Donnerstag, 9. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 25
Lüge, Köpenickiade – Maoismus

Ja, das waren noch Zeiten, als Täuschung durch Verklei-dung und Verstellung beinahe die Regel war! Berühmt ist der Vorfall im Herbst 1906, von dem das Wort Köpenickiade für einen Streich oder eine Gaunerei abge-leitet ist. Damals tauchte ein erwerbsloser Schuhmacher in Hauptmannsuniform im Köpenicker Rathaus auf, verhaftete den Bürgermeister und beschlagnahmte die Stadtkasse. Rottländer und Zuckmayer machten aus diesem Stoff Dramen; Wilhelm Schäfer schrieb (1930) einen ganzen Roman.
~~~ Inzwischen täuscht man überwiegend mit gefälschten Dateien, also digital. Der leibliche Mensch ist ja ohnehin schon zum Aussterben verurteilt worden, Soldaten eingeschlossen, da fehlt der Verkleidung der Trägerstoff. Ein harmloses Beispiel für das veraltete Vorgehen finden wir im für die USA schicksals- oder intrigenschweren Jahr 1941. Der Chef der Funkaufklärungsstation HYPO nahe Honolulu, Hawaii, war damals ein gewisser Joseph Rochefort. Seine Abteilung lag in einem Keller, in dem zunächst unerträgliche Hitze geherrscht hatte, weil sich die landesübliche tropische Hitze mit der Abwärme der benötigten Büro- und Dechiffriermaschinen paarte. Schließlich ließ Rochefort eine Klimaanlage einbauen – aber die sorgte nun für eine Kälte, die ihn, den Marineoffizier, tüchtig zittern ließ. So verfiel er auf die Idee, über seiner tadellos gebügelten Khakiuniform ein rotes Smokingjackett zu tragen. Und mehr noch: »Um die Härte des teppichlosen Betonbodens abzumildern, tauschte er seine Uniformschuhe während der Bürostunden mit weich gepolsterten Pantoffeln.« Beides widersprach selbstverständlich den Kleidervorschriften der Marine, doch diese Unkorrektheit habe sich Rochefort gestattet, schreibt Robert B. Stinnet in seinem bedeutenden Buch über Pearl Harbor (deutsche Ausgabe 2003, S. 109). Sobald Rochefort aus seinem Verlies auftauchte, um etwa Admiral Kimmel oder Beamte vom FBI zu treffen, steckte er wieder in der vorschriftsmäßigen Kluft. Ich werde noch auf ihn zurückkommen müssen, weil er sich damals wahrlich noch ganz andere, weitaus weniger sympathische Unkorrektheiten erlaubte.
~~~ Zwei Jahre früher hatten sich die deutschen Faschisten bekanntlich einen Kriegsgrund geschaffen, indem sie (am 31. August 1939) ein paar SS-Männer als polnische Freischärler verkleideten und gegen die eigene Rundfunkstation in Gleiwitz zum »Überfall« ausschickten. Damit war der Zweite Weltkrieg eröffnet. Rochefort sorgte dann in Haweii mit dafür, den Krieg noch kräftig auszudehnen. Der Preis dafür war ein Massengrab im eigenen Marinehafen, das die Yankees »den Japsen« in die Schuhe schoben.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 21, Mai 2024


Täusche ich mich nicht, zählt der Vorwand zu den drei oder vier wichtigsten Mitteln sämtlicher menschlicher Kommunikation. Er ist allgegenwärtig. Nur im Brockhaus fehlt er. Es mag natürlich sein, er taucht im Lexikon hier und dort im Zusammenhang mit der Lüge auf – aber durch irgendeine Nebenbehandlung wird man seiner großen Bedeutung nicht gerecht. Prüfen Sie einmal, was Sie gestern an einem Tag Ihrer Gattin, Ihren Kindern, Ihren Freunden, Mitarbeitern, Kunden, Wählern, Ärzten und schließlich immer wieder auch sich selber weisgemacht haben: nichts als Vowände. Sprächen Sie stets unverblümt und geradeaus, hätten Sie beispielsweise keine Freunde, MitarbeiterInnen, Kunden und WählerInnen mehr. Sie ließen Sie kurzerhand stehen, weil Ihr Eigennutz und Ihre Verdorbenheit gar zu offensichtlich wären. Gewiß ist denen schon klar, daß Sie ein Arschloch sind – aber sie möchten gern darüber hinweggetäuscht werden. Nennen Sie mir ein Kind, dem der Vater zuknurrte: »Warte nur, du Saubiest, dich werde ich schon kleinkriegen!« Nein, nein. Es geht nur um Erziehung. Papa will lediglich dein Bestes. Meistens bekommt er es auch, beispielsweise deine sogenannte Liebe. Nennen Sie mir einen Finanzminister, der den Wahlschafen ankündigte, mit der steuerlichen Maßnahme X gedenke er sie wieder tüchtig auszuweiden, ohne daß sie es merkten. Nennen Sie mir eine geheimdienstliche oder militärische Maßnahme, die kein Kriegsvorwand gewesen wäre. Eine Stufe vorher werden allerding zunächst Sanktionen angeordnet. Sanktionen sind möglicherweise das beliebteste Hüllwort der Postmoderne überhaupt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024

Siehe auch → Anarchismus, Meegeren (fälschen, manipulieren) → Corona, Impfpistole + Selbstkritik (Echtheit von Dokumenten) → Führer (Archäologe) → Neun-Elf → Quantitatives D., 9,99 (Euro) → Sprache




Ende Oktober 1917 wurde der 33jährige, aus Schwaben stammende Arzt Hans Diefenbach in Ausübung seines Berufes, wenn auch unter den verschärften Bedingungen der »Westfront«, tödlich von einer Granate getroffen. Sein Testament hatte er wohlweislich schon früher verfaßt, im August 1914. Darin* vermachte er 50.000 Mark, die er seinerseits von seinem Vater geerbt hatte, Frau Rosa Luxemburg (1871–1919) in Berlin – unter der Bedingung, daß ihr lediglich die jährlichen Zinsen regelmäßig zum Lebensunterhalt ausgezahlt würden, sei sie doch »in der Privatökonomie vielleicht keine ganz so geniale Meisterin wie in der National-Ökonomie.« Der deutlich jüngere Arzt betonte dabei, die kleine, etwas verwachsene und hinkende »ausgezeichnete« Freundin, Rednerin, Briefautorin und Theoretikerin Luxemburg habe diese Rente »nicht bloß, wie dies ihrem großartigen Natürel entspräche, für andere bedürftige Leute sondern in erster Linie für sich selbst« zu verwenden. Die Bedingung, sie müßte noch länger leben, vergaß er zu stellen. Soweit ich weiß, ist der erschütterten Luxemburg die großzügige Verfügung Hänschens gar nicht mehr zu Ohren gekommen. Bekanntlich wurde die inzwischen 47jährige Kommunistin im Januar 1919, ein gutes Jahr nach Diefenbachs Tod, auf höchste Anweisungen als Festgenommene kurzerhand erschossen und wie ein räudiger Hundekadaver in den Berliner Landwehrkanal geschmissen. Die durchaus bekannten Ausführer und Drahtzieher dieses Mordes (unter anderem Hauptmann Waldemar Pabst und Reichswehrminister Gustav Noske, SPD) wurden nie belangt. Brockhaus meldet verschwommen: ermordet von »Freikorpsoffizieren«.
~~~ Zu den tragenden Geschichtslügen der Bundesrepublik Deutschland zählt die Versicherung, die Berliner »Januaraufstände« breiter streikender Arbeitermassen seien »von den Spartakisten« angezettelt worden, somit hätten sich die Oberspartakisten Liebknecht und Luxemburg die Kugeln, die sie trafen, eigenhändig auf den Hals gezogen. Was in Wahrheit bereits Anfang Dezember 1918 angezettelt worden war, las sich auf Berliner Litfaßsäulen so: Das Vaterland sei vom inneren Feind bedroht, eben der Spartakusgruppe. »Schlagt ihre Führer tot! Tötet Liebknecht! Dann werdet ihr Frieden, Arbeit und Brot haben!« Der Umstand, daß sich die Spartakisten ab Januar 1919 KPD nannten, rüttelt nicht an dem sehr geringen Einfluß dieser eben erst gegründeten »Partei«. Wie Bernt Engelmann schreibt**, hatte sie die Streiks weder geplant noch auch nur vorausgesehen. Diese Proteste durch Gewaltakte einiger Entschlossener in eine »Revolution« verwandeln zu wollen, hätte auch den programmatischen Erklärungen der neuen Partei widersprochen, die »Terror als politisches Mittel«, in Abgrenzung zu leninistischen Praktiken, ausdrücklich verworfen hatte. Luxemburg – die dem 53köpfigen gewählten »Revolutionsausschuß« noch nicht einmal angehörte – warnte vor diesem Abenteuer, während sich ihr Genosse Karl Liebknecht nur mitziehen ließ, weil er befürchtete, sich andernfalls von den Massen zu isolieren. Aber genau er war dann das einzige Mitglied dieses vom betagten USPD-Politiker Georg Ledebour geleiteten Gremiums, das den Aufstandsversuch zu büßen hatte: indem er als Gefangener bei Nacht und Nebel im Tiergarten ermordet wurde. Er wurde wie seine Genossin Rosa lediglich 47 Jahre alt.
~~~ In literarischer Hinsicht kann mich Luxemburg nur durch ihre gesammelten Briefe überzeugen. Bei anderen Texten – soweit ich sie kenne – kommt auch bei ihr der Dogmatismus durch, was leider immer auch dem Stil schadet. Sich ernsthaft Fragen zu stellen und auf mögliche Überraschungen gefaßt zu machen, ist kein kommunistisches Geschäft. In vielen Briefen läßt es Luxemburg jedoch zu, und deshalb sind sie eine Wohltat, auch wenn sie oft aus dem Kerker kommen. Ich gäbe viel darum zu wissen, was der verhafteten Frau auf ihrer kurzen Autofahrt in den Tod durch den Kopf ging. Ich nehme an, sie war eine selbst für Kommunisten ungewöhnlich tapfere Frau. Schließlich hatte sie ja auch immer gegen ihre körperlichen Benachteiligungen und ihre seelischen Anfechtungen zu kämpfen.
