Sonntag, 12. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 30
Psy – Recht

Psychologie

Unter Streuung führt Brockhaus mehrere Gebiete an, voran die Physik, in der besonders Strahlungen gern gestreut werden. Was fehlt, ist das wichtige Feld psychologisch und politisch begründeter Streuung. Dabei wird uns doch schon in die Wiege gesungen: »Willst du alles auf einen Schlag besorgen, bleibt dir kein Spielraum mehr für morgen.« Der Mensch geht häppchenweise vor. Er ist kein Wolf, der sich mit dem ganzen erbeuteten Schaf vollschlägt, bis er nur noch in seine Höhle robben und drei Tage ratzen kann. Der Mensch streut seit jeher Kriege, weil sie dann nicht so leicht als Weltkriege verunglimpft werden können. Selbst im Frieden läßt er seine 269 → Starfighter nicht alle auf einmal in der Lüneburger Heide abstürzen. Sonst könnte sogar das Lüneburger Schafskopfblatt Verdacht schöpfen. Nicht anders verfährt der Finanzminister, wenn er uns das Steuergeld nicht geballt aus der Tasche zieht, sondern immer neue Arten der in der Regel sowieso »indirekten« Besteuerung erfindet. Gerade neulich erst führte die Politik die Salamitaktik vorbildlich bei der schrittweisen Gewöhnung an allerlei Corona-Maulkörbe und der schrittweisen Abgewöhnung von allerlei Grundrechten vor. Deshalb kam niemand auf die Idee, die Herren Spahn und Lauterbach als Siechenminister oder gar Seuchköpfe zu beschimpfen. In der Familie kennen wir vor allem die beliebte Nadelstichtaktik: Demütige und zermürbe ich meine mißratene Tochter über Jahre hinweg durch strafende Augenaufschläge oder durch jenes Schweigen des Häuslers Schleen [Erzählung Der Knopf von F. G. Jünger], wird mich kein Staatsanwalt Mörder nennen können, sobald sie auf dem Speicher an einem kräftigen Nagel schaukelt.
~~~ Eine durchtriebene Abart ist die verbreitete Sitte mit den erwähnten Dauerwürsten. Kein Mensch stopft sie sich vollständig in den Schlund, weil er genau weiß, dann hätte er die nächsten Tage gar nichts mehr. Jeder schneidet sich Scheiben ab. Allerdings schneidet er seine Dauerwurst stets schräg an. Zwar hat er gelegentlich durchaus den Verdacht, dadurch werde seine Dauerwurst auch nicht länger – aber seine Augen sind von Natur aus größer als sein Magen. Die schräg geschnittenen Scheiben spiegeln ihm vor, auf diese Weise hätte er mehr von seiner Wurst.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 36, September 2024

Siehe auch → Angst → Demokratie, Gewaltmonopol + Übelchen (Samthandschuhgewalt) → Duncker Karl (Psychologe) → Fluchen (heilsam) → Kommunen, Störung → Vorlieben → Zwiespalt/Unruhe




Publizieren → Angst, Last der eingebildeten Verantwortung



Für Nichtzoologen, so belehrt mich Brockhaus, ist die Puppe eine »Nachbildung der menschlichen Gestalt für kulturelle oder magische Zwecke, als Grabbeigabe oder als Kinderspielzeug«. Das ist sicherlich gut auf den Begriff gebracht. Nur verschwendet der Lexikon-Eintrag kein Komma an den auffallenden Trend zur kulturellen Verpuppung, wie man dieses Phänomen glatt nennen könnte. In der Postmoderne scheint die Verpuppung ihren Gipfel zu erreichen. Selbst im Nest Waltershausen laufen fast nur noch Puppen an mir vorüber. Manchmal erkenne ich sie nur deshalb nicht als Nachbildung von dem und dem, weil ich nie Fernsehen gucke. Ich kann also schlecht entscheiden, ob sie einen bestimmten Fußballstar oder eine bestimmte Talkshowmasterin nachahmen. Diese wiederum dürften auch nur Abziehbilder von anderen bestimmten Prominenten sein. Demnächst sind sie alle nicht mehr in Saison-, sondern in Tagesfrist austauschbar. Sie sprechen und denken natürlich auch alle gleich. Gehen Sie ins Waltershäuser Puppenmuseum (Schloß Tenneberg) und schütteln sie alle 1o Käthe-Kruse-Puppen, die dort zu sehen sind: alle klimpern mit ihren Augendeckeln und sagen »Mama« oder »Vater Staat«.
~~~ Die Brockhaus-Formulierung von der Nachbildung könnte allerdings ungenau sein. Bei meiner Großmutter Helene hatten es die Puppen gar nicht nötig, wie Käthe Kruse oder Sahra Wagenknecht auszusehen. Teils waren es nur notdürftig mit Stoffresten umwickelte Strünke; teils irgendwelche gegabelten Ästchen oder einfach Klötzchen. Die kindliche – und entsprechend auf Südseeinseln die »primitive« – Phantasie war vollkommen genug, um jeden Gegenstand in das jeweils gerade Erwünschte zu verwandeln. Der postmoderne Mensch dagegen würde von Phantasie nur beschwert. Er könnte ins Grübeln kommen und den Staatspräsidenten Ronald Reagan mit faulen Eiern bewerfen. Der Mann hatte vor seiner Wahl an zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt, als Schauspieler.
~~~ Ein anderer Gesichtspunkt der Kritik betrifft das verhängnisvolle visuelle Übergewicht in der Postmoderne. Was keine guten Bilder abwirft, darf nicht sein. Die Postmoderne züchtet Augenmenschen und läßt alle hartnäckigen Ohrenmenschen ins Leere laufen. Für mich war die Schallplatte eine begrüßenswerte Erfindung, weil sie die Emanzipation der Musik vom Theater zu versprechen schien. Aber Pustekuchen! Die Schwemme an Musikvideos, die an zahlreichen unterschiedlichen Geräten empfangen werden können, ist gar nicht mehr aufzuhalten. Wir sollen und wollen nicht Musik hören; wir wünschen den Geiger, den Rocksänger und das ganze philharmonische Orchester zu sehen. Sind leider keine Filmmitschnitte vorhanden, wünschen wir wenigstens irgendwelche Bilder von Heideröslein, stampfenden Dampfloks oder Gummibärchen kauenden Kindern zu sehen. Auf keinen Fall soll es wieder soweit kommen, daß die unsichtbare Musik in unserem Schädel das eine oder andere selbstgemachte Bild hervorruft. Wir sollen nichts selber machen. Wir sollen uns bedienen und verarschen lassen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024

Siehe auch → Hände (Puppenfabrik) → Band 5 Mann im Trafoturm




Quantitatives Denken

Lieber KO, ich bin noch Schülerin und bekomme wenig Taschengeld. Aber die neue Platte von Meier & Nagel mußte ich natürlich haben. Und siehe da, sie ist wirklich klasse, weil sie für 11 Euro verkauft wird! Ich betone: für genau 11 Euro, also nicht etwa für 10,99, wie das ja leider gang und gäbe ist. Unserem Mathe-Lehrer habe ich einmal ins Gesicht geschleudert, das sei doch Volksbetrug. Er verwies mich an unsere Kunst-Lehrerin. Die meinte, diese gebrochenen Zahlen wirkten doch ohne Zweifel viel hübscher und interessanter, als so fette plumpe Dinger wie 10 oder 50 oder 100 Euro. Das nahm mir etwas den Wind aus den Segeln. Was meinen denn Sie? Ergebenst Ihre Maltje B., Hildburghausen.
~~~ Liebe Frau B., wenn Sie »Volksbetrug« ins Spiel bringen, muß ich Sie an die Volksweisheit erinnern, man gewöhne sich an alles. Damit rechnen unsere Verkaufsstrategen. Vor immerhin 30 Jahren brachte Rio Reiser sein Album Über Alles heraus. Darauf ist auch der schmissige und bissige Song 9,99 zu hören.* Was jedoch machen diverse Online-Firmen zur Stunde? Sie bieten das neuwertige, knallbunt gestaltete Album für 16,99 an, ohne rot zu werden. Sie wissen genau, das Volk lechzt bereits genauso nach gebrochenen Preisen wie nach gebrochenen Knochen. Deshalb fällt auch keiner unserer Außen-ministerin Baerbock in den Arm, wenn sie, »Rußland ruinierend«, eiskalt mit dem Atomkrieg spielt. Die Leute wünschen verarscht und in Weltkriege gezogen zu werden, weil sie das inzwischen, seit 1914, eben so gewöhnt sind. Sie haben auch die sogenannte, völlig überflüssige, fruchtlose und sündhaft teure »Rechtschreibreform« tadellos geschluckt. Wer heute noch wagt, Fluß statt Fluss zu schreiben, wird gleich in demselben ertränkt.
~~~ Sie werden unter Umständen einwenden, andererseits stünden die Leute doch oft gerade auf möglichst runden Zahlen. Ihr Vater gedenke seinen in zwei Jahren anstehenden 50. Geburtstag ganz groß zu feiern und spare schon eifrig darauf. Dabei leidet er vielleicht schon gegenwärtig an Magengeschwüren, die ihm zunehmend den Genuß von Schweinshaxen mit Thüringer Sauerkraut verderben. Warum feiert er dann lieber nicht schon heute, mit 48, ganz groß? Weil das Ihrer Frau Mutter gar zu peinlich wäre. Niemand feiere beispielsweise ein 48jähriges Betriebsjubiläum, wenn er genauso gut noch zwei Jahre weiterarbeiten und Rentenversicherung abführen könne, wie es ja auch Emmanuel Macron wolle. Nur der Einsatz für runde Sachen sei nachvollziehbar und handhabbar zu machen. Wenn Sie einem Katastrophen-helfer erzählen, das Erdbeben habe schon 9.877 Todesopfer gefordert, geht er doch gar nicht erst hin. »Fast« 10.000, oder eben »rund« 10.000, müssen Sie ihm erzählen, dann rennt er sofort los, um dieses epochale Ereignis nur nicht zu verpassen. Zwar dürften dem Opfer Nr. 9.999 und dem Opfer Nr. 10.001 die quantitativen Unterschiede ziemlich egal sein, sobald sie genauso tot wie das Opfer Nr. 10.000 sind, aber die Geschichte wird ja nicht für Opfer, vielmehr für Sieger und Überlebende gemacht.
~~~ Hier hätten wir womöglich eine Klammer für meine Überlegungen, liebe Frau B. Der Wunsch nach Verkomplizierung (9,99) und Vereinfachung (10.000) dürfte sich in der Menschheit, pauschal betrachtet, einigermaßen die Waage halten. Wann nun welcher jeweils zur Geltung kommt, bestimmt freilich nicht die Menschheit, vielmehr das Pack, das über geeignete Philosophen, Lehranstalten und Massenmedien verfügt, somit die Menschheit beherrscht.

