tragen: »Lied um eine Schlange zu töten«. Möglicherweise hieß die Schlange Das Weiße Haus. Ich selber ziehe entschieden das kurze, umwerfend komische Konzertstück El renacuajo paseador (Die wandernde Kaulquappe) vor, ursprünglich 1933 für ein Puppentheaterstück geschrieben. Die Kaulquappe unternimmt die Wanderung mit einer neuen Freundin, der Maus. Sie gehen etwas trinken und amüsieren sich. Einer Katze können sie noch entkommen, doch dann landet die gut aufgelegte Kaulquappe im Schnabel einer hungrigen Ente. Tragisch, tragisch, würde der typische Wikipedianer sagen, aber in Revueltas‘ Musik behält ein winziges, ausgelassenes Tänzchen das letzte Wort. Vielleicht veranstaltet es die gesättigte Ente im Verein mit der schadenfrohen Maus.
~~~ Recht bedacht, stelle ich mir Revueltas am ehesten als Walroß vor – ein Walroß, das jederzeit dafür gut ist, ein Klümpchen durchgekauter Kokablätter oder eben eine ausgesprochen quirlige Kaulquappe auszuspucken. Ein CD-Book behauptet***, ein Jahr vor seinem Tod habe Revueltas bekannt, er sei ein alter Tagträumer, trommele am liebsten auf einer zerbeulten Waschbütte herum und gebe sich dabei seinen Phantasien von fernen Ländern und großartiger Musik hin. »Schon als Kind verlor ich mich lieber in Träumen als etwas Nützliches zu tun.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 31, August 2024
* Gustav Regler, Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 376
** Christian Schruff, SWR2, 2010: Musikstunde 1 und Musikstunde 2
*** Ebony Band Amsterdam, Homenaje a Revueltas, Channel Classics 2004

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