~~~ 1962 leistete sich die Adenauer-Regierung, wohl durch die Feder des Pressesprechers und Staatssekretärs Felix von Eckhardt, wieder einmal ein besonders starkes antikommunistisches Stück. Sie stellte sich in einer amtlichen Verlautbarung*** schützend vor den ehemaligen Reichswehr-Major Waldemar Pabst, den unmittelbaren Befehlsgeber des Mordkommandos gegen Rosa Luxemburg. Der war inzwischen als Waffenhändler in Düsseldorf tätig, wurde jedoch, in der Presse, immer mal wieder angegriffen. Das habe er nun zurückgewiesen. Zwar bestreite Pabst »seine Verantwortung für die standrechtlichen Erschießungen« nicht, stelle aber klar, »es in höchster Not und in der Überzeugung getan zu haben, nur so den Bürgerkrieg beenden und Deutschland vor dem Kommunismus retten zu können.« Sie haben richtig gelesen: Standrechtliche Erschießungen. Auf anderen Planeten unserer Galaxie werden solche Äußerungen Freibriefe für Staatsterrorismus genannt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
* https://www.diegeschichteberlins.de/geschichteberlins/persoenlichkeiten/persoenlichkeiteag/422-diefenbach.html, 2003
** Bernt Engelmann, Einig gegen Recht und Freiheit, erstmals 1975 erschienen, Ausgabe Göttingen 2001, S. 48–75
*** »Die Rolle Piecks«, Bulletin der Bundesregierung, Nr. 27 vom 8. Februar 1962, S. 223: https://media.frag-den-staat.de/files/media/main/bc/b9/bcb9400e-6020-457c-b30e-d00e9d9cdd4a/bulletin-1962-27.pdf




Lyrik

Weiße Rappen oder Den freien Versfüßen auf den Fersen --- Soweit ich sehe, treten auf Erden schon seit ungefähr 170 Jahren literarisch gestimmte Apostel auf, die ihre LeserInnen mit Prosagedichten beglücken oder aufrütteln, je nach dem. Hier hat sich soeben Günter Grass mit einer Aufsehen erregenden Attacke gegen ein kleines Land eingereiht, das ohnehin bereits zu alttestamentarischen Zeiten einen Zustand größtmöglicher Feindseligkeit anstrebte. Hätte er seine Attacke, per »Prosagedicht«, somit auf einem weißen Rappen geritten? Das wäre in der Tat große Kunst. Aus denselben Erwägungen heraus könnte der Gesetzgeber den Lehrberuf des Schlosserschreiners anordnen – und siehe da, die hinter dem Gesetzgeber stehende Industrie hat das Unmögliche bereits vollbracht, sie hat das Automotorrad erfunden, wie mir an jedem Wochende einige jüngere, in Lederzeug gehüllte MitbürgerInnen beweisen, die die umliegenden Feldwege als Rennbahnen auffassen. Warum sollten sie untätig bleiben, während die Nato Bombardierungen als Friedensmissionen und den Schutz afghanischer Mohnfelder als Verteidigung der Menschenrechte ausgibt?
~~~ Ich fürchte, ich habe mich wieder einmal auf ein verdammt weites Feld begeben. Also eins nach dem anderen. Das sogenannte Prosagedicht ist ein Phänomen der sogenannten Modernen Lyrik. Über den hohen Ruf dieser Unterabteilung des Literaturbetriebes, die uns hartnäckig mit sprachlichen Erzeugnissen von hoher Beliebigkeit, gewaltigem Zäsurenschwachsinn und allgemeiner Formlosigkeit beliefert, kann sich ein Freund der Ästhetik eigentlich nur wundern. Was wäre daran Lyrik? Da ihre Produzenten jedoch beteuern, in jeder anderen Gestalt verlören ihre sogenannten Gedichte an Aussage- und Bannkraft, kommen wir nicht umhin, sie achselzuckend der Sphäre von Religion, Aberglaube und Kult zu überantworten. Um die Illusion Fortschritt (1996) zu zerfetzen, zieht der US-Paläontologe Stephen Jay Gould, nebenbei guter Prosaist, das in den Staaten überaus beliebte Baseballspiel heran, das irrwitzige Regeln hat. Diese Regeln ließen sich beim besten Willen nicht vernünftig begründen, doch Millionen glaubten inbrünstig an sie, versichert Gould. In der Sportart »Moderne Lyrik« verhält es sich lediglich etwas komplizierter, weil sich jeder Lyriker seine eigenen Regeln schafft.
~~~ Ist er schlau wie Theo Breuer (Wandler Nr. 19), orakelt er etwas von einer »inneren Gesetzmäßigkeit des Freiverses«, um uns einen Hutmacher aufzubinden, der Schuhe feilbietet. Ein Vers hat mit Freiheit nichts zu tun. Wie zum Beispiel der französische Denker Alain gern betonte, hat es sich bei Lyrik schon immer um gebundene Rede gehandelt. Sie ist nicht frei sondern Form. Wie anders wollte sie sich auch von der Prosa unterscheiden? Denn von den möglichen Themen und der möglichen Bezauberung her unterscheiden sich Lyrik und Prosa um keinen Deut. Da wirft man Literaturstars wie Schiller oder Grass »Gedankenlyrik« vor, dabei ist jede Lyrik von gedanklicher Art, sofern sie durchs Gehirn ihres Schöpfers ging. Bei Grass ist man sich darin nicht immer sicher. Und wer umgekehrt der Prosa von Thoreau oder Tschechow »Gefühl« absprechen wollte, kann nur ein Sack voll Grillkohle sein. Ist es uns aber »nur« um die Anschaulichkeit oder Sinnlichkeit eines Textes zu tun, betrifft es Lyrik und Prosa gleichermaßen. Auf diesen angeblichen Gegensatz von gefühlsbetonter und durchdachter Sprache komme ich noch zurück.

Das Gedicht ist ein Fingerhut

Der Unterschied zwischen Lyrik und Prosa liegt allein im Bindungsgrad. Wer Prosa schreibt, springt ins aufgewühlte Meer. Und es gehört viel Disziplin dazu, hier eine schiffbare Route zu finden. Langen Atem braucht man auch. Wer dagegen »dichtet« – nach herkömmlicher Art – schreibt in Kanälen. Von jener Disziplin ist er entlastet. Das Eigenartige und Wohltätige des Gedichts liegt gerade in seiner Enge. Das Gedicht ist ein Handschuh; fast möchte man sagen, ein Fingerhut. Es nimmt nur auf, was paßt. Die strenge Form geht vor; das Maß der Strophen und Verse schreibt vor. Dieser freiwilligen Fesselung einen Höhenflug abzuringen, darin besteht die spannende, allerdings auch mühsame Arbeit des Gedichtverfertigers. Daß es dazu nicht unbedingt des Endreims bedarf, sieht man von Hölderlin bis Hacks. Aber es ist Arbeit. Wer sie fürchtet, wird sich unter das Dach des postmodernen »erweiterten Kunstbegriffs« retten, den niemand hartnäckiger verhöhnt hat als der Maler und Lyriker Robert Gernhardt. Dieses Dach ist groß genug, um alle Strohköpfe, Scharlatane und Faulpelze der Welt zu beherbergen. Der Forderung der Nachprüfbarkeit entgehen sie allemal. Denn woran wollte man ihre Ausgeburten, die weder überlieferte Maßstäbe anerkennen noch einen ihnen »inhärenten« Maßstab entwickeln, messen? Das einzige und das Großartige, worauf sie pochen können, ist die Nochniedagewesenheit ihrer Produkte. Der Kapitalismus mit seinem »Innovations«-Zwang, auch Neuigkeitswahn genannt, läßt grüßen.
~~~ Dem unreligiösen Freund der Ästhetik drängt sich natürlich die Frage auf, warum sich im Zuge der Moderne ausgerechnet Maler, Bildhauer, Komponisten und sogenannte Dichter bereitwillig dazu hergeben, an der Zerstörung der Form mitzuwirken. So weit ich sehe, gibt es dafür mindestens vier Gründe, die sicherlich immer anders zusammenspielen. Den ersten Grund habe ich bereits angedeutet: man möchte nicht veraltet sein. Das Schimpfwort dafür ist »antiquiert«. Also muß etwas Neues her, sofern man nicht als HinterwäldlerIn gelten möchte. Selbstverständlich wird es immer auch als das Bessere verstanden. Die Wurzel liegt in unserer Vergänglichkeit. So gut wie jeder junge Mensch ist davon überzeugt, er könne dies oder das, am besten sogar alles, besser machen als seine zahlreichen VorgängerInnen. Das Kind überflügelt seine »Alten«, auf die es sowieso schlecht zu sprechen ist.
~~~ Was Wunder, wenn unsere »Neuerer«, dies zum zweiten, auch dem allgemeinen Fortschrittswahn aufsitzen. Die Menschheit schreitet unbeirrt auf ihr Heil los, und nicht etwa heillos. Irrtümer oder Rückschritte zieht der Neuerer nicht in Betracht. Ironischerweise bleibt er mit seinem Fortschrittsglauben dem Anspruch des 19. Jahrhunderts verhaftet, man müsse die Wirklichkeit wiedergeben. Denn in der Wirklichkeit wird bekanntlich alles immer kniffliger, vielschichtiger, unübersichtlicher – die Kultur verfeinert sich. Und dabei möchte er mithalten. Doch für mich besteht die Aufgabe der Literatur und Kunst nicht in dieser Nachäffung, sondern gerade umgekehrt darin, dieser bedenklichen Entwicklung, die uns zu Sklaven eines Trommelfeuers aus Trümmern, Splittern, Fetzen macht, klare Gestalten entgegen zu halten. Nur solche sind Quellen wirklicher Erkenntnis und Kraft. Daß sie bei aller Reinheit trotzdem zauberhaft wirken können, sieht man an einem Tagebuch-Eintrag von Jules Renard so gut wie an einem Bläserquintett von Paul Hindemith. Dies liegt ohne Zweifel daran, daß der Mensch und seine Welt unergründlich sind. Man braucht sie nicht künstlich zu verrätseln.
~~~ Der nächste Grund liegt auf der Hand. Er ist allen Handwerkern einsichtig genug, um mich hier nicht an ihm aufzuhalten. Er lautet: Es ist leichter, eine Form zu zerstören als eine zu schaffen. Es ist bequemer, ein Pißbecken zur Kunst zu erklären als eine Gestalt zu modellieren. Bei den modernen Lyrikern stellt die angebliche Gedichtform das Pißbecken dar, in das sie ein paar Reizworte kotzen. Mondrian gab die Gitter, die manchmal auf den Pißbecken liegen, als Stilleben aus, vor denen in Andacht zu erstarren sei.
~~~ Den vierten Grund erblicke ich in dem durchaus alten, unseligen Begehren der KünstlerInnen, ihren ureigenen Ausdruck, ihre ganz persönliche Sprache zu finden. Nach etlichen tausend Jahren emsigen Kunstschaffens ist da natürlich nicht mehr viel zu holen. Folglich weicht der Nachwuchs nur zu gern auf »Sprachen« aus, die mit Kunst nichts mehr zu tun haben. Sie setzen uns leere Leinwände, flimmernde Bildschirme, Wortsalate vor – in Zeiten des events auch gerne alles zusammen. Sie leiern Telefonbücher herunter oder verwandeln jedes Ding, das ihnen in die Hände fällt, in Fakirbretter oder Striegelbürsten, weil sie ja, wie ich schon sagte, nichts so lassen können wie es ist. Doch was immer auch, sie erklären es für die jüngste Vervollkommnung des Pegasus – und reiten dann 30 Jahre lang überaus einträglich darauf herum. Zugegeben, Grass reitet nicht; er ist wandlungsfähig. Aber sein jüngster weißer Rappe namens Prosagedicht, der sich vor lauter ungelenken Schachtelsätzen die Hachsen bricht, wird bis zum letzten Atemzug Dukaten scheißen, weil er einem Marken-Stalle entstammt.
~~~ Um noch kurz darauf einzugehen: Blechtrommler Grass imponierte im Laufe seines langen prominenten Lebens nicht unbedingt durch Gradlinigkeit, womit er nebenbei auf den Schlußseufzer meiner Betrachtung verweist. Während er geraume Zeit nach dem Empfang des Nobelpreises (1999) einige SS-Jugendsünden bekannte (2006), hatte er sich 1974, gemeinsam mit Böll, Walser und anderen, gegen den haarsträubenden Freispruch für den NS-Arzt Kurt Borm verwahrt. Während er vom Rande des Sarges aus die TotschlägerInnen aus dem Heiligen Land anprangert, begrüßte er 1999 die Bombardierung Jugoslawiens durch seinen Busenfreund Gerhard Schröder. Um 1970 fanden Klaus-Staeck-Plakate seinen Beifall, die den deutschen Arbeiter ironisch alarmierten, die SPD wolle ihm (dem deutschem Arbeiter, nicht Grass) die Villen im Tessin wegnehmen; im Oktober 2004 verkündete er gemeinsam mit 60 anderen Prominenten in einem Aufruf, das Ausplünderungs- und Ertüchtigungsprogramm Hartz IV sei »für den Standort Deutschland überlebensnotwendig« – wie ja auch Phrasen und Superlative für Schriftsteller unverzichtbar sind. Den Marsmännchen, die die ausgeglühte Erdkugel besichtigen werden, wird sich die Art Grass vom Skelett her als allesfressendes Chamäleon darstellen.

Die Gedanken sind frei und die Verse ohne Gedanken

Ich will nun versuchen, auf »Gedankenlyrik« und das leidige Grenzproblem zurückzukommen, siehe Schlosser/Schreiner. Was ich bis zum Weltuntergang erbittert bekämpfen werde, das ist neben der Heiligsprechung des Volkes Israel die Vergötterung sogenannter Dichter. Hier sind wahrscheinlich die berüchtigten »Spalter der Arbeiterklasse« am Werk. Da die Linke im allgemeinen Hierarchien liebt, macht sie jedenfalls bei der verbreiteten Praxis, einen Keil zwischen die »Dichter« und alle Nichtdichter zu treiben, emsig mit. Dabei stehen die Dichter – weibliche immer eingeschlossen – ersichtlich umso himmelhöher über den Nichtdichtern, je weniger es von jenen gibt. Für Blätter wie Junge Welt und Ossietzky sind unsere ehrfurchtgebietenden deutschsprachigen Dichter eigentlich nur Heine, Brecht, Hacks, Handke und, wie sich versteht, Johannes Erbrecher. Alle anderen sind nur Schriftsteller. Sie stellen ihre hölzernen Buchstaben auf wie Jägerzäune. Sie verfertigen Berliner Mauern. Nur der (linke) Dichter sitzt auf dem (hohen) Roß und webt an Deutschlands Leichentuch.
~~~ Scherz beiseite. Nach landläufiger Vorstellung – die Linke liebt alles Landläufige und Volkstümliche – ist der Dichter fürs Gefühl zuständig. Die Gedanken werden dem Schriftsteller überlassen, der sie durch die Bleiwüsten seiner Prosa schleppt, in welcher Form auch immer, ob Abhandlung, Kurzgeschichte, Roman. Ja selbst durch Gedichte! Wie ich ja schon durch Schiller und Grass belegt habe. In Wahrheit gibt es selbstverständlich nicht ein sprachliches Erzeugnis, das von Gedanken frei wäre. Die Sprache besteht nur aus Gedanken; andernfalls wäre sie Musik. Es ist sicherlich richtig, daß wir eine von Pflaumenbäumen und Johannisbeersträuchern durchsetzte Rede zumeist anheimelnder finden als eine Rede über Pomologie (das ist die Obstbaukunde). Gleichwohl handelt es sich bei dem bekannten Vers Mit gelben Birnen hänget / Und voll mit wilden Rosen / Das Land in den See um einen durchweg begrifflichen Satz.
~~~ Wie F. G. Jünger in Sprache und Denken (1962) ausgeführt hat, sind auch unsere Dingwörter Schemata, die nicht die geringste Ähnlichkeit mit den gemeinten leibhaftigen Phänomenen haben. Sie sind abstrakt. Sie stellen uns – so Jünger – durch ihre Begrifflichkeit einen »Riegel vor der Zudringlichkeit und Übermacht der Wahrnehmung« zur Verfügung. Sie helfen uns, die Dinge und Ereignisse zu ordnen, zu klären und so zu bewältigen. Was sich dagegen Kleinfritzchen unter einem Dichter vorstellt, das ist ein Nebelwerfer, ein Schaumschläger – eine taube Nuß, in die ein hilfsbereiter Freund des Dichters, der im Kölner Dom die Altarleuchter putzt, Weihrauchkörnchen geschmuggelt hat. Aber sie haben es faustdick hinter den Ohren, diese Dichter! Sie schwören bei Gott, nur sie sprächen zu uns über Gefühle und zu Herzen gehend. Wie machen sie das denn, ohne Gedanken? Ohne Sprache gibt es keine Gefühle. Es gibt dann nur Regungen, von denen wir nichts wissen. Sobald wir eines Gefühls inne werden, ist es durch unser Bewußtsein gegangen. Und nur auf diesem Wege kann es auch, soweit es Schriftstücke angeht, geäußert werden.
~~~ Selbstverständlich gibt es Prosa, die ungenießbar ist – viel zu viele. Man muß dazu nicht unbedingt Grass lesen und mästen – versuchen Sie es einmal mit bereits toten Leuten wie Georg Simmel, Rudolf Steiner, ja sogar Kafka. Dessen Prosa ist unerfreulich kalt, naturfern und unsozial, wie ich schon einmal andernorts behauptet habe. Ich glaube, in dieser Hinsicht ist ihm sogar Grass vorzuziehen. Gewiß, gemäß meines Unglaubens an »Willensfreiheit« können sie allesamt nichts dafür. Sie haben sich ihr Naturell nicht ausgesucht. Aber das heißt noch lange nicht, man müsse sie zu Denkmälern oder gar Vorbildern der Menscheit erheben.
~~~ Was eine Prosa packend macht ist, von gewissen dramaturgischen Kunstgriffen einmal abgesehen, vor allem ihr Ausdruck. Das meint jedenfalls George Orwell, der übrigens ein hervorragender Essayist war. Nach ihm hat sich der Ausdruck durch drei Merkmale auszuzeichnen: anschaulich, treffend, persönlich. Prägen Sie sich diese drei Begriffe ein. Sagen Sie sie viermal täglich auf, das ist wichtiger als Zähneputzen. Spielen sie jeden dieser drei Begriffe nach dem Aufsagen anhand verschiedener Beispielsätze, die Sie aus Ihrem Gedächtnis kramen oder just neu bilden, durch. Denn Sie werden kaum über Nacht begreifen, was mit ihnen gemeint ist. Falls Sie so dumm sind, SchriftstellerIn werden zu wollen.
~~~ Ich gehe hier nur kurz auf das Merkmal persönlich ein, weil es am häufigsten mißverstanden wird. Den Vogel schießen hier die Avantgardisten ab. Es geht nicht darum, mit Neuigkeiten, Tand oder Seelenmüll zu glänzen. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie nach einer anschaulichen und treffenden Formulierung suchen, fällt Ihnen zunächst das Naheliegendste ein, und das ist eben der ganze Schrott, der sich in den Zeitungen und auf den Bildschirmen und deshalb in Ihrem Gehirn stapelt. Einen persönlichen Zug gewinnt ein Text, wenn er Ihren Blick auf den Gegenstand (oder gar die ganze Welt) in möglichst geschlossener Konsequenz zeigt. Da können selbst Äpfel und Birnen oder die Pomologie oder ein Pferd wie der zugegeben rare weiße Rappe helfen, die so nur bei Ihnen vorkommen, weil Sie, und damit ihr Text, dafür disponiert waren.

Der schwarze Rappe galoppiert

In meinem Aufsatz über Fotografie und Film »Klappe zu, Affe tot«, vor etlichen Jahren in der Zeitschrift Die Brücke erschienen, schwang ich mich zu dem verkünderischen Satz auf, mit jeder Grenze, die fiele, rückten wir dem Nichts näher. Das ging selbstverständlich gegen die unübersehbare, Besorgnis erregende historische Tendenz der Verklumpung und Vermanschung, die mit dem Kapitalismus höchstens einen neuen Schärfegrad – und mit dem vielleicht von mir geprägten Begriff der Globallisierung ihren eigenen Witz bekommen hat. Sie wird uns zum schwarzen Rappen, also zu immer mehr Tautologien, und schließlich zu jenem Tröpfchen hochkonzentrierter »Ursuppe« führen, das Gott dereinst vom Himmel fallen ließ, bevor er mit mächtigem Knall furzte. Das Peinliche ist nur: auf der anderen Seite werden meine Schriften von Schimpfkanonaden gegen die Trennungen durchzogen: Arbeit/Freizeit, Schule/Leben, Privatsache/Öffentlicher Dienst, Sachbuch/Belletristik, Erwerbsleben/Ruhestand und dergleichen mehr. Die DDR ist keineswegs an den streckenweise lächerlichen »Fehlern« zugrunde gegangen, die Friedrich Wolff im jüngsten Ossietzky aufzählt (Heft 11/2012). Grundsätzlich betrachtet, scheiterte sie an fehlender Konsequenz, stellte sie doch nie eine Alternative zum Kapitalismus dar, den sie beneidete und nachäffte. Wolff jedoch beklagt das »psychologische« Ungeschick der SED-Fürsten bei der Erläuterung ihrer marxistisch-leninistischen Linie und das Fehlen »materieller Anreize« – man konnte dem Westen in der Durchtriebenheit nicht das Wasser reichen. Und im besonderen scheiterte die DDR am Unwillen, die »Mauern« zwischen Gebrauchs- und Tauschwert, Bürgern und Politikern, Notwendigkeit und Vergnügen und so weiter einzureißen. Sie war eine gespaltene Gesellschaft.
~~~ Aber da haben wir es schon. Jene Konsequenz hätte ja mehr Abgrenzung vom Goldenen Westen erfordert, also gerade das Trennende betont. Im gleichen Selbstwiderspruch halte ich die Verpanschung von Lyrik und Prosa für unzulässig, während ich in meinen »Erzählungen« emsig Betrachtungen anstelle und in meinen »Betrachtungen« emsig erzähle. Einerseits fordere ich den allseitig gebildeten und geschickten Menschen; andererseits winde ich mich angesichts der Bühnenshows zeitgenössischen »Theaters«, die keine Gattung der Kunst und der Überredung auslassen, in Magenkrämpfen. Ich befürworte anarchistische Kommunen, bei denen »alles unter einem Dach« lebt und schafft, führe selber das Leben eines Eigenbrötlers, dem Distanz über alles geht, hasse Kaufhäuser und verachte illustrierte Literatur. Und so weiter.
~~~ Ich schließe mit einer Behauptung, die ich so schnell nicht beweisen kann: hätte ich auf meiner Webseite 100 LeserInnen, die ich zudem einer sozialwissenschaftlichen Untersuchung aussetzen dürfte, käme ich zu 100 völlig unterschiedlichen Gepflogenheiten, was deren Praxis der Grenzziehung angeht. Jeder würde dieselben Phänomene anders nach »dies gehört vereinigt / dies gehört getrennt« verlesen. In dieser Hinsicht herrscht, ich wette darauf, die reinste Willkür. Somit sollte man von flammenden Worten nie auf die Gesetzgebungskraft ihrer VerkünderInnen schließen.

∞ Verfaßt 2012


Jedenfalls Trompetenhals --- Mein Großvater Heinrich, ein Volksschullehrer, Schrebergärtner und strammer Wandersmann, war zusätzlich ein hartnäckiger Reimer. Ein Familien- oder Verbandsfest ohne seine mehr oder weniger holprigen, humorigen Verse war undenkbar. Hauptsache, gereimt. Mich schon als Knabe zu fragen, was uns eigentlich am Reim so betört, wäre vielleicht zuviel verlangt gewesen. Also eiferte ich meinem Großvater kurzerhand nach. Keine Schülerzeitung war vor meinen holprigen, humorigen Versen sicher. Später, wohl noch in maoistischen Nachwehen liegend, verbrach ich ein furchtbares langes Gedicht auf einen Förderturm der stillgelegten Bochumer Zeche Hannibal, der sich zunächst seiner Sprengung widersetzt hatte. Das dürfte 1974 gewesen sein. Damals wohnte ich auch noch in Bochum, wo ich zeitweilig Berufsrevolutionär gewesen war. Wenn ich mich richtig erinnere, war der Turm erst im dritten Anlauf in die Knie gegangen – was ja wohl eindeutig für die tiefen Wurzeln und die baldige Wiederkehr des proletarischen Aufbegehrens sprach! Pustekuchen.
~~~ Am Reim betören einige edle Züge, die uns in der Realität nur selten oder nie gewährt werden. Zum Beispiel den Gleichklang des Proletariats … Das Aufgehen einer Rechnung. Stimmigkeit, Nachvollziehbarkeit, Übersichtlichkeit. Kurz, der Reim schafft Ordnung. Das stellt gerade auf seinem Herkunftsgebiet, der Sprache, eine wahre Labsal dar, sehen wir doch von Afghanistan bis Ukraine nichts als heillose Verwirrung, Betrug und Spaltung. Die Soldaten sprengen Brücken und Fabriken, nie dagegen Lügengebäude.
~~~ Das Schönste an jeder Ordnung ist: wir wissen, warum sie so ist, wie sie ist. Schließlich haben wir sie selber gemacht: die Religion, den Staat, die Ausweis-, Schul- und Impfpflicht, den Kalender, die Uhrzeit, die schwachsinnige »Sommerzeit« und so weiter. Sogar die bekannten, angeblichen »Naturgesetze« sind auf unserem eigenen Mist gewachsen. Ob sie wirklich vorhanden sind oder welche Reichweite sie haben, kann kein Mensch sagen. Hauptsache, sie funktionieren. Bei uns. In unseren Maschinen. Das hindert aber ein Heer von hochqualifizierten Astrophysikern nicht daran, im Hinblick aufs Universum oder auf die Gesamtheit aller Universen mit irdischen Kategorien Marke »Raum«, »Zeit«, »Geschwindigkeit«, »Richtung« wie mit Eierlöffeln oder Vorschlaghämmern zu hantieren.
~~~ Statt Ordnung wird auch oft Notwendigkeit gesagt. Beider Widersacher ist ein Phänomen, das wir meistens Zufall nennen. Von diesem wissen wir im Grunde nicht mehr, als daß er selten glücklich, in der Regel ärgerlich ist. Er stiftet viel Verwirrung. Was Wunder, wenn jeder Mensch auch grundsätzlich lieber notwendig statt zufällig wäre. Allerdings behaupten inzwischen die meisten »EvolutionsforscherInnen«, die größte Rolle bei der Entstehung von Arten spielten zufällige Genmutationen, und nicht etwa ausgeklügelte göttliche Pläne à la Illusion Fortschritt. Auf jene zufälligen Sprünge führen sie auch die schon früher gestreifte altsteinzeitliche »Explosion« unseres Gehirns zurück. Deshalb seien wir alles andere als eine Krone der Schöpfung, eher deren x-tes Magengeschwür.
~~~ Das Dumme ist nur: alle Verweise auf zufällige Anlässe oder Beweggründe erklären so gut wie nichts. Warum sprang denn das Gen? Warum verläuft ein zufälliges, chaotisches Geschehen so und nicht vielmehr anders ab? Dies alles liegt im Nebel, und in der Tat ist es uns nicht gegeben, uns mehr als völlig verschwommene Vorstellungen von nicht-notwendigen Vorgängen zu machen. Da sind ein Staat, ein gereimtes Gedicht oder eine Oktave doch etwas ganz anderes. Bei dieser fand irgendein Steinzeitler, falls es keine Frau war, plötzlich das kleine c im eingestrichenen c' wieder. Ja, das ist Ordnung.
~~~ Jetzt fängt draußen wieder dieser idiotische Buchfink zu schmettern an. Während seine Artgenossen ihren »Gesang« meistens in dem Schnörkel Gewürzbier auslaufen lassen, hat mich dieser Vertreter zu dem Gedicht angeregt: »Ja, das ist Sirédio / wird wohl nie des Lebens froh.« Ich hoffe, Sie sind beeindruckt. Um 1977 ziemlich unvermutet auf dem Weg zum Liedermacher, kam ich »natürlich« auf meine frühe Reimlust zurück. Immerhin war ich aber im folgenden klug genug, auf Schmarren wie »Herz/Schmerz« zu verzichten und meine Reime stattdessen mehr oder weniger »unsauber« zu halten. Das empfand ich als bedeutend raffinierter. Doch genau diese Unsauberkeit (in meinen um 2012 aufgenommenen Zwergliedern) warf mir neulich ein Berliner Chorleiter als »Stümperhaftigkeit« vor! Das war vielleicht das Todesurteil für Liedtexte der folgenden Sorte: >>Meine Flöte ist ein Notbehelf, denn viel lieber säng ich aus eigenem Hals. Doch erwartet man in diesem Fall alle Töne schön in Bedeutung gewälzt. Hab schon gebetet um einen Liedtext, der mir womöglich aus dem Glied wächst.<<
~~~ Die Noten können Sie gerne anfordern. Sie werden sehen, die »holprigen« Worte sind gar nicht so ungeschickt auf die hübsche Melodie geschneidert.

∞ Verfaßt 2022

Siehe auch → Balcke (und Heym) → Bildende Kunst, Lyncker (Dichterlesung G. Eich) → Kopfbedeckung, Hölderlin → Nacht (mit Gedicht) → Sprache, Abbo → Zander Max




Tansania, der ziemlich ausgedehnte Staat an der ostafrikanischen Küste, befreite sich um 1960 von kolonialer Bevormundung und Ausbeutung, jedenfalls offiziell. Die einheimischen PolitikerInnen bemühten sich um »Blockfreiheit« und unterstützten verschiedene andere afrikanische Befreiungsbewegungen. Aber dies alles stand auf tönernen Füßen, da die Macht ja nach wie vor beim Imperialismus saß. 2015 wurde John Pombe Joseph Magufuli zum Präsidenten Tansanias gewählt. Sein Programm bestand vor allem darin, die Vetternwirtschaft und die Eingriffe der Westlichen Tauschwertgemeinschaft in sein mit begehrten Bodenschätzen gesegnetes Land zu unterbinden. Wie es aussieht, war er bei den meisten Kleinen Leuten ausgesprochen beliebt. Die westlichen Medien hoben aber lieber seinen angeblich autoritären und wissenschaftsfeindlichen Regierungsstil hervor – dabei war er unter anderem promovierter Chemiker. In der Tat weigerte er sich, seine vielen WählerInnen als Versuchskaninchen für genmanipuliertes Saatgut oder dann, in der Zeit des weltweiten Coronawahns, für fragwürdige Impfstoffe aufzufassen. Damit setzte er sich natürlich zumindest beim Imperialismus stark in die Nesseln. 2021 verschwand der Staatspräsident plötzlich für etliche Wochen. Dann hieß es Mitte März regierungsamt-lich, er sei in einer Klinik von Daressalam dem berüchtigten »Herzversagen« erlegen, einer klassischen Überdehnung des gesunden Menschenverstandes also. Etliche maßgebliche Leute behaupteten zudem, sein Herz habe just wegen Corona versagt. Trifft das zu, wäre es für Magufulis AnhängerInnen ohne Zweifel peinlich. Angela Mahr trägt jedoch in einem drei Monate später veröffentlichten Artikel* zusammen, wie geballt Magufuli damals in den westlichen Medien herabgesetzt, ja sogar verleumdet worden ist. Ich persönlich neige zu der Annahme, man habe ihn damals gewaltsam, freilich auch geschickt aus dem Verkehr gezogen. Tim Weiner, der CIA-Chronist, könnte Ihnen erzählen, wie man das macht.
~~~ Über Mahrs erstaunlich behutsame und – für 2021 – mutige Wahrheitssuche ist jedenfalls bislang, soweit ich im Internet sehe, niemand hinaus gekommen. Wikipedia, englisch und deutsch, betet selbstverständlich die Anschwärzer des verstorbenen dunkelhäutigen Politikers nach. Ansonsten scheint sich keiner bemüßigt zu fühlen, ein neues kritisches Licht auf den Fall zu werfen. Alternativ zu Mahr empfehle ich Ihnen, einen jüngeren Handelsblatt-Artikel** über Magufulis Nachfolgerin Samia Suluhu Hassan zu lesen. Sie werden unter anderem erfahren, sie hat die Nachlässigkeiten im Krieg gegen das Coronavirus sofort abgeschaltet, Oppositionsführer geküßt und ihren hohen Besucher Frank-Walter Steinmeier gebeten, sie in Berlin als »Hoffnungsträgerin« zu empfehlen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 36, September 2024
* Angela Mahr, https://www.manova.news/artikel/der-unbestechliche, 17. Juni 2021
** https://www.handelsblatt.com/politik/international/samia-suluhu-hassan-warum-tansanias-praesidentin-zur-hoffnungstraegerin-afrikas-wird-/29474280.html, 1. November 2023




Mammutisierung

Auf etlichen Seiten seines zweiten Bandes trachtet Brockhaus, mir das Atom nahezubringen und mich ferner in die Geheimnisse von Atomgesetzen, Atommodellen, Atommeilern, Atommüll und so weiter, übrigens wenig später auch der Atonalen Musik einzuweihen. Aber ich will nicht. Ich erinnere mich noch ziemlich genau daran, vor Jahrzehnten wie so viele mit der bekannten sonnigen, gelbroten Anti-Atom-Plakette herumgelaufen zu sein und schon damals gedacht zu haben, dieser ganze komplizierte, kostspielige und oft hochgefährliche Wissenschafts-krempel werde uns bloß aufgezwungen – kurz, ich weigerte mich kurzerhand, mich eingehend damit zu befassen. Es interessierte mich nicht, wie ein Atomreaktor funktioniert. Es interessierte mich noch nicht einmal, wie ein Geschirrspülautomat oder ein Mobiltelefon funktioniert. Es genügte mir, wenn ein paar kluge, kritische Köpfe Bedenken gegen derartigen »Fortschritt« anmeldeten. Für mich fand hier ein Atom- und Atonal-Terror statt, dem nichts lieber gewesen wäre, als mich in Überflüssigem zu ertränken. Ich erinnere auch an die vielen im Meer oder im Orbit stationierten Raketen beziehungsweise deren Stufen oder Krümel. Oder nehmen Sie die schon gestreiften Gesetze. Unsere MachthaberInnen vernebeln ja beileibe nicht nur Atomprogramme; Tag für Tag werden wir mit Betriebsanleitungen, Verordnungen, Gesetzespaketen bombardiert, an denen ein schlichter Bürger nur verenden kann. Zufällig hat sich das verdienstvolle Autorengespann Bräutigam/Klinkhammer gerade in diesen Novembertagen unter der Überschrift »Staatlich vorangetriebene Zensur und Meinungsterror werden deutsche Staatsräson« durch ein Labyrinth von jüngsten, wie immer gut verbrämten Vorschriften aus dem PR-Bereich gekämpft.* Ich danke den Kollegen sehr – und erkläre unmißverständlich: mit dieser Scheiße möchte ich nichts zu tun haben. Schließlich habe ich Brennholz zu machen, Brot einzukaufen, den Fehler in meiner Fahrradbeleuchtung zu finden und nicht zuletzt den Brockhaus durchzukauen – und dergleichen ist schon hart genug.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 3, Dezember 2023
* Bräutigam/Klinkhammer auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=106628, 13. November 2023



Die Ballung, in sozialpolitischer Hinsicht oft als ganzer Ballungsraum verstanden, auch Agglomeration oder Metropolregion genannt, wird von Brockhaus viel zu dürr behandelt. Man merkt, er hat für die zivilisatorische Tendenz, die ich gern Mammutisierung nenne, kein tieferes Verständnis. Als günstige Auswirkung der Tendenz führt er selbstverständlich die gewaltige Steigerung der auf einem Haufen möglichen »Vielfalt« an Konsum- und Gewinnmöglichkeiten an. Tausend »unnötige« Wege und Schliche entfallen. Ungünstig dagegen wirkten sich die »durch Verdichtung hervorgerufene Flächenknappheit und deren Folgen« aus, voran die Explosion der Grundstückspreise, dann Lärm sowie Wasser- und Luftverschmutzung. Das war es schon. Die Undurchschaubarkeit unserer Ballungsräume für alle ZweibeinerInnen, die keine PolitikerInnen, Rechtsanwälte oder SteuerberaterInnen sind, kommt nicht zur Sprache. Letztlich führt aber gerade sie zur Unbeherrschbarkeit der Ballungsräume. Nebenbei sind unsere geografischen Klumpen natürlich wunderbare, einträgliche Ziele für sogenannte »Marschflugkörper« oder in Kanalröhren hinterlegte Sprengladungen. Für alle GaunerInnen, die keine PolitikerInnen, Rechtsanwälte oder SteuerberaterInnen sind, stellen sie den idealen Tummelplatz dar, weil sie auf diesem gar nicht mehr auffallen. Die hochgerüstete Polizei ist machtlos. Da helfen auch die riesigen Türwächter-Figuren vor der Bangoker Tempelanlage Wat Phra Keo nicht, die uns Brockhaus auf einem Foto zeigt. Der Ballungsraum Bangok, Thailand, hat derzeit schon gut 14 ½ Millionen EinwohnerInnen. Bevor Sie da im Hi-End Snooker Club eintreffen, wo neuerdings die Ballerinen dieser Billardsportart fast wie am Fließband gebacken werden, sind Sie schon dreimal ausgeraubt und ermordet worden oder eben an der hohen Luftverschmutzung krepiert. Die einzig wirksame Gegenmaßnahme könnte man wohl Entflechtung der Ballungsräume nennen – aber wie diese Maßnahme »nachhaltig« gute Ergebnisse ohne die Zerschlagung der Ballungsräume liefern soll, weiß kein Sozialreformer zu sagen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023


Jetzt sehen Sie sich einmal die angebliche Prachtorchis an, auch Vanda sanderiana genannt. Es handelt sich um eine Orchidee, die es wild nur auf den Philippinen gibt, ansonsten jedoch in überzüchteter Form* in allen Städten der Welt auf zahlreichen Fensterbänken oder Rednerpodien. Brockhaus meint, sie sei »eine der schönsten kultivierten Orchideen« überhaupt. Das ist nicht nur eine subjektive Bewertung, die beispielsweise nach den offiziellen Wikipedia-Richtlinien verboten wäre, sondern auch eine üble Geschmacksverirrung. Der Mensch ist der große Aufbläher. Folglich bläst er auch Kuheuter zu Milchfabriken und Gladiolen zum Träger popfarbig angestrichener Schultüten auf. Die gewaltigen volkswirtschaftlichen Kosten der Angelegenheit, etwa der Blumenzucht und des Blumenhandels, scheren ihn einen Dreck, obwohl man dafür Millionen Menschen aus dem Elend reißen könnte. Eben diesen Dreck verwandelt ja unsere Freie Marktwirtschaft in sinnvolles Gold und Geld, weil sie insgesamt als riesiger Luftballon funktioniert.
~~~ Eine bezeichnende Szene aus Remarques Arc de Triomphe fällt mir ein. Der durchaus lesenswerte Roman spielt im Jahr 1939. Held der Geschichte ist Ravic, ein aus Deutschland geflüchteter Arzt und Saufbold. Seine neue Geliebte singt in einem Pariser Nachtclub. Nun überrascht ihn Joan beim Eintritt in sein Hotelzimmer mit einem ganzen Armvoll Chrysanthemen, die ihr ein sie bewundernder Gast geschenkt hat. Ravic liegt noch im Bett. Joan läßt die beliebten gefüllten Sahnebonbon-blumen auf seine Bettdecke prasseln. Das hält er aber für gefährlich (Erstickungsgefahr); so rafft sie sie mit heftiger Bewegung wieder zusammen – und wirft sie auf den Fußboden. Es folgt das übliche Hickhack um die Frage, ob man auch einander genügend liebe. Unterdessen schimmern die Chrysanthemen vom Teppich her. Ravic hat nebenbei eine frische Tageszeitung unter sie geschoben, um die Schlagzeilen zur wachsenden Kriegsgefahr nicht mehr sehen zu müssen. Bald verlagert sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden mehr oder weniger vollständig auf den Fußboden, sprich auf das Blumenmeer, in dem bereits eine halbgeleerte Flasche Calvados schwankt, der beide gern zusprechen. Fehlt nur noch, daß sich die beiden am Ende versöhnlich in den Chrysanthemen wälzen, aber vorher bricht das Kapitel (Nr. 11) wohlweislich ab.
~~~ Vielleicht ist der Hinweis gestattet: die krankhafte Zucht und Verwendung von Tischblumen ist im wesentlichen eine Folge der Verstädterung. In den gelichteten, gleichsam aufgelösten ehemaligen Städten meiner Freien Republiken käme kein Mensch auf die Idee, sich um die Frische täglicher Tischblumen zu sorgen. Er hat keine Tischblumen, weil sie draußen neben der Haustür oder nach hinten heraus in den Wiesen blühen. Will er Blumen sehen, braucht er bloß aus dem Fenster zu gucken. Will er an ihnen schnuppern, hat er nur ein paar Schritte zu gehen. Im Winter nimmt er mit den Eisblumen an den Fensterscheiben und den Eiszapfen an den Dachrinnen vorlieb. Diese ganze Erbaulichkeit kostet ihn keinen Pfifferling.
~~~ Zu meinen Lieblingsblumen zählt das schlichte, pink blühende Tausendgüldenkraut, das ich öfter auf einer nahegelegenen, teils feuchten Waldwiese besuche. Der Name ist irreführend, wohl zum Teil durch Fehlübersetzungen. Freilich wurde das Pflänzchen schon immer wegen seiner Heilkraft wertgeschätzt, etwa gegen Gallendrücken oder Fieber.** Solange unsere Städte mit Goldgruben namens Apotheken gepflastert sind, kostet es allerdings Geld.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024
* https://orchideeen-shop.nl/de/products/vanda-sanderiana
** Justus Meißner, https://www.stiftung-naturschutz.de/aktuelles/pflanze-des-monats/echtes-tausendgueldenkraut, Juli 2020



Der Umverteilungs- und Ausplünderungsvorwand Währungsreform dürfte ziemlich bekannt sein. Vielleicht war Ihnen aber bislang nicht unbedingt klar, daß es sich im Laufe der Neuzeit zunehmend um eindrucksvolle Massenveranstaltungen handelt. Zur westdeutschen Währungsreform von 1948 bringt Brockhaus gleich zwei Schwarzweißfotos, die mich fast auf Anhieb geradezu erschreckt haben. Foto 1 zeigt eine schier endlose Warteschlange in einer recht engen Straße, in der sich offensichtlich eine Umtauschstelle befindet. Zu allem Unglück regnet es auch noch in Strömen. Die Hüte triefen; die Regenschirme verhaken sich; jederzeit droht eine Massenschlägerei auszubrechen. Im Inneren der Umtauschstelle (Hamburg, Foto 2) sieht es keinewegs gemütlicher aus. Wir blicken über die gebeugten, tadellos frisierten Hinterköpfe von mehreren schreibenden oder schimpfenden Schalterbeamten auf Dutzende von andrängende, sich stoßende Leute beiderlei Geschlechts, die sich bereits eine Weile ihre Beine in den Bauch gestanden und Püffe und Blaue Flecke geholt haben, und die jetzt endlich ihre 40 Mark oder weiß der Teufel welches Almosen begehren. Auch hier liegen Verzweiflungstaten geradezu in der dicken Luft. Viele Gesichter sind verzerrt; einige Fäuste, die den Berechtigungsschein umkrampfen, bereits angeschwollen; manche Augen hilfeerheischend oder wütend gegen den vermutlich auf einem Schrank sitzenden Fotografen verdreht.
~~~ Der Grundzug dieser Massenveranstaltung kann nur als Entwürdigung bezeichnet werden. Um sich auf solche erniedrigende Abhängigkeit, Zusammenpferchung, Freiheitsberaubung einzulassen, muß der Mensch bereits auf das Niveau einer Schafherde herabgesunken sein. Das hat die sogenannte Massengesellschaft geschafft. Und es ist ja in allen gesellschaftlichen Bereichen das Gleiche. Massen strömen zum Fußballstadion; Massen lassen sich wie kleine Abnickautomaten an die Wahlurnen führen; Massen schielen zur Anzeigetafel, wo die Zugverspätung von 20 auf 40 Minuten »aktualisiert« wird, stecken ihrem Jüngsten schnell ein Bonbon ins Maul und nehmen sich vor, bei »60 Minuten« nach zwei MitwarterInnen zum Skatspielen Ausschau zu halten. Aber die Massen können auch in Zorn geraten und sozusagen losgelassen werden. Deshalb habe ich Demonstrationen eigentlich immer gefürchtet, schon als rebellischer Schüler. Die Massen brüllen »Che Che Che, jetzt tun wir euch mal weh« und schlagen alles kurz und klein.
~~~ Im Zeitalter der anscheinend unumkehrbaren Vermassung ist die Stunde der mit allen Wassern gewaschenen Regisseure und der schlitzohrigen DrahtzieherInnen gekommen. Schon Konrad Adenauer war ein ganz großer Fuchs. Jetzt bildet sich wahrscheinlich Sahra Wagenknecht ein, sie werde die Massen früher oder später in die Glückseligkeit führen. Hoffentlich wacht sie nicht im Krankenhaus auf, weil die enttäuschten Massen sie zermalmt haben.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024

Siehe auch → Anarchismus → Bürokratie → Corona, Schauermärchen → Geld, Gutscheine → Gewalt, VerbrecherInnen → Größe → Kapitalismus, Inflation → Knoten (und Klumpen) → Spanienkrieg, Iberien → Städte → Vertretung → Voelkner (LPGs DDR) → Band 5 Folgen eines Skiunfalls (Manifest)




Maoismus

London / Neunkirchen (Saar) --- Mein einziger Besuch auf der britischen Insel fand in einem Winter der frühen 70er Jahre statt. Damals streikten dort ein paar tausend Bergarbeiter. Da ich mit der Tochter eines echten Ruhrpottkumpels zusammenlebte, lag es nahe, mich zu schicken. Außerdem war ich nicht irgendwer. Ich kam als hoher Gesandter der KPD/ML (Rote Fahne), an die sich heute vermutlich noch nicht einmal der Verfassungsschutz erinnern kann. Ich sollte den streikenden miners eine Grußadresse des westdeutschen Proletariats überbringen und unmittelbare Eindrücke von ihrem großartigen Kampf sammeln, die dann meine Genossen Gerd G. und Richard C. für die Parteipresse aufbereiten würden. Sie waren die Polit- und Agitprop-Leiter des Vereins, während ich, kaum über 20, das Amt des Org-Leiters bekleidete.
~~~ Auf der besagten Reise begleitete mich eine Studentin von der Ruhr-Uni, die ich einmal Irene nennen will. Sie reiste als Dolmetscherin mit, da ich nur mangelhaft Englisch sprach. Irene baute damals das Archiv unseres »Zentralbüros« auf. Damit stand sie natürlich weit unter mir. Ob ich ihr aber deshalb in einem fort mit mürrischer Rechthaberei zusetzte? Einer, der sich im Einklang mit seiner hohen Position befunden hätte, hätte das wohl kaum nötig gehabt. Vielleicht spürte ich bereits meine Überforderung, die ich mir erst Monate später eingestand. Meister im Phrasendreschen und Bleistiftanspitzen zu sein, prädestiniert einen Jüngling noch nicht unbedingt zum Org-Leiter. Vielleicht setzte mir Irene durch ihre doppelte Eigenschaft zu, Intelektuelle und Frau zu sein. Dabei war sie nur ehrenamtlich im ZB tätig! Mehr als drei Berufsrevolutionäre konnte sich unsere Partei nicht leisten.
~~~ Man glaube aber nicht, wir hätten auf Kosten des Fußvolks – das ja ohnehin nur schütter vorhanden war – in Saus und Braus gelebt wie später die meisten rotgrünen Galionsfiguren. Die Askese durchzieht mein Leben. In einem heruntergekommenen Geschäftshaus, das unweit des Bochumer Hauptbahnhofs in der Bongardstraße lag, hatten wir eine düstere Zimmerflucht im 1. Stock angemietet. Unser Mobiliar stammte vom Sperrmüll. Das einzige, was in diesen schäbigen Zimmern und dem tunnelartigen Flur leuchtete, waren die Stalin- und Maoplakate. An so etwas wie feste Gehälter oder auch nur Taschengelder war im ZB nicht zu denken. Herrschte in der Parteikasse absolute Ebbe, pflegte ich meine Mittagspause einzuleiten, indem ich mir zwei oder drei Exemplare der jüngsten Ausgabe unseres Theoretischen Organs Bolschewik unter den Arm klemmte. Hatte ich auf der Bongard- oder Kortumstraße glücklich eins davon an den Mann oder an eine barmherzige Rentnerin gebracht, war ich um stolze vier Mark reicher. Die setzte ich in der Imbißstube am Nordring in Bratwurst und Kartoffelsalat um.
~~~ In London wurden wir von Genossen unserer »Bruderpartei« verköstigt und beherbergt. Sie begleiteten mich und Irene auch beim Ausflug in den Raum Birmingham/Manchester, wo die miners ihre picketing-lines (Streikpostenketten) aufgezogen hatten. Natürlich handelte es sich um einen Kampf für mehr Möpse und sichere Arbeitsplätze – wenn schon Ausbeutung, dann bitte mit Garantie. Von Umsturz wollten die Jungs nichts wissen. Das focht freilich die Bruderpartei und den Genossen Vorsitzenden Reg Birch nicht an. Sie lasen das Umsturzbegehren der Massen kurzerhand aus den Kaffeetassen der fröstelnden Streikposten.
~~~ Wie sich versteht, nutzte ich meine Anwesenheit in London dazu, ein »herzliches« Gespräch mit dem Genossen Vorsitzenden zu führen. Irene übersetzte. Aber was? Daran kann ich mich so wenig erinnern wie an die Erscheinung und das Auftreten Reg Birchs, der damals zwischen 50 und 60 gewesen sein dürfte. Noch nicht einmal das Zimmer, in dem wir die üblichen Phrasen austauschten, bekomme ich in meinen Blick. Vielleicht ist das kein Wunder, denn wie mir erheblich später dämmerte, geht es unter Fanatikern nie um das Anwesende. Ob Birch noch lebt? Ob er möglicherweise darüber staunt, daß sich am 15. Februar 2003 rund anderthalb Millionen Menschen in London gegen den Krieg versammelten, ohne so etwas wie eine Parteilinie vorweisen zu können? Blairs blood – not oil!
~~~ Im Gegensatz zum Ort des herzlichen Meinungsaustausches zwischen den Genossen Reg Birch und Henner Stahl – so mein zärtlicher Deckname – steht mir das winzige Hinterhofzimmer, in dem Irene und ich nächtigen durften oder mußten, noch sehr genau vor Augen. Das einzige Fenster war quergeteilt. Um es zu öffnen, mußte man die obere Hälfte über die untere schieben. Es war ewig nicht geputzt worden. Das einzige Bett – immerhin 1,40 breit – war von gestapelten Kartons umzingelt, die Unmengen von Zeitungen, Flugblättern, Broschüren dergleichen enthielten. Von der Zimmerdecke baumelte eine 40-Watt-Glühbirne. Mühsam entkleidet, rollten wir uns jeweils in eine muffige Wolldecke ein und kehrten einander die Rücken zu. Von all den Strapazen unserer grotesken Mission erschöpft, fielen wir auch alsbald in Schlaf.
~~~ Doch man hat es womöglich schon geahnt: mitten in der Nacht erwachten wir – gleichsam wie auf ein Kommando. Vermutlich war das Kommando aus unseren zuckenden Fortpflanzungsmuskeln gekommen. Wir fielen übereinander her. Es war ein durchaus eindrucksvolles Erlebnis – zumal wir am nächsten Morgen und auch später noch so taten, als habe es nie stattgefunden. Man kennt ja Leute, die verfahren mit ihrer gesamten linksradikalen Vergangenheit so.

Neunkirchen

Nach tagelangen inquisitorischen »Gesprächen« ließ sich Genosse Gustav endlich erweichen: ich durfte absteigen. Als Nachfolger auf meinem Org-Leiter-Posten in der Bochumer Zentrale hatte ich ihn selber vorgeschlagen. Bis zur Erlaubnis, mich in einer Ortsgruppe zu verkriechen, ging sein Verständnis allerdings nicht. Es ging nur bis zu einem Landesverband – den es noch gar nicht gab. Ich sollte ihn im Saargebiet gemeinsam mit meiner Gefährtin C. erst aufbauen.
~~~ Völklingen klang von der Karte her vielversprechend, doch unser einziger »Sympathisant« wohnte in Neunkirchen. So erhoben wir Erich Honeckers Geburtsort – der immerhin ein Hüttenwerk mit einigen tausend Beschäftigten aufwies – zähneknirschend zum Sitz unseres »Landesverband« genannten Phantoms. Es war 1972. Es war irrwitzig. Während die anderen »Landesverbände« längst von der Krise des deutschen Maoismus geschüttelt wurden, stand ich in der Senke vorm Hüttenwerkstor, um den lieben Kollegen unsere Phrasen aufzunötigen. Ich hätte genauso gut meinen schweren, abgewetzten, marineblauen Wollmantel dort hinstellen können. Der Kragen war wegen des Aprilwetters ohnehin hochgeschlagen, und durch den Schweiß meiner klassenkämpferischen Jahre stand dieser bolschewistisch wirkende Mantel von selbst.
~~~ Die Kreisstadt zog sich einen Hang hinauf, wo der Sympathisant eine Wohnung aufgetrieben hatte, die er unterdessen gemeinsam mit C. renovierte. Sie wußten noch nicht, daß sie nur für eine Mietdauer von zwei Monaten schufteten. Dagegen dämmerte mir am Hüttenwerkstor, zukünftig hätte ich wenig Grund, einem Zeugen Jehovas hochnäsig zu begegnen. Ich verspürte das Vorbeireden an den Leuten zunehmend als Folter, während ich mir vor Krupp oder Hoesch im Ruhrgebiet eher heldenhaft vorgekommen war. Ich besaß keine Neigung zum Masochismus. Gewiß wurde die Qual durch unsere Fremdheit in Neunkirchen verstärkt. Zu den wenigen Attraktionen der 44.000-EinwohnerInnen-Stadt zählte eine der steilsten Straßenbahnstrecken der Welt – wir hatten weder Augen noch Geld noch Verwendung für sie. Wen sollten wir besuchen? Wir hockten in unserer spärlich möbilierten Wohnung wie zusammengepappte Fünf- und Zweimarkstücke, die nirgends als Zahlungsmittel anerkannt wurden. Eigentlich ließ die gepflasterte enge Seitenstraße oberhalb des winzigen Stadtparks an proletarischer Romantik nichts zu wünschen übrig. Wir wohnten in einem traditionellen Arbeiterviertel. Aber was sollten wir da?
~~~ C.s Aufbegehren galt noch nicht der männlichen Bevormundung und meines noch nicht der Erweckungs- und Heilsidee. Doch kursierten in der »Partei« schon die Ketzerbriefe, die mir unter anderem mein alter Mentor Richard zukommen ließ. Ich meine schon, sie gemeinsam mit C. erörtert zu haben, denn sie war ein geschulter Kader. Doch mein eigentliches Problem behielt ich für mich. Ich war eben ein geschulter Mann. Mein Problem war nicht zu wissen, was ich eigentlich wollte. Mochte ich in dem erwähnten Stadtpark auch 7.000 Kreise ziehen, die Unschlüssigkeit blieb. Ich bin geborener Grübler. Die Gedankengängerei zieht sich durch mein Leben. Das Grübeln hat so wenig Ufer wie die Natur Grenzen hat. Das einzig wirksame Mittel gegen Unschlüssigkeit wurde mir erst spät von Alain nahegebracht: Beschränkung. Man muß sich für irgendetwas entscheiden, ohne den zahlreichen anderen Etwasen, die dadurch geopfert werden, mit zäher Reue verhaftet zu bleiben.
~~~ Beneidet mich Zander zuweilen um mein buntes Leben, zeigt er Sinn für die Dimension dieses von ihm geleisteten Opfers. Für die Kehrseite auch? Wer ohne bestimmte Sache, Laufbahn, Stellung auszukommen sucht, hat wenig Halt. Er kann sich keine Geltung verschaffen, denn nur Eintagsfliegen erwerben sie über Nacht. Andererseits sind etwa Forschungsleiter oder Hochschulprofessoren Gefangene ihrer Stellung. Wer da was wählt, liegt am Naturell. Glücklich ist keiner. Rosa Vandeek, in der Kreisstadt Pflegemutter der vom Dorf stammenden schulpflichtigen Gebrüder March (F. G. Jünger): »Ein sorgloses Leben wünschen wir uns alle. Aber wenn es da ist, reicht es nicht hin.«

∞ Verfaßt um 2005


Die Kaderschmiede bleibt dicht --- In die stattliche Reihe meiner nicht zustande gekommenen biografischen Arbeiten – beispielsweise über Ernst Kreuder, Petra Schelm, Jost Herbig, Marco Morelli, Armin Müller – gliederte sich im Frühjahr 2010 das Projekt ZB ein. Auch in diesem Fall scheiterte ich an fehlender Bereitschaft von Betroffenen oder unverzichtbaren Dritten zur Mitarbeit.
~~~ ZB war die Abkürzung für das Hauptquartier, nämlich Zentralbüro der KPD/ML (Rote Fahne). Diese »Partei« zählte um 1970 zu den einflußreichsten der in Westdeutschland und Westberlin wirkenden maoistischen Sekten. Die drei (blutjungen) Häuptlinge des in Bochum ansässigen ZBs hießen Gerd G. (Polit-Leiter), Richard C. (Agitprop-Leiter) und Henner R. (Org-Leiter). Meine Idee bestand nun darin, einige führende Parteikader, mich eingeschlossen, danach zu befragen, wie sie diese Zeit erlebten und welchen Werdegang sie anschließend genommen haben. Schon die erste vortastende Recherche deutete darauf hin, sowohl in den Motiven zum damaligen Engagement wie im Verarbeiten des Scheiterns mit der Partei würden sich erhebliche Unterschiede zeigen. Das müßte doch auch für andere aufschlußreich oder reizvoll sein, sagte ich mir. Wie man das Ganze darstellt und bündelt, würde sich schon ergeben.
~~~ Es war nicht so einfach, die mir vorschwebenden Kandidaten aufzutreiben – einmal davon abgesehen, daß sie auch schon unter der Erde liegen konnten. Mit allen hatte ich seit bald 40 Jahren keinen Kontakt mehr. Gerd G. erreichte ich über eine Schwester, von der ich bis dahin nichts gewußt hatte. »Privatleben« interessierte damals nicht. Gerd freute sich über meinen Anruf. Unser damaliger »Parteichef«, vier Jahre älter als ich, lebt nach wie vor im Ruhrgebiet. Von Hause aus Germanistik- und Philosophiestudent (und natürlich beim SDS gewesen), schloß er dieses Studium nach dem ZB-Zusammenbruch (1973) nicht mehr ab. Vielmehr ging er – wie so viele von uns – in die Fabrik. Er war fünf Jahre bei Mannesmann. Er war auch für einige Jahre in der »revisionistischen« DKP, die wir als Maoisten erbittert bekämpft hatten. Später ernährte er sich mit logistischer Arbeit für Kunstgalerien. Nebenbei zog er eine Tochter auf. Schließlich rutschte er vor einigen Jahren – »obwohl ich ja eigentlich Atheist war!« – über einen 1-Euro-Job auf einen Posten als Lektor für einen evangelischen Kirchenverlag. Dort gefällt es ihm nach wie vor. Er habe durchaus noch seine Wut auf die Ungerechtigkeiten im Kapitalismus, doch glaube er nicht mehr an »Generallösungen«, wie er sich ausdrückte. Mein Vorhaben finde er interessant.
~~~ Gerd hat noch dieselbe klangvolle, Vertrauen einflößende Stimme. Sie hatte schon vor 40 Jahren etwas Väterliches, dem sein leichtes Ruhrgebietsplatt die Strenge nahm. Nach dem Telefongespräch stellte ich etwas betreten fest, der Mann sei mir sympathisch. Ich konnte ihn mir sofort als engen Freund vorstellen. Bedenklich genug, denn wer weiß, was er mir erzählt und nicht erzählt hat – und vor 40 Jahren war er für zwei oder drei Jahre unumstrittener Parteichef. Galt es, die Feinde der Partei zu zerschmettern, fehlte es dem untersetzten stämmigen Gerdchen mit den hübschen Grübchen nie an Beschimpfungen und Winkelzügen. Aber seine Mitstreiter legte er, wenn ich mich recht erinnere, nie herein.
~~~ Zu meinen damaligen unmittelbaren Untergebenen gehörte Dietmar K., der den »Literaturvertrieb« des ZBs betreute. Er zeigte nun ebenfalls ein offenes Ohr für mein Projekt. Wie sich herausstellte, beschäftigt er sich seit vielen Jahren »wissenschaftlich« mit der Geschichte der KPD/ML-ZB und stellt seine Forschungsergebnisse ins Internet. Es fiel mir schwer, in seinen langatmigen Aufsätzen zu lesen. Das Ganze wirkt absonderlich, obwohl der »subjektive Faktor« gar nicht darin vorkommt. K. will objektive Geschichtsschreibung liefern. Natürlich ist es nicht verboten, den Verlauf der damaligen Fraktions- und Aufbaukämpfe innerhalb der maoistischen Szene nüchtern nachzuzeichnen. Aber was hätten wir davon? K. macht es derart akribisch, daß die Groteske für mein Empfinden schon absurd wird. Wer die Streitigkeiten und Schlammschlachten um jedes Haar im Barte des Propheten lückenlos dokumentiert, trägt doch schwerlich mehr zu dessen Erhellung bei, als man ohnedem schon weiß. Im Maoismus befriedigte ein Teil der zerfahrenen antiautoritären Jugendbewegung seine Heilserwartung. Ich erinnere an Koestler und seinen Essay Der Yogi und der Kommissar. Wir Rebellen wider Vater, Vater Staat, Vater Ernst Aust wollten eine klare unbedingte Sache, an die sich inbrünstig glauben ließ. Aust war damals Häuptling des ZKs der anderen KPD/ML, die sich ums Zentralorgan Roter Morgen scharte. Die »Partei« hatte sich gespalten. Die neuen Götter gehen gern aus Bruderkämpfen hervor.
~~~ Auch Peter W. begrüßte mein Vorhaben. Der kauzige, hitzköpfige Mann war damals Mitbetreiber der Parteispaltung und anschließend Chef unseres wichtigsten Landesverbandes Nordrheinwestfalen gewesen. Im Gegensatz zur »sektiererischen« Altpartei hielten wir die Praxis und die Massenarbeit hoch, das war genau das Richtige für diesen Agitator, den böswillige Kritiker als Rattenfänger zeichneten. Peter schrieb später für sozialkritische Online-Blätter, wobei er sich offenbar einige Vorwürfe wegen reaktionären Gedankenguts einhandelte, die er selbstverständlich zurückwies. Er wohnt heute in Ennepetal, das liegt nicht weit von Bochum südlich der Ruhr. Wenn er dort (und über seine Webseite) mit chinesischer Medizin praktiziert und handelt, scheint er sich nicht sonderlich weit von seinen revolutionären Ursprüngen entfernt zu haben.
~~~ Auf Ablehnung stieß ich zunächst bei Wolfgang S.. In der nichtkommunistischen Linken ist er als langjähriger führender »roter Betriebsrat« bei Opel Bochum bekannt. Er baute damals die dortige Gewerkschaftsopposition auf und sympathisierte mit unserer »Partei«. Er konnte sich nicht mehr an mich erinnern, als ich ihn endlich ans Telefon bekam. Ich glaube, er sah zu wenig »praktischen Nährwert« in dem Vorhaben, das ich ihm umriß – zu wenig, um sich aus seiner Referententätigkeit reißen zu lassen, in der er anscheinend auch als Rentner bis über beide Ohren steckt. Ich hatte mir von S. zumindest einen Kontakt mit Lothar M. versprochen, zog aber auch in dieser Hinsicht eine Niete. Er wisse nicht, was aus M. geworden sei. Dummerweise bietet sich Lothars Allerweltsname nicht gerade für eine frohgemute Recherche an. Der bärtige Hüne war damals Jugendvertrauensmann der IG Metall bei den Bochumer Friedrich Krupp Hüttenwerken und als solcher unser Vorzeigeproletarier gewesen. Noch dümmer ist es, daß ich schon selber nicht mehr weiß, ob ich noch mit Lothar in Verbindung stand, als ich zwei oder drei Jahre später ebenfalls für ein halbes Jahr bei Krupp-Bochum schaffte. Die »Partei« war inzwischen zusammengebrochen wie das sprichwörtliche Kartenhaus. Bei Krupp steckten sie mich als Schmiedehelfer an eine Versuchsanlage von Steyr-Puch, die ungefähr armdicke Rundstähle zugleich walzte und schmiedete. Die rotglühenden Stangen liefen durch eine Maschine mit konzentrisch angeordneten Hämmern, die sie in rasender Geschwindigkeit, vermutlich sich abwechselnd, rund klopften und dabei verdichteten. In dieser Fabrikhalle ging mir allmählich auf, daß wir in unserer Kaderschmiede über dem Haushaltswarengeschäft in der Bochumer Bongardstraße nicht viel anders verfahren waren. Dort saß das ZB, wie ich schon weiter oben erwähnte.
~~~ Am schwierigsten war unser hochgewachsener Agitprop- und Rote-Fahne-Chef Richard C. aufzutreiben, obwohl er noch 2006 mit einem Kinofilm über jugendliche Diebe auf sich aufmerksam gemacht hatte. Nach der maoistischen Burleske hatte er eine Zeitlang mit dem erfolgreichen »Jungfilmer« W. zusammengearbeitet und sich dann als Filmproduzent selbstständig gemacht. Inzwischen arbeitet er als Herstellungsleiter abwechselnd in Südafrika und Holland. Hin und wieder hält er sich in Berlin auf. Sein dort lebender langjähriger Kamermann David S. hält große Stücke auf ihn. In künstlerischer und logistischer Hinsicht ein As, sei Richard gleichwohl bescheiden und seinen Freunden und Mitarbeitern gegenüber auch immer zuverlässig und uneigennützig hilfsbereit. Er sei »sozial«, fügt der gebürtige Tscheche hinzu. Die Liste von Richards Filmen (von denen ich keinen Meter kenne) riecht allerdings nicht gerade nach starker Gesellschaftskritik. Richard ist mein Jahrgang, doch hat er, im Gegensatz zu mir, laut einem Foto von 2005 bereits angegrautes Haar. Unsere Beziehung war nie vertraulich gewesen – aber möglicherweise gerade deshalb für mich ein Problem. Ich war der Begriffsstutzige, Treuherzige, Kleine, für den er sich wahrscheinlich nicht wirklich interessierte. Das habe ich ihm freilich nie vorgeworfen, wenn ich mich nicht täusche. Zuneigung läßt sich ja nicht erzwingen.
~~~ Richard sagte ab. Für mich war das ausschlaggebend dafür, mein Projekt ZB auf Eis zu legen. Ich hielt Richards Mitarbeit für unverzichtbar, weil er damals »die Nummer Zwei« der Partei gewesen war und in der Folge als einziger von uns – im bürgerlichen Staate – eine vergleichsweise ruhmreiche Karriere machte. Ich hatte ihm mein Vorhaben in einer Email umrissen. Seine prompte Antwort (aus Kapstadt) berührte mich ziemlich schmerzlich. Traf er vielleicht wunde Punkte? Er habe sich bislang allen Interviewversuchen über die KPD/ML-Zeit – »unter anderem von Rainer Langhans« – erfolgreich widersetzt. Andererseits könne er natürlich nicht verhindern, in literarischen Werken aufzutauchen, so erst unlängst, 2008, in einem Buch über die mir wohlbekannten »Zwillinge« (die wie wir aus Kassel stammen). »Du kannst ja schreiben, was du willst, aber das interessiert doch wirklich niemanden, was aus irgendwelchen KPD/MLern geworden ist, oder was sie damals motiviert hat.« Gleichwohl trinke er gern einmal ein Glas Wein mit mir, wenn er etwa auf der Durchreise von Holland nach Berlin durch Thüringen komme. Das sei wohl wieder im Spätsommer (2011) der Fall.
~~~ Ich glaube, mich kränkte sein herablassender Tonfall und die völlige Ignoranz meiner Anliegen. Wenn er befindet, unser Schicksal interessiere niemanden, gilt es offenbar für alle Welt. Nebenbei waren Gerd, er und ich nicht »irgendwelche KPD/MLer«, vielmehr die Führungsspitze der damals möglicherweise wichtigsten »K-Gruppe«. Nach verschiedenen ähnlich lautenden Schätzungen sind diese Gruppen in den 70er Jahren von ungefähr 150.000 Menschen »durchlaufen« worden. Viele von ihnen sitzen heute auf verantwortlichen Posten in Staat und Wirtschaft. Etliche »Prominente« haben es dabei erneut bis in die Führungsspitze gebracht. Ich nenne nur die ehemalige Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD), Schröders Umweltminister Jürgen Trittin und Antje Vollmer von den Grünen, KBW-Chef Joscha Schmierer, der dann zum Planungsstab der Außenminister Joseph Fischer und Frank-Walter Steinmeier zählte, und schließlich den ehemaligen KBW-Aktivisten Winfried Kretschmann: er brachte es 2011 als gläubiger Katholik und treuer Freund »der Wirtschaft« (womit er das Kapital meint) im Schwabenland zum ersten deutschen grünen Ministerpräsidenten. Alles uninteressant?*
~~~ Es wie Richard zu einem angesehenen Filmproduzenten und bis nach Südafrika zu bringen, ist wohl auch nicht ganz ohne. Hält er die Wurzeln dieser Karriere für nicht weiter besichtigenswert, hat er entweder Angst, das Bollwerk seiner »Verdrängungsleistung« könne brüchig werden, oder aber von Haus aus ein dickes Fell. Ich neige zur zweiten Annahme. Soweit ich ihn nämlich erlebte, hatte Richard nie Angst. Er war realitätstüchtig, zielstrebig in der Verfolgung seiner Anliegen, anpassungsfähig. Auf meine briefliche Bitte einzugehen, mir ein paar Worte über sein Wirken in Kapstadt zu schreiben, hat er nicht nötig. Genauso übergeht er meinen angehängten kleinen Text »Neunkirchen/Saar«, in dem er als »mein Mentor« erwähnt wird. Wer bin ich schon, daß ich der Gnade teilhaftig werden dürfte, Einblicke in seinen Werdegang und drei Worte Kommentar zu einem Text zu erhalten? Die Frage läßt sofort die Alarmglocken aufschrillen. Vielleicht reagiere ich überempfindlich, weil ich mich Richard gegenüber stets unterlegen fühlte. Er bekam jede Sache sofort in den Griff; ich war der Einfaltspinsel und Wirrkopf. Und was ist aus mir geworden? Ein angeblicher Schriftsteller, der ein abwegiges Manuskript nach dem anderen produziert – Ware, die auf »dem Markt« völlig chancenlos ist. Die Vorstellung, einer könne auch um der eigenen Klärung willen schreiben, scheint in Richards Denken keinen Platz zu haben.
~~~ Ich betone jedoch, dies alles sind nur Vermutungen über ihn. Ich kenne ihn viel zu wenig. Auf das Gegenteil hat er auch nie Wert gelegt. Ein Kneipengespräch bei der Durchreise hülfe dieser Unkenntnis sicherlich nicht ab. