Samstag, 11. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 28
Natur – Ohrfeige

Natur

Kann ich die Leute sogar mit der »Inszenierung einer Pandemie« (Gerd Reuther) oder wenigstens mit einer als Impfstoff getarnten Giftkloake verarschen, spricht nichts dagegen, wenn ich auch in der Vogelkunde zu »Mogelpak-kungen« greife. Der tschechische Lehrer und Ornithologe Josef Prokop Pražák (1870–1904), vor allem in Wien und Prag tätig, brüstete sich in fachwissenschaftlichen Veröffentlichungen mit so mancher »Entdeckung«, etwa »Unterarten« von Hauben- oder Sumpfmeisen, die sich nach und nach als betrügerisch oder jedenfalls fragwürdig herausstellte. Wer es bezweifelt, kann sich per Internet Jiří Mlíkovskýs Aufsatz Faunistic work of an ornithological swindler von 2012 besorgen. Als Pražáks Ruf ruiniert war, verkroch er sich, wohl mitsamt einer Ehefrau, in seinem Heimatstädtchen Hořiněves (bei Hradec Králové, auch: Königgrätz), wo er zunehmend der Verwirrung, dann auch der Tuberkulose anheim gefallen sein soll. Einem Nachruf* des deutschen Pfarrers und Biologen Otto Kleinschmidt zufolge hatte dem 34jährigen die wissenschaftliche Ehre offensichtlich so wenig bedeutet, daß er nie auch nur einen Versuch unternahm, sie zu retten. Er habe auch nicht aus Gewinnsucht hochgestapelt. Vielmehr habe er ja sogar sich selbst getäuscht; das sei einfach »angeboren«, ein Grundzug seines Charakters gewesen. Ich nehme an, hier ist gemeint: sich Blütenträumen hinzugeben.
~~~ Um die Pražáksche Prahlerei unverzüglich aufzugreifen: Das von mir mitbewohnte, überwiegend verwilderte Waltershäuser Stadtrandgrundstück ist keineswegs vogelarm. Selbst der Grünspecht zählt hier zu den Stammgästen – und seit einigen Frühjahren beglückt uns sogar der Wendehals mit seinem Brutgesang. Es handelt sich um eine hohe und etwas jämmerlich klingende eintönige Rufreihe, die wie aus dem Ried gepumpt wirkt. Dabei ist der Wendehals ein eher winziger Specht. Der Laie würde ihn vielleicht für eine magere Singdrossel halten. Aber er bekommt ihn sowieso, wie auch ich, nie zu Gesicht, da der Vogel ausgesprochen unauffällig, ja geradezu tarnfarbig gekleidet ist. Wer Vogelkunde mit stumpfem Gehör betreiben wollte, sollte es lieber bleiben lassen. Die Gesänge und Rufe sind das A & O der Angewandten Ornithologie. Selbstverständlich fühlt sich jeder Vogelfreund geehrt und geschmeichelt, wenn sich ein derart seltener und anspruchsvoller Ameisenjäger und Metaphernlieferant (DDR!) wie der Wendehals in seinem Winkel niederläßt. Als hätten sich Arthur Miller, der US-Schriftsteller, und dessen zweite Gattin bei ihm um einen Untermietvertrag beworben. Die Gattin hieß Marilyn Monroe.
~~~ Wer lieber Kafka liest, wird noch nicht einmal einem Spatzen begegnen. Das gleiche gilt für Bäume oder Bäche. Kommt mal ein Zirkuspferd vor, ist es schon viel. Den von Steinen ummauerten Menschenzirkus behandelt er – und seine Prosa ist auch so kalt wie Stein. In seinem Roman Das Schloß ist dieser Menschenzirkus derart vollgestopft, daß keiner mehr durchblickt, die LeserInnen eingeschlossen. Bei Kafka gibt es kein Mitleid, weil dies aus der Erde kommt. Ungeerdete Menschen sind unbarmherzige Egoisten. Kafka war einer; man lasse sich von seiner Verzagtheit nicht täuschen.
~~~ Bei allen ernst zu nehmenden Schriftstellern ist die Prosa in Natur gebettet. Dabei haben sie oft ihre Vorlieben = Schwächen, durch die sie noch einmal menschlicher werden. Hölderlin ist in Bäume, D. H. Lawrence in Blumen, Orwell in Schmetterlinge, Marlen Haushofer in Haustiere, F. G. Jünger in Gewässer, Welskopf-Henrich in die Prärie, Robert Gernhardt in Vögel vernarrt gewesen. Um 2000 hievte er einmal meine frühe Meditation über das Aktmodell »Die Kunst des Wartens« in den Züricher Raben, und später schickte er mir unaufgefordert eine ausführliche Betrachtung über den Kuckuck. Leider ist dieser bekannte Hochstapler oder Nestbetrüger – der Kuckuck, nicht Gernhardt – in meiner Gegend nur noch spärlich zu hören. Mit dem Kuckucksruf weichen Bezauberung und Ergriffenheit. Vielleicht das übliche Schicksal des Alterns.
~~~ Bedenkt man es etwas gründlicher, ist die Naturverbundenheit so vieler SchriftstellerInnen eher seltsam. Von Hause aus sind sie doch stets auf Ordnung erpicht, während zum Beispiel das Vogelreich einem Tollhaus gleicht. Der kunterbunte Buchfink bringt die immergleiche öde Leier – er wirft sie vom Baum herab und verlangt abschließend selbstgefällig nach einem »Gewürzbier« oder auch »Würzgebier«. Kaum ein Vogel ist so unscheinbar gefärbt wie der winzige Fitis, doch seine abfallende Wehklage zerreißt uns das Herz. Dabei hat sie um ein Haar die Struktur des Buchfinkenschlages. Für alle von blinden Systematikern und tauben Musiklehrern irregeleiteten Laien beläuft sich Vogelgesang auf Amsel, Drossel, Fink und Star. Schon der Star ist freilich eher ein Schwätzer und Knirscher. Würgt sich gar der Hausrotschwanz bei seinem Liedvortrag ein röchelndes Rasseln ab, könnte man in der Tat Lust bekommen, diese Drossel zu erdrosseln. Der Grauspecht zieht eine klangvolle Klage vor, die jeden Finkenschwarm blaß werden läßt. Dafür pflegt der mächtige »Singvogel« Kolkrabe, dem Christen eine Vorliebe für Lammfleisch angedichtet haben, wie eine dänische Dogge zu bellen, während er durch die Senke zu seinem Horst auf den Eichen rudert. Plötzlich entzückt er uns allerdings durch Glockenklang, weil er die Kirche nicht im Dorf gelassen hat. Der als »Schnepfe« verunglimpfte und entsprechend fast ausgerottete Große Brachvogel singt betörend. Sein anschwellender Flötenruf rollt aus den Maulwurfsgängen, kitzelt das hohe Riedgras, verschwebt mit dem Duft des Mädesüß über den Weschnitz-Deichen, wo der dornige Hauhechel die Schafe als die erbärmlichsten Rufer des Tierreiches piekt. Ob Schwarzspecht, Krickente, Turteltaube, die vielfältige Klangfülle im Vogelreich ist verblüffend. Barbara von Wulffen hält es deshalb in ihrem Buch Von Nachtigallen und Grasmücken (2001) für absurd zu glauben, dieser ganze Aufwand sei nur für die gegenseitige Benachrichtigung und Identifizierung gut. Für sie singen die Vögel in erster Linie, »um Lebensfreude auszudrücken«.
~~~ Das glaube, wer gern frömmelt. Nach meinen Beobachtungen haben Vögel im allgemeinen ein überwiegend gehetztes Dasein zu führen; ganz bestimmt aber alle »Singvögel« erheblich mehr als Geier oder Adler. Wer David Attenboroughs in jeder Hinsicht großartigen Wälzer The Life of Birds (deutsch 1999) studiert, könnte sogar argwöhnen, mit der Natur überhaupt vor einem militärisch-industriellen Komplex des möglichst durchtriebenen gegenseitigen Auffressens zu stehen. Unser Schlag hat ja ebenfalls seine Lieder, Opern, Märsche – eben Schlager. Nur an der Marschordnung fehlt es im Vogelreich. Der farbenfrohe Kleinspecht ist ein Zwerg, von dem der Turmfalke 20 Exemplare auf einmal verspeisen könnte. Doch beider triumphale »Kikiki«-Reihen lassen sich selbst von vielen Ornithologen nur anhand der Lautstärke unterscheiden. Für den Laien singen sie völlig gleich. Schluchzt am hellichten Tage ein Gebüsch, bückt sich der Laie, um vielleicht ein verirrtes Kind aufzulesen. Aber es war die Nachtigall. Dafür schreckt er um Mitternacht auf, weil in Nachbars Schuppen der Hahn kräht.
~~~ Kurz und schlecht, von so etwas wie Logik, System, Ordnung ist in der Natur kein Schimmer zu entdecken. Die sogenannte Sumpfschafgarbe blüht edler als eine Margerite; in unseren Wäldern mischen sich die Laub- und Nadelbäume nach Belieben. Die Natur stellt ein Chaos dar. Vielleicht ist sie dem geplagten Schriftsteller deshalb eine willkommene Erholung. In seinen Texten muß immer alles stimmen; in der Natur stimmt nichts. In ihr folgt noch nicht einmal das Fressen und Gefressenwerden harmonischen Regeln. Um 1800 fürchtet Lichtenberg**, die Welt verdanke sich einem Dilettanten. »Warum sollte es nicht Stufen von Geistern bis zu Gott hinauf geben und unsere Welt das Werk von einem sein können, der die Sache noch nicht recht verstand, ein Versuch? Ich meine unser Sonnensystem oder unser ganzer Nebelstern, der mit der Milchstraße aufhört. Vielleicht sind die Nebelsterne, die Herschel gesehen hat, nichts als eingelieferte Probestücke oder solche, an denen noch gearbeitet wird …«

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* in der Zeitschrift Falco, Halle a. S., Jahrg. 1905, Heft 1 Oktober 1905
** Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, Hrsg. Max Rychner, Zürich 1958, S. 484



Nacht / Schnee / Nester --- Es wäre gelogen, die Nacht als meine Freundin zu bezeichnen. Eher fürchte ich sie. Alle Gefahren oder Belästigungen, die einem bereits am Tage drohen, bläst sie, weil man nicht darauf gefaßt ist und nach dem Aufschrecken nichts sieht, zu dreifacher Stärke auf. Faule Äpfel oder morsche Äste, die aufs Dach fallen, kommen nachts Bombeneinschlägen gleich. Mücken, die tagsüber im Spalt zwischen Zimmerwand und Kleiderschrank schlummern oder auf neue Heldentaten sinnen, verwandeln sich gegen den zweibeinigen, wunderbare Verheißungen ausdünstenden Schläfer zu lanzenschwingenden Ungeheuern. Gestapo oder Kripo erscheinen vor dem Morgengrauen. Schlaftrunken, wie man dann ist, verplappert man sich jede Wette. Hat man Glück, entreißen sie uns den übelsten, uns quälenden Träumen, die sich gleichfalls stets ungebeten einstellen. Kommen die Häscher nicht, bleibt dafür der Schlaf aus. Das Grübeln, Warten, Bangen zermartern den Schlaflosen, als hinge er bei den Apachen am Pfahl. Dabei kann er jederzeit aufstehen! Aber es nützt nichts. Man preßt sich das Frühstücksmarmeladenbrötchen in den Schlund und hockt wie ein Schluck Wasser vor dem hochgefahrenen Computer. Der kennt solche Sorgen nicht. Er empfängt und erteilt Befehle, gleichgültig, ob überm Häuschen der Mond oder die Sonne steht.
