Samstag, 11. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 29
Opf – Polst
Opf – Polst
ziegen, 14:31h
Opfer
Laut Brockhaus stellt Juanita eine Koseform von Juana dar. Mehr sagt er dazu nicht. Meine Juanita dagegen könnte man auch als »peruanische Götterspeise« bezeichnen. Der US-Anthropologe Johan Reinhard und sein Begleiter Miguel Zárate fanden sie 1995 am peruanischen Anden-Gipfel Ampato (6.300 Meter) unterhalb des Kraterrandes – als eingefrorene Mumie. Nachdem die »Jungfrau aus dem Eis« andernorts aufgetaut worden war, ergaben die wissenschaftlichen Untersuchungen: Das ungefähr 14 Jahre alte und 1,40 Meter große Inkamädchen starb um 1450 durch einen Schädelbruch, für den ein Schlag gegen ihre rechte Schläfe verantwortlich war. Sechs bis acht Stunden vor ihrem Ende hatte »Juanita«, wie sie nun auch genannt wurde, Gemüse verzehrt. Vermutlich waren ihr zudem – vorm Erschlagen – Drogen verabreicht worden. Da die Inkas den Berg Ampato oder die dort erreichbaren Götter (Sonne!) als Wasser-, Nahrungs- und Lebensspender verehrten, lag die Annahme nahe, Juanita sei damals geopfert worden. Die große Höhe des Fundorts, Grabbeigaben wie silberne Broschen, eine federverzierte Tasche mit Kokablättern und kostbare Textilien wie auch etliche vergleichbare Leichenfunde* unterstrichen diese Deutung.
~~~ Solche Opferungen, die nebenbei ertaunliche Bergsteigekünste der betreffenden Opfer, Führer und Priester bekunden (bis 6.000 Meter in Sandalen oder barfuß), waren damals anscheinend von Zeit zu Zeit üblich. Sie sollten den Göttern Dank bezeugen und sie gnädig stimmen. Wahrscheinlich dienten sie auch der Zusammenschweißung, somit der Beherrschung des Volks. Und sie zählten zu den höchsten Ehren, die einem Inkakind, ob Mädchen oder Junge, zuteil werden konnten. Angeblich nahm man nur die schönsten dafür, aus den unterschiedlichsten Winkeln des Reiches beschafft, wie inzwischen verschiedene ForscherInnen herausgefunden haben wollen.* Die Kandidaten wurden vor dem Opfergang langwierig geläutert oder gleichsam veredelt, durch gute Ernährung, vor allem Mais und Lamafleisch, und rituelle Handlungen. Möglicherweise hatte auch »Juanita« lange vorm Erklimmen des erloschenen Vulkans um den Zweck der Reise gewußt – und sie entweder stolz und freudig erregt, oder aber, durch reichlich Koka und Alkohol gefügig gemacht, wie im Trane angetreten. Entbehrungsreich war die Sache allemal. Allein der Anmarsch von der Hauptstadt Cuzco (3.400 Meter), wo die Auserwählten sehr wahrscheinlich in gesonderten Tempeln auf ihre Mission vorbereitet worden waren, betrug rund 200 Kilometer. Die Inkas ritten bekanntlich nicht.
~~~ Vielleicht könnte man die nächsten maskierten, traumatisierten, durch wiederholtes Impfen aufgefrischten Kinder, die unseren Göttern in Weiß zu weihen wären, einfach mit dem Hubschrauber über den Krater bringen und dann die Bodenluke öffnen. Mit schönem Gruß von Jonathan Swift.**
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 20, Mai 2024
* Pia Heinemann, https://www.welt.de/wissenschaft/article118501928/Inka-betaeubten-Kinderopfer-mit-Koka-und-Alkohol.html, Welt, 29. Juli 2013
** A Modest Proposal, 1729
Ich staune zum wiederholten Male, zu welchen beträchtlichen Opfern viele Völker bereit sind, um ihren Führungskräften ein gutes Leben oder Sterben zu ermöglichen. Brockhaus stellt die bei Mexiko City gelegene aztekische Kultstätte Malinalco vor, die (auf knapp 2.000 Meter Höhe) im wesentlichen aus einem eher kleinen Rundtempel besteht. Der jedoch wurde um 1500 vorwiegend aus gewachsenem Fels gehauenen. »Den Eingang bildet ein Schlangenrachen. Im runden Innern befindet sich eine breite Rundbank, die drei aus dem Fels gehaune Throne trägt: zwei in Form eines Adlers, einen in Form eines Jaguars. In der Mitte des Raums steht eine altarähnliche Adlerskulptur.« Bei dieser soll, nach anderen Quellen, auch eine Mulde zu sehen sein, wohl für Opfer. Die entscheidenden Opfer dürften freilich die Leute erbracht haben, die hier, vielleicht über Jahre hinweg, mit Hammer und Meißel am Werke waren. Ob sie dann ebenfalls geschlachtet wurden, obwohl sie gar nichts mehr auf den Rippen hatten, kann ich nicht sagen.
~~~ Manche ForscherInnen vermuten, der Rundtempel habe dazu gedient, aztekische Adlige in die militärischen Orden der Adler- und Jaguarkrieger aufzunehmen. Trifft das zu, war die Mulde (oder Vertiefung) hinter dem Adler wohl nur für Murmeltiere gedacht, so klein, wie sie auf einem Wikipedia-Foto wirkt.* Links im Bild der Jaguarthron.
~~~ Eine spanische Quelle behauptet, die Kultstätte sei »vom Kaiser Axayácatl erbaut« worden. Das muß ein Herkules gewesen sein. Möglicherweise war er mit seiner Arbeit noch nach 300 Jahren nicht fertig. Auf den heutigen Touristen wirkt die ganze Tempelanlage so oder so wie eine sonderangefertigte Ruinenstätte. Mal sehen, wieviel Jahre die neuen rotgrüngelben germanischen KaiserInnen benötigen, um nach Rußland auch Deutschland zu ruinieren. Sie machen alles selber. Und die wahlberech-tigten Schafe – nicht etwa Jaguare – erdulden es und gehen pflichtbewußt ihren »prekären« Jobs als Pizzaboten, WerbegrafikerInnen oder Packer bei Amazon nach. Das ist ihre postmoderne Form des Opferns. Werden die KaiserInnen nach der nächsten Wahl von AfD oder BSW gestellt, bejubeln die Nichtjaguare die Geschmeidigkeit der Demokratie.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 24, Juni 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Malinalco#/media/Datei:Malinalco1.jpg
Den italienischen Maler Giovanni Pellegrini (1675–1741) stellt Brockhaus mit dem opernreifen Gemälde Die Rückkehr Jiftachs vor.* Jiftach ist ein alttestamenta-rischer Bandenchef niederer Abkunft. Als die Gileaditer von den Ammonitern bedroht werden, küren sie ihn jedoch zu ihrem Heerführer, denn sie ahnen, er ist vom Heiligen Geist benetzt. Prompt marschiert er in den nächsten Tempel und feilscht mit Gott um Beistand. Der läßt sich darauf ein. Meine Herren, ein Gott, der mit sich feilschen läßt – wenn das keine Gotteslästerung ist! Aber es steht in Kapitel 11 des Buches Richter. Als Gegenleistung für Gottes Beistand gelobt der Recke, diesem das Erste zu opfern, das ihm bei der Rückkehr vom Schlachtfeld aus seinem Haus entgegen komme. Wie sich versteht, kehrt er siegreich heim. Doch was für eine Schweinerei: Das Erste ist ausgerechnet seine eigene, einzige Tochter, die ihn tanzend gebührend empfangen und feiern will. Daher der Schock und die Wut, die man Pellegrinis Jiftach nur zu deutlich ansieht. Aber sein Gelübde muß er als gottesfürchtiger Mann natürlich halten, auch wenn ihm Gott möglicherweise eine Falle gestellt hat, die sich die Yankees nicht durchtriebener hätten ausdenken können. Er tötet die Tochter und wirft sie zu den anderen Brandopfern auf den Altar. Ab da an ist Jiftach für sechs Jahre oberster Richter über Israel. Bei uns säße er heute auf der Kuppelkrone des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, von Weihrauchschwaden umweht.
~~~ Selbstverständlich ist den Talaren und Krawatten- oder Sonnenbrillenständern, die uns regieren, schon immer klar, daß kein Staat ohne Opfer zu machen ist. Wird der Staat zum Beispiel nicht von Ammonitern, sondern von Coronaviren bedroht, müssen wir unter Umständen gewisse Freizügigkeiten und Unverletztlichkeiten opfern. Das zweite zielt auf den bekannten Impfwahn. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz Malu Dreyer versichert allerdings soeben, es sei nicht nur ihr nicht, vielmehr niemandem klar gewesen. »Keiner von uns wusste wirklich etwas«, seufzte sie in einer beliebten Fernseh-Talkshow mit aller ihr zu Gebote stehenden Inbrunst. Dazu NDS-Autor Klöckner erstaunlich nachsichtig: »Sollte das stimmen, dann wäre das eine Bankrotterklärung der Politik. Denn es hätte gewusst werden können. Früh widersprach etwa …« Na, lesen Sie bitte selber nach.**
~~~ In dieser Show durfte sich auch der berühmte Berliner Professor Christian Drosten wieder in Szene setzen. Er verkündete rotzfrech, niemand habe Schuld. Ich wiederhole: »Niemand hat Schuld.« Und dies, ohne daß ihm augenblicks die blendendweißen Zähne aus dem Lügenmaul gefallen wären! Das stellt also das Niveau der sogenannten Corona-Aufarbeitung dar, auf die ich persönlich bekanntlich nie auch nur einen Pfifferling gab. Das Niveau von Fernsehshows, Volksverhöhnung und etwas Gedruckse in den Pausen, wenn einem die eingebettete Journalistin ihr Mikrofon unter die Nase reibt.
~~~ Vielleicht wären Dreyer und Drosten durch eine Pemmikan-Kur noch heil- oder läuterbar. Falls Sie bislang nicht an Expeditionen oder Überlebenstraining teilgenommen haben: es handelt sich um eine »Fleischkonserve der nordamerikanischen Indianer: in Streifen geschnittenes Bisonfleisch, an der Luft getrocknet, mit Steinhämmern zerklopft, mit Beeren vermischt, mit heißem Fett übergossen, in rohledernen Behältern verpackt.« Soweit Brockhaus. Laut Internet ist diese Notnahrung, dunkel und kühl aufbewahrt, bis zu zwei Jahren haltbar. Somit wären Dreyer und Drosten auf ein abgelegenes, unbewohntes Südseeatoll zu verschicken, das näher am Südpol als am Äquator liegt. Sonst schmilzt und verdirbt ihr Pemmikan. Gewiß sind sie von Restaurantbesuchen und Partylieferdiensten Feineres gewohnt, aber wie ja gern gesagt wird, zur Not frißt der Teufel Fliegen. Was den beiden auf keinen Fall in den Rucksack gesteckt werden darf, ist eine Impfspritze. Sollten sie also aus lauter Langweile oder Verzweiflung Nachwuchs zeugen, wäre dieser gezwungen, ungeschützt groß – oder jedenfalls 12 oder 15 Monate älter zu werden. Dann naht unser Wasserflugzeug, um die Verbannten dem deutschen Vaterland zurück zu geben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Jiftach#/media/Datei:Giovanni_Antonio_Pellegrini_-_Jephthah_Returning_from_Battle_is_Greeted_by_his_Daughter.jpg
** Marcus Klöckner, https://www.nachdenkseiten.de/?p=117354, 28. Juni 2024
Siehe auch → DDR, Tuchscheerer (Vergeudung) → Horten oder abstoßen? (Streichungen in Texten)
Orwell, George → Geschlechter, O‘Shaughnessy → O‘Casey → Raumfahrt, Krieger (s. Fußnote)
Patent → Bürokratie, Coster S.