∞ Verfaßt 2023, für Blog-Rubrik Kummerkastenonkel
* https://www.youtube.com/watch?v=R9U_13Lb2F8



Sieh an, laut Brockhaus war auch der Geisteswissen-schaftler Srinivasa Ramanujan (1887–1920) »Autodidakt« – und nach 32 Jahren Lebenszeit gleichwohl weltberühmt. Das hält unsere Hoffnung wach. Der spätere Wahl-Brite hatte das Licht der Welt im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu und in einer verarmten Brahmanen-Familie erblickt. Sein Himmel ist die Mathematik. Zwar bewältigt er die Oberschule, gilt freilich nur im genannten Fach als »Wunderkind«. 1909 wird der gläubige Hindu in einem eher fragwürdigen Versuch, ihn von seiner Besessenheit zu heilen, mit der 10jährigen Janaki verheiratet, die anscheinend von seine Mutter für ihn ausgesucht worden ist. Gelegentliche Beiträge zur Problem-Mathematik in Zeitschriften beheben leider seine Geldnot nicht. Versuche, einen Collegeabschluß zu erringen, scheitern mehrmals an dem geringen Interesse, das er für alle anderen Fächer aufbringt, und wohl auch an seiner Armut.* 1912 ergattert Ramanujan (sprich »Rah-mah-nu-dschän«) einen Job in der Hafenverwaltung von Madras, der ihm außer festem Monatslohn Spielraum für seine Knobeleien gewährt. Daneben bemüht er sich um Kontakte in der weiten mathematischen Welt.
~~~ Nach einigen Abweisungen zieht er in Gestalt des britischen Professors Godefrey Harold Hardy (1877–1947), den aus den eingereichten Formeln sofort Ramanujans Genie anspringt, das vermeintlich große Los. Hardy holt ihn 1914 nach Cambridge und verschafft ihm ein Stipendium. Nun findet der indische Strohwitwer (der seine erst 15jährige Gattin lieber zu Hause ließ) einerseits rasch enorme Anerkennung in der Fachwelt, andererseits setzen dem strengen Vegetarier Ernährungsprobleme, das naßkalte Klima und Heimweh zu. An Tuberkulose erkrankt, ist auch die kriegsbedingte Mangellage nicht zu seiner Gesundung angetan. 1919, nach Kriegsende, leidend nach Indien zurückgekehrt, stirbt Ramanujan schon ein Jahr darauf mit 32 Jahren. Seine Witwe S. Janaki Ammal Ramanujan wird dagegen geschlagene 95 Jahre alt. Gemeinsame Kinder sind in meinen Quellen nicht erwähnt. Ramanujan, der nun große Sohn des indischen Kontinents, erscheint wiederholt auf Briefmarken. Er findet Eingang in diverse Kunst- oder Schundwerke. Seit 2011 gilt Ramanujans Geburtstag (22. Dezember) in Indien offiziell als Nationaler Tag der Mathematik. Alle paar Jahre geht die Meldung durch die Medien, der Mathematiker Soundso habe nun auch das von Ramanujan hinterlassene mathematische Problem XYZ überprüft und Ramanujans Lösung für stichhaltig befunden.
~~~ Möglicherweise begreifen Nicht-Fachidioten, wie man sie heute zuweilen schimpft, nicht ganz, was das indische Genie der Welt eigentlich geschenkt habe. Folgt man Ernst Horst (FAZ 1993), bereicherte er sie auf dem Gebiet der »reinen Mathematik, die nur des freien Laufs der Phantasie bedarf, um gewaltige Denkgebäude aus dem Nichts zu schaffen«, und die natürlicherweise, unter ihren Betreibern, »ganz spezifische Persönlichkeiten« hervorbringe. Welche, sagt Horst leider nicht.
~~~ Der heutige Freiburger Professor Stefan Kebekus, geboren 1970, bricht 1997 auf der Webseite seiner damaligen Universität in Bayreuth eine Lanze für die Mathematik im allgemeinen, ohne Ramanujan auch nur zu erwähnen: »Differential- und Integralrechnung wird an den Schulen gelehrt, weil sie Grundlage sämtlicher Natur- und Ingenieurwissenschaften ist und zum Verständnis vieler anderer Wissenschaften benötigt wird.« Wie sich versteht, zehren auch die Computer von Rechenkünsten. Mathematisch hoch aufgerüstet, steuern sie beispielsweise U-Bahn- oder Telefon-Netze, Kraftwerke und viele allermodernste medizinische Geräte, etwa der Computertomographie. Das ist ein bildgebendes Verfahren der Diagnostik, bei dem der mutmaßlich Kranke zwecks Bestrahlung in eine Röhre gesteckt wird, bei der man unwillkürlich an Genf denkt. All diese Errungenschaften besitzen nämlich ungefähr die Kragenweite der gleichfalls von Kebekus angeführten riesigen Teilchenbeschleuniger unserer spielfreudigen AtomphysikerInnen, vor allem hinsichtlich ihrer Heilkraft und ihrer gesellschaftlichen Unverzichtbarkeit. Vermutlich darf man sich den Hinweis, durch Jahrtausende hinweg hätten unsere Vorfahren Häuser, Brücken, ja sogar gotische Dome ohne Zurhilfenahme jeder höheren Mathematik gebaut, zumindest an den Universitäten von Bayreuth und Freiburg nicht erlauben. Man wird erbost zu hören bekommen, sie seien aber unfähig gewesen, Flugbahnen von Mondraketen oder auch nur von Drohnen-Geschossen zu berechnen.
~~~ Schwieriger sei freilich die »nicht-angewandte«, also jene »reine« Mathematik zu rechtfertigen, räumt Kebekus immerhin ein, beispielsweise die viele hundert Jahre lange Beschäftigung zahlreicher genialer Gehirne mit dem Problem der Quadratur des Kreises oder der Fermatschen Vermutung. Im Gegensatz zu Ramanujans Mentor Hardy, der noch meinte, für diese zahlentheoretischen Spielereien gäbe es keinerlei Anwendung, verweist Kebekus jedoch auf die Verschlüsselungen in der Nachrichtentechnik, die eben aus dieser Ecke gekommen seien. Eine frohe Botschaft also für unsere Geheimdienste: es ist nicht nur ein müßiges teures Spiel, das sie treiben. Forscher- und LehrerInnen wie Kebekus sprechen sich deshalb dafür aus, jene Unterscheidung zwischen reiner und angewandter Mathematik fallen zu lassen. Aber um Gotteswillen nicht die Mathematik selbst! Oder gar die Spionage.
~~~ Zu solchen »Mischlingen«, wie sie Kebekus im Auge hat, zählte wahrscheinlich auch schon ein berühmter deutscher Vorläufer und Leidensgenosse Ramanujans, der Göttinger Professor Bernhard Riemann (im selben Band 18), der 1866 bei einem vergeblichen Kuraufenthalt in Italien gleichfalls der Tuberkulose erlag. Riemann kam auf 39. Er soll sowohl wichtige Beiträge zur Zahlentheorie wie zur oben hervorgehobenen Differential- und Integralrechnung beigesteuert haben. Nach ihm sind zahlreiche mathematische Strukturen benannt, darunter auch eine Riemannsche Vermutung. Die soll die Verteilung von Primzahlen betreffen. Und sie gilt nach wie vor als unbewiesen – aber wichtig sei sie schon. Ein US-Institut habe deshalb für eine »schlüssige Lösung« des von Riemann aufgespürten Problems eine ganze Million Dollar als Belohnung ausgelobt, heißt es im Internet. Die wartet jetzt auf Sie. Heimsen Sie dann auch noch den Nobelpreis ein, sind Sie bereits um zwei Millionen reicher.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 31, August 2024
* J. J. O‘Connor / E. F. Robertson, https://mathshistory.st-andrews.ac.uk/Biographies/Ramanujan/, Juni 1998

Siehe auch → Demokratie, Übelchen → Geld → Gewalt, VerbrecherInnen → Größe, Meßlatte → Handwerk, Zählen + Zollstock → Statistik




Rana Plaza

Der britische Hubschrauberpilot Pete Barnes war bereits 50, als er am 16. Januar 2013 gegen acht Uhr in London sozusagen den 39jährigen Fußgänger Matthew Wood traf. Barnes galt als erfahrener Flieger, der unter anderem im Rettungsdienst, beim Film und im Prominententransport tätig war. An diesem Morgen war er, bei ortstypischen Wetterverhältnissen (Nebel oder jedenfalls schlechte Sicht), über London unterwegs, um einen Fahrgast abzuholen. Daraus wurde nichts. Barnes verfing sich im Ausleger eines Baukranes, der im zentralen Bezirk Vauxhall neben dem St. George Wharf Tower stand. Der Hubschrauber fiel oder trudelte auf die verkehrsreiche Wandsworth Road und fing Feuer. Neben dem Piloten kam Fußgänger Matthew Wood aus Sutton, Süd-London, um. Er stand im Begriff, das Gebäude zu betreten, wo die Schädlingsbekämpfungsfirma Rentokil saß, die ihn als »Kommunikationsmanager« beschäftigte.* 13 weitere Personen wurden verletzt, mehrere Kraftfahrzeuge zerstört. Focus online wußte anderntags zu melden, Barnes habe auch an dem 2002 veröffentlichten James-Bond-Film Stirb an einem anderen Tag mitgewirkt. Der Evening Standard ergänzte dies durch ein Gespräch mit der 38 Jahre alten Rebecca Dixon, der Mutter von Barnes‘ zwei Kindern, bei dem sie versicherte: »He was always smiling and making other people feel happy, valued and important.« Beides hätte man Wood sagen müssen.
~~~ Etliche Quellen, wohl auf den offiziellen Untersuchungsbericht der Air Accidents Investigation Branch (AAIB) gestützt, betonen, jener Fahrgast, ein Geschäftsmann, habe sogar vor dem Unglück per Handy wiederholt bei Barnes Zweifel angemeldet, ob man bei diesem schlechten Wetter überhaupt fliegen solle. Das habe Barnes abgewiegelt. Aber welche Quelle will man nun wiederum für diese Behauptung haben, wenn nicht den Geschäftsmann? Es ist immer wieder dasselbe. Ein bestimmter Fahrer wird zum Sündenbock gemacht, damit man nur nicht das Verkehrswesen antasten muß, dieses ganze irrsinnige System.
~~~ Wood wird es mir hoffentlich vergeben, wenn ich ihn gleichsam in den rund 1.130 Toten und doppelt so vielen Verletzten untergehen lasse, die gut drei Monate später, am 24. April 2013, in der Nähe von Dhaka in Bangladesch anfielen. Dort stürzte der acht- oder neungeschossige Gebäudekomplex Rana Plaza ein, der unter anderem mehrere Textilfabriken beherbergt hatte. Als Ursache der Katastrophe wurde später hauptsächlich »grobe Fahrlässigkeit« der Erbauer wie der Betreiber des Gebäudes und, natürlich, die übliche Korruption im Lande angeführt, bei der Tellerminen zu Kuchenformen erklärt werden. Mindestens 2.400 Verletzte! Mangels Namen von Todesopfern sei die übel verwundete, damals 25 Jahre alte Näherin Shila Begum erwähnt, die ein Jahr darauf in Hamburg** um Verständnis und Beistand warb.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »London helicopter crash: Matthew Wood was 'big-hearted guy'«, BBC News, 17. Januar 2013: https://www.bbc.com/news/uk-england-london-21060651
** Philip Faigle / Marcel Pauly, »Die Schande von Rana Plaza«, Zeit, 22. April 2014: https://www.zeit.de/wirtschaft/2014-04/rana-plaza-jahrestag-hilfsfonds




Raum, Öffentlicher → Denkmäler → Größe, Hochhaus (Luftraum) → Hände (Entkörperlichung) → Band 4 Mollowina, Pingos, Kap. 7 (Plakatierungsdebatte)



Raumfahrt

Eine fette Erbschaft hatte Johann Nepomuk Krieger (1865–1902), Sohn eines bayerischen Braumeisters, in die Lage versetzt, Astronomie zu studieren und in diesem Rahmen eine besondere Leidenschaft für den Mond zu entwickeln. Nebenbei muß er auch grafisch begabt gewesen sein. 1890 richtete er sich in einem Münchener Vorort sogar eine eigene Sternwarte ein, die er fünf Jahre darauf in die oberitalienische Stadt Triest (an der Adriaküste) verlegte. Das geschah wohl dem dortigen klaren Himmel, vielleicht auch einer vergleichsweise gesunden Luft zuliebe. Da hockte er nun Nacht für Nacht im Dachreiter einer stattlichen Villa am Rohr und über seinem Zeichentisch, hatte er sich doch in den Kopf gesetzt, den Mond zu kartieren. Zu diesem Zwecke erfand er eigens mehrere einer guten Darstellung dienliche grafische Verfahren. So entstanden rund 1.000 Zeichnungen von der Mondoberfläche, die noch heute hochgelobt werden, und zwar sowohl aus astronomischen wie künstlerischen Gründen. Die Veröffentlichung des ersten Teils seines Mondatlas‘ durfte er (1898) sogar noch erleben. Vier Jahre darauf hatte sich Krieger totgearbeitet, wenn man einem Porträt auf der Webseite der Unione Astrofili Italiani glauben darf.* Hinzu sei die Nachtkälte gekommen. Um 1900 brach der Mondkundler und Mondgrafiker zusammen, schl0ß sein Observatorium, das nach seiner Gattin (ein Sohn) Pia hieß, und schleppte sich von einem Sanatorium zum anderen. Er starb im Februar 1902, wenige Tage nach seinem 37. Geburtstag, in San Remo (an der italienischen Riviera). Woran genau, wird nicht gesagt. Ich tippe auf Tuberkulose und/oder Lungenentzündung. Heute kann man in den Mondatlanten auch den Krater Krieger nachschlagen, Durchmesser 23 Kilometer.
~~~ Ob Krieger auch mit einer Fahrkarte zum Mond liebäugelte, entzieht sich meiner Kenntnis. Eigentlich war die Eroberung des Mondes schon vor 300 Jahren von Johannes Kepler durchgespielt worden. Francis Godwin, John Wilkins, Poe, Melville träumten von ihr. Um 1900 lag die Mondfahrt geradezu in der Luft; wenige witterten Unheil. Henrik Pontoppidans verschrobener Pastor Fjaltring etwa sah die Räume schrumpfen, unwirtlich werden – verschwinden. An der Entfernung zwischen Nase und Mund sei trotzdem nicht zu rütteln, fügte er (im Roman Hans im Glück) gläubig hinzu. Aber genau das ärgert ja die Leute, die ihre Raumfähren Challanger (Herausforderer) und ihre Gentechnik einen Segen nennen. Ihr Stolz duldet keine Grenze und keine Unmöglichkeit. Lewis Mumford rätselt (in seinem Buch Der Mythos der Maschine von 1967/70), warum Kepler die Raumfahrt solcher enormen Mühen und Verluste für wert hielt. Dabei hat er vorher selber »das typisch technokratische Motiv« herausgestellt, etwas allein um des Beweises seiner Machbarkeit willen zu machen. Flucht vor irdischen Problemen, ob sozialer oder seelischer Natur, kommt allerdings hinzu. Dafür werden keine astronomisch hohen Kosten und keine toten RaumfahrerInnen gescheut. Den Kosmonauten zu sagen, sie könnten ihren Lebensunterhalt doch auch als RaumpflegerInnen bestreiten, hat gar keinen Zweck. Sie brauchen das Wagnis. Mit schnöden Krankheiten geben sie sich nicht ab. Wird der Himmel gesperrt, weil da die Corona-Asteckungsgefahr zu hoch ist, heuern sie in der nächsten Kohlezeche an und versuchen dort, 500 oder 800 Meter untertage, die am 13. Oktober 1948 erreichte Norm des DDR-Hauers und -Helden Adolf Hennecke zu übertreffen. Das ist nicht weniger bekloppt.**

