Donnerstag, 9. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 26
Marlitt – Moritz

Wer sich einen Ausflug nach Arnstadt gönnt, weil er knöchelbrechendes mittelalterliches Marktpflaster oder noch nicht stillgelegte Bahnnebenstrecken schätzt, kommt an »der Marlitt«, nämlich an Eugenie Marlitt (1825–87) nicht vorbei. Der Stadtplan hebt ihre Villa oberhalb der ehemaligen Stadtmauer hervor; die einstige Leihbücherei an der Fußseite des spitz zulaufenden Marktplatzes, über der sie (1825) geboren wurde, hat sich neuerdings, nach der berüchtigen ostdeutschen »Wende«, ins Cafe Marlitt verwandelt. Ich sperre mich jedoch, krame meinen Reiseapfel aus dem Rucksack und steuere die erwähnte Villa an, die inzwischen (2017), man ahnte es bereits, in der Marlittstraße liegt, früher Hohe Bleiche.
~~~ Ab 1865 hätte die Marlitt selber ihre Röcke raffen und in die damals noch deftig dampfende Eisenbahn klettern können, um beispielsweise den Fürsten Pückler auf Schloß Branitz bei Cottbus zu besuchen. Mit dem greisen Schürzenjäger (82!), der ihr einen überschwenglichen Leserbrief schickte, sollte es 1868 zu einem kurzen Briefwechsel kommen. Soweit ich weiß, verreiste sie allerdings ab diesem Alter, um 40, überhaupt nicht mehr. Sie war oder fühlte sich schon zu gebrechlich für dergleichen Abenteuer. 1887, mit 61, starb sie in ihrer damals noch mörtelfrischen Villa. Zu Marlitts Zeit hatte Arnstadt, um 1700 vorübergehend Schwarzburger Residenz, ungefähr 10.000 EinwohnerInnen. Neben dem Ex-Schloß wies es Solbäder auf, und so trudelten mit der neuen Eisenbahn vermehrt »blasierte« Berliner Geheimrätinnen am Nordrand des Thüringer Waldes ein, »die mit ihren Crinolinen die Wege unsicher machen«, wie Marlitt einmal in einem Brief an ihre Wiener Freundin Leopoldine spottet [Hobohm, S. 37]. Der so genannte käseglockenförmige, durch Reifen verstärkte Unterrock hatte meist ein Schock weiterer Röcke zu halten oder zu stützen. Die Damenbekleidung war Eindruck schindende, üppig beleuchtete Festung, letztlich aber nur Zuchthauszelle. Auch die Bonner »Regierungsrätin«, die durch Marlitts Mamsell (von 1867) rauscht, erscheint meist in Krinoline. Ob sich die Schriftstellerin selber auch nach ihrer Zeit bei Hofe noch anstandshalber öfter in diese Folterkammer zwang, läßt sich den dürren Quellen nicht entnehmen.
~~~ Der Zeitschriften-Fortsetzungsroman Das Geheimnis der alten Mamsell markierte Marlitts endgültigen »Durchbruch«. Schon im Februar 1868 erschien eine Buchausgabe. Da ich das Werk vor kurzem törichterweise von vorn bis hinten gelesen habe, schlage ich als Waschzettel für die nächsten, garantiert kommenden Auflagen vor: Bettelarme Waise, Tochter einer einst aus Adel verstoßenen, nun »tragisch« verunglückten Gauklerin, wird von hartherziger und habgieriger (Arnstädter) Patrizierin als Magd versklavt. Mit Hilfe einer Verwandten der Patrizierin, eben jener ins Hinterhaus abgeschobenen, sehr gebildeten und kunstliebenden »alten Mamsell«, erträgt die stolze und selbstverständlich wunderschöne Felicitas nicht nur alle Schmach und Schinderei; es gelingt ihr überdies, wenn auch ungewollt, den ungehobelten, rechthaberischen und zu allem Unglück auch noch vollbärtigen Sohn der Patrizierin zu läutern, einen angehenden Medizinprofessor. So verwahrt sich dieser just, als Felicitas im heiratsfähigen Alter und hinreichend (heimlich) unterrichtet worden ist, gegen das an ihr und der Mamsell begangene Unrecht und führt die junge Holde, von der jetzt sogar die hohe Abkunft bekannt wird, triumphal als die zukünftige Frau Professor heim.
~~~ Vielleicht wäre die Behauptung zulässig, die leibhaftige Eugenie Marlitt habe es verstanden, verschiedene Nöte in eine Tugend zu verwandeln. Das Glück, das sie schließlich ihren Gartenlauben-Lesern servierte, hatte stets einen Bogen um ihre wechselnden Stuben gemacht. Vor allem nach der Mädchenzeit war ihr Los eher hart. Ihr Vater, ein gelernter Kaufmann, hatte die bereits erwähnte Leihbücherei betrieben, machte jedoch bankrott und hielt die Familie (fünf Kinder) hinfort als Kunst-, vor allem Porträtmaler recht mühsam über Wasser. In dieser, vermutlich als beschämend empfundenen Verarmung könnte eine frühe Quelle von Marlitts Sorge ums Familienwohl und ihrem Trachten nach materieller Sicherheit liegen [Necker]. Im übrigen heißt es, das kleine Mädchen war verträumt. Zwar durchaus aufgeweckt, doch seine Streifzüge unternimmt es vorwiegend allein [Merbach, S. 12]. Möglicherweise träumte es dabei bereits seine späteren, vielverschlungenen Romane.
~~~ Auch die Mutter schätzt die Künste. Mit 16 wird Tochter Eugenie bei der Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen zwecks musikalischer Ausbildung untergebracht, denn E. singt gern und gut. Das Residenzstädtchen Sondershausen (nördlich von Erfurt) war mit rund 5.000 Einwohnern nur halb so groß wie Arnstadt (südlich von Erfurt). Diese Ausbildung ihres bald bevorzugten Schützlings läßt Mathilde, bis 1846, am Wiener Konservatorium vervollkommnen. Zwar tritt E., eine kleine, zierliche, hübsche, etwas breitgesichtige Dunkelhaarige mit blauen Augen, im folgenden als Opernsängerin unter anderem in Olmütz, Krakau, Lemberg auf, dabei stets von einer ehemaligen Kammerfrau oder ihrer eigenen Frau Mama begleitet beziehungsweise bewacht. Doch schon ihre Premiere (in Leipzig) wird von ihrem heftigen Lampenfieber beschädigt. Um 1850 paart sich diese Schwäche mit einem Gehörleiden, das bis heute gern übertrieben wird, dabei als rein körperliches Gebrechen. Abhilfe schaffen auch Konsultationen bei verschiedenen Ärzten nicht. Marlitt selber bekennt 1861 in einem Brief an Leopoldine, es habe sich um eine »Folge allzu großer Anstrengung beim Singen und einer nie zu beseitigenden Aufregung und Angst beim Auftreten« gehandelt [Hob. S. 29] – noch heute verbreitete, wohlbekannte Krämpfe. Dieser Rückschlag stürzte die angehende Künstlerin auch nach eigenem Eingeständnis in längere Schwermut. 1853 hängt sie ihre Karriere an den Nagel, um dafür der inzwischen geschiedenen Fürstin persönlich im Jagdschloß Friedrichsruhe bei Öhringen (Württemberg) und in deren Münchener Palais sowie auf Reisen als Gesellschafterin (Vorleserin, Sekretärin, Krankenpflegerin) zu dienen. Dieser Vorschlag, immerhin an eine »Bürgerliche«, war von der Fürstin gekommen.
~~~ In der Mamsell malt Marlitt das Bürgerliche geradezu bilderbuchreif. Die Geschichte kommt aber leidlich gut voran, da die Autorin, in stilistischer Hinsicht, nicht ganz so umstandskrämerisch veranlagt wie Stifter oder Dickens ist. Als frühere Musikerin versteht sie es auch, einen Spannungsbogen zu halten. Was sich dagegen kaum von der Stelle bewegt, sind fast sämtliche Charaktere der Geschichte. Sie bleiben so weiß oder schwarz, wie sie sind. Große Ausnahme: Johannes Hellwig, Sprößling der Sklavenhalterin und designierter Medizinalrat, den der von Felicitas ausgesandte »Strahl der Liebe« erweicht und verwandelt. Ob die Autorin wirklich an die läuternde Kraft der großen Liebe und deren überragende Bedeutung für das Glück des Menschengeschlechts glaubte, werden wir womöglich nie erfahren. Eigentlich war ja in Marlitts Milieu ringsum zu beobachten, wie rasch die große Liebe zum Giftzwerg schrumpft und den Beteiligten eher zum Unglück gereicht. Dafür steht fest, die Autorin hatte ein Auge für Unrecht, Widersprüche, Anmaßungen und Heuchelei; Religiöses eingeschlossen. Das muß man ihr lassen. Einmal beklagt sie sogar die »Herrschsucht« so vieler Menschen [Kap. 17] – ohne ihr freilich je auf den Grund zu gehen. Für sie ist Herrschaft oder Imperialismus ein Fehlverhalten, ein Irrtum. Mit der Sozialen Frage im Sinne des radikalen Flügels der »48er«, also dem Skandal der tiefverwurzelten Einteilung der Welt in Eigentümer und Habenichtse, Herren und Knechte, Durchblickende und Dumme, hat Marlitt nichts am blumengeschmückten Hut. Hinter den preußischen oder österreichischen Gutshöfen, Kasernen, Amtsgerichten, Fabriken und Fabrikantenvillen, die sie ja selbst in ihrem Arnstädtchen gesehen haben muß, steckte kein System. Ihre eigene Villa gesellte sich bald hinzu.
~~~ Ich komme auf Marlitts neue »Arbeitgeberin« Mathilde zurück, die Fürstin. Nach 10 Jahren, 1863, trennen sich die beiden Damen wieder voneinander. Sprechen Nachschlagewerke oder Webseiten zumeist von einer aus sparpolitischen Gründen erfolgten Entlassung seitens der Fürstin, dürfte beides schief, wenn nicht sogar falsch sein. Immerhin stattete Mathilde Marlitt mit einer mehr oder weniger kleinen Rente aus, die ihrem damaligen Gehalt entsprochen haben soll.* Auch verlor Marlitt nie die Achtung vor Mathilde, die übrigens lediglich rund 10 Jahre älter als ihre Gesellschafterin war. Aber die aufs Abstellgleis geschobene Fürstin pflog ihre Launen und kränkelte zunehmend; für Marlitt muß sie ähnlich anstrengend wie das Singen gewesen sein. Ich nehme an, gewisse finanzielle Schwierigkeiten der Fürstin waren lediglich der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen, nämlich E. zu Kündigung und Flucht in die Heimat brachte. Ein Bruder der Fürstin, Prinz Felix von Hohenlohe, hatte sich enorm verschuldet und war schließlich abgetaucht. Das schlug der Fürstin gewaltig sowohl aufs Gemüt wie auf den Geldbeutel. Prompt wurde E. gleichfalls »körperlich leidend«, wie sie Leopoldine verrät, wobei sie auch auf zahlreiche schlaflose Nächte in den letzten drei Jahren ihres Dienstverhältnisses hinweist. Schließlich hätten ihr ihre Nerven ihrerseits »den Dienst aufgekündigt«. »Ich war daher meiner Stellung, die mir täglich neue Erschütterungen brachte, nicht mehr gewachsen, und ging mit Beginn der milderen Jahreszeit wieder zurück in meine Heimat.« [Hob. S. 42] Hier nimmt die alleinstehende Ex-Gesellschafterin, inzwischen Ende 30, recht zielstrebig eine Laufbahn als freie Schriftstellerin in Angriff. Damit folgt sie verschiedenen, schon in Süddeutschland angestellten literarischen Versuchen, die sie ermutigt hatten – und, nach offizieller Leseart, erneut ihrer Hauptsorge, ihren Eltern und Geschwistern eine Stütze zu sein.
~~~ Selbst ihr Bewunderer Günter Merbach räumt [auf S. 51] ein, zumindest für ihr eigenes Empfinden war Marlitt in jenem Jahr 1863 als Gescheiterte heimgekehrt. Sie war berufslos, ruhmlos und sogar gattenlos. Solche jungen ledigen Frauen galten damals weithin als »alte Jungfern« – kein Ruhmestitel. Ob Marlitt freilich jemals ernsthaft versuchte, einen Mann zu ergattern, scheint fraglich. Die Quellen erwähnen eine Schülerliebe, die angeblich durch die Familie des betreffenden Jünglings rasch unterbunden wurde – aus Standesdünkel, Marlitts Romanthema! Was ihre Ausbildungszeit in Wien angeht, weist sie gezielt gestreute Gerüchte von überrundeten Hofschranzen, sie habe dort ein unanständiges Leben mit zahlreichen Liebschaften geführt, empört zurück; sie bekniet ihre dortige Freundin Leopoldine brieflich, die Wahrheit, also das Gegenteil, zu bezeugen [Hob. S. 26]. Das tut die Freundin. Moritz Necker erwähnt zudem eine sehr kurzzeitige Verlobung in Süddeutschland. Der nicht namentlich bekannte Bräutigam soll eher ein armer Schlucker gewesen sein. Dieses Mal habe Marlitt, die fürstliche Gesellschafterin, von der Verbindung Abstand genommen – angeblich, um ihr Unterstützungswerk fürs Elternhaus nicht zu gefährden.
~~~ Man sollte vielleicht bedenken: diese junge Kleinstädterin war grundsätzlich schüchtern, also nicht nur als angehende Opernsängerin. Das widerspricht Merbachs Feststellung, Marlitt sei von Kind auf »sehr ehrgeizig« gewesen [S. 16], keineswegs. Sie selber nennt sich außerdem »stolz« [Merb. S. 89], ferner »sehr mißtrauisch und verschlossen« [Hob. S. 126]. Diese Aussagen über einen in der Regel eher männlichen Zug dürfte Marlitt in der Mamsell [Kap. 19] bekräftigt haben, wenn sie feststellt: »Felicitas trug ihren tiefen Schmerz schweigend, mit jener Selbstbeherrschung, die groß angelegten Charakteren eigen. Die Schwäche, welche Trost im Zureden anderer sucht, kannte sie nicht – seit ihrer Kindheit war sie gewöhnt, alles Schwere mit sich allein auszukämpfen und ihre Seelenwunden ausbluten zu lassen, ohne daß ihre nächste Umgebung das Vorhandensein derselben ahnte.«
~~~ Und sicherlich ging es nicht nur um die »Seele«. Man darf wohl getrost befürchten, Marlitt habe von der sexuellen Frage ähnlich wenig Ahnung wie von der sozialen gehabt. Als der geläuterte Professor Johannes Hellwig (in der Mamsell) seinen Heiratswunsch äußert, hat er von seiner Zukünftigen, dieser »süßen Nachtigall unter – den Raben« [Kap. 21], bestenfalls einmal eine Feder oder ein Patschhändchen gestreift. Kaum ist das Brautpaar jedoch nach Bonn abgereist, fangen überall die Stricknadeln für Strampelhöschen zu klappern an. Hier muß die allgemeine, den Frauen in ganz Europa aufgezwungene viktorianische Einfalt am Werke gewesen sein. Kurz, ich vermute stark, Marlitt selber hat weder die Wonnen noch die Qualen sexueller Begegnungen jemals erfahren, ob mit Männern oder Frauen. Hatte sie wenigstens die Notlösung der »Selbstschändung« drauf, wie es damals Legionen von Pastoren, Pädagogen, Ärzten und Philosophen nannten? Diese Sittenwächter, darunter Esel oder Böcke wie Kant, Rousseau, Salzmann, Johann Heinrich Campe, warnten in einem fort vor der schrecklichen moralischen, seelischen und körperlichen Verwahrlosung, die durch Masturbation drohe. Nun, wir wissen es nicht. Angesichts jener Verschlossenheit der Marlitt dürfte es auch verfehlt sein, sich diesbezüglich für die Zukunft neue Forschungsergebnisse zu erhoffen.
~~~ Biograf Günter Merbach betont dafür wie so manche andere, Marlitt habe ihren Vater sehr geliebt und verehrt. Von Streit oder von unangenehmen Zügen ihres Erzeugers ist nirgends die Rede. Dieser gütige, gute Vater könnte glatt aus einem Marlitt-Roman stammen. In einem Brief an Leopoldine [Hob. S. 60] schildert sie ihn sogar. Der Tod ihres »theuren« Vaters (1873) habe eine »furchtbare Lücke« in ihr Dasein gerissen; »die Wunde schließt sich nicht wieder, ich weiß es. Ich hänge mit inniger, fast möchte ich sagen, fanatischer Liebe an meinen Angehörigen, zu der sich, meinem Vater gegenüber, noch eine tiefe Verehrung gesellte. Er war ein ungewöhnlicher Geist, ein rastloser, scharfer Denker bis nahe an seine letzten Lebensstunden, und dabei breitete eine humane Lebensanschauung, ein Gerechtwerden der fortschreitenden Zeit und ihrer jeweiligen Anforderungen eine unbeschreibliche Milde über sein ganzes Wesen.« Zur Mutter scheint sie sich dagegen gar nicht geäußert zu haben. Diese starb bereits 1853. Später kommt Marlitt einmal, in einem Briefsatz [Hob. S. 30], auf den »herbsten Verlust, der ein Menschenherz treffen kann«, zurück, nämlich auf jenen frühen Hingang ihrer »theuren« Mama – eine bekannte, für die erlauchte Freundin bestimmte Kurzarie, wobei »theuer« ohnehin zu Marlitts Lieblingswörtern zählt.
~~~ Als Autorin hat Marlitt Glück. Ernst Keil, der Gartenlauben-Chef, erwärmt sich gleich für ihre erste, in Leipzig eingereichte Arbeit; ab 1865/66 ist sie bereits Stammautorin des Wochenblatts, ja sogar Zugpferd. In Arnstadt lebt sie zunächst bei ihrem Bruder Alfred, einem Oberlehrer mit Familie. Er bestärkt sie und wird gleichsam ihr Agent. Aufgrund ihres überraschenden und raschen Erfolges kann sie schon 1871, mit Vater und Bruder, ihre neuerrichtete Villa »Marlittsheim« (so der ursprüngliche Name) am Berghang beziehen, unter sich die Altsstadt, über sich Wald. Es heißt jedoch, die Erfolgsschriftstellerin habe nie geprahlt und geprunkt. Nach Merbach war sie, trotz ihres Ehrgeizes, »unendlich bescheiden« bis zuletzt [S. 151]. Jedenfalls schenkte sie offenbar gern und übte auch im größeren Maßstab Wohltätigkeit.
~~~ Den Hochmut, den Marlitt am Adel haßte, kannten ihre Dienstboten [Merb. S. 124] sicherlich kaum. Die Schriftstellerin wird als häuslich und als Liebling ihrer die Villa bevölkernden Nichten und Neffen beschrieben. Bekanntschaften, auch mit Berufskollegen, meidet sie. Unglücklicherweise gesellt sich zu ihrer Schwerhörigkeit schon vor dem großen Umzug in die neue Villa ein Gelenkleiden, vielleicht Rheuma, Arthrose, Gicht. Der Verdacht auf einen psychosomatischen Zug liegt auch in diesem Fall nahe. Aufregungen sind Gift für Marlitt. Für Necker stand das Gelenkleiden »in einem unaufgeklärten Zusammenhang mit ihren Nerven.« Man könnte mutmaßen, es sei Marlitts wichtigste Fessel an den gut abgeschirmten Schreibtisch gewesen. Zuletzt sitzt sie überwiegend im »Fahrstuhl«. Damit konnte sie freilich den hübschen Treppenhaus-Turm ihrer Villa nicht erklimmen, wie sie es hin und wieder liebte. 1883 läßt sie sich einmal in einem eigens erworbenen »Tragstuhl« ins »Turmzimmer« befördern, doch auf dem Rückweg zur Erde fällt sie unglücklich aus demselben, weil eine Stange brach – Knieverletzung und rund ein Jahr schreibunfähig. Sie wird vom Chirurgen und »Poeten« Richard von Volkmann alias Leander aus Halle behandelt. Im Winter 1879/80 war sie von Gürtelrose heimgesucht worden. Allgemein kränkelte sie zunehmend, blieb jedoch heiter, wie es überall heißt, solange sie ihr »Pensum« schreiben konnte. Im Winter 86/87 wird sie von einem wohl besonders qualvollen Ende mit Rippenfellentzündung und »Lähmungen« an Magen und Herz ereilt. 61 Jahre alt, stirbt sie im Juni.
~~~ Die erfolgreiche Autorin aus Thüringen, meist im Fach »trivialer« oder »sentimentaler Literatur« geführt, gilt als erste (weibliche) »Bestsellerautorin« überhaupt. Sie kam in knapp 20 Jahren auf rund ein Dutzend Bücher, die durchweg hohe Auflagen und etliche Übersetzungen erfuhren; auch gesellten sich Raub-Dramatisierungen hinzu, die Keil und Marlitt als »verballhornt« empfanden. Der Bedarf war offensichtlich da. Vor allem dank der Beiträge Marlitts hatte sich die Auflagenhöhe der Gartenlaube in 10 Jahren (1866–76) mindestens verdoppelt. Da steckte man die Anwürfe aus der germanistischen Ecke gerne ein.
~~~ Die Marlitt ging, ihre Villa blieb. Laut Merbach gab es nach der Testamentseröffnung langwierige Erbstreitigkeiten – es war wie in Marlitts Romanen. Wie das Gebäude in der DDR genutzt wurde (wo Marlitt als Produzentin von »Kitsch« und »Kolportage« verfemt worden war), ist nirgends zu lesen. Um 1990, mit der bereits gestreiften »Wende«, trat vermutlich eine Änderung ein. »Nunmehr« sei das Gebäude, so Merbach 1992, »in Privatbesitz und der Öffentlichkeit leider nicht zugänglich.« [S. 192] 2003, mit knapp 75 Jahren, starb Günter Merbach. Er gilt als wichtigster Anreger einer Interessengemeinschaft Marlitt e.V., die nach wie vor aktiv ist. Gleich 1993 sorgte sie beispielsweise für den Wiederaufbau des Marlitt-Denkmals auf dem Alten Friedhof, das 1951 entfernt worden war. Sorgte die rührige IG womöglich auch für Marlitts Villa? Das Internet, die Webseite der IG eingeschlossen, verrät es nicht. Immerhin ist im Impressum der IG-Webseite als Vereinssitz »Marlittstraße 9 (Villa Marlitt)« angegeben – Kontaktperson: Inge Merbach. Vielleicht die Witwe oder eine Tochter des Verstorbenen?
~~~ Auch an der Villa selber hält man sich offensichtlich ein wenig bedeckt. Immerhin, die April-Sonne lacht, sodaß auf der Gartenseite der weiße Schriftzug Villa Marlitt am durch Giebel gekrönten Terrassenvorbau blinkt, und die darunter zu sehende Flügeltür steht einladend auf, wie ich von der Straße aus erspähe. Die Villa scheint also nicht entvölkert zu sein. Am Zaun kann ich weder Namensschilder noch Hinweistafeln entdecken. So wäre ja etwa der Hinweis denkbar: »Asylsuchende aus Übersee bitten wir, ihre Schwimmwesten abzulegen«. Gewiß, ich könnte das Grundstück kurzerhand betreten, notfalls durch eine Rolle über den Zaun – und würde mich sehr wahrscheinlich einmal mehr in die Nesseln setzen, in meinem Alter ungesund.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Laut dem anonymen Verfasser eines Nachwortes [ https://www.projekt-gutenberg.org/marlitt/thuererz/lebwerk.html ] zu Marlitts Thüringer Erzählungen, wohl der liebe Bruder Alfred John, der es ja wissen mußte. Er wird auch bei Merbach in einem Verzeichnis angeführt, S. 234.

Literatur: Moritz Necker: E. Marlitt, in: Die Gartenlaube, Leipzig 1899, Heft 9–12 # Günter Merbach: E. Marlitt. Das Leben einer großen Schriftstellerin. Aus alten Quellen zusammengestellt, Hamburg 1992 # Cornelia Hobohm (Hrsg): »Ich kann nicht lachen, wenn ich weinen möchte.« Die bisher unveröffentlichten Briefe der Marlitt, Wandersleben 1996




Haben wir den x-ten Frühverstorbenen zu betrauern? Für Brockhaus wurde Schuhmachersohn Christopher Marlowe, der in Cambridge studiert und bereits Ruhm als englischer Dramatiker, Lyriker und Übersetzer eingeheimst hatte, am 30. Mai 1593 im Alter von 29 Jahren »bei einem Wirtshausstreit erstochen«, aus die Maus.* Immerhin hatte er da ja schon Die tragische Historie vom Doktor Faustus, das Versepos Hero und Leander und das Drama Edward II. vollendet – was wollte er noch mehr? Erfahren zu wollen, worum es denn bei diesem »Wirtshausstreit« gegangen sei, wäre vielleicht zuviel verlangt, können sich doch herkömmliche gedruckte Nachschlagewerke stets auf »Platznöte« zurückziehen. Brockhaus ist aber überdies kaltschnäuzig genug, einen anderen Streit, der unter Literaturwissenschaftlern und -freunden seit mindestens 100 Jahren tobt, mit keinem Komma zu erwähnen: ob Christopher Marlowe möglicherweise an jenem Mai-, Zech- und Zahltag im Londoner Stadtbezirk Deptford keineswegs gestorben und ob er nicht vielmehr mit dem ebenfalls 1564 geborenen Stratforder Dramatiker William Shakespeare identisch gewesen sei. Die AnhängerInnen dieser, beispielsweise ausführlich im Wikipedia-Artikel »Marlowe-Theorie« vorgestellten Sicht (für die Gegenseite selbstverständlich eine Verschwörungstheorie) können sich dabei unter anderem auf Ungereimtheiten des Shakespearschen Lebens und Schaffens stützen, die heute so gut wie niemand mehr bestreitet.** Viele dem »Meister« aus Stratford zugeordneten Werke lassen sich nur für Einfaltspinsel jenem rothaarigen, biederen Kaufmann unterschieben, der weder vor Marlowes (angeblichem) Tod jemals durch literarische Produktion aufgefallen war noch nach seinem eigenen Ableben (1616) Hinweise auf eine solche hinterließ. Zudem war der Kaufmann bar aller höfischen Kontakte und wohl auch aller Fremdsprachenkenntnisse, ganz im Gegensatz zu dem jungen Marlowe.
~~~ Der umtriebige Akademiker Marlowe war zumindest zeitweise als Kundschafter im Auftrage Königin Elisabeths tätig gewesen, hatte dann aber schwer mit Vorwürfen wegen seines unverhohlenen »atheistischen« Denkens und Lebenswandels zu kämpfen. Als er an jenem unheilschwangeren 30. Mai im Hause der durchaus angesehenen Witwe Eleanor Bull mit Ingram Frizer, Robert Poley und Nicholas Skeres beim Abendmahle saß, waren gerade zwei enge Freunde Marlowes eingesperrt und gefoltert und noch andere »Ketzer« verfolgt oder gar aufgeknüpft worden, darunter Thomas Kyd.*** Marlowe befand sich ohne Zweifel in einer höchst bedrohlichen Lage, ihm winkte die Todesstrafe. Die »Verschwörungs-theoretikerInnen« nehmen deshalb mit etlichen guten Argumenten an, die Messerstecherei in dem Speisezimmer sei lediglich vorgetäuscht worden. Die Genannten hätten vielmehr Marlowe auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen, dafür den Untersuchungsrichtern eine »falsche« Leiche untergeschoben. Fortan habe Marlowe ein anonymes Leben geführt, allerdings unter verschiedenen Pseudonymen, darunter eben »William Shakespeare«, weiterhin literarische Werke veröffentlicht. Wahrscheinlich sei er erst 1655 in hohem Alter gestorben, und zwar in Gent, Flandern, also auf dem Festland.