Patriotismus
Einen Vortrag über finnische Musik werde ich Ihnen ersparen, weil mir in dem entsprechenden Brockhaus-Eintrag aus einer Aufzählung lediglich der Name Toivo Kuula (1883–1918) ins Auge sprang. Prompt stieß ich bei der Suche im Internet auf eine Räuberpistole. Kuula, hoffnungsträchtiger Schüler von Sibelius, daneben von Fauré eingenommen, schuf vorwiegend Vokalwerke, gern für Chor, aber auch viel Klavier- und Kammermusik. Dies anscheinend frohe Schaffen war jedoch in der sogenannten Walpurgisnacht Ende April 1918 jäh Vergangenheit. Finnland galt damals als russisches Großherzogtum. Täusche ich mich nicht, waren die lieben Finnen stets ein Objekt des Tauziehens zwischen Rußland und Schweden. Im Januar 1918 brach allerdings zusätzlich, ähnlich wie in ganz Europa, ein Bürgerkrieg zwischen »Weißen« und »Roten« aus, der sich vermutlich auch noch mit dem Streit zwischen finnischer und schwedischer Kulturhoheit vermischte. Jedenfalls erfreuten sich die Weißen der Gunst deutscher Truppen. Man schlug die Russenfreunde und Bolschewisten aufs Haupt und siegte im Dezember 1918. Der weiße General Von Mannerheim wurde »Reichsverweser« und steuerte ein unabhängiges, sicherlich bürgerlich-kapitalistisches Finnland an. Grausamkeiten gegen die besiegten Roten ordnete er wahrscheinlich nie an, er duldete sie jedoch.
~~~ Zurück zum April 1918. Damals fand im karelischen Wyborg (Viipuri), wo Kuula lebte, bereits eine weiße Siegesfeier statt. Die Stadt lag weit im Osten, schon fast bei Leningrad. Aber man hatte sie den Roten, einstweilen, abgerungen. Bei dieser Siegesfeier erwischte es Kuula. Die einzige brauchbare Quelle über die näheren Todesumstände, die ich unter Mühen gefunden habe, stellt ein popartig aufgemachter Beitrag* auf der Webseite der staatlichen finnischen Rundfunkanstalt Yleisradio dar. Die Anstalt wird meist nur yle genannt, wie das blaue Logo. Sie betreibt etliche Radio- und Fernsehkanäle. Nach dem bunten Netz-Beitrag war Kuula Anhänger der Weißen. Ob er auch am Häuserkampf beteiligt war, teilt niemand mit. Bei dem Fest im Hotel Seurahuone ließ er sich leider zu Tätlichkeiten hinreißen, was er mit seinem Leben bezahlte. Man hatte Kuula und dessen Gattin Alma, eine Sängerin, um eine musikalische Darbietung auf der Saalbühne gebeten. Im Anschluß an diese, wohl auch von Alkohol befeuert, geriet der Komponist in ein Wortgefecht mit sogenannten Jägern. Er soll sowieso ein Hitzkopf gewesen sein. Die Jäger waren ein weißer, von der deutschen Reichswehr geprägter Truppenteil aus Freiwilligen, echte Rabauken. Kuula schien sich aber stark zu fühlen, zog er doch plötzlich ein Messer und stach einen Widersacher in den Hals. Daraufhin sehen die weißen Jäger rot und zerren oder scheuchen den prominenten Gast auf den Hof. Vielleicht flüchtet er auch. Jedenfalls fällt da ein Schuß, der ihn am Kopf trifft. Der Komponist fällt um. Es gibt drei Hauptverdächtige für den Schuß. Aber die Ermittlungen sind höchst schlampig, Zeugen können sich absprechen, Verdächtige kommen um, der Fall bleibt bis heute ungeklärt. Gegen den letzten Verdächtigen, Pekka H., gab es sogar eine Anklage, aber dann erlitt er zufällig einen tödlichen Segelunfall. Damit hatte sich günstigerweise ein häufig durchaus peinliches öffentliches Gerichtsverfahren erübrigt.
~~~ Angeblich hatte die tödliche Kugel genau ein Auge des Komponisten durchbohrt. Die englische Wikipedia versichert, »Kuula« heiße ausgerechnet Ball oder Kugel. Aber der Komponist und Pianist eignet sich wohl kaum zu dem bedauernswerten Opfer, dem gewaltsam die Samtpfötchen gebrochen wurden. Nach mehreren Quellen war er nicht so sehr weiß, vielmehr ein glühender Anhänger der Erznationalisten, die man damals Fennomanen nannte. Sie verabscheuten alles Schwedische. Sie wollten Finnisch als Amts- und Schulsprache und das Schwedische, zuweilen auch gern die vielen Schweden , die es im Lande gab, zurückdrängen. Ich nehme an, die entsprechenden Sympathien waren auch im weißen Lager durchaus geteilt. Dummerweise verrät keine Quelle, worum es bei dem Streit im Hotel eigentlich ging. Möglicherweise hatte sich Kuula ja mit den Jägern einen blutigen Sprachenstreit geliefert. Die Weltgeschichte kennt deren viel. Schließlich griff der eine oder andere Widersacher zur Schußwaffe. Nach 18 Tagen im Krankenhaus tat der 34 Jahre alte aussichtsreiche finnische Komponist seinen letzten Atemzug.
~~~ Die karelische Sängerin Alma Silventoinen saß vermutlich händeringend und tränenüberströmt an seinem Bett. Sie soll den Verlust ihres Gatten nie verwunden haben. Sie pflog das Werk, so gut es ging. Sie ließ sich in Helsinki nieder. Mit 57 sei sie (1941) auf einer Reise einem Herzanfall erlegen, heißt es irgendwo. Das Paar hatte eine Tochter, geboren 1917. Sinikka wurde professionelle Pianistin. Sie begleitete auch ihre Mutter bei manchen Konzerten. Gestorben 1981, wird sie die bunte yle-Gedenkseite gar nicht mehr zu Gesicht bekommen haben. Laut finnischer Wikipedia hatte sie zwei Kinder. Hatte sie sogar Enkel, reckten diese vielleicht im April 2023 blaue Fähnchen, weil sich Finnland endlich in den blutigen Schoß der NATO begeben hatte. Herzlichen
Glückwunsch ...**
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 12, März 2024
* »Säveltäjä Toivo Kuula murhattiin yli sata vuotta sitten, mutta tekijää ei koskaan saatu tilille – Nyt murhamysteeri on ehkä ratkennut«, 25. Oktober 2022: https://yle.fi/aihe/a/20-10003568
** mit einem Hochzeitsmarsch von Kuula: https://www.youtube.com/watch?v=OcqkMGrC2kc
Bei seinem Verständnis für Deutschtum hat Brockhaus dem Schriftsteller Theodor Körner (1791–1813) eine drittel Spalte bewilligt, obwohl der junge Mann kaum das erste Sprießen seiner Barthaare überlebte. Selbst die DDR schätzte ihn. Die NVA vergab jährlich einen Theodor-Körner-Preis an vorbildlich patriotische KünstlerInnen oder Organisationen. Der auch bei Frauen beliebte »Sänger und Held« des »Kampfes gegen die napoleonische Fremdherrschaft«, Sohn eines hohen Dresdener Justizbeamten, hatte ähnlich wie Novalis erst die Freiberger Bergakademie besucht, um sich dann zunehmend dem Schmieden von schwärmerischen Versen und Dramen zu widmen. Er spielte auch »prächtig« Gitarre, wie bei Guido K. Brand* zu lesen ist. Als er sich 1811 (in Leipzig) mit seinen Verbindungs-Kameraden von der Landsmannschaft Thuringia zu einer Schlacht gegen die adlige »Fechtgesellschaft« begab, ließ er seine Gitarre vermutlich wohlweislich auf seiner Bude. Als Rädelsführer von der Leipziger Universität ausgeschlossen und mit Gefängnis bedroht, ging Körner zunächst nach Berlin, wo er bei Zelter sang, bei Jahn und Friesen turnte oder focht, und dann nach Wien, das in Gestalt der Schauspielerin Antonie Adamberger eine Braut für den angehenden Erfolgsdramatiker (Zriny, 1812) bereithielt. Doch aus der Hochzeit wurde nichts, da das Vaterland rief. Im Grunde hatte Körner die Schlägerei in Leipzig nur überlebt, um zwei Jahre darauf, im August 1813, mit Kameraden der Lützow-Freischar im Forst von Rosenow bei Gadebusch auf diese verhaßten Franzmänner zu stoßen. Ob der 21jährige Dichter dabei in den Armen Friesens starb, ja ob er überhaupt im Gefecht fiel, ist allerdings unter Historikern umstritten.* Die Liste deutsch-österreichischer Körner-Denkmäler (Park in Wien) ist jedenfalls länger als ein Flintenlauf. Nikolaus Becker hätte seine Freude besonders an der Aachener Theodor-Körner-Kaserne gehabt. Körners sogleich nach dem Heldentod herausgegebener Sammelband mit Gedichten Leyer und Schwert soll sich später (um 1940) einen Vorzugsplatz auf dem Schreibtisch Manfred Hausmanns erobert haben. »Denn was, berauscht, die Leyer vorgesungen, / Das hat des Schwertes freie That errungen.«
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 21, Mai 2024
* Guido K. Brand, Die Frühvollendeten. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte, Berlin und Leipzig 1929, S. 171. Zwar schildert Brand auch Gefechte bei Gadebusch, läßt dabei aber Friesen völlig aus.
Siehe auch → Dreier (dän. Sozialist) → Ehre → Landesverrat → O'Casey (und Orwell)
Als Knabe litt ich zeitweise an zwei Unvermögen: es mißlang mir, auf zwei Fingern zu pfeifen, ferner, mit einer Peitsche zu knallen. Ich bekam die entscheidenden Bögen einfach nicht heraus. Dagegen führt uns der japanische Meister der dekorativen Malerei Tawaraya Sotatsu (um 1600) laut Abbildung im Brockhaus vor, wie der untersetzte, feiste und verzückte Gott des Donners gleich mit zwei Peitschen zu Werke geht. Offenbar sorgt er mit diesen Geräten für die bekannten rollenden Donnerschläge, die mir als Knabe oft genug Angst einjagten. Auch ich hätte gewissen Leuten, ob groß oder klein, nur zu gern Angst eingejagt, aber ich brachte eben das Knallen mit der Peitsche nicht zustande. Immerhin schärften mir mehrere wohlmeinende Erwachsene ein, die Gespannführer und Kutscher unserer heimischen Gutshöfe knallten keineswegs, um ihre Gäule zu erschrecken und zu strafen. Sie benutzten ihre Peitschen lediglich für optische, akustische und antippende Signale, als Verständigungs-mittel also. Gleichwohl waren es auch Herrschaftsmittel, wie ich allerdings noch nicht als Knabe erkannte.
~~~ Meine Mutter Hannelore leistete einen Teil ihrer land- und hauswirtschaftlichen Ausbildung auf einem ostpreußischen Gutshof ab, auf dem es nur so von edlen Pferden wimmelte. Dort gefiel es ihr umso mehr, als bald ein »Eleve« ein Auge auf sie geworfen hatte. Eleve nannte man damals die angehenden Land- und Forstwirte. Der junge Mann ritt ausgezeichnet und nahm meine Mutter sogar zur Jagd auf Wildenten mit. Eines Tages gab es einen häßlichen Vorfall an der Flußschwemme, in deren unmittelbaren Nachbarschaft einige Eleven gerade badeten. Nun rückte der oberste Pferdeknecht des Gutshofes mit Dutzenden von Trakehnern an. Plötzlich jedoch zog er einem sogenannten Zigeuner eins mit der Peitsche über, weil dieser die Schwemme bereits mit seinen beiden dickbäuchigen Wagenpferden besetzt hatte und nicht sofort gehorsamst weichen wollte. Nach dem Hieb, der sogar einen blutigen Striemen in seinem Gesicht hinterließ, funkelten die schwarzen Augen des Zigeuners ähnlich wie die des Donnergottes. Dann zog er mit seinen Brüdern und Wagenpferden wortlos ab.
~~~ Wenige Tage später wurde der Pferdeknecht erstochen aufgefunden. Der Mordverdacht lag auf der Hand. Es gelang der Polizei aber nicht, die Zigeuner, die sich aus dem Staub gemacht hatten, zu stellen. Vielleicht waren auch das Frontgeschehen (gleichfalls mit Donner verbunden) und damit »die Russen« schon zu nahe. Die ersten Gutshöfe hatte man bereits räumen müssen. Meine Mutter versicherte mir, die Eleven an der Flußschwemme seien von dem Übergriff des Pferdeknechts empört gewesen. Sie alle wären bereit gewesen, bei einer Gerichtsverhandlung für den Zigeuner auszusagen. Das hätte sicherlich Stunk gegeben, kamen doch die meisten Eleven gleichfalls von Gutshöfen, somit aus höheren Kreisen. Für »Zigeuner« Partei zu nehmen, gehörte sich in diesen Kreisen normalerweise gar nicht.
~~~ In der Achtung meiner Mutter war ihr Lieblingseleve durch sein mutiges Eintreten noch höher gestiegen. Das nützte jedoch nichts. Sämtliche Eleven wurden alsbald an die Front berufen und der Schwarm meiner Mutter »fiel« schon nach wenigen Wochen ins Soldatengrab. Wie sich versteht, war sie untröstlich. Ich selber ärgerte mich später ebenfalls, weil ich mir sagte: Im günstigen Fall hätte der Eleve jede Wette meine Mutter geheiratet, und dann wäre ich, im Jahr 1950, als gut betuchter und aussichtsreicher Junkersohn auf die Welt gekommen.
~~~ Mindestens hätte mir mein Wunschvater das Knallen mit der Peitsche beigebracht. Sehen Sie bei Interesse beispielsweise https://de.wikihow.com/Mit-einer-Peitsche-knallen. Allerdings wurmte mich mein Unvermögen nicht mehr, nachdem ich ein eigenes Fahrrad bekommen hatte. Zum Radfahren benötigt man keine Pferde; man ist selber der Antrieb.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
In seiner Hochzeit hütete Fußballer Willi Pesch (1907–40) das Tor von Fortuna Düsseldorf, die in der zeittypischen »Gauliga Niederrhein« und damit in der höchsten Klasse spielte. 1933 wurde er mit seinem Club Deutscher Meister, 1936 Vizemeister. Insofern müßte er also »objektiv« eine Zierde am Hakenkreuz gewesen sein. Das Subjektive, darunter sein Bildungsgang, scheint nirgends bekannt zu sein. Nun gut: er war verheiratet und hatte eine Tochter, wie mir das Düsseldorfer Stadtarchiv verrät. Frontsoldat war er offensichtlich nicht. Eigentlich schon zurückgetreten, sprang Pesch, inzwischen »Sportwart« in seinem Club, in der Saison 1939/40 noch einmal in die Bresche beziehungsweise zwischen die Pfosten, weil sein Nachfolger Willi Abromeit zur Wehrmacht eingezogen worden war. Diese Aushilfe endete jäh am Mittwoch dem 15. Mai 1940 am Düsseldorfer Worringer Platz. Das heißt, damals hieß er vorübergehend Horst-Wessel-Platz.
~~~ Am besagten Tag brachte es Pesch, erst 32, aus eher unsportlichen Gründen in die Zeitung.* Danach war kurz nach 15 Uhr ein Straßenbahnzug der Linie 14 die Ackerstraße hinuntergesaust. Da er die Kurve am Horst-Wessel-Platz ungebremst nahm, wurden vier Fahrgäste, die auf der Plattform standen, aufs Plaster geschleudert. Sogar die (senkrechte?) mittlere Haltestange sei weggeflogen. Vermutlich hätten die Bremsen versagt. Unter den Schwerverletzten habe sich auch der bekannte Torwächter der Fortuna befunden: Schädelbruch. Er starb noch am selben Tag im Krankenhaus. Weitere Namen werden nicht genannt.
~~~ Was geschah mit Peschs Gattin? Wir wissen es nicht. Maria Helene Pesch geb. Krall war zwar etwas älter als ihr Mann, doch auch sie starb bereits mit 36, nämlich im April 1942, also rund zwei Jahre nach Pesch. Aus Gram? Am Krieg? Von eigener Hand? Wir wissen es nicht. Sollte die Tochter noch leben, geht sie jetzt auf die 90 zu. Name bei mir. Vielleicht dringt ja mein Werk bis nach Düsseldorf vor und eine hellwache, noch nicht der angeblich furchtbaren Sommerhitze oder den genauso schlimmen Affenpocken erlegene Heimatforscherin krempelt die Ärmel auf. Am 28. Juli (2022) war‘s mir in meinem von Bäumen beschatteten Häuschen zu kühl – ich warf meinen treuen Ofen an. Er nimmt wahlweise Holz, Kohle oder getrockneten Kuhmist. Soll Putin der Schreckliche ruhig den Gashahn zudrehen!
~~~ Ich komme noch einmal auf den Düsseldorfer Unfallort zurück. Der junge aufstrebende SA-Sturmführer Horst Wessel (1907–30), aus monarchistisch gestimmtem Pfarrhause stammend, hatte sich mit seinen »braunen Bataillonen« um 1928 in die Straßen etlicher Berliner Arbeiterbezirke vorgewagt, schauten doch schon, »die Fahne hoch, aufs Hakenkreuz voll Hoffnung Millionen.« Leider erlebte er den einzigartigen Siegeszug der von ihm für ein schlichtes SA-Kampflied geschmiedeten Verse nicht mehr, denn sie wurden erst nach seinem »Heldentod« als Horst-Wessel-Lied zur Parteihymne der NSDAP erhoben. Dr. Joseph Goebbels war auf Draht gewesen: »Ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich«, hatte er gleich nach Wessels Ableben (Februar 1930, im Krankenhaus) in seinem Tagebuch festgestellt.** So entstanden auch unverzüglich Lieder und andere Kunstwerke über Wessel selbst. Der 22jährige Sturmführer war eines Tages von der Gegenseite, nämlich einigen Leuten des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes, in seiner Friedrichshainer Wohnung aufgesucht worden. Wie sie später beteuerten, hätten sie Wessel lediglich vermöbeln wollen, aber dann habe er mit der Hand in seine Tasche gegriffen, worauf »Ali« Höhler, von Hause aus ein »schwerer Junge«, sich gezwungen gesehen habe, auf Wessel zu schießen.
~~~ Wie auch immer die Details gelegen haben mögen, der Zwischenfall kostete 1935 dem wohl 30jährigen Frisör und Aushilfskellner Hans Ziegler und dem 28jährigen jüdischen Malergesellen Sally »Max« Epstein den Kopf, beide Kommunisten. Sie kamen nach einem erneuten Prozeß in dieser Sache, bei der sie »Schmiere gestanden« haben sollen, in Berlin-Plötzensee unters nun faschistisch befehligte Fallbeil. Sicherlich hatten die beteiligten Kommunisten Gründe genug für ihren Besuch bei Wessel gewußt, ihren 17jährigen Genossen Camillo Roß eingeschlossen, von dem es heißt, er sei am selben Januartag 1930 von anderen SA-Leuten angeschossen worden. Offiziell wies die KPD jede Verstrickung in den tödlichen Denkzettel-Akt gegen Wessel zurück. Vielmehr soll sie Gerüchte der Art gestreut haben, Wessel sei, wegen Mietsäumigkeit und Ärger mit anderen Hausbewohnern, in den Krieg zwischen zwei Zuhälterbanden geraten. Der damaligen Rolle des deutschen Kapitals und des sowjetischen Zentralkommitees eingedenk, könnte hier einer murmeln: So kann man es ausdrücken.
~~~ Doppeltes Pech hatte der erwähnte mutmaßliche Schütze Albrecht Höhler, ein gelernter Tischler. Er war zunächst, wegen Totschlags, »lediglich« für sechs Jahre ins Zuchthaus gewandert. Kaum saßen jene braunen Horden jedoch in den Regierungssesseln, wurde der 35jährige Häftling, im September 1933, nach einem Verhör erledigt. SA-Leute paßten ihn bei seiner Rückführung ins Zuchthaus Wohlau, Schlesien, nach Raubritterart ab und erschossen ihn. Sie sollen auf höhere Anweisung gehandelt haben.** Soweit ich weiß, wurde dieser dreiste Justizmord, wie viele andere, nach 1945 nie untersucht und geahndet.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Verkehrsunfall am Horst-Wessel-Platz«, Düsseldorfer Nachrichten, 16. Mai 1940
** Daniel Siemens, »Christussozialist im Straßenkampf«, Spiegel, 9. Oktober 2007: https://www.spiegel.de/geschichte/nazi-ikone-horst-wessel-a-948281.html
Pferde(sport)
Steenken, Hartwig (1941–78), erfolgreicher niedersäch-sischer Springreiter, der 1974 aus dem englischen Hickstead den Weltmeistertitel im Einzel (auf Simona) mit nach Hause nahm. Vielleicht meint so mancher, gegen die Traber und Galopper seien die Springreiter Weicheier. Ich greife damit noch einmal kurz das Thema des Geschwindigkeitswahns auf. Gewiß ist der Springreiter zunächst besser daran, weil er nur darauf zu achten hat, beim Bewältigen des Parcours, wie das Schlachtfeld hier heißt, unter der erlaubten Höchstzeit zu bleiben. Er kann sich also auf die Hindernisse konzentrieren, um Abwürfe (von Stangen und von ihm selbst) zu vermeiden. Können allerdings mehrere ReiterInnen mit »Nullfehlerritten« glänzen (keine Abwürfe, keine Verweigerungen, keine Zeitüberschreitung), wird ein sogenanntes Stechen ausgetragen. Bei diesem geht es, im verkürzten Parcours, noch halsbrecherischer zu, weil nun, bei allen fehlerlosen Ritten, die Durchgangszeit über die Plazierung entscheidet. Hier muß er auf die Tube drücken, daß es kracht.
~~~ Im Grunde ist es natürlich immer wieder erstaunlich. Seit Jahrtausenden finden sich jede Menge des Reitens, Rennens, Schwimmens kundige ZweibeinerInnen, denen es eine besondere Genugtuung bereitet, eine schwierige Aufgabe ein paar Sekunden schneller als ein anderer Mensch zu bewältigen – und sei es, sie brächen sich, wie erwähnt, den Hals, worauf ja in der Tat nicht wenige ZuschauerInnen lauern. Vielleicht liegt das an den tiefen Wurzeln des Geschwindigkeitswahns. Mag er auch nicht aus der Altsteinzeit stammen, dann doch zumindest aus jedem Ehebett. Beobachten Sie einmal kleine Kinder. Kaum können sie sich auf ihren krummen Beinen halten, sind sie auch schon auf die Feststellung erpicht, wer zuerst bis zum Gartentor gerannt ist. Dann kommen die Fahrrad-, dann die Ponyrennen. Nun fragen Sie einmal die Rosen im Garten oder selbst die seltenen Türkenbund-lilien, die man etwa (nördlich von Eisenach) im Wald Hainich trifft, was sie von dieser Abstrampelei halten. Da schütteln sie nur ihre durchaus feurigen Köpfe. Sie dächten noch nicht einmal im Traum daran, sich für eine »Plazierung« auch nur eine Nebenwurzel auszureißen.
~~~ Damit zu Steenken zurück. Man glaube nicht, er sei zuletzt vom Pferd gefallen. Neben Pferden liebte er das Fußballspiel. Auch das Autofahren verschmähte er nicht. Er war 36, als er am 12. Juli 1977 nach dem freizeitmäßig betriebenen Fußballtraining in der schweren Limousine eines Freundes mitfuhr. Der Freund steuerte. Es war schon Nacht. In Kaltenweide, keine Viertelstunde von Steenkes Hof in Mellendorf entfernt (bei Hannover), fuhr der Freund aus überall ungenannten Gründen gegen eine Mauer. Steenken erlitt schwere Kopfverletzungen, an denen er ein halbes Jahre darauf, im Koma liegend, starb. Da hatte er nichts mehr von dem ersten Profivertrag eines deutschen Springreiters, den er am 1. Juli 1977 unterschrieben hatte. Er wäre hinfort für den Mailänder Getränkehersteller Campari gesprungen.* Den haben dann die Kameraden und Angehörigen getrunken, vor Schreck.
~~~ Ich sprach von einer »Verweigerung«. Sieht der Tribünengast die schäumenden und furzenden Gäule auffällig oft vor Hindernissen bocken, sollte er sich mit dem Gedanken beruhigen, als Pferd täte das vermutlich auch er. Das Pferdeskelett sei von Natur aus weder für das Reitergewicht noch für größere Sprünge noch gar für beides zusammen vorgesehen, schreibt Gerhard Kapitzke in seinem Buch Das Pferd von A bis Z von 1993. Wie Versuche von Verhaltensforschern belegten, sei das Springen dem Pferd zuwider. Wenn das »Sportinstru-ment« Pferd inzwischen veranlaßt werden könne, über zwei Meter hohe Hindernisse im Parcours zu überwinden, sei dies kein Gegenargument. »Durch systematische Zuchtwahl, kontinuierliche Ausbildung und vor allem durch die Angst vor dem 'Raubtier auf dem Rücken' werden Springwunder produziert, die dem Zwang gehorchend das Verlangte tun.«
~~~ Manche Pferde sind sogar schon so weit, sich Scheuklappen und Atemschutzmasken anlegen zu lassen.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Dieter Ludwig, https://www.ludwigs-pferdewelten.de/index.php?option=com_content&view=article&id=846:heute-waere-hartwig-steenken-69-jahre-alt-geworden&catid=7:magazin&Itemid=20, 23. Juli 2010
Unweit meines Häuschens liegt eine Pferdekoppel, die im Sommer regelmäßig von zwei echten Trakehner-Reitpferden benutzt wird, einem Rappen und einem Fuchs. Aber der Fuchs ist im Frühsommer 2022 verstorben. Jetzt bietet der Rappe ein erbärmliches Bild, das selbst mir, dem eingefleischten Eigenbrötler, recht zu Herzen geht. Er trottet mißmutig über seine Trampelpfade, rupft freudlos Gras, wiehert vermehrt kläglicher als ein Kleinspecht und grämt oder langweilt sich offensichtlich zu Tode. Als ich es nicht mehr aushielt, fragte ich seine Herrin, die gerade den Wasserbehälter austauschte: »Könnten Sie dem armen Gaul nicht eine Beistellziege beschaffen?« Sie murrte irgendetwas in ihren Blusenausschnitt, bevor sie sich wieder am Koppelzaun aufrichtete. Im Gegensatz zu Brockhaus schien sie immerhin zu wissen, was eine Beistellziege ist. Und weil auch ich es nachweislich wußte, wagte sie nicht, mich mit der typischen Hochnäsigkeit einer neureichen Gymnasiallehrerin abzubürsten. Sie werde mal sehen, murrte sie und wandte sich dem schon ziemlich glanzlosen Fell ihres Rappen zu. Damit durfte ich ihre mageren Schultern bemitleiden.
~~~ Falls Sie nicht im Bilde sind: Das Pferd braucht, als Herdentier, Gesellschaft. Stehen weiter keine Gäule zur Verfügung, sollte ihr sein Reiter eine Ziege zuführen, die auch wieder ein Herdentier ist. Diese Notlösung hat sich schon oft bewährt. Die Beistellziege himmelt das Leitpferd an, und das Leitpferd darf sich einbilden, der Beistellziege ein besonders nobles artgemäßes Leben zu ermöglichen. Denn Trakehner sind nicht billig.
~~~ Das weiß natürlich auch die Lehrerin. Wie befürchtet, hustete sie mir was. Bis zu diesem Oktober rührte sie jedenfalls keinen Finger für das Wohlergehen ihres Pferdes oder für die Linderung meines Mitleides. Keine Ziege tauchte an der Koppel auf, nur sie selber, sofern ihr einmal ausnahmsweise danach war, ihr Reitpferd zu reiten. In der Regel hat das Tier bei ihr nur die Aufgabe, ihr und ihrem Gatten, einem Kommunalpolitiker, das Plaudern im Bekanntenkreis zu versüßen. »Ja, das stimmt, wir halten auch Pferde … Sind sogar reinrassige Trakehner, wissen Sie ..?!«
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023
Laut Brockhaus war »marah« im Althochdeutschen das Pferd. Daraus ergab sich dann zwanglos der Marstall, wenn auch nicht für Hinz und Kunz. Es handelte sich vielmehr ausschließlich um »Stallungen für Pferde und Wagen eines Fürsten«. Das Lexikon zählt auch ein paar berühmte Marställe auf, darunter sogar in Kassel. Der dortige Marstall, errichtet um 1600, liegt am Altmarkt und beherbergt heute das Stadtarchiv. Diese Marställe waren stets gut und prächtig gestaltet, denn die Fürsten wußten durchaus, was sie an ihren vier- und hochbeinigen Untertanen hatten.
~~~ Die »Mähre« soll einst das weibliche Pferd gewesen sein, die Stute also, und jeder dürfte wissen, welche Verachtung inzwischen in dieser Bezeichnung mitschwingt. Daran konnten auch die rotgrünen Kriegsbräute nichts ändern. Überhaupt ist hier vielleicht eine Ehrenrettung des Pferdes angezeigt. Für Voltaire habe es noch den Maßstab aller Dinge in der besten aller Welten dargestellt, las ich einmal erfreut in der Habilitations-schrift des bekannten Soziologieprofessors Ignaz Honigbär. Eine solche Welt wird durch bewegte Harmonie ausgemacht. Bei 1 bis 4 PS lassen sich Zusammenstöße weitgehend vermeiden. Ein Tagesritt führt einen nicht gleich in die Fremde. Ist nicht der Reiter die Last, sind es die Möbel meiner seligen Großeltern, die mittels Pferde-gespann vom Bahn- zum Bauernhof befördert wurden. In einer nichtüberfüllten und nichtgeschwindigkeits-süchtigen Welt dürfte das Pferd – als Nutztier statt Sportgerät – konkurrenzlos sein.
~~~ Der Sprit des Pferdes wächst auf Wiesen beständig nach und liefert in Gestalt von Äpfeln auch noch wertvollen Dung. Praktischerweise steckt bei den Pferden nicht das Lächeln, vielmehr das Darmdrücken an. Macht eins seine Ballen, fallen die anderen Gäule bald ein. Mein Großvater Heinrich sang beim Wandern gern: »Links ne Pappel, rechts ne Pappel, in der Mitte‘n Pferdeappel.« Wenn Lichtenberg einmal erwog, ein zoologisches System nach der Form der Exkremente zu schaffen, wette ich darauf, er hätte das Pferd an die Spitze gestellt. Der leichtfüßige Pferdekot stinkt nicht und maßt sich nicht an, Vulkanausbruch oder Schlangenhorst zu spielen. Von daher muß Rekrut Carl Zuckmayer als Glückspilz gelten. 1914 von einem Schinder öfter in die Stallgasse abkommandiert, hieß es hinter den Pferden »mit hohlen Händen« auf Roßäpfel lauern, wie der Stückeschreiber in seinen Memoiren erwähnt. Nicht etwa wegen des wertvollen Dungs! Sondern es galt »Stroh zu sparen«.
~~~ PferdekennerInnen versichern, sie könnten sich mit ihrem Transportmittel sogar unterhalten, was mit dem eigenen Auto nur selten gelinge. Es soll schon zu Eifersuchtsszenen und Sodomie gekommen sein. Bei Kassel besuchte ich einmal eine ökologische Messe, die im Fach Landbau einige neuentwickelte Maschinen für Pferdegespanne oder Einzelpferde vorstellte. Das war um 2000. Es gab sogar einen verstümmelt wirkenden »Andock-Wagen«, an dessen Zapfwelle sich wiederum andere Maschinenfahrzeuge anschließen ließen, deren Messer, Gabeln und dergleichen durch die routierende Welle angetrieben wurden. Ich persönlich mache mir aus großflächigem Landbau wenig, sodaß ich diese Maschinen gar nicht benötigen würde. Die Gäule jener Ausstellung wirkten durchweg belastbar, gutmütig und flott. Was Wunder, wenn Voltaire auch die beliebte Überzüchtung des Pferdes geißelte. Sie ist unnötig. Die Prärieindianer fingen ihre Mustangs ein und zähmten sie unter vertretbaren Mühen. Eine Ausnahme mutet sich lediglich Welskopf-Henrichs jugendlicher Held Harka zu, der unbedingt den geheimnisumwitterten »Zauberhengst« besitzen will. Schließlich bringt er das ungemein feurige und kluge falbe Leitpferd mitten im Schnee des Felsengebirges zu Fall. Bald darauf liegt es verschnürt wie ein Paket auf der Seite. Harka holt seine große Büffelhaut und kriecht mit dem Objekt seiner Begierde unter eine Decke. Viele Tage und Nächte lang streichelt er den Falben und singt ihm besänftigende Indianerlieder ins Ohr. Allmählich kann er die Fesseln lockern. Schließlich folgt ihm der Hengst wie ein Lamm – aber nur ihm. Dieser Hengst wird Harka mehr als einmal das Leben retten.
~~~ Harkas Landsmann Ambrose Bierce, ein Weißer, beschränkte sich vor gut 100 Jahren (in seinem Wörterbuch des Teufels) zum Stichwort Pferd auf die Bemerkung: »Begründer und Bewahrer der Zivilisation«. Nur die sogenannten Rothäute hat es nicht bewahrt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 24, Juni 2024
Für den »leichten, zweirädrigen, gummibereiften Wagen mit Spezialsitz«, den die Freunde des Trabrennsports Sulky nennen, hat Brockhaus drei Zeilen, aber auch ein lockendes Farbfoto geopfert. Der nach hinten gestemmte Fahrer hat immerhin einen Helm auf. Sein Renner nicht. Wünschen Sie mitzurennen, müssen Sie allein für den Sulky um 1.000 Euro opfern. Der vierbeinige Renner kostet normalerweise 2.500 bis 5.000 Euro – gehört er zur Spitzenklasse, können es aber auch um 100.000 Euro sein. Die Unterhaltskosten für den Renner, vielleicht noch einmal 1.000 Euro im Monat, rechnen wir gar nicht. Hier kann sowieso viel eingespart werden, indem man dem Pferd die üblichen unwürdigen und krankmachenden Stallbedingungen bietet.