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Johann Nepomuk Krieger«, Stand 2011, auf: https://divulgazione.uai.it/index.php/Johann_Nepomuk_Krieger. Das Porträt beruht auf dem Buch 250 Jahre Astronomie in Triest von Conrad A. Böhm, MGS Press 1998.
** George Orwell, eigentlich Antikommunist, hielt Industrie im großen Maßstab für unverzichtbar und brachte speziell den Kumpels der Finsternis geradezu Verehrung entgegen. Er war eher Proletkultler als Anarchist.



Ariane heißen die Trägerraketen, die seit gut 40 Jahren in immer neuen Ausführungen von der Europäischen Weltraumorganisation (ESA) ins All geschickt werden. Es gab »natürlich« schon einige Fehlstarts und Explosionen, wie auch Brockhaus nicht verschweigt. Immerhin scheinen dabei keine toten Flieger anzufallen, nur verpulverte Nutzlasten, etwa Satelliten, von den Geldern nicht zu schweigen. Allein die jeweilige Rakete soll mindestens 150 Millionen Dollar kosten, und die Lasten und die Starts sind auch nicht ganz umsonst zu haben. Wir dürfen gespannt sein, was aus diesem Geldverbrennungsprojekt wird, wenn es, möglicherweise schon im kommenden Jahrzehnt, gar keine sogenannte Europäische Gemeinschaft mehr geben wird.
~~~ 1986, gerade noch rechtzeitig vor Band 2, hätten die Experten in Kourou, Französisch-Guayana, eine Ariane wegen eines Fehlers im Antriebssystem »wenige Minuten nach dem Start gesprengt«, behauptet Brockhaus. Den Huckepack-Fernmeldesatelliten (die sogenannte Nutzlast) ebenfalls. Wer großzügig ist, kann dieser Mitteilung einen Anflug von Bedenken gegen Raumfahrtprogramme entnehmen. 10 Jahre darauf stürzte die russische Sonde Mars 96 ab, was wiederum etwas später zu einer Schimpf-kanonade meines Gudensberger Zeitungszustellers Bott führte, in Geschichte Nr. 8. Dummerweise hatte diese »Sonde« auch etwas Plutonium an Bord. Dann stellten sich Fehlzündungen – und Lähmungen in der irdischen Leitstelle ein, sodaß sich die Sonde nicht mehr lenken ließ. Presseberichte hielten Bott und andere, darunter etliche AustralierInnen, in Angst und Schrecken: Wo wird sie niedergehen? Sie tat es schließlich zumindest teilweise im Pazifik bei Chile. Wikipedia versichert jedoch, größere Teile, darunter die mit dem Plutonium, seien bereits vorher im Orbit verglüht. Da war Bott Verschwörungstheo-retikern aufgesessen. Na, im Orbit ist schon bald so viel gut aufgehoben wie in unseren Weltmeeren.
~~~ 2016 runzelte ich selber über zwei Ossietzky-Artikeln die Stirn. Der erste* feierte »eine späte Würdigung für eine einmalige Frau, die einzige in der Geschichte der Weltraumforschung, die vier Generationen von Raumfahrzeugen maßgeblich mitgestaltet hat«. Die Bürgerin der SU Galina Balaschowa war nämlich eine Architektin und Designerin gewesen, die sich auf Orbiter geschmissen hatte, hielten die sowjetischen Kommunisten doch kräftig bei der Eroberung des Weltraums mit. Ein Herr Meuser verfaßte dann endlich ein Buch über Balaschowa, das Kollege Altenburg offensichtlich wie im Flug gelesen und genossen hat. Dabei hatte dieser Kollege, Autor des mehr oder weniger altkommunistischen Blättchens mit dem feuerroten Umschlag, das Glück, von nicht einem Funken kritischen Verstandes belästigt zu werden.
~~~ Ähnlich mutete mich der zweite** Fall an. Hier macht uns der Autor mit den fesselnden Versuchen der bekannten TeilchenbeschleunigerInnen des Genfer CERNs bekannt, das Geheimnis der sogenannten Antimaterie zu lüften – die man zum Zwecke der Erforschung allerdings erst zu erzeugen hat, damit sie wenigstens ein paar Minuten lang am »Leben« gehalten werden kann. Die Frage, warum das gut und wichtig sein könnte, fällt Kollege Orlick nicht im Traum ein. Die gewaltigen Kosten der Teilchen-Spielereien unserer AtomphysikerInnen klammert er konsequent aus. Zwar erwähnt er Ängste vor Gefahren oder Gespenstern, die möglicherweise aus diesen Experimenten wie aus gewissen Reagenzgläsern erwüchsen, macht sie aber gleich lächerlich. Die auf die enorme Sprengkraft von Antimaterie gerichteten Begierden von Militärs hält er für abwegig, weil die dazu erforderliche Menge selbst in »Milliarden von Jahren« gar nicht herstellbar sei. Das ist ohne Zweifel beruhigend. Orlick weiß genau, wie sich Teilchen, die es eigentlich noch gar nicht gibt, verhalten werden. Er liebt das Spiel mit dem Feuer, wie so viele Forscher- oder KünstlerInnen, siehe Genossin Balaschowa aus dem Reiche Lenins und Stalins, Jahrgang 1931. Sie soll inzwischen die 90 überschritten haben. Abends sitzt sie in ihrem Schaukelstuhl und tätschelt die kleine Nachbildung der Rakete, die ein hoher Regierungsvertreter ihr verehrt hat.
~~~ Auf die Ideologie scheint es ohnehin nicht anzukommen. Der große gemeinsame Nenner aller Technokraten in West und Ost ist der inbrünstige Glaube an Fortschritt und der entsprechende Machbarkeitswahn. Mit gewissen »markschreierischen« Presseberichten über die faustischen Experimente in Genf konfrontiert, habe der Physiker Walter Oelert »lapidar«, so Orlick sichtlich erfreut, entgegnet: »Was wir geschaffen haben, ist das erste Element im Periodensystem der Antielemente. Wir haben gezeigt, dass es Antiatome wirklich gibt.« Hier leuchtet das Credo aller Technokraten durch, das ich neulich schon in meinen Nasen-Erwägungen zur Raumfahrt (unter »Krieger, Johann«) aufspießte: Was immer wir machen, es beweist, es ist machbar. Was und mit welchem Ziel, ist dabei scheißegal. Gott war schließlich auch kein Moralist, wie der Zustand der Welt in den vergangenen zwei Millionen Jahren bezeugt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 3, Dezember 2023
* Herbert Altenburg, »Ein Leben unter Sternen«, Ossietzky 7/2016
** Manfred Orlick, »Vor zwanzig Jahren: Antimaterie ante portas«, Ossietzky 2/2016



Sollte sich in Nordamerika dereinst ein Bund freier Republiken herausbilden, wird er die kirchlichen Feiertage abschaffen, dafür jedoch ein paar regelmäßige Spottage einführen. Ich beschränke mich auf drei naheliegende Beispiele. Am 26. Juni gilt es, General George Armstrong Custer und gleich auch seine an der Niederlage beteiligten Brüder Thomas und Boston auszulachen. Es war die berühmte, ausnahmsweise für die PrärieindianerInnen siegreiche Schlacht am Little Bighorn River, die im Sommer 1876 im heutigen Montana stattfand. Die Custers zogen trotz ihrer drückenden militärischen Überlegenheit den Kürzeren, weil sie zu viele Fehler machten. Alle drei waren noch keine 40. Alle drei fielen, und zwar im Verein mit immerhin fünf Kompanien der US-Army. Das heißt, Hauptmann Thomas Custer fiel auf ausgezeichnete Weise, indem ihn nämlich Rain in the Face erschlug, der aufgrund einer früheren Festnahme durch den Hauptmann noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hatte.
~~~ Nehmen wir jetzt den 11. August. Bekanntlich sattelten die Yankees im Zuge der »Erschließung des Wilden Westens« zunehmend vom Pferd aufs Auto um. Das machte sie auch in zwei Weltkriegen siegreich. Ökologische Bedenken und Entsetzen über »Kollateralschäden« auf den eigenen, heimischen Straßen stellten sie bis auf Weiteres zurück. Bald nach dem Zweiten Weltkrieg stieg ein neuer genialer Bildender Künstler am Sternenbanner auf. Mit seinem berüchtigten »Action Painting« wirbelte der Maler Jackson Pollock genug Staub auf, um die Preise für seine Gemälde bis zum Mond steigen zu lassen. Mit dem damit verbundenen Ruhm und Erwartungsdruck wurde er allerdings nicht so leicht und schnell fertig wie mit seinen buchstäblich auf die Leinwand geworfenen Kunstwerken: er litt zunehmend an »Arbeitsblockaden«, was zum Beispiel bedeutete, je weniger er malte, desto mehr soff er. Leider wurde aber sein Führerschein nicht mitblockiert. Pollock hatte mit seiner Gattin Lee Krasner unweit von New York City ein Haus in East Hampton auf Long Island. Dort baute der 44jährige Künstler am späten Abend des 11. August 1956 mit seinem schicken Cabriolet Marke Oldsmobile in betrunkenem Zustand einen schweren Unfall. Er nahm eine Kurve der ihm wohlbekannten Fireplace Road zu schnell und krachte in ein Gehölz. Seine Geliebte und Beifahrerin Ruth Kligman, 26, wurde »nur« schwer verletzt; deren 25 Jahre alte Freundin Edith Metzger und Pollock selber dagegen bissen ins Gras. Aber die Witwe war ja unversehrt. Deren Karriere als Vermögensverwal-terin und Vermarkterin des bekannten »Actionpainters« und vorbildlichen Verkehrsteilnehmers fing jetzt erst richtig an.
~~~ Bald nach Pollocks ruhmreichem Ende kam das neuartige und aufwendige US-Raumfähren-Programm ins Rollen. In diesem Rahmen schickte sich die Raumfähre Challenger (»Herausforderer«) am 28. Januar 1986 zu ihrem 10. und allerdings auch letzten Flug an – sie explodierte 73 Sekunden nach dem Abheben von Cape Canaveral, wie Brockhaus weiß. Fähre und Nutzlast wurden dadurch zerstört; alle sieben Astronauten der Besatzung kamen um, darunter zwei weibliche. Das war also schon ein deutliches Fanal der postmodernen Frauenemanzipation. Weitere Unglücke mit Toten folgten, aber das wird mir jetzt zuviel. 2011 wurde das »Space-Shuttle-Programm« der NASA beendet. Bernd Leitenberger* schätzt dessen Gesamkosten (bei 30 Jahre Laufzeit) auf mindestens 300 Milliarden US-Dollar zum Kurs von 2010, wobei er natürlich ökologische, soziale, moralische Kosten übergeht. Schon dieser Betrag läßt sich von normalsterblichen Menschen verdammt schwer vergegenwärtigen. Sagen wir deshalb der Anschaulichkeit halber: mit 300 Milliarden könnte man sicherlich den Gazastreifen mitsamt seiner BewohnerInnen einrollen, auf mehrere US-Flugzeugträger packen und in der Freien Republik Kalifornien wieder ausrollen. Dort soll das Klima sowieso viel angenehmer als in der Öde namens Palästina sein.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024
* https://www.bernd-leitenberger.de/shuttle-kosten.shtml