~~~~~~ Mit dem Schnee sieht es schon anders aus. Ich erlaube mir, auf meine Erzählung Schnee von gestern zurück zu greifen. Gewiß hat der Gudensberger Zeitungszusteller Bott den Schnee in der Frühe noch verflucht. Als er jedoch nach dem Frühstück Richtung Bahnhof zum Snookersalon Zugball stapft, stimmt er fast eine Hymne an. »Selbstverständlich war der lange vermißte Schnee eine Wohltat. Wieviele Übel wurden doch von solchem Schnee verhüllt, gedämpft oder abgemildert! Die Autos können nur noch kriechen. Das Grinsen der PolitikerInnen auf den Wahlplakaten gefriert. Schneebedeckte Hausdächer spiegeln harmonische Ehen vor. Mülldeponien nehmen den Charme der Alpen an. Wie schön mußte es jetzt an der Ems sein, wo der Schnee ebenfalls allen Unrat verbarg und das Eis die Mär vom Brückenschlag zwischen West- und Ostdeutschland bekräftigte, bevor man einbrach. Während die fuchsroten Ruten der Kopfweiden in der Sonne leuchten, stolziert eine Krähe über die verschneiten Ackerschollen. Astrids kastanienbrauner Schopf erglänzt, weil sie sich bückt, um ihren Geliebten mit einem Schneeball zu empfangen …«
~~~ Dabei hat er noch nicht einmal das Vergnügen gestreift, das der Schnee für die kurzbeinigen BewohnerInnen des Städtchens bereit hält, für die kreischenden Schlitten-, Plastikscheiben- oder HosenbodenfahrerInnen. Selbstverständlich wissen es auch manche Langbeinigen zu schätzen. Friedrich Georg Jünger, gestorben 1977, hebt in einem dicken, nachgelassenen Roman den Gesichtspunkt der Frische hervor. »In der Nacht hatte es geschneit. Der Winter kam. Heinrich March stand am Fenster und sah auf die weißen Flocken hin, die durch die graue Luft tanzten. Schnee, vor allem der erste Schnee, der im Jahr fällt, überrascht das Auge und stimmt heiter. Er ist neu. Und er ist in Bewegung, das Auge genießt die Bewegung, folgt ihr und verliert sich in ihr. Es ist auch so, dachte er, daß der Schnee etwas hinwegnimmt, Gewicht hinwegnimmt, die Dinge leicht macht. Das macht auch uns leicht. Er spürte die Leichtigkeit seiner Kinderjahre im Schnee. Damals hatte er, das Gesicht ans Fenster gepreßt, unruhevoll in den kahlen Garten hinausgesehen und geprüft, ob die Flocken auch dicht und stark genug fielen …«
~~~ Zu den kostbarsten Werken deutschsprachiger Literatur überhaupt dürfte das folgende Gedicht von Leopold Friedrich Günther von Goeckingk (1748–1828) zählen. Da kann man Rilke oder Hacks wirklich vergessen.

Als der erste Schnee fiel

Gleich einem König, der in seine Staaten
Zurück als Sieger kehrt, empfängt ein Jubel dich!
Der Knabe balgt um deine Flocken sich,
Wie bei der Krönung um Dukaten.

Selbst mir, obschon ein Mädchen, und der Rute
Lang' nicht mehr untertan, bist du ein lieber Gast;
Denn siehst du nicht, seit du die Erde hast
So weich belegt, wie ich mich spute?

Zu fahren, ohne Segel, ohne Räder,
Auf einer Muschel hin durch deinen weißen Flor,
So sanft, und doch so leicht, so schnell wie vor
Dem Westwind eine Flaumenfeder.

Aus allen Fenstern und allen Türen
Sieht mir der bleiche Neid aus hohlen Augen nach;
Selbst die Matrone wird ein leises Ach
Und einen Wunsch um mich verlieren.

Denn der, um den wir Mädchen oft uns stritten,
Wird hinter mir, so schlank wie eine Tanne, stehn,
Und sonst auf nichts mit seinen Augen sehn,
Als auf das Mädchen in dem Schlitten.

~~~~~~ Gehölze sind die Zwerge unter den Wäldern. Oft stehen sie für sich im Land und verblüffen dabei durch reizvolle Gestalten oder doch wenigstens Umrisse. Zuweilen ähneln sie von fernher Walmdächern. In der Tat, sie bieten gerne Schutz. Dachs, Feldhase und Pirol benutzen sie als mietfreie Verstecke. Werden diese Tiere von der einen Seite her bedrängt, schlüpfen sie kurzerhand auf der anderen hinaus. Auch manchen Zweibeiner locken die Gehölze als Nester, in denen sich Behagen und Schadenfreude finden lassen. Der Verborgene kann das ringsum ackernde Volk beobachten, ohne Belästigung fürchten zu müssen, weil ihn keiner sieht. Ein Häuschen in einem Gehölz wäre das Paradies auf Erden. Falls der Sturm darauf verzichten würde, es durch einen Baumstamm zu zertrümmern.
~~~ Da es in der Natur der Sache liegt, daß in ein Gehölz nicht Mietskasernen oder viele Häuschen passen, sind sie etwas für EigenbrötlerInnen. Wer auf Gesellschaft aus ist, muß sich eben an die Wälder halten. Die sind aber schon oft gepriesen worden, weshalb ich ersatzweise bestimmte, meist schon vor längerer Zeit geschaffene Häuserfluchten heranziehen will. Achten Sie einmal darauf. An etlichen Marktplätzen oder Uferstraßen von Hafenstädten finden Sie Häuserzeilen, die vollkommen wirken, obwohl an ihnen nichts regelmäßig ist. Kein Haus ähnelt dem Nachbarhaus. Die Giebel, Dächer, Vorsprünge oder Nischen, Hausbreiten und selbst die Traufhöhen sind bewegter als das aufgewühlte Meer. Trotzdem nehmen uns diese Fluchten durch den Eindruck der Geschlossenheit und Notwendigkeit für sich ein. Sie bilden ein Ganzes, in das man sich am liebsten sofort einreihen würde. Sie verkörpern das ideale Gemeinwesen. Wie es hinter den Fassaden aussieht, steht freilich auf einem anderen Blatt. Vermutlich quellen da Öde, Mißgunst und Streit aus allen Ritzen, wie überall.
~~~ Ich erwähnte den Pirol. Er lebt ziemlich heimlich, weil er gar zu gelb gefärbt ist: man könnte ihn für eine Zitrone oder einen Zapfen aus reinem Gold halten und unverzüglich von den Ästen schießen. Sein orgelnder, etwas verquollen wirkender Flötenton ist vielleicht bekannt. Wird er jedoch überrascht und verunsichert, bringt er nur ein erbärmliches »räh-räh« hervor, das jeder zweite Laie mit dem Alarm des Eichelhähers verwechseln dürfte. Allerdings kreischt der Pirol, bei uns, nur im Sommer, da er Zugvogel ist. Ja, seine afrikanischen Winterquartiere wären jetzt gar nicht so übel, wenn dort nicht dauernd Krieg und Hunger und Betrug herrschten. Aus den Nato-Ländern eingeführt.

∞ Verfaßt Dezember 2023


Der liebe »O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter« ist in der Regel eine Fichte. Nebenbei hat er auch keine Blätter. Die Verwechslung von allerlei Nadelbäumen mit Tannen ist leider ungleich verbreiteter als die Tanne selbst. Die bei uns heimische Weißtanne versteckt sich meist in Gebirgswäldern. Sie kann sehr hoch, dick und alt werden – sofern sie nicht vom bereits Brockhaus bekannten Tannensterben ereilt wird. Von der Fichte ist sie auf Anhieb sicher durch ihre aufrecht stehenden Zapfen und die stumpfen, weißgestreiften Nadeln unterscheidbar. Zerrieben, duften die Nadeln ausgesprochen würzig. Auch das Holz dieser Tanne ist nahezu weiß, zudem weich.
~~~ Zwar ist der bräunlich gefiederte Vogel Tannenhäher witzig weißgesprenkelt, aber auch vor ihm hat die Verwechslungslust nicht Halt gemacht. Man trifft ihn meist in Fichtenbeständen an. Im Englischen heißt er »Nutcracker«, weil er gerne Haselnüsse verspeist. In den Alpen hält er sich vorwiegend an die Früchte der Zirbelkiefer, auch Arve genannt. Spaziere ich durch den nahen Thüringer Wald, rattert mir der schräge Vogel von irgendeinem Fichtenwipfel aus jede Wette sein merkwürdiges Schnarren entgegen, weil er mich für einen Unhold oder wenigstens einen Waldschänder hält. Dieses maschinenartige, recht schrille Schnarren ist seine häufigste und auffälligste Lautäußerung.
~~~ Um den geschändeten Wald geht es gerade auch in einem Artikel* Gerd Reuthers, der von Hause aus eigentlich Arzt, kein Förster ist. Aber eine unparteiliche Ursachenforschung findet so gut wie nicht mehr statt, beklagt Reuther. Schließlich hat man inzwischen den angeblich globalen »Klimawandel« als Hauptbösewicht, daneben verschiedene Käfer als Schädlinge ausgemacht. Jenes Gespenst kann man nicht; diese, die Käfer, darf man jedoch (als Naturfreund) nicht bekämpfen. Also geht es den Opfern selber an den Kragen, den kranken Bäumen. Sie werden kurzerhand großflächig abgeholzt, so auch schon im Thüringer Wald. Was dabei nahezu ausgeklam-mert wird, sind die vielfältigsten, regional unterschiedlich auftretenden Umweltgifte, die wir dem nachhaltigen Treiben des »militärisch-industriellen Komplexes« verdanken, wie General Dwight D. Eisenhower ihn einst taufte. Das hatte er erstaunlicherweise sogar als Warnung vor diesem Gebilde verstanden. Lassen Sie die bunte deutsche »Parteimaschine« noch zwei oder drei Jahrzehnte emsig sein, dann sieht es hier aus wie in vielen Mittelmeerländern: waldlos.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 36, September 2024
* Gerd Reuther, https://www.manova.news/artikel/die-suizidale-natur, 24. August 2024



Kürzlich erwähnte ich meine Straffung von Remarques Lissabon-Roman. Darin schmuggelte ich ein weißes Wiesel ein, auch Hermelin genannt. Ich hatte es einmal auf meinem verschneiten Brennholzstoß erspäht. Nur die Schwanzspitze war dunkel gefärbt – deshalb sah ich es. Ein kleiner Schönheitsfehler meines Einbaus könnte allerdings die Jahreszeit sein, Frühherbst. Denn laut Internet wechselt das Hermelin frühstens im November zu seinem Winterkleid. Bis dahin ist es lediglich unterseits weiß, sonst braun gefärbt. Die fragliche verwaiste Landvilla lag in Südfrankreich:
~~~ >Für vier Tage blieben sie völlig allein. Sie streiften viel in dem Obstgarten und dem kleinen Park umher, der auf der anderen Seite der Villa angelegt worden war. Einige hohe Buchen, Linden, Eschen hatten sicherlich schon 150 oder 250 Jahre auf dem Buckel. Ihr Laub war bereits gelb oder rot. Es gab sogar eine Sonnenuhr und einen Teich. An diesem überraschten sie einmal ein weißes Wiesel. Es machte erschrocken Männchen und beäugte sie wahrscheinlich mit einiger Verwunderung.
~~~ »Dich würde ich gern mal auf den Arm nehmen und ein bißchen streicheln«, erklärte Helen dem schönen, schlanken Raubtierchen.
~~~ »Lieber nicht«, grinste Schwarz. »Es bisse dir gleich einen Finger ab.«
~~~ Während das weiße Wiesel buckelnd das Weite suchte, dachte Helen nach. Sie schüttelte ihren Kopf. »Man sollte die Natur nicht schlechter machen, als sie ist. Natürlich stellt sie kein Deckchensticken dar. Ihr Motto lautet 'Fressen oder gefressen werden!' Aber dieses Motto hat weder einen politischen noch einen persönlichen Zug. Die Natur will nicht herrschen, quälen, Rache nehmen wie etwa Georg, mein liebes Bruderherz. Sie benötigt keine Pässe, keine Arierausweise und keine sogenannten Sieger-Urkunden. Sie gibt ohne Dankbarkeit oder Schmeichelei zu erwarten, und sie nimmt ohne Bösartigkeit. Stimmst du mir zu?«
~~~ Schwarz tat es. Später fiel ihm ein, die Bösartigkeit sei vielleicht der Preis für die Liebe. Er hatte noch von keinem Wiesel gehört, daß empfunden hätte, was er für Helen empfand. Schlimm wurde es, wenn sich beide Bestrebungen in derselben Person verquickten. Leider kein seltener Fall. Diese Überlegung behielt er freilich für sich.<

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 39, Oktober 2024

Siehe auch → Jagd → Mücken → Rüsselzwergfledermaus → Schlangen → Ziegen → Band 5 Vor der Natur (Miniaturen) → Zwerglied himmel und erde (mp3, 940 KB) , solo aufgenommen 2012




Für Brockhaus sind die realistischen, anschaulich geschriebenen, vielgelesenen Romane und Erzählungen Božena Němcovás (1820–62) zumindest teilweise »romantisch-sentimental«, daneben patriotisch gefärbt. Auf einem beigefügten Porträtfoto wirkt die schmallippige Autorin unter ihrer strengen, kunstlosen Frisur ziemlich verhärmt. Aber das Internet kennt auch andere Abbildungen, die mal an eine Prinzessin, mal an eine feurige Zigeunerin denken lassen. Und eigentlich geht es ja nicht um die Autorin, vielmehr ihre Werke. Diesbezüglich macht Radio Prag Němcovás patriotischer Neigung alle Ehre.* Sie sei die bedeutenste und berühmteste tschechische Schriftstellerin überhaupt. Vor allem habe sie »die schöne tschechische Prosa näher an die gesprochene Sprache« gebracht. Wahrscheinlich meint Markéta [»die Perle«] Kachlíková die schöngeistige oder belletristische Prosa. Bei solchem Verdienst kann man wohl auch die »idyllischen und idealisierten« Züge in Kauf nehmen, die etwa Němcovás in 30 Sprachen übersetztes Buch Die Großmutter zeigt.