~~~ Die bislang jüngste Munition der DenkmalschänderInnen packte ein pensionierter Münchener Medizinprofessor mit einem 700-Seiten-Wälzer auf den Tisch.**** Sein Werk wurde unter anderem von der FAZ verhöhnt und verrissen*****, was niemanden verblüffen wird, der an die vielen offiziell erlassenen Kanons nicht mehr ganz so fest wie kleine Kinder an den Nährwert des Goldes oder wie die kommunistische Tageszeitung Junge Welt an den »Klimawandel« glaubt. Im Falle Shakespears stehen neben der ungemein einträglichen Stratforder Tourismusbranche immerhin die sogenannte Reputation (auf deutsch »päpstliche Unfehlbarkeit«) und die entsprechenden Einkünfte von vielen Hundert literaturwissenschaftlichen Kapazitäten auf dem Spiel. Sie müssen recht behalten, damit ihre Sterne nicht sinken und ihre Preise nicht fallen. Das nordhessische, minder geweihte Blatt HNA (aus Kassel) nimmt solche Rücksichten erstaunlicherweise nicht, wie ein Artikel aus 2014 bezeugt.******

Das vorstehende Porträt war ab 2021 in meinem Blog-LdF zu lesen, das ich allerdings bald darauf wieder auflöste. Dagegen verkniff ich mir die Veröffentlichung der folgenden Arbeitsnotiz bis Mai 2023.

Die Lektüre von Bastian Conrads Wälzer (in der 5., angeblich »korrigierten« Auflage vom Januar 2016) ist aufgrund der dramaturgischen und stilistischen Mängel kein Vergnügen. Die Stoffülle erschlägt, und neben zahlreichen Wiederholungen verärgert die Armut in Ausdruck und Satzbau, die mit einem Reichtum an Druck- und Layoutfehlern einhergeht. Gleichwohl dürfte an Conrads Argumentation und Beweisführung gegen Shakspere gar nicht, und für Marlowe (= Shakespeare) kaum zu rütteln sein. Der junge Marlowe, denunziert, hatte seine Ketzereien überzogen und wurde 1593 qua »Messerstecherei« mit zumindest stillschweigender Billigung der Krone auf Betreiben seiner hochstehenden Gönner aus dem Verkehr, also in die Anonymität gezogen. Er galt hinfort als tot. Das hatte wohl vor allem den Sinn, die Gönner selber, voran William Cecil, zu schützen – hätte nämlich Marlowe unter Folter »ausgepackt«, wäre es seinen Gönnern gleichfalls an den Kragen gegangen. Daneben retteten sie so die Schaffenskraft eines erst jungen »Genies«. Den gleichaltrigen, biederen, völlig ungebildeten Kaufmann Shakspere, geb. 1564, aus dem Nest Stratford, der vorübergehend in London lebte und in der Theaterbranche investiert hatte, kauften sie als Marlowes Strohmann ein, auf daß Marlowes folgende Werke einen »Namen« bekämen und nachlaßfähig wären. Daneben schrieb Marlowe schon zu Shaksperes Lebzeiten unter zahlreichen anderen Pseudonymen, um seine Stratforder »Maske« nicht überzustrapazieren und ihr keine Schnüffler ins Haus zu schicken. Als Shakspere 1616 das Zeitliche segnete, veröffentlichte Marlowe fröhlich weiter unter vielen Pseudonymen, denn er war unglaublich produktiv und starb erstaunlicherweise erst im Oktober 1655 als Tobias Matthew in Gent, Flandern, wie jedenfalls Conrad glaubt, S. 588. Demnach wurde Marlowe trotz aller Ängste, Exilnöte und Arbeitswut 91 Jahre alt! Das ist für die Zeit enorm – merkwürdigerweise aber für den kritischen Conrad nie ein Grund zum Stutzen.
~~~ Ähnlich bleibt unerklärt, warum Marlowe das Komplott seines Untertauchens gefährdet, indem er sich, unter anderen Pseudonymen, wiederholt nur notdürftig verschlüsselte Anpinkeleien gegen seinen Stratforder Strohmann gestattet, der sich ungestraft mit fremden Federn schmücken dürfe, obwohl er eine taube Nuß oder ein Arschloch sei. Vielleicht beläuft sich die Erklärung auf Marlowes gewaltige Eitelkeit: er konnte nicht anders. Sie erklärt ja nebenbei auch den Hauptzweck der eigentlich überflüssigen Maske. Wenn schon nicht unter seinem eigenen, wollte Marlowe doch wenigstens unter einem anderen Namen weltberühmt, beweihräuchert und bewallfahrtet werden, eben als William Shakespeare aus Stratford. Doch es wurmte ihn 60 Jahre lang Tag und Nacht. Conrad erwähnt einmal Marlowes eher geringe Körpergröße; entsprechend muß der Minderwertigkeits-komplex des Schustersohnes, der sich nach »echtem« Adel (dem seiner Gönner) verzehrte, höher als der Tower gewesen sein. Nach Conrads Darstellung und Auslegung vieler, teils ungeklärter pseudonymer Quellen war Marlowe so stark von sich eingenommen, daß die Vorstellung, Neid, Bedauern und Selbstmitleid hätten geschlagene 60 Jahre an ihm genagt ohne ihm vorzeitig den Garaus zu machen, umso schwerer fällt.
~~~ Medizinprofessor Conrad, brav auch die akademischen Titel der angeführten Autoren nicht unterschlagend, räumt diese Eitelkeit nur hin und wieder und nur beiläufig ein. Die antiautoritäre Perspektive ist nicht sein Blick. Erwähnt er einmal, Leute wie Goethe hätten massiv zum Geniekult um Shakespeare beigetragen, ist es schon viel. An der Bedeutung von »Größe« für die Menschheit rüttelt er nie. Die bereits groteske Überschätzung der schöngeistigen Verse sowohl eines Marlowes wie eines Shakespeares macht er mit. Was soll dieses gezierte Stöhnen »genialer Dichter« über die Sorgen von Herrscherfiguren, während, schon damals, die halbe Welt verhungert oder erfriert? Egon Friedell aufgreifend und wendend, müßte man wirklich knurren: ob Shakespeare, Marlowe, Bacon oder sonst wer, das sei doch scheißegal. Warum daran so unglaublich viel Mühe und Lebenszeit verschwenden wie Professor Conrad?

∞ Verfaßt 2021 / 2023
* Brockhaus Band 14 von 1991, S. 229
** Als der Wiener Schauspieler und Publizist Egon Friedell 1927 den ersten Band seiner Kulturgeschichte der Neuzeit veröffentlichte, waren ihm die Zweifel an der Identität des »heimlichen Königs« von England durchaus bekannt – weshalb er diese Frage kurzerhand für nebensächlich erklärte: »Vielleicht hieß er nicht Shakespeare: was kümmert uns seine Adresse!« (Zitiert nach der einbändigen Münchener Dünndruckausgabe von 1974, S. 400.) Hauptsache, die verehrbare »Größe« war da, soll sie doch Schüttelspeer, Marlowe oder Windbeutel heißen. Friedell liebte Großes.
*** Der Dramatiker Kyd (1558–94) war wohl im Gefängnis umgefallen und dann, entlassen, nach einem Jahr als 35jähriger an den Folter- und Haftfolgen gestorben.
**** Bastian Conrad: Christopher Marlowe, der wahre Shakespeare, München 2011
***** Werner von Koppenfels, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/bastian-conrad-christopher-marlowe-so-eine-maulwurfexistenz-ist-doch-enorm-anstrengend-11533109.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, 18. November 2011
****** Bettina Fraschke, »Der wahre Shakespeare? Der Dramatiker Christopher Marlowe«, 25. Februar 2014: https://www.hna.de/kultur/wahre-shakespeare-dramatiker-christopher-marlowe-3384721.html




Wenige Tage, nachdem er in einer Rede vor der römischen Abgeordnetenkammer die Faschisten angeprangert hatte, wurde der 39 Jahre alter Politiker Giacomo Matteotti (1885–1924) von vermeintlichen Banditen entführt und ermordet – die sich später als Getreue »aus der engsten Umgebung Mussolinis« entpuppten, wie sich sogar Brockhaus festzuhalten getraut. Wahrscheinlich war der gemäßigte Sozialist und studierte Jurist nach dem Überfall bereits bei der Autofahrt aufgrund eines Fluchtversuchs erstochen worden – was hieße, einige Folter blieb ihm erspart. Er hinterließ seine Frau nebst zwei oder drei Kindern. Mit dem Wendepunkt der sogenannten Matteotti-Krise ließ der »Duce« spätestens im Folgejahr des Mordes sein demokratisches Mäntelchen fallen. Nach dem Krieg wurden noch lebende Ausführende zu hohen Haftstrafen verurteilt; Mussolini dagegen war inzwischen selber tot. Angeblich hatte er sogar öffentlich die »Verantwortung« für das Verbrechen übernommen, entnehme ich verschiedenen Internetquellen. Wohl daher der Brockhaus-Mut.
~~~ 1973 wurde der Stoff mit Franco Nero in der Hauptrolle und Mario Adorf als Mussolini unter dem Titel Il delitto Matteotti (Die Ermordung Matteottis) verfilmt. Ganz am Rande kommt er auch in einem seltsamen Roman von Friedrich Georg Jünger vor, gestorben 1977. Bekanntlich schätze ich in FGJ vorwiegend den Essayisten und Verfasser kürzerer Erzählungen. Er verfaßte jedoch auch drei, durchweg kaum bekannte Romane. Zwei Schwestern ist der »mittlere« Roman. Ich will ihn bei dieser Gelegenheit vorstellen. Ein Deutscher im heiratsfähigen Alter verbringt einige Sommermonate in Rom – aus welchem Grund, ist einem auch nach 260 Seiten nicht wesentlich klarer als zu Beginn der Lektüre. Vielleicht darf man den Hauptgrund in den titelgebenden Schwestern sehen, von deren Existenz der Gast aus Deutschland freilich vor seinem Eintreffen gar nichts wußte. Ansonsten liebt er Bücher, Altertümer und Feigenbäume, spricht gelegentlich von Studien und läßt sich außerdem in diplomatisch-geheimdienstliche Machenschaften verwickeln, angeblich jedenfalls. Bei allem scheint es ihm weder an Zeit noch Geld zu mangeln. Handlungszeit des Romans dürfte um 1930 sein, da von Weltkriegsanstrengungen noch nicht die Rede ist, dafür aber von der »Ermordung Matteottis«, »eine üble Geschichte«. Sie war ja 1924 vorgefallen. Jüngers Roman wurde 1956 vom anspruchsvollen Programm des Hanser Verlages mitgeschleppt, wie man wohl behaupten darf. Gegen heutigen Müll stellt er sicherlich Gold dar, weil FGJ sorgsam formuliert und auch ein gewisses Romanklima zu schaffen versteht. Doch gegen die erwähnten Ansprüche gehalten, ist er Blech.
~~~ Das darf man buchstäblich verstehen. Zu allem Unglück ist jener gelehrte deutsche Kunstfreund nämlich auch der Ich-Erzähler des Romans, den keine Macht daran hindern kann, sein Lamento über die Berechenbarkeit und Vernutzung der modernen Welt über sämtliche Buchkapitel auszubreiten. Selbst LeserInnen, die dieses Lamento noch nicht kennen und die es keineswegs abwegig finden, könnten ungehalten werden, weil es von diesem Mann vorgebracht wird, der nie Geldsorgen hat und der die hechelnden Mühlen des Erwerbslebens wahrscheinlich lediglich vom Hörensagen kennt. Während der Autor »nur« eine Kriegsversehrtenrente von etwa der Hälfte eines Arbeiterlohnes bezog, muß seinem offensichtlichen alter ego »Giorgio« (Georg) mindestens das Sechsfache zur Verfügung gestanden haben. Was Wunder, wenn er sich in Rom, der Hotels überdrüssig, ein mehrgeschossiges Häuschen mit Garten und Springbrunnen mietet. Da findet dann auch bald die erste der beiden Schwestern Platz, Rosalie, trotz der Gegend eine Blondine. Die schwarzgelockte Fernanda, die nach wenigen Monaten in ihre Fußstapfen tritt, zieht nur deshalb nicht ebenfalls ein, weil sich Giorgio zur Rückreise entschließt – in Fernandas Begleitung. Jüngers Vorstellungen über die Rolle von Geliebten waren immer altmodisch und simpel. Hier versucht er Gewinn an Dramatik zu erzielen, indem er Rosalie einer tödlichen Krankheit zum Opfer fallen und Giorgio über seine ursprüngliche und wahre Hinneigung zu Fernanda im Dunkeln läßt. Erst spät fällt bei diesem Müßiggänger der Groschen: Fernanda gibt sich so feindselig und schnippisch, weil auch sie sich vom ersten Besuch bei den Schwestern an stark zu dir hingezogen fühlte und es lediglich der Schwester oder dem elterlichen Haussegen zuliebe verbarg!
~~~ Dieses dramaturgische Rezept wäre vielleicht aufgegangen, wenn Jünger in der Er-Form erzählt hätte. So aber wird es krampfhaft. Giorgio darf sich seine Begierde nach der Schwarzgelockten nie eingestehen und hat sich einer vergleichsweise langatmigen »Eroberung« dieser zweiten Schwester zu unterziehen. Kaum weniger verquollen (und ertraglos) gestaltet sich die Geheimniskrämerei, die Jünger seinem Giorgio in Sachen Spionage verordnet. Der müßte ja eigentlich wissen, ob und warum er eine Figur im Spiel der Geheimdienste sei, doch er hütet sich, obwohl Ich-Erzähler, uns davon etwas zu verraten. Dieses Bemühen, den Leser auf die Folter zu spannen, wirkt wahrlich peinlich, oder zumindest albern. Das ganze Geschehen nimmt einen Zug der Belanglosigkeit an. Angeblich findet es vor dem Hintergrund des Kampfes zwischen faschistischen und demokratischen Bestrebungen statt, doch auch davon, den entsprechenden Positionen und der Kräfteverteilung, erfahren wir lediglich in Andeutungen, die das Gesamtbild schön verschwommen halten. Damit ist Jünger auch in diesem Fall eine Auseinandersetzung mit dem eigenen, dem deutschen Faschismus erlassen, der hier nur in Gestalt der Randfigur des Kriminalbeamten Silbermann vorkommt. Auch ihn gibt Jünger so »rätselhaft«, wie er wahrscheinlich den ganzen deutschen Faschismus gern gehabt hätte.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 25, Juni 2024



Medien

Brockhaus hat die Gelegenheit versäumt, allen Fernsehsprechern, ob Mann oder Frau, ein gutes, nacheifernswertes Beispiel zu geben. Die studierte US-Journalistin aus Ohio Christine Chubbuck (1944–74) war zuletzt, bis zu ihrem Tod, als Reporterin und Moderatorin in Sarasota, Florida, beim Fernsehsender WXLT-TV tätig, auch Channel 40 genannt. In ihrer Vormittagssendung Suncoast Digest des 15. Juli 1974, einem Montag, faßte die 29jährige einen folgenschweren, offensichtlich halb spontanen Entschluß. Als die Filmrolle mit dem Bericht über eine Schießerei in einem Restaurant des örtlichen Flughafens klemmte, schaltete Kamerafrau Shay Taylor zur Moderatorin der Show zurück. Daraufhin teilte Chubbuck ihrem Publikum schlagfertig mit, gemäß der Tradition des Senders, sie stets mit den frischsten Blut- und Ekelvorfällen »in living color« zu versorgen, sähen die Damen und Herren zu Hause nun alternativ einen Selbstmordversuch. Schon setzte sie sich, laut Sarasota Herald-Tribune vom nächsten Tage, den Lauf einer Pistole hinters rechte Ohr, drückte ab und fiel, von ihrem wehenden langen, schwarzen Haar begleitet, mit dem Oberkörper vornüber, also gleichsam dem Fernsehpublikum in den Schoß. Dann sorgte der geistesgegenwärtige Technische Leiter dafür, daß auch der Bildschirm schwarz wurde. Aber von dem vorausgehenden Knall dürften noch alle Teelöffel in Floridas Küchen gezittert haben. Chubbuck hatte die Pistole aus einer unter ihrem Pult verborgenen Einkaufstasche gezogen. Nun tobten die Telefone des Senders. Chubbuck starb noch am selben Tag im Krankenhaus.
~~~ In den zurückliegenden Wochen hatte sie in Übereinstimmung mit ihren Vorgesetzten an einer Sendung zum Thema Selbstmord gearbeitet und sich in diesem Rahmen beiläufig beim Sheriff nach der sichersten Methode des Sicherschießens erkundigt. Angeblich hatte sie seit Jahren mit »Depressionen« zu kämpfen und war deshalb auch schon häufig in Behandlung gewesen. Ihr jüngerer Bruder Greg sprach oder spricht* von »bipolar disorder«. Sie sei Perfektionistin mit makaberem Humor gewesen; vielseitig begabt, jedoch unstet; viel bewundert, aber mit Selbstzweifeln geschlagen. Die attraktive Frau habe nicht verhehlt, noch immer »Jungfrau« zu sein, doch entsprechende Annäherungsversuche zerstoben. Wahrscheinlich litt sie an diesem Mangel an engen Freundschaften am meisten. Dem Bruder zufolge bastelte sie Kinderpuppen, von denen sie immer welche mitsichführte. Auch in der Einkaufstasche mit der Pistole hätten sich zwei Puppen gefunden.
~~~ Horatia Harrod** glaubt, die »Krankengeschichte« von Chubbuck werde meist überbewertet. Man gehe dabei den Vorurteilen der zeitgenössischen Quellen auf den Leim. Dagegen sprächen Chubbucks letzte Worte (vor der Kamera) deutlich von ihrem Unbehagen an dem Seifenoper-Kurs ihres Senders. Einige Arbeiten von ihr waren zugunsten von Geschichten gekippt worden, die mehr »Sensation« hatten. Selbst ihr Bruder Greg habe bestätigt, daß Chubbuck diese Tendenz im US-Journalismus verabscheute. Ich wage hier nicht zu richten, spreche mich aber im Sinne meiner Eröffnung unbedingt dafür aus, Chubbucks mutige Tat insbesondere kerngesunden heutigen Nachrichtensprechern von Fernsehsendern zur Nachahmung ans Herz zu legen. Das Ekelhafteste an diesen Sendungen sind ja keineswegs die Bilder und Nachrichten, von denen Chubbuck sprach, vielmehr ist es die gefolgstreue, karrieredienliche Ungerührtheit, mit der diese Bilder und Nachrichten, etwa von der Raumfährenabschußrampe auf Kap Canaveral, Florida, oder aus dem zertrümmerten, qualmenden Gazastreifen, von der einen oder anderen aufpolierten Knechtsvisage dargeboten werden. Die adretten TV-Ansage-Puppen meiner Kindheit bildeten in dieser Hinsicht sicherlich keine Ausnahme, aber womöglich verstanden sie sich lediglich auf den Anschein von Ungerührtheit. Ihre heutigen Kollegen dagegen sind abgestumpft, wenn ich verschiedenen Gewährsleuten trauen darf. Hier verfängt keine Umschulung mehr. Schickt sie nach Feuerland auf die Eisbärenjagd, allerdings ohne Maschinenpistolen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024
* laut Christine Pelisek in People, 11. Februar 2016: http://people.com/crime/christine-chubbuck-brother-remembers-journalist-who-killed-herself-on-air/
** Horatia Harrod im Telegraph, 2. Oktober 2016: http://www.telegraph.co.uk/films/2016/10/02/death-by-television-why-did-christine-chubbock-commit-suicide-li/



Warum wird ein erfolgreicher, stets freundlich lächelnder Journalist und Buchautor, der noch nicht einmal Kriegsberichterstatter ist, schon mit 43 Jahren kaltblütig erschossen? Brockhaus verrät es nicht, meldet David Graham Phillips (1867–1911) aber immerhin (in Band 17) als »ermordet«. Um es kurz zu machen: der Sohn eines wohlhabenden Politikers eckte zuletzt zu oft an. Er hatte im Lauf seiner Lehrjahre seine »soziale Ader« entdeckt und stürzte nun allein durch das Fächeln mit renommierten Blättern, die enthüllende Artikel von ihm gebracht hatten, etliche von Industriekonzernen bestochene Senatoren von ihren Sesseln. Damit – und mit zahlreichen, vermutlich eher flüchtig geschriebenen, damals durchaus vielgelesenen Erzählungen und Romanen – gehörte er zu jenen um 1900 aufgetretenen, später so genannten muckrakers, die heute als »Väter des investigativen Journalismus« gelten. Gutaussehend und gutbetucht wie er war, ähnelte Phillips von der Erscheinung her allerdings weniger einem (wahlweise) »Schmierfinken / Mistkratzer / Schmutzaufwühler / Nestbeschmutzer«, vielmehr einem Dandy. Zu allem Überfluß soll er auch noch weiße Smokings bevorzugt haben. Jedenfalls hatte er Sinn für Inszenierung. Man könnte deshalb fast argwöhnen, er habe auch seinen Aufsehen erregenden Tod bestellt.
~~~ Als Phillips am Nachmittag des 23. Januars 1911 in New York City auf den Princeton Club am Gramercy Park zuhielt, stand er unversehens nicht etwa einem von jenen Senatoren gedungenem Berufskiller, vielmehr dem Geiger des Pittsburgh Symphony Orchestras Fitzhugh Coyle Goldsborough (1879–1911) gegenüber. Wie sich später, als beide Beteiligten tot waren, herausstellte, war der Orchestermusiker davon überzeugt, der muckraker habe durch die Gestaltung verschiedener Figuren seines zwei Jahre zuvor erschienenen Romanes The Fashionable Adventures of Joshua Craig Goldsboroughs prominente Sippe, insbesondere seine Schwester, mit Schmutz beworfen. Nachdem er dem Autor nicht weniger als sechs Kugeln verpaßt hatte, tötete sich der 31jährige Musiker auf der Stelle auch selbst, wohl durch Kopfschuß. Phillips starb anderntags im Krankenhaus.
~~~ Während damals die meisten Blätter von den »Wahnvorstellungen eines verrückten Geigers« sprachen, unterstreicht Peter Duffy 100 Jahre später in der New York Times den sozialen Hintergrund des Mörders.* Die Goldsboroughs aus Maryland und Washington D.C. hätten genau jenen »vergoldeten aristokratischen Kreisen« angehört, die Amerika nach Auffassung Phillips‘ ins Verderben führen würden. Auch sein genannter satirischer Roman habe eben diese Kreise aufs Korn genommen. Nebenbei behauptet Duffy, US-Präsident Theodore Roosevelt habe seine 1906 in einer im Gridiron Club gehaltenen Rede verwendete Bezeichnung »The Man With the Muck Rake« [Mistgabel] ausdrücklich auf Phillips persönlich gemünzt, also nicht etwa »the men« gesagt. Hat Duffy recht, könnte sich Phillips demnach für das heute nahezu erstorbene Echo seiner literarischen Werke mit dem Gedanken entschädigen, wenigstens dem Gattungsbegriff der muckrakers zum Durchbruch verholfen zu haben.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* Peter Duffy, »The Deadliest Book Review«, 14./16. Januar 2011: http://www.nytimes.com/2011/01/16/books/review/Duffy-t.html?pagewanted=all&_r=0



Ich bin nicht sicher, ob man den nordamerikanischen Jazzmusiker Christopher Handy unbedingt kennen muß. Dafür zeugt es aber ohne Zweifel vom geringen Weitblick der Brockhaus-Redaktion, wenn sie noch im Jahr 1989 das gleichnamige Mobiltelefon wegläßt. Zu meiner Schande muß ich freilich gestehen, diese Kurzsichtigkeit anfangs geteilt zu haben. Nicht etwa, daß ich jemals mit dem Erwerb eines Handys geliebäugelt hätte; ich unterschätzte es lediglich. Als dann jedoch die Seuchenausbreitung, die Verkrümmung des Aufrechten Ganges auf der Straße und das sogenannte Smartphone kamen, konnte ich mir an 10 Fingern ausrechnen, wie das demnächst, nach meinem gnädigen Tod, enden wird. Schließlich hatten sie mit dem Smartphone einen weniger als handgroßen Taschencomputer geschaffen, der inzwischen kaum noch dicker als ein Bündel aus 20 Hunderteuroscheinen ist. Folglich wird er noch in diesem Jahrhundert auf das Format einer herkömmlichen Gürtelschnalle verdichtet und dann auf eben dieser überallhin mitgetragen. Durch einen Gelenkverschluß kann er rechtwinklig zum Körper hochgestellt werden, damit man den Bildschirm sehen und selbstverständlich auch mit den nadelförmigen Hüten auf Daumen und Zeigefinger bedienen kann. Die Fingerhüte muß man natürlich auch nachts tragen, während der Gürtel am Bettpfosten hängt. Der Einwand, auf so einem kleinen Gerät sähe man doch gar nichts mehr, ist einfältig. Der Benutzer des winzigen Blindenhunds, wie er jetzt behelfsmäßig genannt wird, soll nicht möglichst viel sehen – vielmehr soll er nur das Wesentliche sehen, und das sind die verkleinerten Logos der werbenden Firmen, der jeweiligen Landesregierung oder anderer BefehlsgeberInnen. Ein chinesisches IT-Unternehmen arbeitet allerdings schon an einer Weiterentwicklung des Blindenhunds. Er soll allen Säuglingen in die linke oder rechte Handinnenfläche eingebettet werden, je nachdem, ob sie Rechts- oder LinkshänderInnen sind. Fernziel, für das Jahr 2150, ist der operative Einbau ins Gehirn aller Kleinkinder, die gerade Laufen lernen. Ab diesem Eingriff laufen die Kleinen sozusagen von selbst. So oder so, bezieht der Blindenhund seine Energie aus den Döners, Pizzas und Steaks, die man ja ohnehin dauernd ißt. Die Befehle kommen, wie gehabt, aus dem Mobilfunknetz. Keine Bange, die NachfolgerInnen Nancy Faesers werden schon für die geeignete Schalt-, Leit- und Kontrollzentrale sorgen. Von einem Hackerangriff auf dieses Gremium brauchen Sie gar nicht erst zu träumen: der Große Blindenhund, der irgendwo in Washington D.C. oder in den Rocky Mountains sitzt, hat seine Untergremien unsichtbar, farblos, ja überhaupt substanzlos, gleichwohl strohdumm gemacht.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 17, April 2024


Den berühmten Schauspieler und Kabarettisten Dieter Hildebrandt spart Brockhaus selbstverständlich nicht aus. Dagegen dürfte kaum einer den Fall des ungleich weniger berühmtem Münchener Sportjournalisten Bernd Hildebrandt kennen. Das war Dieters Bruder. Dieser Mann erlag im April/Mai 2004 mit 62 Jahren einer Krebserkrankung. Spaßmacher Dieter Hildebrandt äußerte sich bald darauf in einem autobiografischen Buch zu dem Fall.* Bis dahin war sein Bruder, der Sportreporter, auch mir kein Begriff gewesen.
~~~ Nach Hildebrandts Darstellung im Buch war Bruder Bernd von den Bossen der Münchener Abendzeitung (AZ) und dem mächtigen Bayern-Manager Dieter Hoeneß im Rahmen von Drogen-Vorwürfen gegen den designierten Bundesfußballtrainer Christoph Daum (* 1953) als Sündenbock mißbraucht worden. Bernd hatte seinem langjährigen Arbeitgeber einen Knüller geliefert – der Arbeitgeber entzog ihm jedoch sofort die Rückendeckung, als sich die Gegenseite als zu stark erwies. Für diesen Mißbrauch hätten sich das Boulevardblatt und der Bayern-Boß nie entschuldigt, schreibt der Kabarettist 2007. Offenbar hält er diese Herren für mitschuldig an Bernds frühem Tod. Dessen hartnäckiger, nebenbei kostspieliger Kampf um seinen guten Ruf hätte die Erkrankung sicherlich verschärft, läßt Hildebrandt durchblicken. »Seine Kollegen, die Belegschaft und der Betriebsrat standen auf seiner Seite.« Dennoch habe der Bruder auch diesen Kampf (gegen die Bosse der »eigenen« Zeitung und den Clubmanager) verloren. Dabei hatten sich jene Vorwürfe gegen Daum sogar als berechtigt erwiesen. Sie waren auch für Daums Arbeitgeber, den DFB, recht peinlich, hatte dieser doch gerade den »Kampf gegen Doping« auf seine Fahnen geschrieben. Nun warf er Daum (2000) die »Rote Karte« an den Kopf. Trotzdem zogen die Zeitungsbosse und der Clubmanager den Schwanz vor Daums Staranwalt ein, der gewaltige Bußgelder angedroht hatte. So wälzten sie die Verantwortung, auch nach Ansicht Dritter aus der Branche, eiskalt auf »das schwächste Glied in der Kette«, eben den Sportreporter ab. Die Zeitungsbosse verpaßten ihm einen Maulkorb und drohten nun ihrerseits ihm Sanktionen an.
~~~ Soweit ich sehe, ist Dieter Hildebrandt für solche Vorwürfe nie belangt worden, im Gegenteil. Selbst Bild gibt sie wieder (»Hoeneß hat meinem Bruder Leid angetan«, 15. Juli 2007, gez. sh). Der Münchner Merkur versichert anläßlich des Todes des »kleinen« Bruders: »Zwar war er mit den Stars – ob Beckenbauer, Müller, Breitner, Hoeneß – gut bekannt, angebiedert hat er sich indes nie. Sondern stets als scharfsinniger, kompromissloser Schreiber die notwendige Distanz bewahrt. Ein vorbildlicher Repräsentant seines Berufsstands somit.« (3. Mai 2004)
~~~ Trifft die Sache zu, bestätigt sie freilich nur die weitgehend bekannte Tatsache, daß sowohl im Profisport wie im Mediengeschäft mit harten Bandagen zu Werke gegangen wird. Dieter Hildebrandt starb übrigens erst (2013) mit 86 Jahren. Christoph Daum lebt noch, ringt freilich neuerdings, wie er Ende 2022 mitteilte, nicht etwa mit Sportreporter Bernd Hildebrandt, vielmehr mit Lungenkrebs.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* Dieter Hildebrandt (mit Bernd Schroeder), Ich mußte immer lachen, Köln 2006, hier Buchclub-Ausgabe 2007, S. 158–62



Gab sein Schwarzweiß-Fernseher in meinen Knabenjahren um 1962 dummerweise auch einmal am Sonntagvormittag den Geist auf, schmeckte meinem Großvater Heinrich der Hack- oder Kasseler Braten zu Mittag jede Wette nur halb so gut. Er versäumte den Internationalen Frühschoppen mit Werner Höfer (1913–97) nämlich nie. Diese bundesweit beliebte Sendung kam gleich nach dem Bettenhäuser Dorfkirchen-Gottesdienst. Mein Großvater saß im Kirchenvorstand. In dem Flimmerkasten dagegen erörterten fünf oder sieben angesehene Journalisten aus fast genausoviel Ländern unter Höfers Leitung eine immer andere wichtige tagespolitische Frage. Vielleicht hatte es meinem Großvater, der selber Lehrer war, hauptsächlich die etwas schulmeisterliche, ansonsten stockbiedere Gesprächsführung Höfers angetan. Oder dessen Erscheinungsbild. Der namhafte Journalist begnügte sich stets mit einer unvorteilhaft wulstigen Krankenkassenbrille und sah überhaupt wie ein Onkel Doktor aus, der kein Wässerchen trüben konnte. Das erwies sich erst spät als Trugschluß, wie ich zu meiner Verblüffung sogar den 6 ½ Zeilen im Brockhaus entnehmen kann. Immerhin lebte der Mann ja 1989 noch. Zwei Jahre früher habe Höfer »nach Vorwürfen wegen seiner publizistischen Tätigkeit in der national-sozialistischen Zeit« seinen Vorzugs- und Vorzeigeposten im Internationalen Frühschoppen geräumt. Man hatte endlich ein paar braune Hetzartikel des gestandenen NSDAP-Mitgliedes Höfer (1933) ausgegraben, die sogar die Hinrichtung eines »wehrkraftzersetzenden« jungen Pianisten guthießen. So inszenierte man einen Nachspann zur »Affäre Filbinger« (1978), obwohl die DDR schon viel früher auf Höfer eingehackt hatte. Allerdings war Höfer bereits ähnlich gut versorgt wie der schwäbische Ministerpräsident – ein Bundesverdienstkreuz von 1973 eingeschlossen. Höfer wurde noch 84.
~~~ Sein Frühschoppen, erstmals 1952 ausgestrahlt, hatte es in 35 Jahren auf 1.874 Folgen gebracht.* Dieser Latte zum Trotze meint Welt-Autorin Kleikamp, das sei noch Qualität gewesen; folglich pinkelt sie Talkshows an. »Seit vielen Jahren geht es in den alles überwuchernden Runden des Öffentlich-rechtlichen Rundfunks eigentlich nur um die Selbstdarstellung von Politikern und Aktivisten. Ernsthaft an der Sache orientiert dagegen war …« Wahrscheinlich liegt Kleikamp gar nicht so falsch. Mögen die versammelten Herren (Damen selten) auch schon damals mit ihren Argumenten nie die Grenzen der geheiligten Freien Marktwirtschaft durchbrochen haben, hielten sie eben doch ihren Geltungsdrang und ihre Eitelkeit in einem Maß am Zügel, das sich heutige Medienkonsumenten sicherlich gar nicht mehr vorstellen können.
~~~ Dabei schließe ich die Online-Blätter ein, zum Beispiel die Welt. Man kann sich vor Hinweisschildern, Frauen im Büstenhalter, brandneuen Nachrichten und weiß der Teufel welchen selbstlosen Angeboten kaum noch retten. Ein Naturwunder an Konzentrationsfähigkeit, wer sich da noch dem aufgerufenen Text widmen kann.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* Antonia Kleikamp am 30. August 2022: https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article240747357/Werner-Hoefer-So-stolperte-der-Wirt-des-TV-Fruehschoppen.html



Da der Buchstabe X auch im Brockhaus unterbesetzt ist, erlaube ich mir, einen Snookerspieler einzuflechten, der erst 1998 geboren worden ist. Ich führe mir seit Jahren immer mal wieder, zur Entspannung, ein Snookervideo zu Gemüte, und seit Xu Si mitmischt, forsche ich bevorzugt nach Begegnungen mit ihm. Im Ballungsraum der südchinesischen Großstadt Jieyang aufgewachsen, brachte es Xu bereits 2017 zum Profispieler. Inzwischen gehört er beständig den Top 64 der Weltrangliste an. Er legte (2023) auch schon ein »Maximum Break« vor, das vielen Profis meist nur in nächtlichen Träumen gelingt. Merkwürdigerweise wäre es gelogen zu behaupten, Xu spielte besonders elegant. Der mittelgroße, schlanke Sportler wirkt im Gegenteil eher unauffällig. Das geht allerdings mit einer seltenen Bescheidenheit einher, die mir gefällt. Seinen sogenannten »mentalen« Zustand muß irgendein Trainer überragend zurechtgetrimmt haben, wenn es nicht am natürlichen asiatischen Erbe liegt. Weder Fallen noch Niederlagen scheinen den jungen Mann jemals aus der Ruhe zu bringen. Dabei hat er durchaus ein Kämpferherz. Diesen Sommer hatte er in einer Turnierrunde gegen den walisischen Altmeister Mark Williams anzutreten. Xu lag bereits 2:4 zurück, zeigte aber immer noch keine zitternden Knie. Am Ende gewann er das hochklassige Match mit 5:4.
~~~ Nun liegt es mir allerdings fern, irgendwelche SpitzensportlerInnen zu verklären. Wer so weit kommt wie Degenfechter Beierstettel, Hürdenläufer Cushman oder eben Xu Si, kann eigentlich nur eine taube Nuß sein. Gerade diese KugelkünstlerInnen verdienen ein Heidengeld und führen jede Wette ein luxuriöses Leben, vor dem mich die Götter stets bewahrt haben. Prompt teilt die englische Wikipedia mit, während der jeweiligen Saison lebe Xu in Sheffield, dem englischen Snookermekka. Er trainiere in der Ding Junhui Snooker Academy – vermutlich Tag für Tag mindestens sechs Stunden, denn andernfalls wäre so ein Spitzenmann schnell weg vom Fenster. In diesem Idiotenzirkus halten sich ausschließlich Verbissene und Besessene. »He has been described as one of the hardest workers on tour. Aside from snooker, Xu enjoys movies and playing computer games.« Das ist natürlich genau das zeitgemäße Entspannungsfutter, bei dem so ein Schmalspurgroß-verdiener nie auf dumme Gedanken kommt, etwa antikapitalistische.
~~~ Bei den Snookervideos im Internet hat in den letzten rund 10 Jahren eine auffallende, leider sehr betrübliche Entwicklung stattgefunden. Ich meine noch nicht einmal die emsig eingeschalteten saublöden Werbespots, die inzwischen selbst vor den vier Sätzen eines Kammerkonzertes keine »Berührungsängste« mehr kennen. Vielmehr werden kaum noch ungeschnittene Snooker-Begegnungen präsentiert. Stattdessen wird man jetzt in 7- oder 12-Minuten-Streifen mit den sogenannten »Highlights« einer Begegnung abgespeist. Alles Unvollkommene, Anbahnende, Taktische fällt unter den Schneidetisch der IT-Freaks, die die Videos anbieten. Dieses abschleifende Verfahren kennen und schätzen sie eben aus der ganzen übrigen Computer- und Medienwelt, der sie in der »Perfektion« nicht nachstehen möchten. Übrigens läuft es bei den Yankees in der gedruckten Presse schon seit vielen Jahrzehnten nicht anders. Die US-Schreiberlinge bauen keine Geschichten oder Beweisführungen auf; sie streuen Häppchen aufs Papier, die im Grunde alle austauschbar sind. Wo gerade was steht, ist bei solchem Verfahren egal. Hat man etwas vergessen, hängt man es einfach an. Bei der erzwungenen Lektüre dieser Yankee-Blätter ist mir allmählich klargeworden, wo nicht nur die Maiskolben, sondern auch die Strohköpfe gezüchtet werden.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 39, Oktober 2024

Siehe auch → Anarchismus, Tauberbischofsheim (Mühen der Recherche, Privatsphäre) → Bildende Kunst, Glas (Kollegen) → Fotografie → Gewalt, Schlagworte (alternative Medien) → Hände (Zeitung) → Internet, Wunderlich (Zeitungssucht) → Kränkung, CD (Aktualität) → Rundfunkbeitrag → Schaulust (Wang Yue)




Mehrheitsdenken

Das Offensichtliche --- Zu den übelsten und hartnäckigsten Überzeugungen auf Erden zählt der Mythos, in der Regel siedele sich die Wahrheit auf Seiten der Mehrheit an. Tatsächlich verhält es sich genau umgekehrt. In dieser Überzeugung erfährt man Gottseidank sogar Schützenhilfe von einem prominenten US-Naturforscher, Stephen Jay Gould. In seinem bedeutenden Buch Illusion Fortschritt, deutsche Ausgabe Ffm 1998, merkt er zur Auffassung eines Kollegen eher beiläufig an: »Eine solche Bekräftigung des 'Offensichtlichen' legt das Denken lahm; nur allzuoft stimmt das Nichtoffensichtliche …«
~~~ Sie erinnern sich vielleicht: Über viele Jahrhunderte hinweg war es »offensichtlich« Gepflogenheit der Sonne, von Osten nach Westen – und somit um die ganze Erde zu wandern. Sie drehte sich um uns, glaubte die Erdbevölkerung zu mindestens 90 Prozent mit Stolz und Inbrunst. Immerhin stellte das ein Kunststück der Sonne dar, war die Erde doch bekanntlich eine Scheibe. Genau deshalb durften sich Seefahrer nicht zu weit Richtung Horizont vorwagen, sonst fielen sie hinunter. Taten sie es doch, steckte sicherlich die Verwünschung einer zahnlosen alten Kräuterfrau dahinter: Hexenwahn.
~~~ 2001 legte der Arzt Gerd Reuther mit Heilung Nebensache eine empfehlenswerte kritische Medizin-geschichte vor. Den durch Jahrhunderte erbarmungslos angewandten Aderlaß nennt er kurzerhand einen »therapeutischen Unfug«. Dieser weithin angebetete Unfug sorgte für gewaltige Schäden, spülte aber auch eine Menge Geld in Ärztetaschen. Ähnliches gilt für die Impfung, die bei uns 1874 mit dem Reichsimpfgesetz sozusagen amtlich wurde. Hinter dem Impfwahn steht bis zur Stunde der preußisch-militaristische Irrglaube, Erreger gehörten ausgerottet. Laut Reuther wurden Impfschäden viele Jahrzehnte lang von der Schulmedizin gar nicht erst in Betracht gezogen. Heute werden sie nur mangelhaft erfaßt und notfalls verharmlost oder vertuscht. Die Haftung wälzen die Pharmariesen eiskalt auf die Politik ab – die sie mit Vergnügen trägt. Die Steuerschafe zahlen ja.
~~~ Warum glauben die das alles? Weil es auf Seiten der Mehrheit viel gemütlicher ist als am Rand der Gesellschaft. Wagt ein Kind zu bezweifeln, nach drei Hornissen-Stichen oder einem Häppchen vom lustigen, rotweiß bemützten Fliegenpilz fiele es tot um, hat es sich schon mit seinen eigenen und Millionen anderen Großeltern überworfen. Wagt es ein erwachsener Handwerker, den sogenannten menschengemachten Klimawandel zu bestreiten, trumpft der Öko-Einpeitscher der kommunistischen Tageszeitung Junge Welt – wie ich schon einmal andernorts bemerkte – mit der Feststellung auf, Fachpublikationen, die den drohenden Klimawandel grundsätzlich in Frage stellten, seien inzwischen (2010) mit der Lupe zu suchen. Man sieht daran, seit sie ihre anmaßende Vorhutrolle eingebüßt haben, heften sich die Kommunisten begeistert an die Fersen der Arbeiterklasse. Oder an die Hinterräder, denn die Autoproduktion halten sie ja gleichfalls hoch.
~~~ Auch als parteiloser Publizist lieber auf die Mehrheit zu setzen, bringt den Vorteil mit sich, auf diese Weise – als der Stärkere – meist im Recht zu bleiben. Die Anführer-Innen der Mehrheiten wiederum wären schön blöd, wenn sie die Demokratie verböten. Schließlich verschaffen ihnen die Mehrheiten Ansehen und Legitimation. Somit stinkt das Mehrheitsprinzip hinten und vorne nach Macht. In anarchistischen Lebensgemeinschaften werden Entscheidungen nur im Konsens getroffen. Statt sich wie ein Eisbrecher »durchsetzen« zu wollen, möchte man einander verstehen und helfen. Kommt kein Konsens zustande, bleibt es einstweilen beim Status quo. Dieses Verfahren setzt allerdings die Abwesenheit von unüberbrückbaren Interessensgegensätzen, ferner von Dummheit und Bequemlichkeit voraus.
~~~ Ich erinnere an den französischen Gutsbesitzer Michel de Montaigne. Obwohl eher staatsfromm als anarchistisch gestimmt, beklagte er in seinem vor gut 400 Jahren veröffentlichten Essay Von den Hinkenden die unselige Sitte, als den »besten Prüfstein der Wahrheit die Menge der Gläubigen« zu erachten – »in einem Gewimmel, in dem die Zahl der Narren die der Weisen um ein so Vielfaches übertrifft.«

∞ Verfaßt 2022

Siehe auch → Autorität, Wikipedia → Geld, Tauschland → Norm




Meinungen → Hattemer



Nach einer Kindheit im Klützer Winkel (Mecklenburg), wo sein Vater »Prediger« ist, geht Johann W. L. Mellmann (1764–95) in Lübeck aufs Gymnasium und studiert anschließend in Kiel und Göttingen. Niemand sah ihm den künftigen Hungerstreikler an. Nekrologist Friedrich von Schlichtegroll behauptet kühn*, neben der frühen Unterrichtung habe Mellmann sicherlich auch seinen »moralischen Charakter« der »vortrefflichen Erziehung« durch seine »ganz exemplarisch lebenden Aeltern« verdankt. Ein Jugendfreund spricht schon ein wenig skeptischer von der »patriarchalischen Welt der Hebräer« und dem »goldenen Zeitalter der Griechen und Römer«, in die man damals, als Gast, in Mellmanns Elternhaus eingetaucht sei.
~~~ Bald nach dem Studium (Philologie) erhält Mellmann eine vermutlich ehrenvolle Berufung zum Rektor der griechischen und lateinischen Klassen des Gymnasiums der Universität in Moskau. Das war 1786. Sechs Jahre darauf, 1792, wird er, möglicherweise zusätzlich, Professor an der Universität selber. Von einer Familiengründung Mellmanns ist nichts zu lesen. 1793 muß der junge Professor griechisch/lateinische Gedichte auf die Vermählung des Großfürsten Alexanders machen. Der zukünftige russische Kaiser ist damals 15. Seine Braut, Louise von Baden, 14. Laut Schlichtegroll hatte Mellmann bereits als Student poetische Versuche unternommen, daneben erkennbar eine Neigung zum Eigenbröteln und »Speculieren« gezeigt. Außerdem dürfte er schüchtern gewesen sein. Er übt sich in Moskau auch im Zeichnen und Malen. Von Geselligkeit hält er sich unter anderem deshalb fern, weil überall dem Spiel gefrönt wird. Mellmann begreift sich jetzt hauptsächlich als Schulmann, nicht Schriftsteller. Nach einem Fieber beklagt er Augenschwäche. In seinem letzten Lebensjahr arbeitet er zielstrebig an einer Griechischen Grammatik. Aber gleichzeitig studiert er Kants Schriften und versucht sich sogar an lateinischen Übersetzungen des kritischen Philosophen. Offenbar ist Mellmann eher Grübler als Gelehrter. Das bescheinigt er sich wohl auch selber in einem Brief an Freunde, wenn er bekennt, ihm klebe »ein hinderlicher Hang zur Speculation« an.
~~~ 1794/95 gerät er erstaunlicherweise in Konflikt mit Vorgesetzten. Wahrscheinlich kreiden sie ihm vornehmlich an, den liberalen Auffassungen Imanuel Kants anzuhängen. Zuletzt lädt der oberste Moskauer Bischof den Professor zu einem Gespräch – das zu seiner Entlassung und Ausweisung führt. Nach Schlichtegroll berichten seine Moskauer Freunde, Mellmann habe sich beim Prälaten erhitzt, verrannt und ihn gar beleidigt. Nun wird er von Militär zur Grenze mit Ostpreußen begleitet. Das geschah bei grimmiger Kälte und anscheinend überdies auf ruppige Art. Mellmann sei völlig insichgekehrt und melancholisch gewesen. Ein preußischer Leutnant Von Derschau nimmt sich seiner »vortrefflich« an, doch vergebens: Mellmann will nichts essen. Die »Besinnung« sei ihm weggewesen, schreibt Schlichtegroll. Der Leutnant läßt ihn von Soldaten, die er dringend zu schonendster Behandlung ermahnt, per Kutsche nach Königsberg bringen. Aber dort kommt Mellmann nie an. Da er weiter unbeirrt jede Nahrungsaufnahme verweigert, sei der 31jährige am 12. April 1795 in Georgenburg (bei Insterburg) vor Entkräftung gestorben.
~~~ Ein enger Freund des Verhungerten spricht Schlichtegroll gegenüber von Überspannung; speculativer, abstrakter Moral; Schwärmerei. Verbünde sich ein solches Naturell mit schwachen, leicht reizbaren Nerven oder Hypochondrie, sei der Betreffende »für das wirkliche Leben« verloren. Zeitgenosse Schlichtegroll selber enthält sich eines Kommentars. Seine Eingangs-Hymne über die »reine, wohlwollende Seele« Mellmann darf man nicht zu ernst nehmen; sie ist Unfug oder Tarnung. Er spricht also weder vom Hungerstreik eines, wahlweise, tief Beschämten oder tief Gekränkten noch gar von den Quellen jenes angeblichen Naturells. Sie dürften ja jede Wette vor allem im Elternhaus zu suchen sein.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Friedrich von Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr 1795, Band 2, Verlag Perthes, Gotha 1798, S. 59–110




Sollten Sie vor dem kommenden Winter oder den Affenpocken auf die berüchtigte einsame Tropeninsel flüchten, nehmen Sie Robert Merles 1962 veröffentlichten Roman Die Insel mit. Ich halte ihn für überragend. Ich beziehe mich auf die Ostberliner Übersetzung Eduard Zaks aus dem Aufbau-Verlag, 4. Auflage 1970. Der links-orientierte französische Romancier Merle konnte den Erfolg seiner vielen Werke ziemlich ausgiebig genießen, starb er doch erst 2004 mit 95 Jahren. Mit seiner fesselnden, anschaulichen, trotz allem Detailreichtum nie ausufernden Darstellung des Klassenkampfes unter den rund zwei Dutzend Besiedlern der Insel knüpfte er an die berühmte Meuterei auf der Bounty von 1789 an. Eine Restbesatzung des britischen Seglers läßt sich im Verein mit Eingeborenen aus Tahiti auf der kleinen, damals kaum bekannten Südseeinsel Pitcairn nieder. Zwar erfindet Merle die kommenden Auseinandersetzungen auf der Insel, ist doch kaum etwas von ihnen überliefert; im Grundsatz hält er sich gleichwohl an die historischen Vorgaben. Das bedeutet freilich auch, daß er, was die beteiligten britischen Seeleute angeht, an betrübliche Charaktere gebunden ist, mit denen sich kein vernünftiger Anarchist auch nur im Traum am Aufbau einer freien Zwergrepublik versuchen würde. Sie taugten allenfalls für Piratenschiffe.
~~~ Andererseits kann man vor Merle schon deshalb nur den Hut ziehen, weil er sich selbst in diese betrüblichen, ihm doch eher fremden Charaktere hervorragend einzufühlen versteht. Sowohl seine Wracks des Empires wie seine lebenslustigen PolynesierInnen aus Tahiti treten nie als Schablonen auf – man ist verführt zu glauben, Merle hätte etliche Monate unter ihnen gelebt. Selbst der hagere und verschlagene Schiffszimmermann MacLeod, der sich den Kapitänsthron anmaßt und eine »Parlamentsmehrheit« aus Arschkriechern zusammenzimmert, hat seine Zweifel, Widersprüche und Eigenheiten. Dem Krieg mit den Polynesiern, die er nach bester rassistischer Manier zu übervorteilen und auf Knechtschaftsrang zu stutzen sucht, ist er allerdings nicht gewachsen. Erst die Schwarzen töten MacLeod, während »Adamo« Purcell seinem Kollegen Baker noch in den Arm gefallen war, als dieser den tyrannischen Zimmermann in den Sarg schicken wollte. Der eher schmächtige, dünnhäutige und lesefreudige Schiffsoffizier Adam Purcell, sozusagen erster Held des Romans, vertritt lange Zeit hartnäckig die pazifistische Linie im Klassenkampf. Im großartigen Finale des Romans, das Purcell gemeinsam mit seinem heftigsten polynesischen Widersacher bei der »Probefahrt« in einem einmastigen Kutter gegen die durch Sturm und Gewitter entfesselte See ankämpfen sieht, gesteht er Tetahiti ein, sein christlich-pazifistisches Konzept der unbedingten Nächstenliebe und unverzichtbaren Schonung eines jeden Menschenlebens sei ein verlustreicher Irrtum gewesen. Kein Dreivierteljahr, und die Inselbesatzung war aufgrund der üblichen, von »Meinungsverschiedenheiten«, Vorurteilen und Abneigungen befeuerten Kämpfe von 27 auf 14 Menschen geschrumpft! Möglicherweise hätte das durch einen rechtzeitigen, tödlichen Sturz MacLeods vermieden werden können. Aber vielleicht auch nicht, denn bekanntlich sind die MachthaberInnen auf diesem Planeten seit vielen Jahrhunderten blitzschnell umgekleidet und ausgetauscht. Dann landet man vom Regen in der Traufe.
~~~ Die natürlichen Verhältnisse auf der winzigen, keine fünf Quadratkilometer messenden Insel sind nicht übel, wenn auch die Trinkwasserfrage drückt. Von ihrem Dorf aus müssen die jeweils eingeteilten WasserschöpferInnen Tag für Tag ins Gebirge zur einzigen Quelle steigen, was sie, neben der Mühsal, einschließlich Rückweg zwei Stunden kostet. Lasttiere sind nicht vorhanden. Aber gegen die heutigen fortschrittlichen Zeiten gehalten ist das eigentlich noch harmlos. Wie jeder im Internet lesen kann, werden ungefähr 800 Millionen Bewohnern dieses Planeten tägliche kilometerlange Fußmärsche oder Ritte zur nächsten Trinkwasserstelle zugemutet. Neben Frauen obliegt das oft Kindern – die es auf Merles Pitcairn gar nicht gab. Allein dieser Skandal wäre doch eigentlich für die 8.000 Superreichsten der Erde Grund genug, sich klammheimlich auf den Mond zu verpissen, und zwar ohne ihr Vermögen. Aber sie denken natürlich gar nicht daran. Statt die Wege zum Trinkwasser zu verkürzen, schreiten sie vielmehr daran, die Weltbevölkerung zu »reduzieren«, wie es immer so schön unverfänglich heißt. Sie schaffen eins, zwei, viele Ukraines und erfinden einen leckeren Impfstoff nach dem anderen.
~~~ Merle verfügt über einen erstaunlich üppigen Wortschatz und setzt ihn so gut wie immer treffend ein. Sein Gebrauch von Fremdworten ist erfreulich gering, obwohl er von Hause aus Akademiker ist. Von daher erstaunt zudem seine eindrucksvolle Erdnähe, wie man es nennten könnte. Ob Haushalt, Gartenarbeit, Handwerk aller Art – Merle spricht stets fachmännisch davon. Selbst der Bau eines völlig neuen, hochseetüchtigen Segelkutters geht ihm wie Butter von der Hand. Mit diesem Boot auf Probefahrt, werden Purcell und Tetahiti, inzwischen die beiden einzigen Männer auf der Insel, am Buchende von dem erwähnten gewaltigen Unwetter überrascht. Allein die Schilderung dieses Abstechers in die Südsee, der sich jäh als tollkühn erweist, ist ein hochkarätiger Reißer.