Siehe auch → Kosmologie, Fabricius (Mondlandung)




Recht

Im Reich der Spitzfindigkeiten --- Für diesen Sommer habe ich mir eine längst überfällige Wiederlektüre von Heinrich Hannovers Wälzer Die Republik vor Gericht verordnet. Das Werk erschien erstmals 1998/99 in zwei Bänden [1]. Ich bereue die Roßkur nicht. Obwohl das Unrecht, das der bekannte linke Rechtsanwalt in diesen Erinnerungen aus rund vier Jahrzehnten juristischen Wirkens versammelt hat, noch keine »Killerviren« kannte, beißt es einen tüchtig ins Gedärm. Zuweilen droht man sogar wie ein Knirps vor ohnmächtiger Wut zu platzen. In der vielgerühmten Demokratie gehöre »das Recht des Stärkeren« keineswegs der Vergangenheit an, stellt Hannover resümierend auf Seite 919 fest. Der Schwache kann weder eigene Prominenz noch Staranwälte in die Waagschale werfen. Er rennt sich den Kopf an kapital- und staatsfrommen Juristen ein, die auf legalem Wege nahezu unangreifbar sind. Wie später auch sein journalistischer Freund Günther Schwarberg in seinen empfehlenswerten Erinnerungen [2], prangert Hannover unermüdlich die herrschende Doppelmoral an. Er scheut sich nicht, von Gesinnungs- oder Klassenjustiz und schlicht von Unmenschlichkeit zu sprechen. 1971 wird die 20jährige RAF-Kämpferin Petra Schelm von Polizisten erschossen – wahrscheinlich hinterrücks. Ihr von Hannover verteidigter Begleiter Werner Hoppe bekommt wegen unbewiesener »Mordversuche« 10 Jahre Zuchthaus. Ihm die Geliebte zu töten, war noch nicht Strafe genug.
~~~ Leider fing die Demonstration der Stärke schon gleich inmitten der Trümmerberge der frühen Nachkriegszeit an, als sich Scharen von tatsächlichen oder angeblichen Kommunisten plötzlich vor Gericht genau jenen in eindrucksvollen Richter-Roben steckenden Faschisten gegenüber sahen, die doch eigentlich eben erst von unseren britischen und nordamerikanischen Freunden besiegt worden waren. In der Tat kommt Hannovers verdienstvolle Fleißarbeit schon fast einem Kritischen Lexikon zur deutschen Nachkriegsgeschichte gleich. Im großen und ganzen ist sie sogar flüssig geschrieben. Strapazen stellen einige Fälle dar, die er für mein Empfinden zu detail- und belegreich ausbreitet. Ich führe als Beispiele Kampa, Roth/Otto, Raths-Konditorei an. Der Nichtjurist kann ihnen nur noch unwillig folgen. Vielleicht wäre es sinnvoller gewesen, es im Haupteil bei den Grundzügen und Ergebnissen des betreffenden Verfahrens zu belassen und die Winkelzüge und Belege in einem Anhang zu geben. Als alter Antiautoritärer befremdet mich außerdem Hannovers Verbeugung vor allen Akademikern. Ob Freund oder Feind, beispielsweise Bundeskanzler Dr. Adenauer, Amtsgerichtsrat Dr. Borchert, der Angeklagte Dr. Hans Modrow, Zeuge Dr. Wolfgang Schäuble – er macht sich nie der Unterschlagung ihres einschüchternden Titels schuldig, »Professor« selbstverständlich eingeschlossen. Aber diese Unsitte teilt der Jurist aus Worpswede (bei Bremen) mit vielen anderen »linken«, gegen die Macht ankämpfenden Memoirenschreibern, etwa Arthur Koestler. Nur nicht mit Kurt Tucholsky. »Der Titel erstickt jeden Widerspruch und erspart dem Titelträger jede Tüchtigkeit. Er steckt sich hinter den Titel, und das Übrige besorgt dann schon die Dummheit derer, die den Titel anstaunen und ihn um des Titels willen, den sie nicht haben, aber gern hätten, beneiden. […] Der Titel soll den Träger immer wieder an seine eigne Herrlichkeit gemahnen. Es wäre nichts gegen ihn einzuwenden, wenn er nur den Angeredeten auszeichnete; er drückt aber bewußt alle die, die ihn nicht haben. Er ist im tiefsten Sinn undemokratisch.« [3]
~~~ Sieht sich Hannover gezwungen, allen Verästelungen eines Falles nachzugehen, hängt es freilich damit zusammen, daß unsere Gesetze wie unsere Richter in der Regel unglaublich »spitzfindig« sind, wie er einmal auf Seite 827 sagt. Dazu gesellt sich dann die unnachgiebige Buchstabengläubigkeit, die in Deutschland spätestens seit Dr. Martin Luther stets vorzügliche Karten hat. Gesetz ist Gesetz, Befehl ist Befehl – man kennt diesen Holzhammer, der auf die unterschiedlichsten Köpfe und Fälle paßt und Einfühlung und Mitleid für heimtückische, von Ausländern eingeschleuste Viren hält. Urteilskritik sei mal unmöglich, schreibt Hannover, mal völlig zwecklos. Meines Erachtens liegt der Grund für diesen undurchdringlichen justiziellen Dschungelverhau in den Institutionen Recht und Rechtsstaat selber. Hannover stellt sie leider in diesem Werk nie in Frage. Sie haben seit den antiken Foren in Athen und Rom eine gefräßige Aufblähung (von Gesetzen und Auslegungen, Gerichtszeremonien und Gesetzeshütern) in Gang gesetzt, die jede Willkür gestattet. Wer am Hebel sitzt, kann das Recht beugen, bis es ihm in den Kram paßt. Die Alternative einer dezentralisierten, schmiegsamen, volksnahen Rechtsprechung deute ich weiter unten an.
~~~ Da keine Krähe der anderen ein Auge aushackt, bleiben auch nach Hannovers Ausweis ungefähr 99,99 aller mit Amt oder Titel gesegneten SchandtäterInnen unbelangt. Sie werden allenfalls versetzt oder abgewählt – und ihre NachfolgerInnen reiben sich bereits die Hände. Sie treten als Wagenknecht an und enden auch nur als Merkel. Oder nehmen wir Gerhard Schröder. Meines Wissens hat er es 1998, frisch zum Kanzler gekürt, noch nicht einmal nötig gehabt, sich wort- und tränenreich für die Ermöglichung des Ersten Weltkrieges durch die Sozialdemdokratie oder wenigstens für die Ermordung Benno Ohnesorgs »zu entschuldigen«, der ja just unter der Schirmherrschaft seiner beiden Parteifreunde Willy Brandt und Erich Duensing, dem Westberliner Polizeipräsidenten, erschossen worden war. Schröder legte sich auch ohnedem für die berüchtigte rotgrüne »Enttabuisierung des Militärischen« ins Zeug.
~~~ Mancher Verdrossene würde vielleicht darauf pochen, all diese SchandtäterInnen gehörten endlich vor Gericht und von demselben bestraft. Aber das schmeckt meiner oben angedeuteten Rechtsauffassung gar nicht. Strafen bessern nie, und schon gar nicht Leute wie Schröder und Merkel. Auch der Vergeltungsgedanke scheidet unter echt republikanischem Blickwinkel selbstverständlich aus. Vielleicht wäre immerhin eine Wiedergutmachung erwägbar – doch wie sollte sich Merkel denn die vielen Milliarden, die sie bereits den Impfkonzernen[4] und den notleidenden Banken zugeschanzt hat, aus den Rippen schneiden? Wolfgang Jeschke[5] weist mit Bedauern darauf hin, nach der Rechtslage dürfe das auch niemand von ihr verlangen. Bei uns sind amtierende PolitikerInnen nämlich per Gesetz vor Haftungsrisiken geschützt. Der Rubikon-Autor macht sich deshalb für den Vorschlag des Juristen Carlos A. Gebauer stark, diesen Schutz aufzuheben. Das zwänge unsere MandatsträgerInnen, erheblich sorgfältiger »mit unserem Geld, unserer Natur, unserer Gesellschaft« umzugehen. Aber für mich ist das reformistischer Käse. Keine Strafandrohung wird eingefleischte Karrieristen davon abhalten, sich an die staatlichen Futtertröge heranzupirschen; sie wird sie vielmehr beflügeln, die Straffälligkeit durch tausend Schliche und Winkelzüge zu umgehen. Die Muster dafür können sie sich zu einem guten Teil sicherlich bei promi-nenten Steuerflüchtlingen und Subventionsbetrügern besorgen. Nein, was fallen muß, ist der Staat. Das Vertreten und Verwalten und gerade der ganze undurchdringliche Paragraphendschungel, mit dem es sich bewehrt, müssen auf dem Misthaufen der Geschichte landen. Das setzt freilich Verkleinerung, also Schrumpfung statt unaufhörliche Aufblähung unserer Gesellschaften und ihrer Einrichtungen voraus, und dieses heiße Eisen packt so gut wie niemand an.
~~~ Ich komme noch einmal auf Hannovers auf- und anregende Erinnerungen zurück. In den 1980er Jahren scheiterte er mit dem Versuch, den SS-Mann Wolfgang Otto wegen Beteiligung an der Ermordung Ernst Thälmanns verurteilen zu lassen. Dieses Buchkapitel beschließt der Rechtsanwalt mit der wohl mindestens teilweise rhetorisch gemeinten »Frage an die Historiker[Innen]«, warum Thälmann zur Zeit des Hitler-Stalin-Paktes, um 1940 also, eigentlich nicht freigelassen worden sei (S. 734). Der nach Hitlers Staatsstreich kurzerhand suspendierte Reichstagsabgeordnete und weltberühmte Vorsitzende der KPD war Anfang März 1933 verraten und folglich, noch in Berlin, verhaftet worden. Allerdings dürfte dabei, auf kommunistischer Seite, auch Fahrlässigkeit im Spiel gewesen sein. Jedenfalls kam der grobschlächtige, gleichwohl gern gemütlich grinsende ehemalige Hamburger Transportarbeiter, als Parteichef Stalins »ergebenster Gefolgsmann« [9], nie mehr frei. Vielmehr wurde er ohne Gerichtsverfahren nach über 11jähriger Haft im August 1944 klammheimlich erschossen – wahrscheinlich im KZ Buchenwald, wohin man ihn kurz zuvor aus dem Bautzener Gefängnis geschafft hatte. Er starb mit 58.