~~~ Sie haben es bereits geahnt: die Trabrennbranche ist ein Riesengeschäft für zahlreiche Beteiligte, ein paar WetterInnen sogar eingeschlossen. Nur die Pferde sind stets die Verlierer. In der Regel, nämlich von Natur aus, traben sie eher selten. Meistens gehen beziehungsweise grasen sie im Schritt; kommt ein Tiger, greifen sie fluchtartig zum Galopp. Selbst mit dem zweibeinigen Tiger auf dem Rücken kann der Trab für den Gaul aus Gründen der Abwechslung recht erholsam oder gar vergnüglich sein. Hat der zweibeinige Tiger das Pferd vor einen Wagen gespannt, kommt es freilich nur noch auf zwei Werte an: Ausdauer und Schnelligkeit. Ein Kutschpferd hält im Trab viele Kilometer durch, ohne gleich tot umzufallen. Auf den Rennbahnen geht es »natürlich« um Sekunden. Also werden die Gäule geschunden.
~~~ »Die Tiere werden gequält, leben in Angst und sterben in sehr vielen Fällen viel zu jung«, faßt Chefredakteurin Jungbluth zusammen.* Das klingt sicherlich wenig flammend. Man muß schon ins Einzelne gehen. Allein das folternde Zaumzeug der Traber läßt einem aber schon die Haare zu Berge stehen. Lesen Sie mal. Und dann schminken Sie sich die Illusion ab, die besonders grün angestrichenen BerufspolitikerInnen würden hier etwa einschreiten. Nein, Sie müssen Arbeitsplätze, Profite und das Volksbehagen retten, dafür sind sie auf der Welt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 36, September 2024
* Verena Jungbluth, »Zum Rennen verdammt«, https://www.duunddastier.de/ausgabe/qual-der-rennpferde/, o.J., wohl 2018
Siehe auch → Lüge, Pferdenarren (Hüllwörter) → Band 4 Mollowina, Zeit der Luchse
Pflaster (Straße)
Die mit Steinen mehr oder weniger ordentlich gepflasterten Dorf- oder gar Landstraßen in meiner Zwergrepublik Mollowina dürften (um 1900) schon ein beachtlicher Fortschritt gewesen sein. Auf Robert Merles Insel hatte man sich in schweren Regenzeiten noch mit mühsam herangekarrten, einigermaßen breiten und flachen losen Steinen beholfen, die man, mitunter sogar zweistöckig, auf die schlammigen Dorfpfade legte. Das wird ein rechter Eiertanz gewesen sein. Aus zwei anderen Romanen erfuhr ich neulich zu meiner Verblüffung, sowohl im Chicago der 1890er Jahre wie in Petrograd um 1917 seien viele Straßen holzgepflastert gewesen. Ich wünschte Genaueres zu wissen und bemühte das Internet. Danach wurden bei diesem Pflaster Würfel aus Weichholz in der Richtung ihrer Fasern in den Sand gebettet. Auf die Oberflächen mit den Jahresringen wurde dann noch einmal Sand gestreut, den die Schuhe und Hufe alsbald ins Holz eintraten. Das habe sowohl die Haltbarkeit der Würfel erhöht wie die Rutschgefahr für Mensch und Tier vermindert, heißt es. Dadurch soll das Pflaster immerhin sieben Jahre gehalten haben. Für Steinpflaster nimmt man eher 100 Jahre an, bei guten Unterbauten auch 1.000, wie etwa die römische Via Appia beweist. Warum man im Mittleren Westen der Staaten zu Holzwürfeln griff, kann ich nur mutmaßen: Holz war häufiger und leichter als Stein, deshalb auch billiger, lebte man doch bereits im Kapitalismus. Auch mit Ästhetik und Tourismus ließ sich damals noch kein Geld verdienen. Denn dieses mit Sand und Kot zugesetzte Holzpflaster kann ja weißgott keine Augenweide gewesen sein.
~~~ Bei den gepflasterten Fernstraßen des Römischen Reiches trug ein mehrschichtiger Unterbau ungefähr 25 Zentimeter dicke Steinplatten aus Lava oder Basalt. Die Straßendämme waren nicht selten zwei Meter hoch, was den zweifelhaften Vorteil hatte, sie auch als Stellung bei feindlichen Angriffen benutzen zu können. Selbstverständlich waren sie in erster Linie Heerstraßen. Entsprechend verliefen sie oft auf halber Höhe des jeweiligen Geländes. Auf der Talsohle hätte der Troß nichts gesehen, auf dem Kamm hätte man ihn gesehen. Neben hohen Meilensteinen – auf denen sich nur zu gerne BaugeldstifterInnen namentlich verewigen ließen – waren die Straßenränder mit Aufsitzsteinen gespickt, kamen doch die Steigbügel in Europa erst um 700 n.Chr. auf. Erbauer der Straßen waren neben Häftlingen und Sklaven oft Soldaten, denn so viele Kriege, um die vielen Legionäre ständig in Atem zu halten, konnten selbst die Cäsaren nicht führen. BenutzerInnen waren gelegentlich auch nichtuniformierte Fußgänger, für die es, ihren Bandscheiben zuliebe, beiderseits des Straßendamms eingefaßte Trampelpfade gab. Die marschierenden Legionäre trampelten nicht, wie sich versteht – sie erfanden auf dem holprigen Straßenpflaster den Vorläufer des preußischen Stechschritts, wenn ich meinen Quellen trauen kann. Zweck der Übung war, nicht über die kleinen Stufen im Pflaster zu stolpern und damit schon kampfunfähig zu sein, bevor der Feind zum Angriff bläst – ob vom Kamm oder der Talsohle aus.
~~~ Bekanntlich kehrt der »Trend« in jüngerer Zeit wieder zum Pflaster zurück, auf daß die Bio-Welle einen gefälligen Unterbau gewinne. Meine Haltung dazu ist gespalten. Unter ästhetischem Blickwinkel begrüße ich den Trend, weil jeder, der Normierung und Globalisierung haßt, auch Asphalt hassen muß. Ich streiche hier nur das Spiel von Licht, Schatten und Farben hervor, durch das uns ein Kopfsteinpflaster aus Granit oder Basalt, je nach Wetter und Tageszeit, erfreuen kann, ohne auch nur ein Watt Strom zu verbrauchen. Dafür fressen die Geräte und Maschinen, die beim Asphaltieren eingesetzt werden, wenn nicht Strom dann Unmengen an Benzin und Öl, und auch die Geräte und Maschinen selber fallen nicht vom Himmel. Als Freund der Gesundheit, des Fahrradfahrens und der Greise dagegen kann ich ein solches Pflaster nur knochenbrecherisch nennen. Ist der Greis bereits ertaubt, hat er Glück, weil ihn zumindest die akustischen Nachteile eines Straßenpflasters nicht mehr zum Amokläufer werden lassen können. Das Natur-Pflaster verstärkt Geräusche von Fahrzeugen aller Art ungemein. Das räumte sogar der Schriftsteller Heinz Jäckel ein, Konräteslust. Der Pferdenarr wohnte in der DDR-gepflasterten Bahnhofstraße.
~~~ Ich höre die Mahnung, wer sich mit Pflaster befasse, dürfe dessen hohen »Gefühlswert« nicht vernachlässigen. Es wirke auf viele Menschen viel »anheimelnder« als Beton oder Asphalt. Ich nehme einmal an, die MahnerInnen schließen unter »Pflaster« nicht das inzwischen sattsam bekannte genormte, künstliche Doppel-T-Verbundpflaster aus Beton ein, auch »Knochensteine« genannt, wohl allen Hundehaltern zuliebe, die es zurecht bescheißen lassen. Hier griffe jene Anheimelung, die unser Vorstellungsbild sofort mit anderen, eben aus der Heimat vertrauten Merkmalen zu bepflastern weiß, ersichtlich ins Leere beziehungsweise Fugenlose. So aber trottet das dickbäuchige Kaltblutpferd in seiner Deichsel, hockt der Knirps in Lederhose gegrätscht über einer Pfütze, schimmert das Laternenlicht zugleich auf dem Kopfsteinpflaster und auf dem goldenen Haar unserer Tanzstundendame, die wir nach Hause begleiten durften. Ich vermute stark, wegen dieser verbundhaften Bepflasterung im Geiste ist die Faustregel je älter, desto schöner so beliebt. Sie führt uns schnurgerade in das krumme Fachwerkhaus zurück, in dem wir geboren, gewiegt und in die erwähnte Lederhose gesteckt wurden, auf daß uns nichts ankratze. Hätte ich Enkel, fänden sie in ungefähr 40 Jahren wahrscheinlich die dann längst veralteten Handys, Quads und freistehenden, lärmenden Luftwärmepumpen anheimelnd.
∞ Verfaßt 2022
Zur Brockhaus-Spalte über das bekannte Gestein Granit fällt mir lediglich ein eher unbedeutender Waltershäuser Schildbürgerstreich aus jüngerer Zeit ein. Die August-Bebel-Straße, in der unter anderem ein Ärztehaus und die Puppenfabrikkommune residieren, hatte auch die Seltenheit eines wuchtigen bunten Granitpflasters zu bieten. DDR-Bürger wissen Bescheid. Es scheint aber Beschwerden der autofahrenden Kranken gegeben zu haben. Eines Tages fingen Arbeiter an, dieses Pflaster heraus zu reißen und auf riesige Lastwagen zu verladen. Ein Vorarbeiter erklärte mir, die Straße werde asphaltiert. Und die fetten, vielleicht auch nicht billigen bunten Steine würden nach Bayern gekarrt und dort irgendwo wieder eingesetzt. Aha, es ging um Devisen! Ich nickte und trollte mich in die Hauptstraße Richtung Klaustor. Dort waren seit Wochen andere Arbeiter umgekehrt damit beschäftigt, den Asphalt aufzubrechen. Man wolle die Hauptstraße und einige zum Markt führenden Gassen erneut, wie früher, mit schönem Pflaster versehen. In der Tat. Jetzt zeigt die Hauptstraße ein nagelneues Pflaster aus diesmal kleinen, grauen Granitsteinen. Die Touristen sind entzückt. Zuweilen tippeln auch unsere eigenen abgerissenen PfandflaschenanglerInnen durch die Hauptstraße. Ich nehme stark an, diese MitbürgerInnen werden weder von grauen noch von bunten Pflastersteinen satt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
Philosophie
Der Heidelberger »Philosoph« Alfred Seidel (1895–1924), wohl eine Art mehr links kauender Vorkoster von Ludwig Klages‘ bekanntem Schinken Der Geist als Widersacher der Seele (1929–32), ist heute fast vergessen. Kaum hatte er sich sein sendungsbewußtes, wenn auch allem Anschein nach wenig originelles Werk Bewußtsein als Verhängnis abgerungen und dessen Veröffentlichung sichergestellt, verständigte er, knapp 30 Jahre alt, den mit ihm befreundeten Psychiater Hans Prinzhorn: »Wenn Sie diesen Brief erhalten, lebe ich nicht mehr …« Das soll im Oktober 1924 gewesen sein. Leider sind zumindest im Internet weder genaue Lebensdaten noch Einzelheiten des Ablebens zu haben. Hans-Dieter Schütt* weiß aber immerhin, der vermutlich unablässig grübelnde »Wandervogel« Seidel habe Ernst Bloch verehrt und sich mit »Depressionen« abgeqält.
~~~ Was hätte noch aus ihm werden können! Vielleicht ein Systematiker. Das ist das häufigste Schicksal unter Philosophen, wenn ich mich nicht täusche. VertreterInnen der Minderheit dagegen, etwa Alain, Adorno, Friedrich Georg Jünger, sind wiederholt für ihr unsystematisches Denken gerügt worden. Man hätte ihre Sicht auf die Welt lieber wie einen Stammbaum a lá Darwin oder eine Apothekenschrankwand mit lauter Schubladen vor sich gehabt. Der vom erwähnten Holzhammerphilosophen Ludwig Klages nicht unbeeinflußte Sachse Hermann Schmitz, geboren 1928, ist diesem Vorwurf tatsächlich noch zuvorgekommen, indem er zwischen 1964 und 1980 sein 10bändiges System der Philosophie vorlegte. Es umfaßt rund 5.000 Seiten. Es soll sogar schon schulbildend sein. Schmitz kreist nicht um Krieg oder Lüge, sondern um einen menschlichen Leib, der weit genug aufgefaßt ist, um darin den epochenumfassenden Dualismus Leib/Seele zu schlichten und auch noch alles andere unterzubringen, das ein hellwacher Kopf zu berücksichtigen hat, Göttliches eingeschlossen.
~~~ Trotzdem fanden die Alains, Adornos, F. G. Jüngers, Systeme seien zu eng. Sie verleiten zu einem bestimmten Blickwinkel, der zuviel Dunkel unbeleuchtet läßt. Sie unterbinden Überraschungen, weil man nur nach dem sucht, was man finden möchte, beispielsweise den Ruhm. Man möchte vor allem recht behalten. Philosphische Systeme sind immer nur Rechtfertigungen ihrer Anlässe und Strukturen, also dessen, was in ihnen angelegt ist. Was nicht hineinpaßt, wird unweigerlich zurechtgebogen. Was zu sperrig, zu widersetzlich ist, fällt unter den Tisch. Andererseits erzwingen sie trotz ihrer Enge Wucherungen, die völlig unfruchtbar, aber zur Stützung des Systems unabdingbar sind. Ein jüngeres Beispiel dafür stellt Canettis Werk Masse und Macht von 1960 dar.
~~~ Allerdings kann der Verzicht auf Systematik auch eine billige Ausrede darstellen, wie ich einräumen will. Der Literaturbetrieb wimmelt von Faulpelzen, Strohköpfen und Scharlatanen, die sich begierig Ilse Aichingers Bemerkung aus Schlechte Wörter an den Bildschirmrand ihres Computers geklebt haben, niemand könne von ihr verlangen, Zusammenhänge herzustellen, solange sie vermeidbar seien. Einen Zustand im Chaos zu belassen ist sicherlich oft bequemer als der Versuch, ihn zu ordnen. Bei Hochwasser, das einem schon den Kragen näßt, wird es freilich unbequem. Man wird sich zumindest nach einem Elfenbeinturm umsehen. Ruft die Regierung gar eine »Pandemie« aus, die jenen Themen Krieg und Lüge verpflichtet ist, wird man vielleicht doch die Ärmel aufkrempeln, um sich durch die Müllhalde sogenannter Öffentlicher Meinung zur Wahrheit vorzuarbeiten.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Hans-Dieter Schütt, https://www.nd-aktuell.de/artikel/979481.denken-ohne-gelaender.html, 30. Juli 2015
Nach Brockhaus war der bayerische Arzt und Schriftsteller Oskar Panzizza (1853–1921) ab 1904 Irrenanstaltsinsasse. Wie es aussieht, hatte er sich durch sein literarisches Wirken vor eben diesem Schicksal zu bewahren versucht – aber dazu war dieses Wirken vielleicht wenig geeignet, weil es aufgrund seiner eigenwilligen Züge eher Verwirrung als Klärung schuf. Panizza durchschneiste die herkömmliche Grammatik und Rechtschreibung wie ein zorniger Stier ein Birkenwäldchen. Man könnte ihn wahrscheinlich zu den Vätern des Dadaismus zählen. Im übrigen zog er sich mit seinem Wirken jede Menge Verfolgung zu.
~~~ Panizza kam aus einer Hoteliersfamilie. Die frömmelnde Mutter hatte vergeblich versucht, ihm den Beruf des Pfarrers schmackhaft zu machen; so studierte er Medizin. In seinen Texten, oft Dramen, hackte er im Gegenteil unerschrocken auf die herrschenden, erdrückenden religiösen, sittlichen und überhaupt wilhelminischen Glaubenssätze ein. Die Hälfte der schreibenden Zunft rühmte ihn deshalb, die andere rügte ihn. Die Staatsanwälte feilten Verdammungsurteile und Zensurbescheide aus. Selbst »Gotteslästerung« warfen sie ihm vor, obwohl sich Gott nie bei Gericht beschwert hatte. Seine Hausarztpraxis gab Panizza wieder auf, nachdem er von seiner Mutter eine Jahresrente erstritten hatte. Gleichwohl wurde seine Spielraum zum Schreiben immer enger. Das wenigste scheint noch seine Gehbehinderung gewesen zu sein, mit der er, laut Armstrong*, schon früh geschlagen war. Vor allem sei er eben »psychisch labil« gewesen. Schon in den Kreisen der Schwabinger Bohème habe er sich selber, ob offenherzig oder großmäulig, als »Syphilitiker« bezeichnet.
~~~ Von einer Ehe ist nirgends die Rede. Dafür trieb es Panizza aber nach unterschiedlichen Quellen häufig in die Arme von weiblichen Liebesdienerinnen. Ob er sich dabei in der Tat mit Syphilis ansteckte, ist ungeklärt. Panizza hatte zeitweise in Zürich und Paris Exil gesucht. Eine Ausweisung aus Zürich als »unerwünschter Ausländer« erfolgte 1898, laut Michael Bauer, »nach einer Affäre mit einer jugendlichen Prostituierten«, wenn auch ein Attentat auf Kaiserin Elisabeth von Österreich als Vorwand herhalten mußte.**
~~~ Die Nachstellungen durch die Obrigkeit waren der Gesundheit des gelernten Mediziners natürlich auch nicht gerade förderlich. Wiederholt hegte er Selbstmordge-danken. 1895 brachte ihm das Drama Das Liebeskonzil ein Jahr Gefängnis ein, das er auch absaß. Um 1900 wurde sein Vermögen eingezogen. Mittel-, zudem staatenlos, stellte er sich der bayerischen Justiz. Um 1903 bescheinigte er sich selber eine Besorgnis erregende zerrüttete Gemütsverfassung. 1905 auf Betreiben seiner Mutter** entmündigt, wanderte er in verschiedene Bayreuther Irrenanstalten. Im dortigen »Luxussanato-rium« Herzoghöhe hätten ihn zuletzt mehrere Schlaganfälle ereilt, schreibt Armstrong. Unter dem Strich habe sich Panizza offensichtlich als Gescheiterten empfunden. Das lag wohl hauptsächlich an dem zwiespältigen, nicht einhellig begrüßenden Echo auf sein literarisches Wirken. »Eines seiner letzten Gedichte trägt den resignierten Titel: Ein Poet, der umsunst gelebt hat.«
~~~ Hier liegt freilich allgemeiner die Frage nahe, was eigentlich ein geglücktes Leben sei. Für die Panizzas scheiden Familiengründung und Nachwuchspflege sowie ein ehrenvolles Berufsleben offensichtlich aus. Sie genügen nicht. Die Panizzas sind auf das Übergreifende, Durchdringende, Umfassende erpicht. In dieser Hinsicht hat jedoch die fadenscheinige Religion ausgedient. Ergo bleibt nur noch das künstlerische Schaffen, das berüchtigte Werk. Mißlingt es dem Künstler aber, eben mit diesem eine genauso umfassende Begeisterung zu wecken, läßt er den Kopf hängen und gibt sich auf. Das kann man schon verrückt nennen. Nebenbei zeugt es auch von einer gewissen Unreife, ist doch der Wunsch nach Begeisterung offenkundig auf dem Mist der jugendlichen Sehnsucht nach der Geliebten gewachsen. Die Geliebte wird mich uneingeschränkt, »voll und ganz« sozusagen, als ihren Beglücker oder Erlöser empfinden. Verrückt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* Ursula Armstrong, https://www.hausarzt.digital/kultur/medizinhistorie/oskar-panizza-ein-poet-der-umsunst-gelebt-hat-100076.html, 20. Oktober 2021
** Michael Bauer, NDB 20 (2001)
Der Franzose Luc de Clapiers Vauvenargues (1715–47) ist sogar Marquis – nur kränkelte er leider von Kind auf. Nicht nur darin erinnert er an Landsmann Blaise Pascal. Seiner Sehschwäche zum Trotz liest der Knabe viel; besonders die Schriften von Plutarch und den griechischen Stoikern haben es ihm angetan. Doch da sein Vater zum Adelstitel – wegen Ausharrens in der pestverseuchten Heimatstadt Aix-en-Provence – offenbar keine Pfründe erhielt, kommt ein Studium nicht in Frage. Der Sprößling wird mit 20 Offizier beim Militär, was ihn freilich weder zum Nationalhelden noch gesünder macht. So bringt ihm, nach dem italienischen Feldzug (1734), das Hauen um Böhmen (1742) Erfrierungen ein, die ihn für Monate ins Hospital zu Nancy zwingen. Im selben Jahr stirbt 17jährig sein Kamerad Paul Hippolyte Emmanuel de Seytres, mit dem ihn seit 1740 eine mindestens schwärmerische Zuneigung verbindet. Zuletzt in Arras stationiert, nimmt Vauvenargues 1744 seinen Abschied. Man hat inzwischen ein tuberkulöses Lungenleiden bei ihm festgestellt.
~~~ Seit April 1743 korrespondiert er mit Voltaire, was zu einer engen Freundschaft führt. Vauvenargues arbeitet längst an eigenen Texten, nur wird sein Gesundheitszustand immer bedenklicher. Er zieht sich die Pocken zu, wird nahezu blind, leidet an chronischem Husten. Möglicherweise ist hier eine in der Jugend aufgeschnappte Syphilis im Spiel. Dadurch werden auch seine Versuche zunichte gemacht, im diplomatischen Dienst Fuß zu fassen. Seit 1745 lebt er zurückgezogen und ärmlich in Paris. Ein Jahr darauf erscheinen, anonym, seine Reflexionen und Maximen. In diesem schmalen Sammelband häufen sich Schlagworte wie Gefühl, Natur, Herz, Tugend, weshalb man ihren Anwender zu einem Vorläufer der Romantik erklärt hat. Immerhin liest man darin auch von Männern, die ihre »Luft zum Atmen in der Unbestimmtheit finden« und sich von ihren eigenen Erfindungen »berauschen« lassen. Vauvenargues hat wenig Humor und viel Moral. Seine Hauptsorge gilt dem Ruhm. Da blitzen in seinem unübersehbaren Skeptizismus zuweilen sogar selbstironische Töne auf: »Wenn man fühlt, daß man nichts hat, um sich die Achtung eines anderen zu erwerben, ist man schon recht nahe daran, ihn zu hassen.«
~~~ Eine von Voltaire empfohlene zweite, verbesserte Auflage seines Werkes erlebt der vom Schicksal geschlagene Tugendbold wahrscheinlich nicht mehr mit: er stirbt 1747 mit 31 Jahren. Vauvenargues wurde erst im 19. Jahrhundert »entdeckt«, darunter von Schopenhauer. Seitdem wird der streckenweise meisterhafte Aphorismen-Schreiber in die Reihe »der großen französischen Moralisten« gestellt. Dem schloß sich auch Brockhaus an. Ich fürchte jedoch, hier ist ein Ausgleichsgesetz am Wirken, das auch Autoren/Schriftstellerinnen wie Otto Weininger, Katherine Mansfield, Franz Kafka, Simone Weil zugute kam: Währte das Leben nur halb, zählt das Werk später doppelt. All diese Leute werden heillos überschätzt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024
Siehe auch → Erkenntnis → Schach, Göring (Philosoph) → Wahrscheinlichkeit → Band 5 Molinga Kap. 3 (Kritisches von Kommunardin)
Politik
Ich will nicht behaupten, Brockhaus hätte den süddeutschen Kommunalpolitiker Volker Baehr (1943–81) unbedingt berücksichtigen müssen, aber es wäre jedenfalls theoretisch möglich gewesen. Sein buchstäblicher Fall bahnte sich in der schwäbischen Kreisstadt Ditzingen an, die bis zum Herbst 1980 im restlichen Deutschland vergleichsweise unbekannt gewesen sein dürfte. Nun jedoch geriet zunächst der dortige Oberbürgermeister Alois Lang (CDU) ins Stolpern, waren doch »Grundstücksgeschäfte« ruchbar geworden, die Lang »am Gemeinderat vorbei« gemacht hatte.* Er trat zurück. Ein Jahr darauf, am Montag den 7. September 1981, steuerte sein gewählter, designierter Amtsnachfolger Volker Baehr, ein 37 Jahre alter Volkswirt, Städteplaner und SPD-Politiker, im Morgengrauen und in verzweifelter Verfassung die bei Widdern gelegene, bis 80 Meter hohe Jagsttalbrücke der A 81 an. Baehrs Amtseinsetzung stand erst bevor, weil sie durch den verwaltungsrechtlichen Einspruch zweier weit abgeschlagener Mitbewerber über Monate hinweg sabotiert worden war. Für Lokalredakteur Rainer Schauz** waren Baehrs angebliche »Depressionen«, so die Polizei, just dem Sumpf der örtlichen Korruption und der entsprechenden Intrigen gegen Baehrs durchaus lautere Absichten entsprungen, denselben trocken zu legen. Aber der »feinsinnige«, gern Schach spielende neue Oberbürgermeister sei wohl nicht »abgebrüht« genug gewesen, um beispielsweise auch noch die Schläge einzustecken, die ihn auf der für diesen Montag anberaumten Sitzung über die Neuordnung des Baudezernates erwarteten. Die halbe Nacht durch soll er mit seiner Frau Angelika gesprochen haben, einer berufstätigen Lehrerin. Wie aus dem Bekanntenkreis zu hören ist, bemühte sich die Ehefrau vergeblich, ihm das Gefühl des Versagens zu nehmen und ihn gleichwohl zum »Ausstieg« aus der Politik zu bewegen. Sie meldete ihn noch am selben Tag als vermißt. Daraufhin wurde er zerschmettert unter der erwähnten Brücke gefunden. Aussagen von nahen Autobahnbauarbeitern zufolge hatte sich der 37jährige »entschlossen« in die Tiefe gestürzt. Falls ihm der Gedanke an den abzusehenden Schock seiner Angehörigen gekommen war, hatte ihn dieser offensichtlich nicht zurückzuhalten vermocht.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023
* Franziska Kleiner: »Ungeschönter Blick in die Ditzinger Geschichte«, Stuttgarter Zeitung, 23. Juni 2016
** Rainer Schauz, »Volker Baehrs Brückensturz war tiefe Resignation«, Stuttgarter Nachrichten, 11. September 1981
Mit der Einfalt, die wir vom globalen Fernsehpublikum kennen, behauptet Brockhaus, bei einer Gipfelkonferenz handle es sich um ein »Treffen leitender Politiker, um internationale Streitfragen zu besprechen und gegebenenfalls zu lösen«. Andere, meist viel wichtigere Zwecke kennt er nicht. Immerhin meldet er maulwurfs-hügelhohe Bedenken mit seinem abschließenden Satz an: In neuerer Zeit habe die Praxis, Gipelkonferenzen einzu-berufen, »in einem sehr starken Maße« zugenommen.
~~~ Gewiß hat es solche Schauveranstaltungen auch schon in der Antike und im Mittelalter durchaus häufig gegeben, sofern man die Relationen beachtet. Nur haben wir keine Erzbischöfe und Könige mehr, vielmehr Führungspersonal der demokratisch-kapitalistischen Sorte. Eben! Geld spielt keine Rolle, wenn es die Wählermassen zu blenden gilt. Vielleicht gibt es ja schon Diplomarbeiten, die die Kosten der Aussrichtung aller postmodernen Gipfel-, Sicherheits- und Weltwirtschaftskonferenzen auf Heller und Pfennig errechnet und dem friedenstiftenden Nutzen gegenüber gestellt haben, der in der Regel Null beträgt. Dafür verdienen die PR-Leute, die Medien, die Leibwächter-Innen, die Transportindustrie und die ortsansässigen KrämerInnen jede Menge Geld.
~~~ Somit sind Gipfelkonferenzen ganz vorwiegend herausragende Förderveranstaltungen der marktwirtschaftlichen Art, geradeso wie Erfindermessen, Olympiaden und sogenannte Weltausstellungen. Das Erschreckendste liegt aber darin, daß sich die Wahlschafe dieses bunte Futter, das letztlich sie zu finanzieren haben, seit Jahrzehnten bereitwillig vorwerfen lassen.
~~~ Gerade durften wir wieder die Münchener Sicherheitskonferenz genießen (16./18 Februar). Dafür, daß die halbe Stadt lahmgelegt und mit Polizisten vollgestopft wurde, steuerte Berlin, wie ich aus etwas älteren Angaben schließe, mindestens drei Millionen Euro bei. Ja, ist das denn erlaubt? Die fehlen doch Scholz und Baerbock, wenn die nächste Rate der Finanzhilfe für Kiew fällig wird!
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 14, März 2024
Unter »Krones« führt Brockhaus lediglich die österreichische Schauspielerin Therese Krones an, die 1830 bereits mit 29 Jahren einer, laut Internetquellen, »kurzen, schweren Krankheit« erlag. Ganz Wien soll ihr zu Füßen gelegen haben. Obwohl ich mir aus Schauspielern und Politikern ähnlich wenig mache, möchte ich bei dieser Gelegenheit an Thereses Landsmännin Hilde Krones (1910–48) erinnern.
~~~ Möglicherweise sah diese Krones nicht ganz so hinreißend aus wie Therese. Zwei Fotos haben sich mir eingeprägt. Da marschieren derb gekleidete, mit Spitzhacken oder Schaufeln bewaffnete WienerInnen zum Wiederaufbau. Der hohe Frauenanteil verblüfft – falls man das Jahr der Aufnahme nicht kennt: 1945. In der vordersten Viererreihe ausschließlich Frauen. Sie scheinen guter Stimmung zu sein, trotz ihrer aus den Schuhschäften lugenden Wollsocken, die nicht gerade der Pariser Vorkriegsmode entsprechen. Hilde Krones, Mitte 30, halbrechts, lacht ebenfalls. Ja, noch lacht sie. Hier wirkt sie recht hochgewachsen und eher schlank. Das wäre vielleicht die richtige Freundin für mich gewesen. Aber damals war ich noch gar nicht auf der Welt. Unverkennbar sind Hildes großer Mund, die kräftigen Zähne und die leicht slawischen Wangenknochen. Im ganzen könnte man ihr Gesicht knuffig nennen. Das sieht man dann auch auf dem zweiten, diesmal undatierten Foto. Die Frau um 30 lehnt lachend in einer Haustür. Sehr witzig finde ich ihr bauschiges, zweifarbig längsgestreiftes Kleid. Hier wirkt Krones eher untersetzt, dabei recht drall und breithüftig. Kinder hatte sie übrigens nie, zu ihrem Bedauern. Die Gründe der Kinderlosigkeit sind mir allerdings nicht ganz klar geworden. Mindestens zwei Väter wären jedenfalls zur Hand gewesen.
~~~ Hilde Krones selber war die Tochter einer Hausfrau und eines Bäckergehilfen. Der Vater starb, als sie 14 war – warum, verrät keiner. Die Tochter durfte, nun unter Mühen der notgedrungen berufstätigen Mutter, die Wiener Handelsakademie besuchen. Sie wurde zunächst Kaufmännische Angestellte, rasch auch Politikerin. Sie galt als rhetorisch begabt. Aus der sozialistischen Jugendbewegung kommend, zählte sie zum linken Flügel der österreichischen Sozialdemokratie (SPÖ). Krones hatte sich im Faschismus an der Untergrundarbeit beteiligt und war zuletzt, nach dem Krieg, sogar Abgeordnete des demokratischen Nationalrates (des österreichischen Parlaments) geworden. Das konnte sie freilich nicht daran hindern, sich (1948) mit 38 Jahren umzubringen – wie in der Regel angenommen wird. Warum tat sie das? Immerhin hatte sie sich selber einmal ausdrücklich als Kämpferin bezeichnet. Sie half gern, sie war ehrgeizig, sie wollte eine bessere, eine gerechte Welt. Jetzt hatte sie den Tod gewollt – falls sie nicht insgeheim darauf hoffte, vielleicht noch rechtzeitig gefunden zu werden.
~~~ Soweit ich sehe, hatte Krones zwei wesentliche Leidenschaften: die Politik und die Geschlechterliebe. Und man darf wohl vermuten, beide waren ihr überlegen und brachen ihr im Verein das Genick. Nehmen wir zunächst die politische Lage. Schon die war sicherlich für jede Verzweiflung gut. Auf einer SPÖ-Webseite* heißt es dazu erstaunlich offenherzig, »angeführt vom damaligen Innenminister Oskar Helmer [SPÖ]« sei gegen Hilde Krones und ihre Gruppe (um die Zeitschrift Kämpfer) »wegen angeblicher ideologischer Nähe zur KPÖ eine persönliche Diffamierungskampagne betrieben« worden. Doris Ingrisch** hebt auch den Chefredakteur der sozialdemokratischen Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak hervor, über den anscheinend so manche verleumderischen Angriffe gegen die Opposition liefen. Krones‘ Mitstreiter Erwin Scharf wurde Anfang 1948 sogar aus seinem Amt im Parteisekretariat entfernt. Er hatte sich öffentlich gegen den Schmusekurs der SPÖ verwahrt und ging dann auch bald zur KPÖ. Krones ist zerrissen, ihre Gruppe zerfällt. Auch Ingrisch versichert, die kapitalfreundlichen SPÖ-Bosse hätten damals »Gerüchte in Umlauf gesetzt, die schließlich bis zum Rufmord reichten« und damit Krones politische Ehrbarkeit in Frage stellten. Mitte Dezember 1948 wunderten sich Freunde von Krones darüber, sie schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen zu haben, und suchten deren Wohnung auf. Die Wohnung war eiskalt. Die 38jährige lag bewußtlos in ihrem Bett. Im Krankenhaus starb sie. Die Ärzte sprachen von Schlafmittelvergiftung und Lungenentzündung. Ein Abschiedsbrief wurde, laut Ingrisch, nicht gefunden.
~~~ Einen gewissen Franz Krones habe ich bislang vernachlässigt – das ist der Einfluß des befremdlichen Eintrages über Hilde Krones bei Wikipedia. Die Ehe der gebürtigen Hilde Handl kommt dort nicht vor. Sie hatte sich 1939 mit dem Ingenieur für Elektrotechnik und Gesinnungsgenossen Franz Krones verheiratet. Er wird bald einberufen. Laut Briefen liebt und vermißt Hilde ihn glühend, und er kehrt sogar schon 1945 aus der Gefangenschaft heim – um nun den Rivalen und Genossen Erwin Scharf zu ertragen. Hilde hat sich in ihn verliebt. Franz bemüht sich um Toleranz. Auch Scharf ist nebenbei verheiratet, zwei Kinder. Wie es aussieht, übt er sich in Vorsicht; vielleicht ist er auch der übliche Spröde. Hilde macht sich hübsch für ihn, versichert: »Ich bin kein Liebchen, das man verstecken kann.« Aber inzwischen ist Scharf auch mit dem Schmutz der SPÖ-Bosse beworfen worden und gilt als Aussätziger, den man folglich zu meiden hat. Die Zerrissenheit von Hilde Krones erwähnte ich bereits.
~~~ Kommunist Erwin Scharf wurde noch alt. Dagegen sind von Franz Krones im ganzen Internet noch nicht einmal die Lebensdaten zu bekommen. Dabei war Franz ein wichtiger linker Aktivist gewesen. Als Mitarbeiter des Blattes Informationsdienst der SPÖ und Bildungsobmann im Wiener Stadtbezirk Ottakring stand er der oppositionellen Gruppe um seine Ehefrau nahe. Als der ID im Herbst 1946, wohl von rechts her, eingestellt wurde, verlor die Opposition eine wertvolle Plattform. Aber von Franzens Verbleib (nach dem Selbstmord) erfährt man nichts mehr. Ein »altlinker« Freund aus Wien teilt mir immerhin auf Anfrage mit, nach seinen Erkundigungen war Hildes Gatte Franz, als Ingenieur, bei der Wiener Stadtverwaltung angestellt. Nach dem Krieg habe er dort noch Karriere gemacht. Jede politische Betätigung habe er sich spätestens ab 1950 verkniffen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 21, Mai 2024
* http://www.dasrotewien.at/seite/krones-hilde-geb-handl, o. J.
** Doris Ingrisch, »Ohne Kompromiß«, in: Die Partei hat mich nie enttäuscht … Österreichische Sozialdemokratinnen, Hrsg. Edith Prost, Wien 1989, S. 288–338
Über den englischen Arzt, Philosophen und oft zitierten Schriftsteller Bernard de Mandeville (1670–1733) teilt uns Brockhaus abschließend mit: »Seine These, daß durch Zusammenspiel egoistischer Einzelinteressen ein höchster Gesamtnutzen erzielbar sei, wurde beispielhaft für die klassische Schule der Nationalökonomie.« Damit ahnen wir zweierlei. 1.) Sein schon mehrmals beklagtes daß-Virus wird unser Universallexikon nicht so schnell los. Warum läßt es daß nicht einfach weg und rückt dafür sei hinter das Wort »Einzelinteressen«? Weil es verseucht ist – ein Fall für Mandeville als Arzt. 2.) Liegt schon mit dem einen Satz die entscheidende Kritik am Politökonomen Mandeville auf der Hand. Sie lautet, hinter solchen hochtrabenden Formeln wie »Gesamtnutzen« oder »Wohl des Staates« oder »Gemeinwohl« versteckten sich natürlich nur die grinsenden Visagen der Kapitalisten und ihrer Marionetten in den Regierungen und Parteien.
~~~ Wer das etwas mehr ausgeführt haben möchte, schlage einmal im Schwarzbuch Kapitalismus des neulich verstorbenen Autors Robert Kurz nach, Ausgabe Ffm 1999, S. 46–52. Kurz nimmt sich vor allem Mandevilles berühmte Bienenfabel vor, die einen geradezu »ätzenden Zynismus« atme. Man frage sich deshalb mitunter bis heute, ob er mit seiner brutalen Apologie der »Marktwirtschaft« nicht in Wahrheit eine »grimmige Satire« auf dieselbe vorzulegen gedachte. Aber diese Zwiedeutigkeit stecke wohl in der Natur der Sache. Danach könne jede offene, ungeschminkte Rechtfertigung dieses Gesellschaftssystems auch als vernichtende Kritik gelesen werden. Da ist etwas dran. Deshalb hüten sich ja unsere im Berliner Regierungsviertel malochenden rotgrüngelben Staatsdrohnen davor, in ihren Reden und Gesetzentwürfen auch nur ein Wort Klartext zu sprechen. Politik hat sich überlebt. Der Spätkapitalismus kann in seiner Elite nur noch emsige PR-ArbeiterInnen gebrauchen. Überredungskunst ist gefragt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 24, Juni 2024
Für Brockhaus war Emiliano Zapata (1879–1919) ein bedeutender Bauernführer in der mexikanischen Revolution. Er sei »ermordet« worden. Hier könnte sich der Einfaltspinsel allerdings fragen: wenn er Umstürzler und Partisanenchef war, ist er ja wohl kaum mit Samthandschuhen vorgegangen. Wie kann man sich da wundern, wenn er seinerseits gewaltsam aus dem Verkehr gezogen worden ist?
~~~ Ich hoffe, es läßt sich ohne Blauäugigkeit feststellen, ein guter Partisan sei gewiß ein ausgefuchster Fallensteller, aber selten heimtückisch. Deshalb, so nehme ich an, fehlte Zapata die Nase für die Falle, die man ihm selber stellte. Seine Truppen, die vornehmlich aus besitzlosen Landarbeitern bestanden, operierten im Süden Mexikos, während Pancho Villa die Aufständischen im Norden führte. Durch ein Bündnis zwischen Villa und Zapata gelang es 1914, den neuen »Präsidenten« Oberst Victoriano Huerta zu stürzen. Die üblichen Streitigkeiten unter den revolutionären Truppen, die unter dem Oberbefehl Venustiano Carranzas standen, blieben freilich nicht aus. Was Carranza persönlich angeht, verlangte es ihn seinerseits nach dem Sessel des Präsidenten. Gegen Villa konnten sich seine Truppen dank des strategischen Geschicks des Ranchers Alvaro Obregóns auch durchsetzen; Zapata dagegen sperrte sich und kämpfte mit seinen Leuten im Süden weiter. So griff Carranza zur erwähnten Heimtücke. Sein Oberst Jesús Guajardo gab vor, er wünsche zu den Zapatisten überzulaufen, weshalb er ihren Chef bitte, ihn am 10. April 1919 auf seiner Hacienda San Juan aufzusuchen. Die lag bei Chinameca, Morelos. Als der 39jährige Zapata erschien, wurde er von Guajardos Leuten mit einem Kugelhagel empfangen und regelrecht durchsiebt. Man schaffte die Leiche nach Cuautla und stellte sie dort öffentlich aus. Zapatas AnhängerInnen konnten sich ein Jahr darauf trösten, als Carranza im Machtkampf gegen Alvaro Obregón den Kürzeren zog und seinerseits ermordet wurde. Nun ging der Präsidentensessel an Obregón. Im ganzen forderte die mexikanische »Revolution« mindestens 350.000 Tote, von den Verletzten und Geflüchteten zu schweigen. Man sehe sich nun das heutige Mexiko an, dann weiß man, wofür die 350.000 gestorben sind.
~~~ Einige Internetquellen betonen Zapatas tiefes Mißtrauen gegen PolitikerInnen aller Art. Der Spiegel behauptet gar, für den Bauernführer seien PolitikerInnen »ein Haufen Bastarde« gewesen. Die Berechtigung dieser Abneigung hat sich, von jenem Hinterhalt gegen Zapata selber einmal ganz abgesehen, in den vergangenen 100 Jahren jede Wette zehntausendfach, ja millionenfach erwiesen. Nur bis zum DDR-Schriftsteller Armin Müller, eigentlich kein Betonkopf, war die Kunde 1987 immer noch nicht durchgedrungen. Für ihn ist das anscheinend neu, wie sein Tagebuch nahelegt.* Seit der Affäre um Uwe Barschel und verschiedenen verlogenen »Ehrenwort«-Auftritten glaube den Politikern so gut wie kein Mensch mehr. »Politiker, das droht ein Schimpfwort zu werden.« Eine Anspielung auf seine eigenen PolitikerInnen aus dem Stall SED verkniff er sich an dieser Stelle. Und er behielt leider auch Unrecht. 2024 mögen ein paar tausend mehr Leute auf PolitikerInnen schimpfen – aber sie wählen sie trotzdem, sie lassen sie schön gewähren. Es ist bequemer so.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
* Armin Müller, Ich sag dir den Sommer ins Ohr, Rudolstadt 1989, S. 338
Siehe auch → Anarchismus, Sullivan (USA) → Automobilisierung, Fischer (Stadtchefin) → Broda Christian (Politiker) → Corona, Selbstkritik → Demokratie → Kelly Petra (Grüne) → Lüge → Band 5 Folgen eines Skiunfalls (u.a. Manifest)
Polstern
Vom britischen Kunsttischler Thomas Chippendale (1718–79) sehen wir, fotografiert, einen Armlehnstuhl, der vor allem durch seinen farbenfrohen, geblümten Bezug besticht. Wenn einer darin Platz nähme, wäre die Wirkung dieses laut Brockhaus »gewirkten« Bezuges natürlich aufgehoben. Steckte er überdies in einem geblümten Kleid von anderer Farbgebung, käme es womöglich zu einem Gemetzel, weil sich die beiden Stoffe bissen. Aber in den meisten Fällen von Sitzmöbeln, die sich Entwürfen prominenter Hand verdanken, ist sowieso nicht daran gedacht, sie zum Sitzen zu benutzen. Sie sollen bestaunt werden: weil sie eben aus dem Hause Chippendale oder aus dem Bauhaus stammen. Nimmt man trotzdem einmal für länger darin Platz, steht man mit Rückenschmerzen wieder auf. Bei dem fotografierten Armlehnstuhl zum Beispiel fehlt im stumpfen Winkel zwischen Sitzfläche und Rückenlehne jede Andeutung einer nierenschonenden Vorwölbung. Aber Chippendale war eben Tischler, kein Orthopäde.
~~~ Von diesem Gesichtspunkt des Eindruckschindens einmal abgesehen, kennt man das Mobiliar als Thermometer, das Besuchern den Charakter des jeweiligen Möblierten verrät. So läßt sich die betrübliche Verfassung mancher anarchistischen Kommune bereits am Zustand ihrer Stühle und Polstermöbel ablesen. Jeder Stuhl wackelt; aus jedem zweiten Sessel quellen Innereien; nehmen drei Leute gleichzeitig auf einem Sofa Platz, sind sie in der Staubwolke nicht mehr zu sehen. Als Wracks vom Sperrmüll gekommen, kümmern diese Sitzmöbel gerade noch so viele Jahre vor sich hin, wie die anarchistische Kommune hält. Vor rund 20 Jahren, als ich selber verschiedenen Kommunen angehörte, war ich eine Zeitlang bemüht, aus ähnlichen Objekten, die ich sorgfältig instandsetzte und einheitlich bezog, Sitz- oder Tischgruppen zu schaffen, doch es dauerte nicht lang, bis sie in alle Winde oder Zimmer verstreut waren. Ich mußte meiner Berufsehre verbieten, sich gekränkt zu fühlen.
~~~ Nebenbei bemerkt, war meine späte Berufswahl ohnehin nur eine Notlösung gewesen. Als abgedanktes Künstlermodell um 1990 nach Kassel heimgekehrt, lag ich teils meiner Mutter auf der Tasche, teils trug ich Zeitungen aus. Dann schlug mir ein Freund vor, irgendeine vom Arbeitsamt geförderte Umschulung zu beantragen. Da im Berufsbildungszentrum der Handwerkskammer gerade jemand abgesprungen war, der den Gesellenbrief als Raumausstatter angestrebt hatte, sprang ich dort ein. Und siehe da – Teppichböden, Tapeten und Gardinen interessierten mich nicht sonderlich, doch dem Polstern konnte ich auf Anhieb Liebreiz abgewinnen. Es war ein sinnliches Vergnügen, das den vielseitigen und ästhetisch gestimmten Menschen herausfordert. Meine Ausbilder oder späteren Chefs hielten mich sogar für bemerkenswert begabt und förderten mich entsprechend. Das muß ich ihnen also lassen, obwohl wir ansonsten leicht aneinander gerieten und uns um 2000 endgültig entzweiten. Das Handwerk ist eine, die Befehlsgewalt eine andere Sache.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024
Siehe auch → Handwerk, Polstern
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