~~~ Vertue ich mich nicht, war Němcová, Tochter eines Wiener Herrenkutschers, vorwiegend auf dem ostböhmischen Lande bei ihrer Großmutter Magdalena Novotná aufgewachsen. Sie erfuhr eine gewisse Schulbildung, wobei sie anscheinend gern von ihrer deutschen Muttersprache zum Tschechischen überlief. Schon als 17jährige wurde sie leider, wie ich zu sagen wage, dem zwar patriotisch, jedoch nicht sehr fleißig und rücksichtsvoll gestimmten Finanzbeamten Josef Němec als Gattin in die Arme geworfen. Er war erheblich älter als sie. Die Zerrüttung dieser Ehe blieb nicht lange aus. Soweit ich sehe, fand Němcová eben im Schreiben eine gewisse Zuflucht. Später, als Alleinstehende in Prag, hatte sie ein schweres Los. Sie hatte drei oder vier Kinder, zudem nicht selten die kaisertreue Polizei am Hals. Auch die Autorenhonorare waren damals mager. Sie soll darunter gelitten haben, Freunde anpumpen zu müssen, sei allerdings im Wirtschaften grundsätzlich ungeschickt gewesen.
~~~ Der Radiobeitrag aus Prag spricht auch von »bürgerlichen« Anfeindungen, weil sich Němcová »Liebesaffären« gegönnt habe. Darüber finde ich nichts Näheres. Laut Deutschlandfunk gehen solche Liebschaften in der Tat aus ihrem umfangreichen, oft gerühmten Briefwechsel hervor.** Allerdings zitiert Stolzmann nur eine erschütternde Klage aus dem November 1861 über ihren meist entfernt lebenden Gatten, mit dem es zahlreiche Versöhnungsversuche gab. >Kaum war er morgens aufgestanden, fing er an zu fluchen, und er fluchte und zeterte, bis er wegging, und es war ihm egal, ob die Magd da war oder der Diener. Wenn er in der Administration gefragt wurde, warum ich nichts schreibe, sagte er, die wird ihr Lebtag nichts mehr schreiben, sie ist blöd, gehört ins Irrenhaus. In den Wirtshäusern hat er mich verleumdet. Wenn er nach Hause kam, ging es weiter. »Du Luder, du krepierst eines Tages hinter einem Zaun, auf dich wird man nicht einmal spucken, wenn du wenigstens Zündhölzer verkaufen würdest!« – und so ging es Tag für Tag.<
~~~ Hauspersonal hatte das Ehepaar also immerhin – für mich ein Wermutstropfen. Aber ohnedem hätte es Němcová wohl kaum zu ihren Manuskripten gebracht. Und Briefe mußte sie ja auch noch schreiben. Zwei Monate nach der Niederschrift jenes rückblickenden Briefes, so Stolzmann, sei Němcová, knapp 42 Jahre alt, einer Krebserkrankung erlegen. Ihr Begräbnis gestaltete sich, nach anderen Quellen, als »patriotisches Großereignis«. Dann gingen bei dem sowieso meist abgebrannten Witwer die ersten Anfragen von Übersetzern wegen der Großmutter ein. Das Buch war 1855 veröffentlicht worden.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 27, Juli 2024
* Markéta Kachlíková, https://deutsch.radio.cz/zum-150-todestag-der-bedeutendsten-tschechischen-schriftstellerin-bozena-nemcova-8552254, 4. August 2012
** Uwe Stolzmann, https://www.deutschlandfunkkultur.de/nationale-ikone-100.html, 30. November 2006




Neuigkeit

Lieber KO, mein Enkel hat mich als Spielverderber beschimpft. Er gabelte im Internet zufällig den 1982 veröffentlichten Kinderfilm Bananen-Paul von Richard Claus und Petra Haffter auf, in dem ein ausgerissener Zirkusbär eine ganze Kleinstadt in Panik versetzt, obwohl das Tier ein gutmütiger Bursche ist. Diese Idee fand mein Enkel „toll“ und „originell“ und was nicht noch alles. Die rieb ich mir freilich spontan den Bart und meinte, irgendwie erinnere mich die Idee an ein Glanzstück meiner Kindheit, nämlich an das 1952 erschienene Jugendbuch Der Löwe ist los von Max Kruse. Prompt schlug mein Enkel im Internet nach – und jetzt ist er beleidigt. Hätte ich lieber den Mund halten sollen? Ergebenst Ihr Ludwig D., Traben-Trabach.
~~~ Lieber Herr D., zuweilen macht ja der Ton die Musik. Vielleicht klang Ihr Einwand etwas vorwurfsvoll oder besserwisserisch? Mich erinnert er an den Ex-Scherben-Frontman Rio Reiser, den ich hin und wieder in meinen CD-Player schiebe. Falls Sie es nicht wissen: 1986 rief sich Reiser mit einem Hit, wie sich rasch zeigen sollte, zum König von Deutschland aus. Da rollte die Mark, während ihm Plagiatsvorwürfe erspart blieben, soweit ich weiß. Über Adolphe Adams Komische Oper Wenn ich König wär‘ von 1852 war eben schon einiges Gras gewachsen. Inzwischen sind die Wiederaufbereitungs-Intervalle kürzer geworden. Aber grundsätzlich würde ich das Phänomen nicht verächtlich machen. Sie werden vielleicht wissen, von nichts kommt nichts – wir sind alle nur Varianten. Die Geschlechter und selbst die Weltgeschichte wiederholen sich unablässig. Eher würde ich über jene Leute Hohn ausgießen, die sich um jeden Preis mit »Neuigkeiten« hervortun müssen – im Falle von Produzenten neuer Automodelle selbstverständlich um einen möglichst hohen Preis. Leider gilt das Ganze auch, zu ungefähr 80 Prozent, für jegliche »moderne Kunst«, Literatur eingeschlossen. Jetzt erhoben die Jarrys, Schwabs und Baselitze die Aufgabe zur Norm, von der Norm abzuweichen. Dabei belief sich der Sinn der Aufgabe darauf, Ruhm und Einkommen des Neuerers zu mehren.
~~~ Der vielgefeierte schweizer »Dramatiker« Werner Schwab soff sich übrigens tot, sodaß er (1994) als knapp 36jähriger von uns ging. Mit Marcel Werner – der im Bananen-Paul einen Fotografen spielt – verhielt es sich ähnlich. Er war 1986 schon mit 34 für die trockene Kiste reif. Nebenbei war er ein Sohn von Hanns Lothar. Und wem hatte dieser Vater, außer dem Schauspiel, gefrönt? Richtig, dem Saufen. Lothar starb mit knapp 38. Das soll nicht heißen, ich verträte die vernagelte neo-darwinistische Lehre, der Apfel falle nie weit vom Stamm. Allerdings dürfte kaum ein Apfelbaum aufzutreiben sein, aus dem Billardkugeln oder Marsmännchen fallen. Wenn aber doch, hat sich vermutlich ein Neo-Dadaist einen Scherz erlaubt.

∞ Verfaßt 2023, für Blog-Rubrik Kummerkastenonkel


Liest man die rund 12 Zeilen zum österreichischen Lehrer und Schriftsteller Alfred Kolleritsch (1931–2020), kommt man ins Grübeln darüber, ob man eher an Brockhaus oder eher an Kolleritsch zweifeln soll. Der sogenannte Talent-förderer und langjährige Herausgeber der Literatur-zeitschrift manuskripte hatte in Graz Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert, dann vom dortigen Akademischen Gymnasium aus gewirkt. Achtung, jetzt führe ich das Sahnehäubchen des Eintrags an. »Sein eigenes Werk ist durch die sprachlich kunstvoll instrumentierte, Bild- und Zeichenhaftigkeit bewußt einsetzende Suche nach individuellen Freiräumen und geistigen Modellen zum Verständnis der Welt gekennzeichnet.«
~~~ Warum einfach, wenn es auch undeutlich, aufgeblasen und einschüchternd geht? Prompt stellt die SZ Willi Winklers Nachruf auf den »Dichtervater von Graz« den Hinweise voran: »Seine literarische Nachkommen-schaft ist immens.« Alle VerehrerInnen sprechen von Kolleritschs verdienstvollem Kampf gegen das Immergleiche und Erstarrte beziehungsweise für das Neue und Moderne. Weg mit dem täglichen Nachtschlaf! Weg mit dem Brot, das schon die Germanen kauten und mit dem Leim, den bereits die alten Chinesen erfunden hatten! Als übernächstes Stichwort nach Kolleritsch bietet mein Universallexikon Kolleteren an. Es handelt sich um »Leim- und Drüsenzotten auf den Knospenschuppen der Winterknospen vieler Holzgewächse«. Sie schieden »ein Gemenge von Harz und Gummi ab, das die Schuppen miteinander verklebt«, etwa bei der Roßkastanie. Und bei den Sahnehäubchen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 21, Mai 2024

Siehe auch → Bildende Kunst, Lyncker (Documenta u.ä.) → Chargaff (Sucht nach Innovation) → DDR, Tuchscheerer (Variantensucht) → Internet, Wunderlich (Zeitungssucht) → Kränkung, CD (Aktualität, Neuigkeitswahn) → Lyrik, Weißer Rappe (Kunst)




Neun-Elf

Jetzt wird »das Jahrhundertverbrechen« (Anschläge in NYC und Washington D.C. 2001) schon seit 13 Jahren erörtert oder verschwiegen. SkeptikerInnen wiesen in turmhohen Stapeln von Veröffentlichungen auf die schreienden Ungereimtheiten der offiziellen Version hin – gleichwohl sind sich alle Spiegel-Journalisten und vergleichbaren SpeichelleckerInnen (allein in Deutschland ein Millionenheer!) nach wie vor nicht zu schade dazu, diese SkeptikerInnen mit der abgedroschensten Phrase der vergangenen Jahrzehnte zu beleidigen: Verschwörungstheoretiker. Diese SpeichelleckerInnen sind entweder dümmer oder ärmer als Stroh. Sie hatten nie die Gelegenheit, durch Privatstudien über ihre Schulzeit hinaus zu kommen, sonst hätten sie irgendwann begriffen, daß die Weltgeschichte nur aus Verschwörungen besteht. Als Judas Ischarioth mit den Römern tuschelte, lagen sie noch in den Windeln, und als US-Präsident Franklin D. Roosevelt seine Nation von einem »heimtückischen« Überfall auf den US-Stützpunkt Pearl Harbor in Kenntnis setzte, schissen sie ihre Windeln immer noch voll, diesmal aus Angst vor den zähnefletschenden Japanern.
~~~ Das war 1941. Teile der japanischen Führung waren verhandlungsbereit gewesen, liefen aber bei Roosevelt auf Eis. Dann erfolgte die Sperre der Öl-Exporte nach Japan, und sie kam bereits einer Kriegserklärung gleich. Dafür lag in Pearl Harbor, Hawaii, zufällig nur ein Teil der US-Kriegsflotte, der zudem überaltert war. Dem keineswegs links gestimmten US-Politiker und -Autor Patrick J. Buchanan zufolge* räumt sogar Roosevelts Vorgänger Herbert Hoover in seinen 2011 veröffentlichten Aufzeichnungen über den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen ein, man habe damals »so lange im Klapperschlangennest gestochert«, bis die Staaten gebissen worden seien. Der Biß forderte auf amerikanischer Seite rund 2.400 Tote, also nicht viel weniger als 60 Jahre später der WTC-Anschlag. Aber God's own country starb keineswegs an diesem akrobatischen Biß ins eigene Bein; vor allem die US-Rüstungsindustrie genas wunderbar. Ziel war der Kriegseintritt gewesen, gegen den es vorher noch massive Widerstände gegeben hatte. Der sorgte dann für kräftigen weiteren Blutzoll der nordamerikanischen Bevölkerung. Und der japanischen in Hiroshima.
~~~ Statt jene Erörterung noch einmal durchzukauen, möchte ich auf eine ausgezeichnete Verschwörungstheorie von Paul Schreyer hinweisen, die am 9. und 10. September 2013 im Online-Magazin Telepolis erschien und die, so weit ich sehe, bislang befremdlich wenig Beachtung fand. Da der Artikel ziemlich ausführlich ist, versuche ich mich im folgenden an einer knappen Zusammenfassung, die notwendigerweise auf den Löwenanteil von Schreyers Belegen und Argumenten verzichten muß.
~~~ Schreyers Ausgangspunkt gilt dem Motiv und dem Gewinn des üblicherweise unterstellten selbstmörde-rischen Alkaida-Angriffs von 2001. Beide seien nämlich schleierhaft. Schließlich zog man sich nur einen furchtbaren Rachefeldzug der USA auf den Hals. Auch wurden keine Erklärungen abgegeben und keine (erpresserischen) Forderungen gestellt. Im Gegenteil, Bin Laden dementierte. Zwar tauchten sogenannte Indizien sowie »Geständnisse« von drei angeblichen Attentätern auf (Subaida, Binalshibh und Mohammed), doch die Indizien erwiesen sich als fadenscheinig, und die Geständnisse durften von niemandem überprüft werden. Die drei wurden versteckt gehalten und sehr wahrscheinlich gefoltert. Es gibt also keinerlei glaubwürdige Beweise für die Selbstmordthese, und wohl deshalb wurde Bin Laden nie wegen 9/11 angeklagt. Dafür wurden Ungereimtheiten und Manipulationen der Passagier-Listen und angeblich gefundener Pässe ruchbar, weshalb die Identität der angeblichen Entführer ungeklärt ist. Es gibt auch keine DNA-Beweise. Da liegt der Verdacht nahe, man habe nachträglich Saudis mit Pilotenlizenz in die Liste der Entführer geschmuggelt. Es kommt hinzu, daß die später spurlos verschwundene Pentagon-Maschine kunstvoll in einem engen »toten« Gebiet manövrierte, das streng geheim gewesen war.
~~~ Schreyer schlägt nun vor, die offiziell behauptete Verkettung Entführung–Crash–Einsturz zu hinterfragen. Vieles spräche nämlich dafür, daß die »Terroristen« lediglich die übliche Entführung planten, nach der sie dann Forderungen gestellt hätten, etwa bestimmte, ihnen teure Gefangene betreffend. Dadurch hätte sich günstigerweise auch der Einsatz von Alkaida-Profi-Piloten erübrigt. Und es erklärt, warum die »Terroristen« so wenig als Leute erscheinen, die im Begriff sind, aus dem Leben zu scheiden. Mit 20 teils entschlossenen, teils wankelmütigen Selbstmördern auf einem Haufen hätten die DrahtzieherInnen der Aktion ohnehin ein großes Problem gehabt, sind doch jene kaum verläßlich steuerbar. Schreyer führt etliche offiziell bekannte Tatsachen an, die seine Entführungsthese untermauern. Unter anderem hatten sich verschiedene Geheimdienste fieberhaft bemüht, Leute in die Alkaida zu schleusen oder aber Alkaida-Kader umzudrehen. Wobei sie teils gegeneinander arbeiteten, wie das unter den Diensten so üblich ist. Jedenfalls hatten sie ihre Finger drin. Und Schreyer neigt zu der Annahme, die Dienste hätten von der Entführung Wind bekommen und sie nun für eine eigene Inszenierung eingesetzt, die sogenannten Anschläge. Das hätte dem damaligen, inzwischen bekannten und nachweisbaren Diskurs in der Elite entsprochen, wonach aus zahlreichen geopolitischen und ökonomischen Gründen »eine Neuauflage von Pearl Harbor« wünschenswert sei, etwa in der Absicht, Saudi-Arabien und Pakistan wieder an den Westen zu binden, den Einbruch in der Rüstungsproduktion (Fortfall des Kalten Krieges) wettzumachen und allgemein die Bereitschaft zum Kriegführen in den Staaten und der gesamten Nato anzufachen, weil das die unzufriedenen Leute an der Heimatfront so schön zusammenschweißt.
~~~ Nach dieser Theorie sorgten also die wahren DrahtzieherInnen der Anschläge für eine Entführung der Entführer – sehr wahrscheinlich qua Fernsteuerung der mit Absicht sehr schnell fliegenden Maschinen, dabei im Rahmen von damals »zufällig« stattfindenden Luftabwehrübungen. Schreyer erläutert die Machbarkeit dieses Weges. Hier fügt sich natürlich auch der Einsturz der Türme ein, der unmöglich, wie offiziell behauptet, Bürobränden angelastet werden kann. Vieles spricht für eine kontrollierte Sprengung, wobei eben die Flugzeuge nur der Auslöser waren.
~~~ Schreyer räumt ein, ein solcher Ablauf würde ohne Zweifel eine ziemlich komplizierte Operation darstellen – während »Verschwörungstheoretikern« gemeinhin Vereinfachung vorgeworfen wird. Tatsächlich kamen ja auch etliche Fehler oder Pannen vor. Und dieser Ablauf hätte selbstverständlich strenge Geheimhaltung erfordert. Ist das glaubhaft? Schreyer meint, ja. So mußten keineswegs alle Experten, etwa für die Anbringung des mutmaßlichen Thermits, in den Plan einer Sprengung der Türme oder gar in den Gesamtplan der Operation eingeweiht gewesen sein. Weiter verweist Schreyer auf die erfolgreiche langwährende Geheimhaltung solcher Projekte wie Manhattan und Gladio. Den Eingeweihten werden große Anreize geboten – andererseits, für den Fall des Verrats, ein sicherer vorzeitiger Tod. Es ist ja nebenbei auch zu vermuten, daß bereits verschiedene, zu gefährliche 9/11-Zeugen beseitigt worden sind. Unter ihnen vielleicht jene vier Personen, die Schreyer in seiner Schlußpointe erwähnt:
~~~ Nach einer merkwürdigerweise wenig bekannten und erörterten Tatsache sollte am 11. September 2001 noch eine fünfte Maschine entführt werden. Es handelte sich um den Flug United 23 Richtung Los Angeles, planmäßiger Abflug in New York 8 Uhr 30. Diese Tatsache trifft sich mit der anderen, durchaus bekannten Merkwürdigkeit, daß am Anschlagstag auch das World Trade Center 7 in sich zusammenfiel, obwohl es noch nicht einmal von einem Klapperstorch getroffen worden war. Schreyer hält es für denkbar, man konnte damals nicht mehr umdisponieren, nämlich die Sprengung von WTC 7 kurzfristig aussetzen. Zwar befanden sich unter den Passagieren jenes Fluges, in der ersten Klasse, »zufällig« auch vier arabische Personen – doch der Flug hatte Verspätung. Und aufgrund des an jenem Vormittag erlassenen Startverbots für alle Flugzeuge in den USA hob diese Maschine nicht mehr ab. »Alle Passagiere gingen wieder von Bord, die vier Araber verschwanden. Ihr Gepäck, das sie später nie abholten, enthielt Terror-Anleitungen.« Das FBI habe die Crew wiederholt zu diesen Männern befragt, doch ihre Namen seien nie veröffentlicht worden. »Sie wurden nicht gesucht, nicht aufgespürt, nicht festgenommen. Sie waren einfach verschwunden, und niemanden schien das zu stören.«
~~~ Eine nächste hübsche Geschichte hat sich soeben ganz real in Südhessen ereignet. Dem Ereignis fiel am Sonntag, den 2. Februar 2014 um 10 Uhr vormittags der 116 Meter hohe Universitätsturm von Frankfurt am Main, auch als AfE-Turm bekannt, zum Opfer. Fachleute sprengten ihn kunstgerecht. Es habe sich um das höchste Gebäude in Europa gehandelt, das je dem Erdboden gleich gemacht wurde, betont die Internet-Ausgabe der FAZ vom selben Tag. Ich glaube, die Betonung liegt dabei nicht auf
Europa …
~~~ Damit wir die Präzision dieses Abrisses hinreichend bewundern können, ist die FAZ so freundlich, zu ihrem Bericht, der von rund 30.000 Schaulustigen, 50.000 Tonnen Schutt aus Beton und Stahl und einer riesigen Staubwolke spricht, ein ungetrübtes Video zu präsentieren. In der Tat sackt der AfE-Turm nach dem Countdown binnen weniger Sekunden beinahe kerzengerade in zwei Phasen in sich zusammen, erst der Mantel, gleich darauf der Kern, wobei an den präparierten Stellen kleine Sprengwölkchen seitlich herausschießen. Erst dann kommt der Staub. Es wäre allerdings noch freundlicher gewesen, wenn die FAZ auch gleich die bekannten Filmaufnahmen daneben gestellt hätte, die vom Einsturz von zwei noch höheren Wolkenkratzern in New York City im Jahr 2001 auf uns gekommen sind. Dann hätten wir bequemer vergleichen können. Das Ergebnis: kein nennenswerter Unterschied. Der Laie könnte fast zu dem Schwur verleitet werden, in New York seien offensichtlich ebenfalls Sprengexperten am Werk gewesen.
~~~ Der Abriß in Frankfurt war nicht eben billig. Die zuständige Firma AWR Abbruch GmbH spricht im Sinne der erwähnten Staubwolke von einem »siebenstelligen« Betrag, also von entweder 1,1 Millionen oder 9,9 Millionen Euro. Nun wissen wir aber, laut der offiziellen Darstellung des New Yorker 9/11-Anschlages waren noch nicht einmal die Flugzeuge, vielmehr nur das von deren Kerosin ausgelöste Feuer in den Bürotürmen für den sekundenschnellen, nahezu kerzengeraden Einsturz ausschlaggebend. Das Feuer hatte das King-Kong-starke Stahlskelett der Türme zerschmolzen. Ein gewitzter Blogger, der mir soeben beim Recherchieren unterkommt, fragt sich deshalb, ob es zukünftig nicht weitaus einfacher und preiswerter wäre, vergleichbare Wolkenkratzer mit Hilfe von einigen Kanistern Benzin und einem Feuerzeug abzureißen. Statt, wie in Frankfurt, über Monate hinweg 1.400 Löcher zu bohren und mit 950 Kilo Nitropenta zu füllen. Der Vorschlag besticht im ersten Augenblick, doch dann wird einem klar, er vernachlässigt den berüchtigten Arbeitsmarkteffekt. 1.400 Löcher! Die bohrt der Chef wohl kaum eigenhändig an seinem freien Samstagnachmittag.**

∞ Verfaßt 2011/2014, ursprünglicher Titel »10 Jahre 9/11«, stark gekürzt
* Buchanan und Einar Schlereth im https://einarschlereth.blogspot.de/2011/12/hat-franklin-d-roosevelt-pearl-harbor.html, Dezember 2011
** 2019 wiesen Fachleute der Universität Alaska Fairbanks (UAF) in einer dicken Studie nach, die offizielle Version, WTC 7 sei durch Feuer eingestürzt, ist unhaltbar. Die »Hulsey-Studie«, wie sie auch genannt wird [ http://ine.uaf.edu/media/222439/uaf_wtc7_draft_report_09-03-2019.pdf, 3. September 2019 ], läßt vielmehr nur den Schluß zu: der nie von einem Flugzeug berührte Wolkenkratzer wurde gesprengt. Bezeichnenderweise wurde die Vermeldung der Veröffentlichung dieser für Daniele Ganser »sensationellen« Forschungsarbeit [ http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=26188, 11. September 2019 ] von den hiesigen Mainstream-Medien, soweit ich sehe, »flächendeckend« unter den Tisch gefegt.




Nobel, Emil (1843–64), mit 20 Jahren Opfer des Fortschritts (seines Bruders). Den Nobelpreis kennt natürlich jeder. Bekanntlich läßt er in jedem Herbst, wenn die Blätter fallen, den Aktienkurs einiger Dichter und Denker emporschnellen, wodurch freilich auch der Preisstifter in aller Munde, wenn auch nur in den wenigsten Gehirnen ist. Wir werden ihn uns gleich vorknöpfen. Die Dotierung des von Alfred Nobel um 1900 gestifteten Preises stand 2020 auf rund 950.000 Euro je Kategorie. Ich fürchte, nur wenigen der vielen, die schon für den Nobelpreis vorgeschlagen worden sind, wäre er gar zu peinlich. Ein Arthur Koestler, dem niemand mangelhaften Ehrgeiz vorwerfen kann, hätte den Nobelpreis schon deshalb mit Handkuß genommen, weil sich dann Simone de Beauvoir, die er angeblich einmal verführte, und der Anwalt der Sowjetunion Jean Paul Sartre einträchtig schwarz geärgert hätten.
~~~ Sartre selber lehnte den Nobelpreis (1964) erfreulicherweise ab. Laut Beauvoirs Erinnerungen scheint ihn allerdings nicht die Herkunft des Geldes bedrückt zu haben; ihm ging die politische Instrumentalisierung des Nobelpreises (im Kalten Krieg) gegen den Strich. Jedenfalls darf vermutet werden, Sartre hätte sein Preisgeld wohl kaum in ein neues Badezimmer seiner Villa gesteckt – wie Mauriac. Chruschtschow ist der Nobelpreis nie angetragen worden, obwohl er sich fast so glänzend wie Schiller als Tyrannenmörder in Szene zu setzen verstand. Trotzdem mußte er nicht auf jeglichen Westkomfort verzichten. Beauvoir in ihren Erinnerungen: »Er zeigte uns das Schwimmbad, das er sich am Meeresufer hatte einrichten lassen; es war ungeheuer groß und von einer Glaswand umgeben, die man durch einen Knopfdruck öffnen konnte: selbstgefällig führte er uns das Manöver mehrere Male vor.«
~~~ Heinrich Böll und Elias Canetti verweigerten sich 1972 und 1981 dem Nobelpreis nicht. Bei Canetti verblüfft das wenig, ist er doch möglicherweise noch eitler als Chruschtschow und Grass zusammen gewesen. Bölls Kohle ging wohl teilweise in nach ihm benannte (grüne) Stiftungen ein, die sich später als Schmieden glühender Karrieristen entpuppten, wobei Claudia Roth der eigene Nachname zustatten kam. Otto Krätz hat neulich (2002) darauf hingewiesen, in 100 Jahren seien nur 29 Frauen, dagegen 700 Männer eines Nobelpreises für würdig befunden worden. Möge Roth sich also strecken; im Bereich des Friedens ist immer etwas zu machen. Bekanntlich wird der Nobelpreis nicht nur für Literatur vergeben. Zum Beispiel erhielt ihn 1945 (rückwirkend für 1944!) der Chemiker Otto Hahn wegen seiner Verdienste um die Kernspaltung. Soweit ich weiß, hatte Hahn die Zeit von 1928 bis Kriegsende recht angenehm überstanden, nämlich als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin-Dahlem. Ein prominenter Instituts-Kollege von ihm war Fritz Haber gewesen, der den Nobelpreis 1918 für die Erfindung des Kunstdüngers eingesackt hatte. Weil das schon fragwürdig genug war, sah man über Habers Beteiligung an der Entwicklung des Giftgases hinweg. Sie spielte eine Rolle beim Selbstmord seiner Gattin Clara → Immerwahr.
~~~ Zwar nahm auch der britische Dramatiker Harold Pinter (2005) den Nobelpreis an, doch war er immerhin mutig genug, in seiner Preisrede die Verbrechen des US-Imperialismus und von dessen Spießgenossen anzuprangern. Damit zum Frieden. Mit Preisträger Henry A. Kissinger wurde 1973 auf bis dahin selten dreiste Weise der Bock zum Gärtner gemacht. Christopher Hitchens kam in seinem Kissinger-Buch von 2001 aufgrund neuer Dokumente zu dem Schluß, der US-Außenminister habe den Vietnamkrieg keineswegs beenden, vielmehr in die Länge zu dehnen geholfen. Erwiesen ist, daß Kissinger als Sicherheitsberater des Präsidenten Nixon an den völkerrechtswidrigen Flächenbombardements in Laos und Kambodscha beteiligt war und zu den Drahtziehern jenes Militärputsches zählte, der unter anderem dem chilenischen General René Schneider und 1973 dessen gewähltem sozialistischem Präsidenten Salvador Allende das Leben kostete. In jener Zeit sei Kissinger ohne jeden Zweifel der faktische Chef sowohl der »verdeckten« Auslandsoperationen wie der Ausspionierung der eigenen BürgerInnen durch die CIA gewesen, läßt sich bei deren Chronisten Tim Weiner (2007) lesen. Was Barack Obama angeht, wie zahlreiche Schurken vor ihm vor den Wahlen zum »Hoffnungsträger« gestylt, habe ich schon keine Lust mehr, von ihm zu reden. Er bekam den Friedenspreis 2009, bevor er Libyen plattmachen ließ.
~~~ Auch vom Preisstifter Alfred Nobel her folgt der Kriegsnobelpreis konsequent der Tradition. Vater Immanuel hatte sich mit Rüstungsgeschäften am Krimkrieg (1853–56) gesund gestoßen; wegen unglücklicher Kräfteverteilung an diplomatischer Front ging er dann aber trotzdem bankrott. Sohn Alfred half aus der Patsche, indem er (1866) das Dynamit erfand. Schon einer der ersten, vorausgehenden Laborversuche, in einem Schuppen auf dem väterlichen Anwesen im Süden Stockholms im Verein mit wechselnden Mitarbeitern vorgenommen, führte zu einer mittleren Katastrophe. Am 3. September 1864 lagerten 123 Kilogramm Nitroglyzerin im Schuppen. Als der Schuppen um 10 Uhr 30 in die Luft flog, wanderten fünf Personen mit: voran Alfreds jüngster Bruder, der knapp 21jährige Emil Nobel, dazu der Ingenieur Hertzman, die Dienstmagd Maria, der Laufbursche Herman und der Tischler Johan Peter Nyman. Einem zeitgenössischen Reporter zufolge waren lediglich »formlose Massen von Fleisch und Knochen« von ihnen übrig geblieben. Alfred war während dieser Explosion zufällig außer Haus gewesen. Soweit zum Auslöser dieser Betrachtung, Emil.
~~~ Dies alles konnte Alfred nicht daran hindern, eine Aktiengesellschaft zu gründen und für zahlreiche weitere Explosionen zu sorgen, bei denen zunächst die eigenen Fabrikgebäude oder Leute zu Schaden kamen. Ab 1866 hatte auch das deutsche Volk an dieser Entwicklung teil: Nobel eröffnete eine Fabrik in Hamburg-Krümmel und wohnte sogar einige Jahre dort. Bald nach dem Ersten Weltkrieg wird sie von dem einheimischen Riesenkonzern IG Farben übernommen, weil dieser bereits den Zweiten Weltkrieg wittert. Allein die »eigenen« Toten diverser deutscher Sprengstoff-Fabriken* hätten wahrscheinlich für die Gründung der Deutschen Kriegsgräberfürsorge (1919) ausgereicht. Im September 1939 sind auf dem zerfurchten Gelände in Krümmel, das später noch durch ein Atomkraftwerk gekrönt wird, um 3.000 Leute beschäftigt. Als stern-Reporter Günther Schwarberg 1986 eine Geschichte über die noble Krümmelei schreibt, wird sie von seiner (in Hamburg sitzenden) Chefredaktion abgelehnt.
~~~ Alfreds Goldgrube war der Panamakanal, mit dessen Bau 1879 begonnen wurde. Er verschlang Unmengen an Dynamit – nebenbei auch ungefähr 50.000 vom Gelbfieber dahingeraffte Kanalarbeiter. Nach 10 Jahren ging die französische Baugesellschaft in Konkurs, wodurch tausende von Kleinanlegern ihre Ersparnisse loswurden. Otto Krätz: »Einzig Nobel war der große Gewinner.« Der sah sich nie bemüßigt, auch nur einen Nachruf auf die Opfer seiner skrupellosen Sprengstoffproduktion zu verfassen. Er habe sich auch niemals öffentlich mit dem Mißbrauch und dem militärischen Gebrauch seiner Produkte auseinandergesetzt, schreibt -ju-.* 1888 ließ sich der geschäftstüchtige Schwede sein rauchfreies Schießpulver Ballistit patentieren, das, nach -ju-, überhaupt erst den Bau von Maschinengewehren ermöglichte. Dafür bemitleidete sich Nobel als einen verkannten Dichter. Er starb 1896. Offenbar brachte er niemals etwas Genießbares zu Papier – außer der Unterschrift unter jenes Testament, mit dem er Bares für geniale GeistesarbeiterInnen stiftete, um sich für alle Zeiten in deren Abglanz sonnen zu können. Mal sehen, wer sich noch alles von diesem Lumpen aushalten läßt.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* -ju-, Artikel »Dynamit« auf der Webseite der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte, Stand September 2020: https://geschichte-s-h.de/dynamit/




Norm

Am Fließband --- Während meine Kollegen Zigaretten-pause machen, schlendere ich durch eine benachbarte Halle. Sie ist von Fertigungsstraßen durchzogen. Offenbar Motorenbau. Hier ist die Belegschaft eher dünn gesät. Wir befinden uns bei DaimlerChrysler in Mannheim; das Werk gleicht einer Stadt in der Stadt. Es beschäftigt rund 10.000 Leute und vermutlich hundertmal so viele Maschinen. Unsere Kunden sind die zahlreichen Bürokraten der Fabrik. Hört man hinten auf, ihnen einen neuen Teppichboden unter die Füße zu legen, kann man vorne wieder anfangen. Für unseren Chef ohne Zweifel eine sichere Bank, solange er nur darüber im Bilde ist, welchem der vielen Bürokraten er gerade die Füße zu küssen hat.
~~~ Plötzlich bleibe ich gebannt stehen. Vor mir ein Automat, der Adolf Hennecke oder Arnold Schwarzen-egger zu spielen scheint. Einem gravierten Schild zufolge wurde er gerade erst gebaut und installiert, 1999. Er hat Ölspritzdüsen in die Zylinderkurbelgehäuse von wahlweise 4- oder 6-Zylindermotoren einzupressen. Sein Rythmus ist bald durchschaut. Von rechts, auf genoppten Tabletts in Reih und Glied angeordnet, kommen die Ölspritzdüsen angefahren. Ein armähnlicher Roboter greift sich nacheinander vier Düsen und setzt sie in eine jeweils im Zylinderabstand vorrückende Schubleiste. Die ruckartigen, gleichsam eckigen Bewegungen des künstlichen Arms kommen mir allerdings eher makaber als rythmisch vor. Nach Umsetzen der vierten Düse fällt er jäh in Starre, weil inzwischen von links her das nächste Zylinderkurbel-gehäuse eingetroffen ist. Es wird von dem übergeordneten, verdammt wuchtigen Roboter erfaßt, der entfernt an ein Gebiß erinnert. Er packt sich das Gehäuse, um es um 90 Grad nach oben zu kippen. Jetzt liegt es an der Linie der Schubleiste, die bereits vorgefahren ist. Dem Gaumen des Überroboters entwachsen so etwas Ähnliches wie vier (wahlweise sechs) Hände. Damit greift er den Satz Ölspritzdüsen, hebt ihn empor und bringt ihn genau über den Zylinderöffnungen des gekippten Gehäuses in Stellung. Jetzt senken sich sozusagen separate »Daumen« aus des Überroboters Gaumen. Sie pressen die Ölspritzdüsen in die Zylinder. Dann fahren sie wieder hoch. Das »Gebiß« kippt das mit Ölspritzdüsen versehene Gehäuse auf das Fließband zurück. Während Fließband und Gehäuse vor dem armähnlichen Roboter abkurven, schnappt sich dieser die nächsten vier Ölspritzdüsen vom Tablett, weil inzwischen das nächste Zylinderkurbelgehäuse naht.
~~~ Ich reiße mich los. Die Zigarettenpause meiner Kollegen habe ich ohnehin schon überzogen. Das wäre etwas für »Feudel«, unseren Stift, sage ich mir. Er hat neuerdings Liebeskummer. Ich sollte ihm diesen Automaten empfehlen. Feudel könnte sein Herz aufs Fließband legen; der Automat würde es ungerührt um 90 Grad nach oben kippen, um es mit Ölspritzdüsen zu versehen.

∞ Verfaßt 2001

Siehe auch → Angst, Querfeldein (AußenseiterInnen) → Gesundheit, Toschke (AußenseiterInnen) → Handwerk, Zollstock + Schöne Ehe → Komik, Verlassene Gefühle (FG Jünger) → Mehrheitsdenken




Vorausgesetzt, einer hat zunehmend Schwierigkeiten gutes Lesefutter aufzutreiben. Nun stößt er in seinem Brockhaus (Band 16 von 1991) auf den Eintrag zum irisch-englischen, zumindest zeitweise vielgespielten Dramatiker Sean O'Casey (1880–1964). Zwar macht sich der Lesehungrige gar nicht so viel aus Dramen, aber als geborener Einfaltspinsel klammert er sich an die abschließende Bemerkung: »Seine sechsbändige Autobiographie (1939–56) schildert eindrucksvoll seinen Werdegang und gilt als Meisterwerk der Gattung.«
~~~ Also besorgt er sich das Meisterwerk. Er ergattert sogar ein kaum gelesenes antiquarisches Exemplar der deutschsprachigen Diogenes-Ausgabe*, die in typografischer Hinsicht nichts zu wünschen übrig läßt, von der Fadenheftung bis zum grünen Leinenumschlag, und alles für schlappe 18 Euro. Da verschmerzt man den Schutzumschlag leicht, zumal O'Casey im Innneren mit einer farbenprächtigen Bilderflut aufwartet. Jeden empfindlichen Einfaltspinsel muß sie an die Wand drücken. O'Casey, der Inselbewohner, liebt überhaupt das Ausufernde ungemein. Er schwafelt und verurteilt und wiederholt sich wie ein roter Priester (der er ja wohl auch war). Striche man allein seine ewig gleichen Ausfälle gegen Kirche und Klerus, hätte man von den sechs Bänden des Werkes schon drei eingespart. Er wirft bedenkenlos mit Blumigkeit und nichtssagenden Phrasen um sich, bis man kaum noch ein Körnchen jener »Wahrheit« sieht, die er so gern beschwört. Sein Humor beläuft sich überwiegend auf Ironie; seine selbstkritischen Bemerkungen sind eher dünn gesät. Ich will nicht gerade behaupten, er sei so ein selbstgerechter und engstirniger Kotzbrocken wie der (von Minetti gespielte) Zirkusdirektor aus Thomas Bernhards Stück Die Macht der Gewohnheit (1974) gewesen, aber viel dürfte da nicht fehlen. Immerhin bricht er eine Lanze für die durchweg versklavten Kinder und Frauen Europas, wenn er sich auch stets eine Hausgehilfin oder ein Kindermädchen hält, vielleicht auch beides. Seine Gattin Eileen war Schauspielerin. Natürlich hält er auch den Fortschritt hoch, voran die Elektrizität, das Wunderland USA – und das gelobte Land SU.
~~~ Für was der Dramatiker, der sich endlos über den fehlgeschlagenen oder halbherzigen Befreiungskampf der Iren ausläßt, bei seiner Nordamerikareise bestenfalls ein Hühnerauge hat, das ist die IndianerInnenfrage. Als gälischer Patriot scheint er sie gar nicht zu kennen. Vielleicht glaubte er, die beeindruckenden Wolkenkratzer seien lediglich mit Hilfe einiger Gastarbeiter hochgezogen worden, die dann wieder nach Hawaii oder Feuerland heimkehrten, etwa Sitting Bull, von dem man zuweilen liest. Im letzten Band seines Meisterwerkes – Eileen liegt gerade schwanger in einer schäbigen Londoner Privatklinik – kommt er doch noch auf die IndianerInnen zurück. Er stellt fest: »Die fürsorglichen Überlegungen, die man der geistigen und körperlichen Entwicklung des englischen Kindes widmet, sind nicht die eines zivilisierten Volkes, sondern stehen auf der Stufe eines primitiven Palavers, das in einer Wigwamberatung unter einem Dach aus Kuhhäuten abgehalten wird.« (S. 27)
~~~ Wenn diese Prosaarbeit des Dramatikers als Meisterwerk gelten sollte, würde man doch gern wissen, wer es warum dazu erklärt hat. Vielleicht Arthur Miller, der sie in seinen Erinnerungen »wunderbar« und O'Casey ein »Genie« nennt?** Brockhaus verrät es nicht. Das Urteil wird so anonym abgegeben, wie es im sogenannten Kanon dann auch bleibt. Der Kanon ist allmächtig, unwiderruflich, unsichtbar und unbelangbar – gerade so wie Gott.
~~~ Ich möchte O'Casey nicht verlassen, ohne auch noch George Orwell eins überzuziehen. Ich kann dabei an einer kleinen Schlammschlacht anknüpfen, die die Kollegen gegeneinander schlugen. Beide Schriftsteller lebten damals in England, doch der erste war bekanntlich Ire. Merkwürdigerweise wird dieser Streitfall in Michael Sheldens umfangreicher Orwell-Biografie von 1991 ausgespart***, jedenfalls soweit ich mich erinnere, und auch nach Ausweis des Registers. Laut Register wird der Ire nur einmal erwähnt (auf S. 585), nämlich als Bestandteil einer privaten Liste Orwells, die über 100 Sympathisanten, wenn nicht gar Agenten des Sowjetkommunismus enthielt. Neben O'Caseys Name stehe der Zusatz: »Strohdumm«. Diese Einstufung würde sich natürlich gut mit O'Caseys Geschichte von Orwells frühem Roman Eine Pfarrerstochter (1935) decken, falls sie stimmt. Das darf man wohl annehmen. Wäre sie erfunden oder verfälscht, hätte Sonia Brownell, Orwells Erbin, sicherlich eine Verleumdungsklage angestrengt; die Frau hatte Haare auf den Zähnen. Nach O'Caseys Darstellung im sechsten und letzten Band seiner Autobiografie (S. 134/35) hatte ihm damals Verleger Gollancz die Druckbogen der Pfarrerstochter mit der Bitte geschickt, dieses Werk, das streckenweise dem Besten von Joyce gleichkäme, zu lesen und möglicherweise eine in der Werbung zitierfähige, also griffige, günstige Zeile darüber zu erübrigen. Dieses Anliegen schmetterte O'Casey ab, weil er das Werk für mangelhaft hielt. Es könne noch nicht einmal als gelungene Joyce-Nachahmung angesehen werden, teilte er Gollancz mit. Orwell habe genausoviel Aussicht, die Größe von Joyce zu erreichen, wie eine Meise Aussicht habe, sich in einen Adler auszuwachsen.
~~~ Übrigens war Orwell selber nicht gerade von seiner Pfarrerstochter erbaut. Shelden zufolge (S. 288/89) hatte er »eine ausgesprochen schlechte Meinung« von dem Buch und bezeichnete es in einem Brief sogar kurz und bündig als »Mist«. Doch in diesem Fall stellte er wohl seinen Rachedurst über seine Selbsterkenntnis, sonst hätte er 10 Jahre später kaum so kräftig gegen O'Casey vom Leder gezogen – zumal er soeben (1945!) im Begriff stand, sich in einer kleinen Betrachtung mit dem Titel »Rache ist sauer« gegen das verbreitete Bedürfnis sich zu rächen auszusprechen.
~~~ Laut übereinstimmender Angabe von US-Historiker Arthur Mitchell (1998)**** und dem Belfaster Blogger Brian John Spencer (2016)***** brachte der Observer im Oktober 1945 einen Verriß des dritten Bandes der O'Casey-Autobiografie aus Orwells Feder. Für den irischen Dramatiker war das ein »Martergeschrei«, wie im sechsten Band (S. 127–37) zu lesen ist – weit entfernt von der »Redlichkeit«, die Orwell bekanntlich ringsum bescheinigt werde. Verfährt aber O'Casey untadeliger? Bevor er überhaupt zur Sache kommt, nämlich zu Orwells Kritik an Band 3, hält er sich zweieinhalb Seiten damit auf, ein allgemeines Schauerbild von Orwells in Tuberkulose, Pessimismus und Proletariatsferne verwurzeltem »krankhaftem Geist« und der entsprechenden »Wehleidigkeit« zu malen. So eingestimmt, können unbedarfte LeserInnen nur befürchten, von solch einem Invaliden sei keine aufbauende Kritik zu erwarten. »Kampfgeist«, so O'Casey weiter, habe Orwell nie besessen. Dessen Gastspiel als republikanischer Partisan im Spanienkrieg klammert O'Casey großzügig aus. Orwells jüngste Bücher Farm der Tiere und 1984 macht der Ire natürlich schlecht. Aber was hat dies alles mit Sean O'Caseys Autobiografie zu tun? Nun, die angeführten Werke wurden ja leider viel gelesen, wie O'Casey selber einräumt, und hier dürfte der neidvolle Hase im Pfeffer liegen. Orwell war sehr erfolgreich – O'Casey nicht.
~~~ In der Sache selber hat O'Casey wenig Entkräftung zu bieten. Weist er Orwells Vorwurf zurück, er schmähe in einem fort England, hat er sicherlich recht; es bleibt jedoch oberflächlich. Vom starken romantischen, durch Heimatgefühl beflügelten Zug seines gälischen Nationalismus spricht O'Casey lieber nicht – falls er ihn sich überhaupt eingestehen könnte. Ferner geht er auf Orwells Kritik am nebelhaften und narzistischen Stil des dritten Bandes nicht wirklich ein – er ironisiert sie nur, wie er leider vieles lediglich ironisiert. Dann läßt er das Ganze in einem für ihn typischen erfundenen und wieder schön ausufernden Kneipendialog enden, in dem er noch einmal Gelegenheit hat, seinen Widersacher Orwell als »aufgeblasenen Dummkopf« zu bezeichnen. Im folgenden teile ich Auszüge aus Spencers, allem Anschein nach korrekter Wiedergabe der im Observer erschienenen Rezension mit.
~~~ But the cloudy manner in which the book is written makes it difficult to pin down facts or chronology. It is all in the third person (»Sean did this« and »Sean did that«), which gives an unbearable effect of narcissism, and large portions of it are written in a simplified imitation of the style of Finnegans Wake, a sort of Basic Joyce, which is sometimes effective in a humorous aside, but is hopeless for narrative purposes.
~~~ However, Mr O'Casey's outstanding characteristic is the romantic nationalism which he manages to combine with Communism. This book contains literally no reference to England which is not hostile or contemptuous.
~~~ So far as Ireland goes, the basic reason is probably England's bad conscience. It is difficult to object to Irish nationalism without seeming to condone centuries of English tyranny and exploitation. In particular, the incident with which Mr O'Casey's book ends, the summary execution of some twenty or thirty rebels who ought to have been treated as prisoners of war, was a crime and a mistake.
~~~ Als ich diese Anwürfe las, meinte ich mich allerdings zu erinnern, Orwells eigene, nur diesmal britisch gefärbte patriotische Ader sei ebenfalls recht geschwollen gewesen. Shelden stellt sie etwa auf den Seiten 437–39 heraus. Konsequenten Anarchisten könnte sie glatt den Kragen platzen lassen. Gewiß sei Großbritannien ein kapitalistisch-imperialistisches Land, räumte Orwell ein, und wenn es hart auf hart komme, werde sich auch Chamberlains »Demokratie« in ein faschistisches Regime verwandeln. Aber! Aber jetzt, unter Hitlers Ansturm, stellte sich auch Orwell, der Ex-Spanienkämpfer und eingefleischte Rebell, den Kriegsanstrengungen der Nation zur Verfügung. Er verrate seine linken Überzeugungen nicht, wenn ihm bloß die Verteidigung seiner Heimat am Herzen liege. Er orakelt vom »inneren Bedürfnis nach Patriotismus und militärischen Tugenden, für die, so wenig sie den weichlichen Angsthasen der Linken auch gefallen mögen, noch kein Ersatz gefunden worden ist.« Das ist gefährliches Gewäsch, weiter von kritischer Analyse entfernt wie ein Zwergtaucher von einem Pelikan.
~~~ Nach Mitchell hatte sich Orwell für Irland, das er auch nie betreten habe, lange Zeit nicht sonderlich interessiert. Dann habe ihn jedoch die Neutralität im Weltkriegsgeschehen aufgeregt, die das »scheinunabhängige Irland« erklärte; sie schloß auch Verweigerung aliierter Luftwaffen-Stützpunkte ein. Allerdings führt Mitchell auch die Versicherung eines engen Orwell-Freundes an, Christopher Hollis, von allen Gefühlen Orwells sei die Vaterlandsliebe das tiefste Gefühl gewesen, eben die Liebe zu England, nur habe er nie akzeptieren geschweige denn nachvollziehen können, daß andere aus anderen Vaterländern stammen und dieselben nicht minder stark lieben und verteidigen könnten.
~~~ Freilich war auch der kritische Blick seines Widersachers O'Casey nur dann scharf, wenn er nicht O'Caseys gut gehegte »inneren Bedürfnisse« zu beschneiden drohte. Auf Seite 151 seines sechsten Bandes erwähnt der Ire Hitlers Überfall auf Polen. Aber weder hier noch sonstwo hält er es für sinnvoll, den kurz zuvor abgeschlossenen »Hitler-Stalin-Pakt« vom August 1939 zu streifen, der Hitler jenen Überfall erst ermöglicht hatte. Wo liegt hier die Unredlichkeit? Seine »Behandlung« des Zweiten Weltkrieges an dieser Buchstelle ist überhaupt kennzeichnend für O'Caseys blumig-nebelhafte Darstellungsart, die sich mit Daten, Quellenhinweisen bei Zitaten und zwingender Argumentation nicht aufzuhalten braucht, jedoch den Eindruck von Satire erweckt und den Mangel dadurch entschuldigt. Es ist eine leichtfertige bis unverantwortliche Darstellungsart, und das nicht nur im Fall eines autobiografischen Werkes. Wenn sie einer »strohdumm« nennt, wie oben erwähnt, kann ich es ihm eigentlich nicht verdenken. Wobei die Spitze des Strohhalms in O'Caseys Fall der unausrottbare Wunsch sein dürfte, sich mit aller Gewalt als »Dichter« zu präsentieren, als begnadeter Maler am Himmel der Poesie.
~~~ Allerdings könnte man einige Ausfälle Orwells ebenfalls leichtfertig oder unverantwortlich, vielleicht sogar faschistisch nennen. Laut Spencers Wiedergabe leitet der Engländer seine Besprechung des dritten Bandes der Autobiografie O'Caseys mit dem Satz ein: »W.B. Yeats said once that a dog does not praise its fleas, but this is somewhat contradicted by the special status enjoyed in this country by Irish nationalist writers.« Bekanntlich pflegt man Flöhe mit einem Daumendruck auszulöschen, falls man ihrer habhaft wird. Was die meisten Kunstschaffenden dieses Planeten vordringlich zu verbinden scheint, ist der Haß – aufeinander.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* o.J., Lizenzausgabe nach: Paul List Verlag, Leipzig, 1957–63
** Arthur Miller, Zeitkurven, Fischer-TB-Ausgabe 1989, S. 424
*** Michael Shelden, deutsch bei Diogenes 1993, hier als Taschenbuch, Zürich 2000
**** Artikel »George Orwell & Sean O'Casey«, 1998, hier auf https://www.historyireland.com/20th-century-contemporary-history/george-orwell-sean-ocasey/ / Kurzvita Mitchells hier: https://www.sc.edu/about/system_and_campuses/salkehatchie/faculty-staff/mitchell_arthur.php
***** https://brianjohnspencer.blogspot.com/2016/07/george-orwell-on-ireland-ctd.html, 1. Juli 2016




Vielleicht können Sie mir eine Auffächerung des Ofens nach Sorten und Marken erlassen. Brockhaus behauptet, »aus Zweigen und Lehm geformte« Backöfen habe man bereits in der Jungsteinzeit gekannt. Für mich zählt der Zimmerofen zweifellos zu den 10 bedeutensten Erfindungen der Menschheit, höchstens in den Tropen nicht. In Westberlin zog ich von einem mächtigen Kachelofen zum nächsten um und fragte mich jedesmal, wie ein fünfgeschossiges Mietshaus diese ganzen, übereinander gestapelten Monstren nur aushalten kann. In meiner jüngsten Bleibe erfreue ich mich seit Jahren desselben schlichten, anhänglichen und zuverlässigen Dauerbrandofens, wie er einst (1877) aus Irland auf uns gekommen sein soll. Ein Kaminfegermeister versicherte mir einmal, die Kacheln und den ganzen anderen Firlefanz könnte ich getrost vergessen. Entscheidend sei Eisen, denn das halte die Wärme am besten. Nun gut – es hat allerdings auch sein Gewicht und seinen Einkaufspreis. Mein schritthoher, recht schmaler Dauerbrandofen glänzt vor allem durch eine kaum daumendicke Kopfplatte aus Eisen. Eine Achillesferse scheinen jedoch die Schamottsteine zu sein, mit denen er innen ringsum ausgekleidet ist. Sie sind im Laufe der Zeit hier und dort gerissen. Das Vermörteln mit feuerfester Pampe ist mir bereits mehrmals mißlungen. Jener Brandmeister meint zu den Rissen, wenn nicht Transportschaden, dann liegt es an zu starker Hitze. Dafür seien diese Öfen nicht angelegt. Er schenkte mir ein bedauerlich-spöttisches Lächeln und verzog sich in die Kamine benachbarter Häuser. Wahrscheinlich hatte er die niedrige Preisklasse meines Ofens schon auf Anhieb erkannt. Das rotbraun lackierte, schmucklose Stück hat mich (um 2010) fabrikneu keine 500 Euro gekostet. Beim nächsten lege ich also ein oder zwei Nullen zu. Sofern ich bis dahin einen Titel von meiner Platte Leon in die Top Ten gebracht habe, meinetwegen »Schneeschippen«.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 28, Juli 2024



Zu den zahlreichen Gründen, aus denen die HerausgeberInnen der 24bändigen Brockhaus Enzyklopädie der 19. Auflage eine Ohrfeige verdient hätten, zählt der Umstand, daß sie beispielsweise nicht nur Lewis Mumford, Randy Newman, Claude Tillier, Karl Friedrich Zörgiebel, sondern auch die Ohrfeige übergangen haben. Brockhaus (Band 16 von 1991) kennt keine Ohrfeige. Dabei hätte sich der Sozialdemokrat Zörgiebel sogar als Empfänger einer Ohrfeige angeboten. Sie war auf den berüchtigten Blutmai 1929 gemünzt, den Zörgiebel als damaliger Berliner Polizeipräsident nicht unerheblich mitzuverantworten hatte. Bei den Demonstrationen hatte es eine Orgie seiner Schutzleute gegeben, die 32 Tote und rund 200 zum Teil schwer Verletzte hinterließ. Daraufhin erstattete der »rote« Rechtsanwalt Litten eine Strafanzeige gegen Zörgiebel, die erwartungsgemäß abgeschmettert wurde. Also griff Litten im November 1930 nach der Ohrfeige als nach einer List. Nun ist Zörgiebel lediglich als Zeuge in einem Verfahren gegen Mai-Demonstranten geladen. Jungkommunist Hermann Heidrich verpaßt ihm einen Hieb und erklärt, es sei sein gutes Recht, einen Sozialdemokraten, der 32 Arbeiter umbringen ließ, durch eine Ohrfeige zu züchtigen. Prompt bekommt Heidrich den erwünschten Prozeß wegen Körperverletzung! Eine Berufungsverhandlung findet im November 1931 vor dem Reichsgericht statt. Littens Beweisantrag, Zörgiebels Schuld am »Blutmai« 1929 zu klären, wird jedoch mit der sensationellen Begründung nicht stattgegeben, man erachte Littens Darstellung ohnehin für wahr. Es habe damals unbestreitbar zahlreiche Exzesse der Berliner Schupo gegeben – der offensichtlich zahlreiche kommunistenfeindliche Beamte angehörten. Die Polizei habe versagt. Dies rüttele freilich nicht an der Strafwürdigkeit jener Ohrfeige. Trotzdem wird Heidrich, soweit ich weiß, am Ende freigesprochen.
~~~ Allerdings kam auch Zörgiebel ungeschoren davon. Es ist noch nicht einmal eine tränenreiche Entschuldigung von ihm bekannt, wie sie heutzutage so beliebt ist – siehe etwa seinen späteren Amtsnachfolger »Knüppel-Erich« Duensing wegen Benno Ohnesorg. Bestraft wurde auch Duensing nicht. Er begab sich »freiwillig« in den vorzeitigen Ruhestand. Zörgiebel dagegen konnte später, nach Zwischenspielen in Köln und Dortmund und einer Zwangspause unter Hitler, sogar auf seine Berliner Erfahrungen zurückgreifen: er amtierte von 1947 bis zu seiner Pensionierung 1949 als Polizeipräsident des Landes Rheinland-Pfalz. 1953 wurde er mit dem Großen Bundesverdienstkreuz geehrt. Hätte sich das im Brockhaus nicht gut gemacht?
~~~ Den Schriftsteller Leonhard Frank finden wir zwar in der gediegenen Enzyklopädie, jedoch seine Ohrfeige gegen einen Parteigenossen Zörgiebels nicht. Frank hatte 1915 in einem Berliner Cafe den sozialdemokratischen Journalisten Felix Stössinger geohrfeigt, weil dieser die Versenkung des britischen Passagierschiffs RMS Lusitania durch deutsche U-Boote als »größte Heldentat der Menschheitsgeschichte« bezeichnet hatte. Die Heldentat sorgte für knapp 1.200 Tote und zudem, nach der Ohrfeige, für Franks Emigration in die Schweiz. Dort verfaßte er dann in aller Ruhe seine in der Tat etwas betulichen Romane, die ihn berühmt machten. Man kann sie gut oder schlecht finden – Franks sportliche Glanzleistung gegen Stössinger bleibt davon unberührt.
~~~ Hier noch ein Beispiel aus der Zeit des »Kalten« Krieges. Im April 1956 hatte der bekannte Wiener Literaturkritiker und Autorenförderer Hans Weigel die noch prominentere Burgtheater-Schauspielerin Käthe Dorsch im örtlichen Blatt Bild-Telegraf wegen ihrer Bühnendarbietung angepinkelt, wie sie fand. Prompt lauerte sie ihm vor seinem Stammcafe Raimund auf und haute ihm eine runter. Durch diesen brutalen Akt verbog sie erstens Weigels Brille, zweitens trat sie das Recht auf freie Meinungsäußerung mit Stöckelschuhen. Weigel verklagte sie also, zumal sie ja vor 10 Jahren (im November 1946) den Ostberliner Theaterkritiker Wolfgang Harich auch schon geohrfeigt und folglich mit einem Wiederholungszwang zu kämpfen habe. Der Prozeß ersetzte fast eine ganze Saison mit drei Komödien. Am Ende (7. Juni) wurde Dorsch eine Strafe von 500 Schillingen zugemutet, das waren rund 80 Mark, also für einen Bühnenstar nicht mehr als ein Trinkgeld. Das Publikum hatte noch einmal Glück gehabt, denn schon im folgenden Jahr erlag Dorsch, mit knapp 67, einem Leberleiden. Einen hübschen Kommentar zu Dorschs Tätlichkeit soll damals* Helene Thimig abgegeben haben, die Witwe Max Reinhardts. Wenn das Schule mache, müßten sich die Schauspielerinnen wohl bald auch für gute Kritiken durch Gewährung von Liebesnächten erkenntlich zeigen.
~~~ Wie bereits diese drei Fälle andeuten, kommt es bei der Ohrfeige häufig mehr auf den Symbolgehalt als auf die Wucht an. Sie soll vor allem zurechtweisen und kränken – was ihr offensichtlich auch dann gelingt, wenn sie keinen Bluterguß hervorruft, wie schon Legionen von Schulkindern, Dienstboten, Ehefrauen und anderen Untergebenen erfahren mußten. In dem Kinofilm Die Ohrfeige von 1974 wirft ein Universitätsprofessor (Lino Ventura) seine 18jährige Tochter (Isabelle Adjani) backpfeifend aus dem Haus. Wachsame Kinomanen könnten hier freilich verächtlich von einem mageren Abfall gegen den deutschen Slapstick-Streifen Sieben Ohrfeigen von 1937 sprechen, der nach einem Roman des Ungarn Károly Aszlányi entstand. Ein Kleinaktionär rächt sich für Kurssturz sowie schnöden Hinauswurf aus dessen Vorzimmer am Londoner Stahlmagnaten Astor Terbanks, indem er diesem, nach öffentlicher Ankündigung und trotz wechselnder Abschirmung, an sieben aufeinander folgenden Tagen je eine Ohrfeige verpaßt. Am Schluß kriegt William Tenson MacPhab (Willy Fritsch) selbstverständlich als Belohnung auch noch die Tochter des geschlagenen Magnaten, Lilian Harvey. Ich nehme allerdings an, lieber noch hätten die deutschen Universum-Leute (der Berliner UFA) damals die ganze britische Insel in den Meeresgrund gestampft. Um noch weiter zurückzugreifen: Im thüringischen Städtchen Treffurt gibt es sogar ein 1608 errichtetes stattliches, dreigeschossiges Fachwerkgebäude mit Ochsenaugen im Dach und einem großen Eck-Erker, das seit Jahrhunderten Ohrfeigenhaus heißt, obwohl sich der treffende Übergriff wahrscheinlich vor demselben abspielte. Der Landesfürst hatte dem Amtmann Bley gestattet, sich im Walde Bauholz für ein bescheidenes Eigenheim zu schlagen. Als er jedoch vor einer prächtigen Villa stand, ohrfeigte er seinen Beamten. Vermutlich hatte die Maßregelung etliche BürgerInnen und Frechdachse als Augenzeugen, die die Geschichte wie das sprichwörtliche Lauffeuer durch das Städtchen an der Werra gehen ließen.
~~~ Von diesen Bemerkungen her wird die Beliebtheit der Ohrfeige als Metapher verständlich. Schreibt der Sportreporter, Fußballclub A habe Fußballclub B »fünf schallende Ohrfeigen« versetzt, meint er selbstverständlich Tore – und macht die Balltreter aus B zum Gespött. Auch dem Boxer Dereck Chisora (28) ging es nicht ums Verprügeln, als er den von ihm herausgeforderten amtierenden Schwergewichts-Weltmeister Vitali Klitschko (40) im Februar 2012 in München ohrfeigte. Der Ringrichter hatte den Ring sowieso noch gar nicht freigegeben. Chisora ohrfeigte seinen Erzfeind beim Wiegen vor der versammelten Presse, um ihn zu demütigen. Er hoffte, Klitschko werde »sein Gesicht« und damit ein unsichtbares Ding namens Ehre schon vor dem Kampf verlieren. Dieser selbst stand immerhin schon fest. Wie von Winfried Speitkamp zu erfahren ist**, ließ sich einstmals durch eine gezielte Ohrfeige sogar ein zuvor verweigertes Duell erzwingen, wofür sich ein hübsches, wenig heldenhaftes Beispiel in den Anekdoten des Nicolas Chamfort findet.*** Nachdem Paul d'Albert de Luynes (1703–88) als junger Offizier aufgrund weiß der Teufel welcher Beleidigung von einem Kollegen geohrfeigt und also zum Duell herausgefordert worden war, fielen den französischen Adelssproß Kleinmut und Zaudern an. Daraufhin stellte ihn seine Mama vor die Wahl: Duell oder Abschied. Paul entschied sich für das zweite und brachte es später immerhin noch bis zum Erzbischof von Sens an der Yonne, einmal ganz davon abgesehen, daß er erst im vergleichsweise biblischen Alter von 85 Jahren zu seinem Chef einzugehen hatte.
~~~ Was nun die von Kampfsportler Chisora verabreichte Ohrfeige betrifft, konnte ihre körperverletzende Rolle, juristisch gesprochen, nahezu vernachlässigt werden; sie war vor allem tätliche Beleidigung. Der Boxverband fand sie zudem unsportlich, weshalb er dem dunkelhäutigen Briten 50.000 Dollar Strafe und eine Sperre aufbrummte. Wie sich tags darauf zeigte, hatte sich Chisora völlig verrechnet, denn statt den Weltmeister aus der Ukraine zu entmutigen, wurde dieser von der Ohrfeige noch beflügelt. Klitschko trug im eigentlichen Duell den Sieg davon. Seine Einnahmen aus diesem Kampf darf man getrost auf ungefähr drei Millionen Euro schätzen. Im ganzen hat der Champion in 47 Profikämpfen erst zwei Niederlagen kassiert. Wie sich versteht, stieg neben Klitschkos Kontostand auch sein Ruhm; schon die Ohrfeige hatte große Schlagzeilen gemacht. Hier wirkt das von Speitkamp erkannte Gesetz, am Echo, das eine Ohrfeige in der Öffentlichkeit und bei der Justiz erziele, lasse sich die Bedeutung des Geschmähten ablesen. Darauf kommen wir gleich zurück.
~~~ Eine hübsche Anwendung der Ohrfeige als Metapher bot im Herbst 2009 der bayerische Fischereiverbands-funktionär Hans Schießl. Als Naturschutzverbände den Kormoran zum Vogel des kommenden Jahres 2010 kürten, wetterte Schießl, diese Wahl sei für die Teichwirte im Landkreis Schwandorf Ohrfeige. Der reiherähnliche schwarze Vogel ernährt sich hauptsächlich von Fischen. Schießl, wohnhaft in Schwarzenfeld, hatte bei seiner Retourkutsche vermutlich rote Wangen, die sich im regionalen Farbfernsehen besonders eindringlich geltend machten. Im selben Herbst 2009 zog Alois Karl aus Neumarkt handfest nach. Als ihm die 40jährige Landwirtin Regine Lehmeier Mitte September im oberpfälzischen Lauterhofen zum Protest gegen die niedrigen Erzeugerpreise einige Liter Milch über den Anzug kippte, revanchierte sich der 58jährige CSU-Bundestagsabgeordnete mit einer Ohrfeige. Lehmeier versicherte damals dem Wochenblatt Focus, ihr Kopf habe noch nach Tagen wehgetan. Ende Oktober erstattete sie Anzeige wegen Körperverletzung, einen Monat später stellte die Nürnberger Staatsanwaltschaft ihre Vorermittlungen ein, da »kein öffentliches Interesse« an einer Strafverfolgung bestehe. Der Abgeordnete sei provoziert worden, in seiner Reaktion habe »keine besondere Rohheit« gelegen, die Verletzungen der Frau seien nicht schwerwiegend und Karl nicht vorbestraft gewesen.
~~~ Im gegenteiligen Fall hätte die Staatsanwaltschaft übrigens zunächst einmal die Aufhebung der Immunität des Bundestagsabgeordneten beantragen müssen. Diese »Immunität« wurde dereinst vom Gesetzgeber angeblich deshalb eingerichtet, um anzeigewütige BürgerInnen daran zu hindern, die Funktionsfähigkeit des Parlaments lahmzulegen. Eine durchaus veraltete Einrichtung, legt sich das Parlament doch inzwischen mit Handkuß selber lahm.
~~~ Die Nürnberger Staatsanwaltschaft ist also schuld, wenn wir nie erfahren werden, ob Karl für seine Attacke auf Lehmeier mehr oder weniger als 12 Monate Gefängnis bekommen hätte. Damit spiele ich auf die berühmte Ohrfeige vom 7. November 1968 an, die Beate Klarsfeld dem amtierenden Bundeskanzler Kurt Kiesinger verpaßt hatte, weil sie ihn für einen Alt-Nazi hielt und als solchen öffentlich brandmarken wollte. Klarsfeld war damals noch am Tattag in einem von Staatsanwalt Niels Neelsen beantragten Schnellverfahren von Amtsgerichtsrat Eberhard Drygalla zu 12 Monaten Haft verurteilt worden. Damals war das Wochenblatt Spiegel (Nr. 46) noch nicht völlig auf den Hund gekommen. Gerhard Mauz: >>Die Höhe der Strafe hatte, so Amtsgerichtsrat Drygalla, nichts damit zu tun, daß der Bundeskanzler der Verletzte war. Der Versuch, politische Überzeugungen mit Gewalt zu vertreten, habe hart geahndet werden müssen. / Indessen: Wegen gefährlicher Körperverletzung, begangen an Rudi Dutschke, war gerade eben erst, am 11. Oktober, ein 60 Jahre alter Diplomingenieur in West-Berlin verurteilt worden – zu 200 Mark Geldstrafe. Die Strafe betraf einen Vorgang am Heiligen Abend 1967, bei dem Rudi Dutschke eine stark blutende Kopfverletzung erlitten hatte. Der Bundeskanzler wiederum war, der Anklage zufolge, »mißhandelt« worden – durch eine Ohrfeige. / Doch das Zwölf-Monate-Urteil bietet auch Anlaß zu Entsetzen für jene, die einzuräumen bereit sind, daß die Gleichheit vor dem Gesetz ein unerreichbares Ziel ist. Ein abgebissenes Ohr: vier Monate Gefängnis (zur Bewährung ausgesetzt) und 5.000 Mark Geldstrafe. Vier Monate Gefängnis ohne Bewährung dafür, daß ein 19jähriger auf dem Oktoberfest über eine Brüstung gestürzt wurde und ein halbes Jahr lang arbeitsunfähig war. Sechs Monate Gefängnis für einen drei Zentner schweren und zwei Meter großen Angeklagten, der in vier Fällen schwere Körperverletzung begangen hatte. Freispruch für einen Angeklagten, der den Freistaat Bayern einen »Saustall« nannte.<<
~~~ Ich füge noch einen angenehmen Kontrast hinzu, den 1974 die Wiesbadener Amtsrichterin Petra Unger (29) in einem Verfahren gegen den Studenten Horst Wesemann setzte, der Gerhard Löwenthal, den bekannten reaktionären Moderator des ZDF Magazins, vor Löwenthals Wiesbadener Stammlokal Bobbeschänkelche eine Ohrfeige verabreicht hatte. Sie bestrafte Wesemann mit 150 DM. Der Vollständigkeit halber sei aber auch gesagt, daß Beate Klarsfeld ihre drakonische Strafe aufgrund ihrer französischen Staatsangehörigkeit nicht antreten mußte. Ein Jahr darauf wurde die Strafe in vier Monate auf Bewährung umgewandelt. Während Heinrich Böll Klarsfeld damals in Anerkennung der Tat rote Rosen nach Paris schickte, hielt ihr Günter Grass Irrationalität vor und rügte den Kollegen Böll. Kanzler Helmut Kohl trompetete später, die Tätlichkeit habe »die ganze Intoleranz und Brutalität der aggressiven Linken deutlich« gemacht. Da Kiesinger dereinst (im Faschismus) in Sachen »Rundfunkpolitik« leitender Zuarbeiter von Ribbentrop und Goebbels gewesen war, dürften sie alle, dem Volk wie dem Feind gegenüber, nur mit Samthandschuhen vorgegangen sein, um noch schnell eine andere Metapher zu bemühen.
~~~ Zusatz. Ende 2017 beschimpfte und ohrfeigte die 16jährige Palästinenserin Ahed Tamimi aus dem besetzten Westjordanland einen israelitischen Soldaten. Selbst die verkommene FR (Inge Günther am 19. Januar 2018) erwähnt den etwas früher gefallenen Schuß ins Gesicht von Tamimis 15jährigem demonstrierendem Vetter Mohammed sowie die Straflosigkeit einer »jungen rechtsradikalen Siedlerin« namens Yifat Alkobi. Der blondgelockten Tamimi jedoch brummt ein sogenanntes Militärgericht (der BesatzerInnen) im März 2018 acht Monate Gefängnis plus 1.200 Euro Geldstrafe auf. Laut taz (Susanne Knaul am 22. März 2018) hatte der Staatsanwalt sogar drei Jahre gefordert.

∞ Verfaßt um 2012
* laut Spiegel 24/1956
** Winfried Speitkamp, Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre, Stuttgart 2010
*** Nicolas Chamfort: Gefunden in der Ausgabe Ein Wald voller Diebe. Maximen, Charaktere, Anekdoten, Nördlingen 1987, Seite 185

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