~~~ In der Tat sollte man ja meinen, der mächtigen sowjetischen Bruderpartei wäre es spätestens nach dem berüchtigten, im August 1939 abgeschlossenen »Pakt« mit den deutschen Faschisten ein Leichtes gewesen, »Teddy« aus dem Knast loszueisen, zumal Sowjetchef Stalin so nett gewesen war, der Gestapo rund 1.000 deutsche und österreichische Emigranten auszuliefern, die im Schoße der Weltrevolution Schutz gesucht hatten [6]. Nach verschiedenen Quellen wollte Stalin aber Thälmann gar nicht haben. Deshalb wurden Rosa Thälmanns wiederholte Vorstöße in der Berliner SU-Botschaft abgewimmelt, und die zwei Dutzend unterwürfigen Briefe ihres Gatten an Stalin blieben durchweg unbeantwortet [7, 8, 9]. Wie es aussieht, waren sowohl Stalin wie Thälmanns Gegenspieler Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht schon bald nach jener Verhaftung 1933 der Ansicht, der populäre KPD-Chef sei im Knast viel besser aufgehoben als in Freiheit, wo er möglicherweise aus der Schule geplaudert[9] oder wieder alles falsch gemacht hätte. Ein Thälmann im Knast konnte immerhin ausgezeichnet für plakative Agitprop-Befreiungs-Kampagnen benutzt werden. So kam er wenigstens weder Ober-Intrigant Ulbricht noch gar dem Sowjetchef in Moskau selber in die Quere.
~~~ Diese ernüchternde Sichtweise wird überzeugend von Ronald Sassnings anscheinend letzter Publikation unterstrichen, veröffentlicht 2006 in der thüringischen Rosa-Luxemburg-Stiftung [9]. Der Thälmann-Forscher und Parteihochschullehrer aus der verflossenen DDR spricht abschließend unmißverständlich von Stalins »großer historischer Mitschuld« am Tod Thälmanns, nimmt freilich auch diesen selber nicht bei der Kritik aus. »Als Vorsitzender der KPD trägt er – wie andere auch – eine gewisse Mitschuld an der Machtergreifung Hitlers, da diese durch schwerwiegende Fehler und Versäumnisse ungewollt erleichtert wurde. Thälmann bezahlte dies letztlich mit seinem eigenen Leben.«

∞ Verfaßt 2020
[1] Hier beziehe ich mich auf die einbändige Ausgabe Berlin 2005
[2] Günther Schwarberg, Das vergess ich nie, Göttingen 2007
[3] Tucholsky als »Ignaz Wrobel« in: Die Weltbühne, 27. Mai 1920, Nr. 22, S. 637
[4] Nach meinen Informationen orderte die Bundesregierung im Zuge der schrecklichen »Schweinegrippe« von 2009 genau 50 Millionen Dosen – auf denen sie größtenteils sitzen blieb.
[5] https://www.rubikon.news/artikel/die-corona-bilanz-2 vom 16. Juni 2020
[6] So der Darmstädter Soziologe Helmut Dahmer in seinem Artikel »Der Hitler-Stalin-Pakt und seine Folgen« aus dem Oktober 2009, hier bei https://www.scharf-links.de/49.0.html?tx_ttnews[cat]=27&tx_ttnews[tt_news]=7350&cHash=6519194f2e
[7] Regina Scheer, https://www.berliner-zeitung.de/rosa-war-die-frau-von-ernst-thaelmann-ihr-mann-wurde-vor-60-jahren-hingerichtet-die-geschichte-einer-wechselvollen-liebe-im-schatten-des-denkmals-li.6539, 14. August 2004
[8] Peter Klinkenberg 7/2014 für Anti-SED-Stiftung: https://www.zeitzeugenbuero.de/fileadmin/zzp/pdf/Klinkenberg_Th%C3%A4lmann-Stalin.pdf
[9] Ronald Sassning, Rückblicke auf Ernst Thälmann, Jena 2006, zu Haftzeit und Ermordung bes. S. 91–113



Haken --- Mit der Bestimmung, die Justiz habe von der Staatsgewalt unabhängig zu sein, gedachten die sogenannten Väter unseres Grundgesetzes, deren Mißbrauch durch die Staatsgewalt auszuschließen. Nur steht die Justiz dadurch auch machtlos da. Wird also beispielsweise die im März 2007 abgegebene Erklärung des Mannheimer Verwaltungsgerichts, das bereits vier Jahre währende Berufsverbot für den linken Lehrer Michael Csaszkózy sei unzulässig, durch die Stuttgarter Oettingerriege mit der Versicherung kommentiert, das Land werde den C. trotzdem nicht einstellen, können die RichterInnen nur auf Überzeugungsarbeit oder auf sogenannte Machtworte aus Berlin setzen, wo freilich dummerweise Oettingers Parteigenossen am Ruder sitzen. Polizei können sie nicht in Marsch setzen, denn die untersteht der Stuttgarter Landesregierung. Nähmen die Polizisten ihren Landesfürsten Oettinger in Beugehaft, sperrten sie sich die eigenen Gehälter. Damit will ich nicht behauptet haben, wenigstens das Land Baden-Württemberg sei unabhängig. Es hängt vom Wohlwollen etlicher Braukessel- und Waffenschmiede sowie der abonnierten Hockenheim-Ring-Sieger ab. Das Wesentliche am Kapitalismus ist nicht das Recht sondern das Kapital.
~~~ Allerdings stellt jene richterliche Parteinahme für einen kritischen Lehrer nur eine rühmliche Ausnahme dar. In der Regel stehen unsere RichterInnen und Staatsanwälte stramm auf der Seite der VerfestigerInnen und nicht der UnterhöhlerInnen des Staates, der sie bezahlt und sie bedeutend macht und ihnen sogar noch im Ruhestand das Verfertigen einträglicher Gutachten zuschanzt. Der für Ermittlung, Verfolgung und Anklage sorgende Staatsanwalt ist dabei ohnehin »weisungsgebunden« der Exekutive zugeschlagen. Ihn weisen Oettingers oder Merkels Staatssekretäre an, das eine zu tun oder das andere zu unterlassen. Und die nicht weisungsgebundenen RichterInnen wissen sich schon davor zu hüten, ihr traditionell gutes Verhältnis zur Staatsanwaltschaft und zur Staatsmacht überhaupt zu trüben. Sie alle sind gut ausgebildete und gut besoldete Fachleute, die ihre Interessen und die besten Chancen, befördert zu werden, ausgezeichnet kennen. In den Vetternwirtschaften westlicher Demokratie spielt dabei bekanntlich das richtige Parteibuch eine wichtige Rolle. Das gilt selbst für unsere »hohen« Bundesgerichte, deren Angehörige stets mit Heiligenschein aufzutreten pflegen. Rolf Lamprecht, für Jahrzehnte Spiegel-Korrespondent bei den obersten Gerichtshöfen in Karlsruhe, bemerkte dazu in seinem 1995 veröffentlichten Buch* Vom Mythos der Unabhängigkeit: »Die Parteien, die den Staat ungeniert als Selbstbedienungsladen behandeln, haben diese Mentalität mittlerweile auf die Dritte Gewalt ausgedehnt. Sie besetzen namentlich die 16 Planstellen der höchsten Instanz, des Bundesverfassungsgerichtes in Karlsruhe, nach den Riten eines orientalischen Basars.«
~~~ Ihre Trickkisten haben unsere DienerInnen Justitias eher aus der Unterwelt als aus Markthallen bezogen. So erheben sie zum Beispiel gar nicht erst Anklage wegen »Beweisschwäche« des Rechtsuchenden (Fall Murat Kurnaz). Sie weisen eine Verfassungsbeschwerde zurück, weil sie »unbegründet« sei (Fall Jürgen Rose). Sie legen Verfallsfristen als Verschleppungsgebot aus, sorgen also, wenn unliebsame Enthüllung oder gar die Bestrafung eines Gesinnungsgenossen droht, durch »Bummelstreik« für »Verjährung«, wie in den Fällen zahlreicher Nazis geschehen, oder wie beispielsweise im Fall des 1987 vermutlich gewaltsam verstorbenen Waffenschiebers Uwe Barschel. Sie empfehlen unter Jagdkameraden, gewisse Akten durch Reißwölfe schützen zu lassen; geben informations- und sensationshungrigen Journalisten das eine oder andere zu verstehen; bringen ein Prosit auf Kanzler Gerhard Schröder aus, weil er gestanden hat, »Koalitionsvereinbarungen« gar nicht erst zu lesen. Schließlich hält er sich sowieso nicht an sie.
~~~ Schlagen ihre Bemühungen im Vorfeld fehl, schmettern unsere Justizkräfte im Prozeß alles ab, was die Angeklagten entlasten könnte, während zum Beispiel Vorwürfen, die Polizei hätte gefoltert und so Geständnisse erzwungen, grundsätzlich nicht nachgegangen wird. Über dies alles kann man sich, soweit es nachkriegsdeutsche Rechtspflege angeht, ausgezeichnet in zwei dicken Büchern der Gerichtsreporterin Parnass und des Rechtsanwaltes Hannover unterrichten.** Natürlich macht es nicht an der Staatsgrenze Halt. 1975 verurteilte die britische Justiz die aus Irland stammenden sogenannten Guildford Four für Bombenanschläge, die sie nicht begangen hatten. Sie kamen erst nach vielen Jahren des Leidens und des Kampfes wieder frei, wie in Paul Hills Buch Gestohlene Jahre von 1990 nachgelesen werden kann. 2005, nach knapp 30 Jahren, sah sich Premierminister Tony Blair sogar zu einer offiziellen »Entschuldigung« für den bedauerlichen Justizirrtum veranlaßt. Wahrscheinlich wollte er sich einen Ablaß auf die Höllenstrafe erwerben, die ihn bald erwartet, weil er mit Hilfe der gleichen korrupten und verlogenen Justiz mit Bombern gen Bagdad zog.
~~~ Etwas glimpflicher und entschieden vergnüglicher gestaltete sich der Justizirrtum 1980 im Fall des Spaß-vogels Fritz Teufel. Nach fünf Jahren Untersuchungshaft und einer aufwendigen Gerichtsverhandlung beantragte der Staatsanwalt 15 Jahre Haft für Teufel, weil er im Februar 1975 an der Entführung des Westberliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz beteiligt gewesen sei. Daraufhin zog Teufel ein hieb- und stichfestes Alibi aus seiner Tasche. Er hatte zur Tatzeit unter falschem Namen in einer Essener Fabrik gearbeitet. Das Gericht mußte ihn sofort aus der U-Haft entlassen. Teufels Hauptmotiv für deren Erduldung kann ihm gar nicht hoch genug angerechnet werden: Er habe zeigen wollen, »wie ein Angeklagter für definitiv nicht begangene Taten vorverurteilt« werde und »wie das ganze System« funktioniere. Allerdings wußte er damals, man hätte ihm wegen anderer Sachen ohnehin mehrere Jahre aufgebrummt. Das war mit der U-Haft abgegolten.***
~~~ Die Regimefrage vernachlässigt, läuft es in juristischen Belangen weltweit wie folgt: die GesetzeshüterInnen dehnen und beugen und verbiegen das Recht, bis es einem Krjutschkow ähnelt und gut in rebellische Hälse paßt. Krjutschkow, laut Victor Serge »ein robuster Kerl mit Kneifer, allgemein verachtet«, war Gorki unter Stalin als »Sekretär« verordnet worden – von der Geheimpolizei GPU. Krjutschkow heißt, wenn ich nicht irre, Haken – und Faustrecht Tautologie.

∞ Verfaßt um 2012
* Zitiert nach Friedrich Wolff, »Im Namen des Volkes?«, Ossietzky 20/2012
** Peggy Parnass: Prozesse 1970–78, Ffm 1978 / Heinrich Hannover: Die Republik vor Gericht 1954–95, einbändige Ausgabe Berlin 2005
*** Interview mit Teufel 2010: https://www.tagesspiegel.de/politik/ich-war-am-anfalligsten-fur-die-liebe-1800601.html



In Nummer 21/2008 des Zweiwochenblattes Ossietzky weist Conrad Taler auf zwiespältigen Umgang mit dem sogenannten Rückwirkungsverbot aus Artikel 103 unseres Grundgesetzes hin. Es sei schon gleich nach 1945 gern und ausgiebig in Anspruch genommen worden, nicht dagegen nach 1989, als es darum ging, allerlei ostdeutsche RichterInnen, Hochschullehrer, Bibliothekare von ihren Posten zu entfernen, weil sie dem »Unrechtsstaat« DDR treu geblieben waren.
~~~ Nach jenem Verbot darf niemand für Taten bestraft werden, die zum Zeitpunkt der Tat noch gar keine (gesetzlich bestimmten) Straftatbestände waren. Taler führt das Beispiel des DDR-Richters Reinwarth an, dessen Todesurteile wegen Spionage ja nach den damals gültigen DDR-Gesetzen rechtens gewesen seien. Trotzdem argumentierte der Bundesgerichtshof 1995, da Reinwarth mit diesen Urteilen auf unerträgliche Weise die Menschenrechte verletzt habe, könne ihm der Vertrauensschutz des Artikels 103 (»was ich tue beziehungsweise verkünde, verstößt derzeit gegen kein Gesetz«) nicht gewährt werden. Derselbe Gerichtshof habe dagegen einen SS-Richter wie Otto Thorbeck (der noch kurz vor Kriegsende die Widerstandskämpfer Admiral Canaris und Pastor Bonhoeffer hinrichten ließ) 1956 mit der Begründung freigesprochen, schließlich sei er den damals geltenden Gesetzen unterworfen gewesen. Ein krasser, unübersehbarer Widerspruch.
~~~ Nun ist es sicher richtig, hier die Doppelmoral zu geißeln, die die gesamte »Abwicklung« der DDR geradezu getragen hat und noch trägt. Aber Talers Rechtsdenken ist falsch. Es gibt ja in der Tat so etwas wie Menschenrecht, Menschenwürde, Moral, die mir die Begehung oder Billigung einer »unerträglichen« Tat auch dann verbieten, wenn sich diese auf ein Gesetz oder auf den berüchtigten Gehorsam Befehlen gegenüber berufen kann. Umgekehrt kennt sogar das Grundgesetz ein »Widerstandsrecht« (Artikel 20) gegen alle, die unsere Verfassungsordnung zu unterhöhlen und zu beseitigen trachten. Hier leitet kein Paragraf, vielmehr Zivilcourage. Der Wurm sitzt in der Institution Recht selber, die notwendig eine oft furchtbare Starre besitzt, weil sie definieren und weil sie entweder Ja oder aber Nein sagen muß. Im Bemühen, alle denkbaren Straffälle zu erfassen, schafft sie immer mehr Gesetze oder richtungsweisende Urteile – die sich immer mehr widersprechen. Denn die Wirklichkeit ist kompliziert, vielfältig und ständig im Fluß. Kein Recht kann ihr jemals auch nur einigermaßen gerecht werden.
~~~ Im übrigen verkörpert das Recht jenen unseligen Absolutheitsanspruch, mit dem auch Spießbürgermoral, Staatsbürokratie, Positives Denken, Staatsräson gegen alles Besondere und alles Nichtangepaßte vorgehen. Es duldet nicht, daß einer bei Rot die Straße überquert, unter welchen näheren Umständen auch immer. Es möchte alles und jeden über einen Leisten schlagen – und entsprechend hart trifft es uns. Der Bibel- und Buchstabengläubigkeit sind sicherlich schon mehr Menschen zum Opfer gefallen als dem Wüten von deutschen und italienischen Kampffliegern im Spanienkrieg. Lufthohheit, Deutungsmacht, ein Führer ein Reich ein Recht.
~~~ Was mir vorschwebt, wäre ein bewegliches Recht, das neben ethischen Grundsätzen ausschließlich Sonderfälle kennt. Mord ist nicht gleich Mord. Den Einwand, die Alternative zur Institution Recht sei nur Willkür, lasse ich nicht gelten. Sie eignet eher unserer Rechtssprechung und den Erlassen unserer Bürokraten. Kein Indianerstamm benötigte jemals ein Strafgesetzbuch oder Antragsformulare für Hartz IV. Jeder wußte, was gut und böse war, was die Grundfesten der Gemeinschaft erschütterte, was er an Ächtung, Achtung oder Beistand zu erwarten hatte. Vergehen wurden mal vom Betroffenen, mal vom Ältestenrat oder dem im Konsens bestimmten Stammesgericht geahndet. Für mein Empfinden ist ein persönlicher Vergeltungsakt weniger verdammenswert als die staatliche Todesstrafenindustrie in Georgia oder Texas. Diese enthebt mich der Verantwortung und erspart mir ein schlechtes Gewissen.
~~~ Ein persönlicher Bezug wäre auch in der Gerichtsbarkeit einer Räterepublik Hörselgau sowohl gegeben wie unabdingbar. Verbote oder Strafen ändern ohnehin nichts – weder den »Täter« noch die Verhältnisse. Die »versachlichte« bürgerliche Rechtsmaschine hält gerade die unbarmherzige Produktion von Waren und Schicksalen in Gang. Sind sich dagegen die Beteiligten eines Gerichtsverfahrens nahe und verantwortlich, bestehen gute Aussichten auf Erörterung, Selbstkritik und Besserung. Gleichwohl wird man stets auch unbefangene Dritte beiziehen, etwa durch Losentscheid. Den Grad der Öffentlichkeit des Verfahrens würden alle Beteiligten gemeinsam festlegen. A & O solcher Gerichtsbarkeit wären Aufrichtigkeit aller Beteiligten und Offenlegung sämtlicher Vorgänge, die zur Klärung und Wiedergutmachung des Vergehens beitragen können. Meine Beobachtungen in anarchistischen Kommunen zeigen mir, daß dieser Weg gangbar wäre. In meinem Roman Konräteslust, Kapitel 20 & 21, wird er illustriert und näher erläutert.
~~~ Falls Sie mich für einen Toren halten, war Montaigne ebenfalls einer. In seinem Essay Von der Erfahrung entwickelt der »konservative« Schloßherr Vorstellungen einer dezentralen und schmiegsamen Rechtsprechung als hieße er Michail Bakunin. An den Rechtsanwälten läßt er dabei so wenig gute Haare wie zuvor an den Ärzten. Das Phänomen der »Globalisierung« kannte er freilich noch nicht. Er starb 1592.

∞ Verfaßt um 2010


1933–45 sei der bayerische Jurist und Politiker Johann Ehard (1887–1980) Senatspräsident am Münchener Oberlandesgericht gewesen, teilt Brockhaus ungerührt mit. Dann stürzte sich der erfahrene Mann, für die CSU, in die bayerische Landespolitik und erklomm noch höhere Ämter, darunter Ministerpräsident. Von »Entnazifi-zierung« weiß Brockhaus nichts. Dafür versichert Karl-Ulrich Gelberg (2022 in der DB), Ehard habe gleich ab Kriegsende »den demokratischen und rechtsstaatlichen Wiederaufbau des Freistaats geprägt«. Ernst Klee hat den OLG-Zivilsenatsboß »Hans« Ehard anscheinend übersehen. Wikipedia bemerkt immerhin, 1941 habe Ehard zusätzlich auch den Vorsitz am Deutschen Ärztegerichtshof in München übernommen, »der die politische und rassistische Linientreue der Ärzte« zu überwachen hatte. Die Frage der »Entnazifizierung« spart die Mitmach-Enzyklopädie aber gleichfalls aus. Von der Internet-Suche her habe ich überhaupt den Verdacht, der führende Saubermann aus dem Freistaat Bayern sei bis zu seinem letzten Atemzug (mit knapp 93) wegen seiner einstigen faschistischen Umtriebe niemals auch nur flüchtig angepinkelt worden. Allerdings brachte der Spiegel vor rund 25 Jahren einen ausführlichen, beachtlichen, erschreckenden Überblick zur allgemeinen bundesdeutschen Verschonung faschistisch belasteter Justizbeamter. Darin* wird Ehard immerhin gestreift:
~~~ >Im Februar 1966, ein knappes Jahr nachdem der Bundesjustizminister den Justizapparat nazirein gemeldet hatte, erklärte der bayerische Justizminister Hans Ehard in einer Fragestunde des Landtags, es bestehe kein Anlaß, den Landgerichtsrat Otto Rathmayer strafrechtlich zu belangen oder ihm die Versetzung in den Ruhestand nahezulegen. Rathmayer hatte als Ankläger beim Volksgerichtshof an 52 Todesurteilen mitgewirkt, eine Überprüfung habe ergeben, daß kein Antrag »exzessiv« gewesen sei. / »Wohl keine Berufsgruppe ist aus der Nazi-Zeit mit derart gutem Gewissen hervorgegangen wie die Juristenschaft«, schreibt Jurist Müller in seiner Dokumentation. »Die Geschichte der Justiz im Dritten Reich beweist: Juristen sind zu allem fähig«, sagt der ehemalige Verfassungsrichter Martin Hirsch.<
~~~ Ich könnte mir denken, Ehard verfuhr damals weniger nach gesetzlichen oder moralischen Richtlinien; vielmehr sei ihm das bekannte Sprichwort eingefallen, eine Krähe hacke der anderen kein Auge aus.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 10, Februar 2024
* Henryk M. Broder, »>Knechte des Gesetzes< / Wie der Rechtsstaat seine Richter fand«, Spiegel 20/1999, online https://www.spiegel.de/politik/knechte-des-gesetzes-a-4e3d0ee4-0002-0001-0000-000013395427



Den Schwaben Ottmar Maag († 1946) übergeht die Brockhaus-Redaktion, weil er nur Landwirt und Mordopfer war. In einem Spiegel-Beitrag über krasse Justizfälle sind ihm immerhin drei kurze Absätze gewidmet.* Grundsätzlich passen die Angaben über Maag in einen Strohhalm. Selbst G. H. Mostar, dem wir eine ausführliche Darstellung des Falles verdanken**, verschweigt das Alter des Bauern, der in Gemmingen bei Heilbronn einen »großen Hof« betrieb. Man darf es aber wohl auf Mitte 40 schätzen, zumal Maag erst Anfang 1945 zur Wehrmacht eingezogen worden war, also zum letzten Aufgebot, unter all den anderen Greisen und Pimpfen. Er hatte Glück und kehrte schon im Dezember des Jahres aus der Gefangenschaft zu seiner Frau Erika auf den gemeinsamen Hof zurück. Gleichwohl heißt es, die inzwischen 36jährige Gattin, laut Mostar eine »kräftige, resche Brünette«, habe auch dieses knappe Jahr emsig zu sogenannten Seitensprüngen genutzt. Zuletzt hatte sich ihre Begierde auf den 34jährigen Knecht des Hofes Wilhelm Lang gerichtet, der diese auch erwiderte. Wie sich versteht, bekam Maag Wind davon. Somit hatte der schmächtige Lang ein erstklassiges Mordmotiv zu bieten: zum Verlangen nach der »Reschen« auch noch das Streben nach dem Hof, und in der Tat sollte ihm diese Offenkundigkeit um ein Haar das Genick brechen.
~~~ Allerdings hätten zwei Dinge eigentlich in der lieben Dorfgemeinschaft und bei der Kriminalpolizei bekannt gewesen sein müssen: 1. Erika hatte sich bereits vor dem Tatmonat Februar 1946 wieder von ihrem Geliebten Lang abgewandt, 2. der Hof gehörte nicht dem Mordopfer Maag, vielmehr dessen Mutter, die ihn nie und nimmer an Lang herausgerückt hätte. Aber die schöne passende Theorie häufte ein Fuder Heu auf diese Tatsachen. Nach ihr wurde der kränkliche Bauer Maag, der am fraglichen Februar-abend mit einer Helferin an der Rübenhäkselmaschine stand, durch einen Schuß durchs bis dahin mit einem Sack verstopfte »Deichselloch« aus seiner Scheune gelockt. »Verdammt!« habe er nach Aussage der Helferin geflucht. »Jetzt schießen sie schon auf mich!«
~~~ Auch diese »sie« ließen DörflerInnen und Polizisten so rasch wie möglich unter den Tisch fallen. Das bedeutet, sie gaben sich alle Mühe zu beweisen, daß draußen, auf dem Feldweg hinter der Scheune und der angrenzenden Fohlenkoppel, keine unbekannten Dritten ihr Unwesen getrieben hatten. Tatsächlich hatte es freilich in jenen ersten Monaten nach Kriegsende auch in und bei Gemmingen etliche gewalttätige, teils bewaffnete Übergriffe von Plünderern und mutmaßlichen Rächern gegeben. Man glaubte, vor allem ehemalige landwirtschaftliche Zwangs- und FremdarbeiterInnen, etwa Polen, hätten darin ihre Wut auf die nun »besiegten« UnterdrückerInnen ausgelassen. Wenn ja, dann sicherlich nicht unverständlicherweise. Auch von Ottmar und Erika Maag war laut Mostar bekannt, daß sie ihre »FremdarbeiterInnen« gelegentlich geschlagen und ansonsten wohl kaum auf Rosen gebettet hatten. Ich nehme von daher an, der nun beschossene »Großbauer« Maag sei vor dem Kriegsende eher ein Freund als ein Feind der Nazis gewesen. Ähnliches scheint mir für ganz Gemmingen zu gelten. Mostar bemerkt wiederholt, wichtige Entlastungen für den des Mordes angeklagten Knecht Lang seien von örtlichen Zeugen auch deshalb so erschreckend lang zurückgehalten worden, weil diese Leute Angst hatten – weil sie nämlich »Dreck am Stecken« hatten und nun das Rampenlicht eines spektakulären Kriminalfalles doch lieber mieden.
~~~ So verzichtete auch die herbeigeilte Landgendarmerie darauf, wichtige Spuren zu sichern, Fußabdrücke oder Patronenhülsen auf dem Feldweg etwa, zumal es auch noch regnete. Maag war hinter die Scheune gerannt und suchte dort das Gelände gemeinsam mit Lang, der aus dem Pferdestall dazugekommen sein wollte, nach Strolchen ab. Dabei wurde hinterhältig auf ihn geschossen. Alle behaupteten zunächst, der Schütze im Dunkel sei Lang gewesen, der schräg hinter seinem Arbeitgeber gelaufen sei. Allerdings bemühte sich Lang sofort um das noch stöhnende Opfer, alarmierte Bäuerin und Magd, die sich vor Schreck verkrochen hatten, und half Maag in die Küche tragen. Der Bauer starb eine Woche später, am 3. März 1946, im Krankenhaus. Soweit er noch hatte sprechen können, waren seine Aussagen undeutlich und widersprüchlich. Aber bald trat ja der Karlsruher Kriminalsekretär Anton Götz in Aktion, der entschlossen war, für klare Verhältnisse zu sorgen. Er unterbreitete der Staatsanwaltschaft immer neuen »Indizien«, die seine Voreingenommenheit untermauerten, Lang sei der Übeltäter. Nebenbei: die Tatwaffe wurde nie gefunden.
~~~ Es kam, wie es kommen mußte. Im Oktober 1947 wurde Lang vom Landgericht Heidelberg zu Lebenslänglich verurteilt, wobei sogar die Todesstrafe im Raume schwebte. Bei diesem Urteil blieb es auch in der Revision. Doch immerhin, Langs neuer Verteidiger Schwander erkämpfte im Verein mit dem leider später verunglückten Privatdetektiv Heinz Lay ein Wiederaufnahmeverfahren, das 1953 ebenfalls in Heidelberg stattfand. Lay hatte zum Beispiel nachweisen können, daß wichtige örtliche Zeugen von der Sippe Maag zu genehmen Aussagen erpreßt worden waren. Hier muß auch die mehr als zwielichtige Rolle von Gattin Erika erwähnt werden. Ihre Liebe zu Lang hatte sich nach ihrer Versöhnung mit Ottmar Maag (auf dem Sterbelager) offensichtlich, wie Mostar meint, in Haß auf Lang verwandelt. Das Urteil war nicht unwesentlich auf eben ihre Aussagen gebaut worden, die in ihrer Parteilichkeit und Widersprüchlichkeit für jeden unbefangenen Beobachter keinen Pfifferling wert waren. Dieses Fehlurteil kam lediglich durch eine eher zufällig platzende Prozeßbombe zu Fall. Bei der Vernehmung des Kriminalinspektors Götz traten Ungereimtheiten auf, die den Richter in dessen Werdegang und Personalakte nachbohren ließen. Danach litt Götz seit Jahren, offiziell bescheinigt, an »Schizophrenie«. Er bestätigte es persönlich mit leiser Stimme vor Gericht. Publikum und Presse machten tellergroße Augen: Die Ermittlungen, die Lang bis dahin rund sieben Jahre Haft und 20 Fuder Gram eingebracht hatten, waren von einem Geisteskranken durchgeführt worden!
~~~ Während Götz alsbald pensioniert wurde, konnte Wilhelm Lang das Landgericht am 23. September 1953 »wegen Mangels an begründetem Verdacht« mit einem Freispruch verlassen. Er bekam zudem Entschädigung zugesprochen, wobei allerdings selbst der vorsitzende Richter Munzinger einräumte, das Unrecht, das Lang erlitten habe, sei niemals »wiedergutzumachen«. Unser neuzeitliches Verfahren der Rechtsprechung selber bezweifelte Munzinger nicht. Der 1973 verstorbene Schriftsteller und Kabarettist G. H. Mostar dagegen, lange Jahre in Stuttgart Gerichtsreporter, deutet die Alternative immerhin an, wenn er vom Wert der »Dorfgemeinschaft, dieser einzigen echten und wahren Öffentlichkeit«, als Prospekt einer lebensnahen und nicht fremdbestimmten Justiz spricht, die auch jene Buchstabengläubigkeit unterliefe, die ich bereits mehrmals andernorts beklagt habe. Selbstverständlich vermiede sie die Widersprüche und auch die Gehässigkeiten nicht – ganz im Gegenteil: sie würde sie unweigerlich aufdecken, weil jeder jeden kennt. Die Rechtsprechung müßte bei denen bleiben, die von ihr betroffen sind. Gewiß zögen sie unbefangene RatgeberInnen von außen herbei, doch der Ausgang des von vorne bis hinten »transparenten« Verfahrens läge allein in der Hand dieser Betroffenen. Alles andere ist kalte Rechtsmaschinerie, Mühle des Teufels, nebenbei auch sündhaft kostspielig.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 24, Juni 2024
* »Irrtum inklusive«, in Nr. 44/1964
** »Der Fall Wilhelm Lang«, in: Mostar/Stemmle (Hrsg): Unschuldig verurteilt!, München 1968, ursprünglich Stuttgart 1956



Die adelige Anhängerin der russischen Narodniki (sozialrevolutionäre »Volksfreunde«) Wera I. Sassulitsch (1849–1919) hatte mit knapp 30 einen Anschlag auf den Petersburger Polizeichef Fjodor F. Trepow verübt – und wurde daraufhin »in einem berühmt gewordenen Prozeß freigesprochen«, wie sogar Brockhaus staunt. Später, in ihrem schweizer Exil, habe sie sich der Sozialdemokratie zugewandt. »Die Oktoberrevolution lehnte sie ab.«
~~~ Im Internet ist zu erfahren, der alte Militarist Trepow, offiziell scheints Gouverneur von Petersburg, habe damals für einige Empörung gesorgt, weil er einen politischen Gefangenen auspeitschen ließ, der sich geweigert hatte, seine Kopfbedeckung vor dem Oberst zu ziehen. Ein Grüppchen Revolutionäre beschloß Anschläge auf einen verhaßten Staatsanwalt und eben auch Trepow. Dieser wurde (im Januar 1878) durch Pistolenschüsse Sassulitschs schwer verletzt. Er soll noch im selben Jahr, als General der Kavallerie, in den Ruhestand gegangen sein. Die Täterin fand jedoch milde Geschworene und einen mutigen Rechtsanwalt. Der Advokat meinte, eigentlich gehörte Trepow, der rechtswidrige Prügler, vor Gericht. Sassulitsch kam auf freien Fuß. Wohlweislich entwich sie allerdings ins Exil, als das Urteil erwartungsgemäß auf Betreiben des Zaren gekippt wurde. In der Schweiz übersetzte sie zunächst emsig marxistische Schriften und arbeitete an Lenins Iskra mit. Sie galt als bescheiden und schüchtern, gleichwohl ehrgeizig. »Privatleben« habe sie sich kaum gegönnt. Trotzki schildert sie als scharfsinnige Kettenraucherin, die mit dem Schreiben arge Mühe hatte; sie habe jeden Satz ihres Textes vielmals umgewendet, ehe sie ihn schließlich aufs Papier brachte. Dann schloß sie sich den Menschewisten an. 1905 kehrte sie nach Rußland zurück. Der Erste Weltkrieg sah sie anscheinend wie so viele, etwa auch Kropotkin, als Sympathisanten der zaristischen Truppen. Den bolschwistischen Umsturz hielt sie für verfrüht und aufgepropft; sie wollte erst eine bürgerlich-kapitalistische Entwicklung. Aber sie hatte wohl sowieso schon resigniert. Laut englischer Wikipedia brach im Winter 1919 in ihrem Zimmer ein Feuer aus, vielleicht, wie bei Platschek, vom Rauchen. Sie sei bei zwei Schwestern untergekommen, die im selben Innenhof lebten, freilich kurz darauf von einer Lungenentzündung ereilt worden und am 8. Mai 1919, knapp 80 Jahre alt, in Petrograd gestorben.
~~~ Nach einem wohlmeinenden zeitgenössischen Zeitungsbericht aus Straßburg* war der ausgebildeten Lehrerin schon als junger Frau übel mitgespielt worden: zwei Jahre Einzelhaft auf bloße Gerüchte von revolutionären Umtrieben hin, anschließend auch noch mehrere Jahre Verbannung an wechselnden Orten im Osten, ohne je Begründungen zu erhalten. Dem sei sie erst mit Ende 20 entronnen, kurz vor dem Vorfall mit der Auspeitschung des Studenten Bogoljubow. Das Gerichtsverfahren gegen sie erregte große Anteilnahme, sodaß bereits ein mildes Urteil zu erwarten war. Nach dem Freispruch habe geradezu Jubel geherrscht. Eine Urteilsbegründung ist leider nirgends zu bekommen, soweit ich sehe. Für mich deutet sich aber erneut der Graben zwischen bürgerlicher und anarchistischer Rechtssprechung an: jene fußt auf Formalismus, diese auf Moral. Darauf werde ich unter → Schubert zurückkommen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 33, August 2024
* Volksblatt 17/1878: https://de.wikisource.org/wiki/Aus_einem_russischen_Gerichtssaal



Der »Industriemanager« Hanns-Martin Schleyer (1915–77) hat im Brockhaus rund sieben Zeilen, wie so oft ohne Faschismus, dafür mit Foto. Dieses zeigt ihn gleichsam in der Spätblüte seiner erfolgreichen Jahre, mit dichtem dunklem Kopfhaar und vollen, sinnlichen Lippen. Umso leichter kann ihn die Leserschaft bedauern. Bekanntlich wurde der Mann, langjährig im Vorstand von Daimler-Benz und zuletzt auch Präsident des Industrieunter-nehmerverbandes, im Herbst 1977 (angeblich) von der RAF entführt – und schließlich ermordet, weil die Bundesregierung nicht darauf einging, im Austausch 11 im Knast sitzende Genossen zu entlassen. Merkwürdigerweise fehlt dieser Mann bei Ernst Klee.
~~~ Schleyer war gelernter Jurist. Meines Erachtens genügt bereits seine befremdliche Auslegung des im einstigen schönen Sudetenland geltenden Mietrechts, um von seiner späteren Ermordung nicht mehr entsetzt zu sein. Damals, in den frühen 1940er Jahren, zog Schleyer mit seiner Gattin Waltrude in eine Prager Villa, die man dem jüdischen Bankier Emil Waigner weggenommen hatte. Sowohl Emil wie dessen Frau Marie landeten im KZ.* Schleyer leitete zunächst das Studentenwerk der Prager Universität. Im April 1943 heuerte ihn der Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren als Sachbearbeiter, später auch rechte Hand des Chefs Bernhard Adolf an. Wikipedia: »Der Verband war unter anderem für die Arisierung der tschechischen Wirtschaft und die Beschaffung von Zwangsarbeitern für das Deutsche Reich zuständig.« Als Schleyer im Mai 1945 zu seinen Eltern nach Konstanz floh, nahm er den Rang eines SS-Untersturmführers mit, wenn auch vermutlich nur klammheimlich. Nach einer gewissen Behelligung wurde ihm Ende 1948 der Rang eines Mitläufers verliehen. Damit konnte er das Einkassieren von Geld und Ämtern fortsetzen.
~~~ Übrigens hatten seine Angehörigen die unerbittliche Haltung der Regierung Helmut Schmidt nach der Entführung mißbilligt. Sie hatten bereits 15 Millionen DM Lösegeld zusammengekratzt, aber die Behörden unterbanden dessen Übergabe. Wikipedia: »Daraufhin hatte Schleyers Sohn Hanns-Eberhard die Freilassung der RAF-Häftlinge beim Bundesverfassungsgericht beantragt. Der Antrag wurde wenige Stunden vor Ablauf des letzten RAF-Ultimatums abgelehnt.« Die geschätzten hohen Richter blieben also dem berüchtigten Prinzip der Staatsräson treu. Es lautet in anderer Formulierung: Im Zweifelsfall geht der Staat über Leichen.
~~~ Heute haben wir in Deutschland nach wie vor etliche Hanns-Martin-Schleyer-Straßen. In Bad Friedrichshall beherbergt Schleyers Straße sinnigerweise eine sogenannte Flüchtlingsunterkunft. In Esslingen gibt es auch eine Brücke, in Stuttgart eine riesige Veranstaltungshalle, die an das bedauernswerte Opfer erinnert.** Eine Freundin von mir schimpfte bereits vor Jahren, die eben umrissene Benennungs-Lage sei ein größerer Skandal als Schleyers Ermordung. Zum Glück lebt sie selber auch nicht mehr, sonst käme ich in Erzwingungshaft, bis ich ihren Namen preisgebe.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 34, September 2024
* Heide Sobotka, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/villa-schleyer/, 7. Dezember 2o10
** Erol Ünal, https://erolunal.de/2022/03/01/entnazifizierung-der-schleyer-des-vergessens/, 1. März 2022



Ich fasse im folgenden drei NS-Täter zusammen, die im Brockhaus durchweg fehlen. Der erste trägt zufällig einen bezeichnenden Namen. Im Gegensatz zu Friederike Pusch etwa [s. jetzt unter DDR] wurde der Psychiater und Euthanasie-Gutachter Arthur Schreck (1878–1963) sogar belangt. Er hatte in verschiedenen süddeutschen Anstalten leitend am Massenmord mitgewirkt. Das Freiburger Landgericht verurteilte ihn 1950 recht glimpflich zu 12 Jahren Haft. Doch seine baldige »Haftverschonung« ist eine Schreckgeschichte eigener Art. Vielleicht fehlt er im Brockhaus gerade deshalb. Klee zufolge setzte der Ministerpräsident von Baden-Württemberg Gebhard Müller, ein gelernter Jurist, Schrecks Strafe bereits 1954 aus. Überdies habe man dem Verschonten oder gar Begnadigten einen monatlichen Unterhalt von 450 DM bewilligt und ihm später selbst die Gerichtskosten erlassen. Er habe sein Berufsleben als niedergelassener Arzt in Pfullendorf am Bodensee fortgesetzt. Somit kann er kaum sterbenskrank gewesen sein. Gebhard Müller war übrigens 1958–71 auch noch Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Wie Blogger Erol Ünal in seinem oben angeführten Schleyer-Aufsatz erwähnt, hatte sich Müller für etliche NS-Täter, also nicht nur für Schreck eingesetzt. Doch man überhäufte Müller mit Ehrungen und Auszeichnungen. Er starb in Stuttgart mit 90. Seine Faschistenfreundlichkeit wird in Band 15 von Brockhaus selbstverständlich ausgespart.
~~~ Der Kölner Bankier Kurt Freiherr von Schröder (1889–66), im Ersten Weltkrieg Generalstabsoffizier, war ein wesentlicher Förderer der NSDAP. Er saß in zahlreichen Aufsichtsräten – und nach dem 4. Januar 1933 bald in ungefähr doppelt sovielen. Laut Klee richtete er an diesem Tag in seiner Kölner Villa das heimliche Treffen zwischen Papen und Hitler aus, das den Sturz der Regierung Schleicher beschloß. Unter Hitler war er dann unter anderem Aktivist im Freundeskreis Reichsführer-SS (Himmler), der emsig Millionen an »Spendengeldern« eintrieb. Im April 1943 kürte ihn Himmler zum SS-Brigadeführer, eine Art General. Nach dem Krieg wurde auch Schröder christlich-antikommunistische Verzeihung zuteil. Eine kurze Gefangenschaft und einiges juristisches Ringen mündete 1948/50 in lächerlicher Haftstrafe (drei Monate) und lächerlicher Geldbuße (60.000 Mark) und vorzeitiger Haftentlassung (schon 1948), wie sich in verschiedenen Internet-Nachschlagewerken nachlesen läßt. Seinen Lebensabend habe er auf Gut Hohenstein bei Eckernförde verbracht. Ich vermute stark, das hübsche Anwesen gehörte dem Schröder-Clan. Die Webseite* deutet einige Tradition an. 1854 sei das Gut von Theodor Milberg und dessen Frau Harriet, geborene Schröder, erworben worden. 1944 hätten böse Buben das Herrenhaus als »Kriegsentbindungsheim« der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) »beschlagnahmt«. Von Kurtchen lese ich nichts.
~~~ Gotthard Schubert (1913–85) war ein rühriger SS-Untersturmführer und Geheimpolizist und durfte dennoch auch in unserer demokratischen Kriminalpolizei mitwirken. Primitive Völker haben dafür ein Sprichwort vom Bock, den man zum Gärtner macht. Nach Klee war Schubert in die bereits früher erwähnten Massenmorde in der Gegend von Lublin verstrickt. Gefangen, muteten ihm die Sowjets 1950 deshalb 25 Jahre Zwangsarbeit zu. Jedenfalls auf dem Papier. Schon 1955 entlassen, wurde er zu 50 Prozent als Kriegsbeschädigter anerkannt. 1957 durfte er Sekretär im hessischen Polizeidienst, 1960 Kriminalkommissar und Leiter des Referats Meldewesen beim Wiesbadener Landeskriminalamt werden. Ziemlich spät ereilte ihn jedoch noch ein Strafverfahren. Das Wiesbadener Landgericht habe ihn 1971 [oder 73?] »wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord an mindestens 28.450 Menschen« zu sechs Jahren Haft verurteilt. Sie haben sich nicht verlesen: sechs Jahre. Ob er die absitzen mußte, teilt leider auch eine jüngere Quelle aus Hessen nicht mit. Ich vermute freilich, wohl kaum. Der vergleichsweise seltene und verdienstvolle Artikel aus Gießen** nennt neben Schubert selber noch mehrer Nazi- und LKA-Kollegen von ihm, die allesamt ähnlich glimpflich davonkamen. Er erlaubt sich Zwischentitel wie »Seilschaften im Landeskriminalamt« und »Zuträger für US-Nachrichtendienst«. Vielleicht sollte Bundesinnen-ministerin Faeser die Gießener Allgemeine endlich verbieten.
~~~ Früher bemühte ich mich in vergleichbaren Fällen (Bunke/Ullrich), die Herabwürdigung von Mördern zu Mordbeihelfern zu verstehen. Aber inzwischen lasse ich mich auf die Spitzfindigkeiten Bürgerlichen Rechtes nicht mehr ein. Damit komme ich, wie oben angekündigt, auf den krassen Unterschied zwischen den beiden Rechtsfundamenten Formalismus und Moral zurück. In Mordfällen läßt das Bürgerliche Recht in der Regel nur einen als Mörder gelten, der mit dem Hammer zuschlug oder die Spritze einstach. Das ist jedoch grundfalsch. Die sogenannte »geistige Mittäterschaft« oder das bloße Zuschauen bei Erschießungen sind um keinen Deut weniger verwerflich als der tödliche Schlag oder Stich. Ich würde sogar fast sagen, sie sind eher noch schlimmer. Meistens handelt es sich ja um eine ganze kriminelle Gesellschafts-Maschinerie, der sowohl die »SchreibtischtäterInnen« wie die SchlägerInnen wie die ZuschauerInnen angehören. Aber geplant und verfeinert haben sie die führenden oder leitenden Hirne. Ohne diese gäbe es das betreffende kriminelle System gar nicht. Das kriminelle System ist die entscheidende, unmoralische Qualität. Vor diesem Hintergrund mehr oder weniger große, also quantitativ unterschiedene Beiträge gegeneinander auszuspielen: eben das nenne ich Formalismus. Als Anarchist halte ich mich in meinen Handlungen und Urteilen an Gut und Böse. Zum Beispiel ist auch das kriminelle System, dem unsere gegenwärtig amtierenden MinisterInnen angehören, böse. Und wer dabei mitmacht, gehört vor die Füße gespuckt und geschnitten. Über dieses Thema verfaßte ich vor Jahren den Aufsatz »Die VerbrecherInnen sind mitten über uns«, zu dem ich bis heute nicht einen unaufgeforderten Kommentar erhielt.
~~~ Jetzt kommts mir fast vor, Beate Klarsfeld ohrfeigte Kiesinger für viel zu wenig, nämlich lediglich für seine mißratene Vergangenheit. Dabei war er doch Regierungs-chef des yankeetreuen Wirtschaftswunderlandes BRD und damit in zahlreiche Schreibtischtaten, oft in Übersee, der verheerendsten Art verstrickt. Ich hoffe, hätte ich zu Gebhard Müllers Zeiten im Schwabenland gelebt, hätte ich auch diesem bereits vor die Füße gespuckt. Er war kein NS-Täter, jedoch ein Herrscher. Er diente dem Machterhalt seiner selbst und der bekannten volksfeindlichen bundesdeutschen Einrichtungen. Dagegen hätte ich volksfreundliche Schiedsgerichte für die Entlastung solcher Rebellen wie Wera Sassulitsch (1878) und Scholom Schwartzbard (1926) sofort gelobt, obwohl diese beiden gewalttätig vorgingen. Und so ähnlich war es ja auch. Bürgerliche Geschworene sprachen sie frei – nicht aus formalen, sondern aus moralischen Gründen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 34, September 2024
* https://gut-hohenstein.de/ueber-uns/
** Ursula Sommerlad, https://www.giessener-allgemeine.de/kreis-giessen/hungen-ort848765/zehntausende-tote-kein-urteil-13540746.html, 16. Februar 2020

Siehe auch → Bachmeier (Selbstjustiz) → Bamberski (dito) → Broda (Justizminister) → Buchstabengläubigkeit → Corona, Maskenball (Unschuldsvermutung, Beweislast) → Kommunen, Störung → Landesverrat → Ohrfeige (Strafen) → Litten (Rechtsanwalt) → Religion, Riesen (Schweinsblaseninsel) → Band 4 Bott, Demontage, Kap. 2 (Unzurechnungsfähigkeit) → Band 4 Mollowina, Luchse, Kap. 15/16 (div. Fälle) → Band 4 Mollowina, Sturz des Herkules, Kap. 5–8 (Sabotageakt + Heinz Jäckel zum Recht)

°
°