∞ Verfaßt 2022



Mode (Kleidung)

Kratzende Hosen --- Wollten die FahnderInnen der GEZ mich foltern, um endlich das Versteck meiner unangemeldeten Rundfunk- und Fernsehgeräte herauszubekommen, brauchten sie mich bloß in einen edlen Anzug aus reiner Schurwolle zu stecken und meine Hände zu fesseln. Nach wenigen Minuten wäre ich geständig.
~~~ Meine Haut ist nämlich leider von Natur aus das Gegenteil eines dicken Fells. Selbst unter den weichsten Baumwollhosen treibe ich selten eine auf, in der ich nicht wie auf glühenden Kohlen säße. Als Kind hat mich so gut wie alles überall gekratzt. Das meiste, von den Kniestrümpfen bis zur Pudelmütze, war freilich aus Schurwolle. Vielleicht lagen die Baumwollfelder überwiegend brach, weil die Neger bereits zu GI‘s für die Befreiung des bolschewistischen Lagers umgeschult wurden. Bei den Hosen war zudem die messerscharfe Bügelfalte unabdingbar – an der Börse so wichtig wie beim Bund. Sie schnitt mich, den Träger der Hose. Die Schriftstellerin und Försterstochter Marlen Haushofer hätte mich verstanden. Um 1930 wurde sie insbesondere durch lange, derbe Wollstrümpfe gequält, die vermutlich die Wirksamkeit von Kaminfegebürsten aus Draht hatten.
~~~ Die Kriegserklärung an alles Körperliche und Sinnliche liegt hier auf der Hand. Im Internat der Ursulinen in Linz, wo Marlen die Schule besuchen muß, findet vorschriftsmäßiges häusliches Baden im Unterhemd statt. Die gleiche Vorschrift bereitet den jungen Heldinnen von F. G. Jüngers ausgezeichneter Erzählung Im Kloster Verdruß – allerdings auch Spaß, weil der Sinn von Verboten ja darin liegt, unterlaufen zu werden. Ich dagegen hatte nichts zu lachen. Vor jeder Familienfeier grauste mir, wurde ich doch in weiße Schurwollhemden gesteckt, die auch noch »gestärkt« worden waren. Ein Familienverband aus grobkörnigem Schleifpapier hätte die gleiche Wirkung erzielt.
~~~ Behalf ich mir auch im Sommer zuweilen mit langer Unterwäsche, war ich im Umkleideraum der Turnhalle das Gespött des Tages. Die knisternden Nylon- und Perlonhemden des Dressurreiters Josef Neckermann spornten auch mich tüchtig an. Meine Erlösung kam in den späten 60er Jahren, als sich sogenannte Gammler auf die Straßen wagten. Bild hätte sie am liebsten in die Kanalisation gescheucht und Giftgas hinterhergepumpt. Heute ist »lummelige« Kleidung in. Jahrgang 70 statt 50, und mir wären Jahre eines von willkürlichen gesellschaftlichen Übereinkünften ausgeübten Terrors erspart geblieben.
~~~ Die Steinmeiers und Diekmanns drängts trotzdem in die Krawattenschlaufe. Ob Kettenhemd oder Korsett; Schamkapsel, Reifrock, Stehkragen, Büstenhalter, Stöckelschuh – an der Geschichte der Mode fällt der sadomasochistische Zug auf. Der Zwillingsbruder des uniformierten Monsters, das auf Demonstranten einprügelt, ist der nackte Jesus Christus an seinem selbsterwählten Kreuz. Der trägt Dornenkrone. Wo man hinguckt, Zwang.
~~~ Man könnte sich sicherlich fragen, ob meine frühe Dünnhäutigkeit wirklich den patriarchalen Prügel anlockte oder nicht eher umgekehrt erst der früh gezückte Prügel für die Dünnhäutigkeit sorgte. Es dürfte aber Jacke wie Hose sein.

∞ Verfaßt 2007


Die Allongeperücke, laut Brockhaus meist aus wallendem, blondem Haar gefertigt, bewies gleichermaßen die Dickfelligkeit wie die Schlitzohrigkeit der vornehmen Männer des Barocks. Für Höflinge war sie unerläßlich. Max von Boehn fügt jedoch in seiner aufschlußreichen, bissigen Modegeschichte hinzu: »Es gab bald niemanden, der nicht die pomphaft majestätische Wolkenperücke angenommen hätte, trotz ihres hohen Preises und der hohen Steuern, die zum Beispiel 1698 in Preußen darauf gelegt wurden. Sogar die Geistlichkeit beider Konfessionen trug die Allongeperücke. Sie mußten sie beim Messelesen abnehmen, weil der Kopf die Weihen zu empfangen habe. Schließlich brachte man, um dieser Unbequemlichkeit abzuhelfen, in der Perücke eine kleine Klappe an, welche während der Messe gestattete, die Tonsur zu entblößen.«
~~~ Die Hitze unter der Perücke wurde oft beklagt. Zu Hause hängte man sie sofort an den Nagel und trug stattdessen Mütze oder Tuch. Hüte wurden nun, wegen der Sperrigkeit der Perücke, kurzerhand unter dem Arm getragen. Das wurde auch um 1800 beibehalten, obwohl die Perücken schon entfallen waren. 1764 schilderte ein Lexikon 115 Perückensorten. Zeitweise verlangte die Mode das Pudern von Perücke oder Zopf, wozu die Vornehmen eigene Puderstübchen hatten. Der Graf Brühl besaß 1.500 Perücken. Dazu soll sein König, Friedrich der Große, bemerkt haben, »viel für einen Mann ohne Kopf«.
~~~ Ich füge gleich noch die kleine, in der Regel trapezförmige Almosentasche hinzu. Sie wurde im späten Mittelalter gewöhnlich am Gürtel getragen – wohl von beiden Geschlechtern, sofern sie nur gut betucht waren. Brockhaus weiß sogar: »Wegen ihrer meist kostbaren Seidenmaterialien und Stickereien fanden sie vielfach auch als Reliquienhüllen Verwendung.« Was taten Graf oder Bischof jedoch, wenn im Almosentäschchen plötzlich unvermutet Ebbe herrschte, weil Diener Johann wieder einmal geschlafen hatte? Dann schenkten sie natürlich das Täschchen selber weg. »Da, nimm schon, aber verhökere das Ding nicht sofort! Stecke die Almosen hinein, die du noch empfängst, damit sie dir nicht immer verloren gehen!«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 2, November 2023


Die Haartracht muß ziemlich wichtig sein, räumt ihr Brockhaus doch fast drei Spalten ein. Schon in der Antike empfand man sie sogar als »Sitz der Lebenskraft«, lesen wir da. Das kennt man auch von vielen nordamerika-nischen Indianerstämmen, wo Knaben sich bereits kastriert sahen, wenn sie vor einen weißen sogenannten Friseur geschleppt worden waren. Das Skalpiertwerden war ihnen natürlich gleichfalls unangenehm. In unserem Mittelalter bildeten die Verordnungen darüber, wer sich wie mit gebändigter Haartracht schmücken durfte, ein getreues Seitenstück zu den irrwitzigen Kleiderordnungen. Wer sich da ohne Befugnis eine gepuderte Perücke anmaßte, wurde vielleicht nicht auf der Stelle gehängt, aber doch hart bestraft. Der Zweite Weltkrieg, in dem bekanntlich viele Menschen kahlgeschoren und vergast worden waren, scheint nach Brockhaus keine Läuterung bewirkt zu haben: »eine Vielzahl rasch wechselnder Modefrisuren« hätte bei manchen alten Leuten glatt zu anhaltendem Kopfschütteln, wenn nicht sogar zu einigen Ohnmachten geführt.
~~~ Ich gebe zu, ich wäre sofort dabeigewesen – bei den Unverständigen. PolitikerInnen und Eheleute lügen sich untereinander oder gegenseitig die Hucken voll, wie es schon 2.000 Jahre früher im Schatten der Tempelsäulen üblich war – aber die Frisuren dürfen sich nicht treu bleiben; sie haben gefälligst schneller erneuert zu werden als die Waschmittelverpackungen und Autokarosserien. Die Doppelmoral steht über Epochen hinweg im gewohnten hohen Kurs; wagt es jedoch ein Landtagsabgeordneter, eine ganze Legislaturperiode lang mit derselben Frisur im Plenarsaal zu erscheinen, kann er sich seine Wiederwahl getrost abschminken. Nebenbei warte ich auf Hinweise auf ein Mathegenie, das einmal berechnet, wieviel die jeweilige Landesbevölkerung in einer Legislaturperiode allein für die Haartracht ausgegeben hat. Wahrscheinlich könnte man für den Gesamtbetrag alle Flüchtlingsasyle in Fünfsternehotels verwandeln. Aber die machen den Irrsinn ja leider mit, die Flüchtlinge. Manche dürften sogar hauptsächlich deshalb zu uns kommen, weil man hier so perfekt auf der Schädeldecke »gestylt« wird.
~~~ In den anarchistischen Kommunen, denen ich zeitweise angehörte, war die Angelegenheit einfach und preiswert. Man schnitt sich die Haare kurzerhand gegenseitig, wobei es sicherlich auch immer ein paar besonders begabte SchererInnen gab. Wollte einer sein Haar rotgrüngelb färben, durfte er es ungestraft tun – aber zu meiner Zeit war das in anarchistischen Kommunen noch nicht so beliebt. Ich erinnere auch an die »Kleiderkammern«, die in Kommunen oft zu finden waren. Hier wird Gebrauchtware gesammelt und zur freien Verfügung gestellt. Ich persönlich stecke noch zur Stunde in Klamotten aus dieser glorreichen Zeit. Ich ergatterte sogar zwei weiße Bettlaken, die ich dann vermittels Klemmringen und eines gespannten Drahtseils vor mein ausladendes Zimmerfenster hängte. Sie lassen sich tadellos auf- und zuziehen, was will man mehr? Wüßte das freilich mein letzter Chef, ein sehr begabter Raumausstatter-meister in Südhessen, würde er sich an den Kopf fassen und prustend durch den nächsten Wald laufen. Das macht er ja, als Rentner, sowieso die ganze Zeit.
~~~ Übrigens hatten wir zuletzt viel Streit, aber selten über handwerkliche Fragen. In dieser Hinsicht hielt er mich sogar für einen ausgezeichneten Polsterer. Zu den wichtigsten Werkzeugen des Polsterers zählt der sogenannte Haarzieher, der im Brockhaus leider fehlt. Es handelt sich nicht etwa um ein Züchtigungsgerät preußisch gestimmter Schulmeister. Der ungefähr handlange Dorn mit angedeutetem Griff wird benutzt, um durch Gewebe hindurch Polstermaterial wie Afrik oder Roßhaar verlagern und so der gewünschten Form und Dichte des Polsters nachhelfen zu können. Er stellt wirklich eine unerläßliche, oft eingesetzte Hilfe dar – nur darf man ihn nicht mit einer Brechstange verwechseln, wie Botts letzter Chef Euler in Kassel es tat.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 16, April 2024

Siehe auch → Anarchismus, Robe (Amtstracht) → Lüge, Köpenickiade (Verkleidung) → Welskopf (Haarpracht IndianerInnen)




Sollte es unwahrscheinlicherweise noch einmal zu einer Brockhaus-Druckausgabe kommen, wird die Redaktion viele Generäle oder Feldmarschälle streichen können, um dafür ein paar Leute von der Kragenweite des DDR-Lehrers Werner Moritz (1928–67) einzurücken. Der Mann war zuletzt Schuldirektor in Rogätz (nördlich von Magdeburg) gewesen. Am 6. Juli 1967 befand er sich mit rund 250 anderen Fahrgästen in einem Personenzug von Magdeburg nach Thale im Harz, wo er an einer vogelkundlichen Tagung teilnehmen wollte. Der Zug wimmelte von Schulkindern, die sich auf ihr Ferienlager im Harz freuten. Sie alle kamen an diesem Tag nur bis Langenweddingen, das südlich von Magdeburg liegt. Dort gab es einen nicht ordnungsgemäß geschlossenen Bahnübergang, den gegen Acht gerade ein mit 15.000 Litern Leichtbenzin gefüllter Minol-Tanklastwagen benutzte. Die Dampflok des Zuges, 85 km/h schnell, da hier kein Halt geplant war, erfaßte den Lkw noch mit einem Puffer. Im Ergebnis kam es zu Explosionen und einer wahren Feuersbrunst. Kinder, die noch genug Luft hatten, schrien: »Es ist Krieg, es ist Krieg!« Die Behörden gaben später 94 Todesopfer an, darunter der Benzinfahrer und 44 SchülerInnen. Es wären beinahe 12 oder 13 mehr gewesen, hätte Moritz sie nicht aus dem brennenden Zug gerettet. Dabei zog sich der 39jährige freilich schwere Verbrennungen zu, denen er anderntags in einem Magdeburger Krankenhaus erlag. 1995 benannte man die Grundschule in Rogätz nach ihm. Er selbst hatte drei Kinder und deren Mutter hinterlassen. Schrankenwärter und Fahrdienstleiter wurden damals zu je fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Kaum entlassen, brachte sich der Schrankenwärter um.*

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 26, Juli 2024
* Katrin Löwe, https://www.mz.de/mitteldeutschland/zugungluck-der-tod-in-der-flammenholle-2839341, 5. Juli 2007

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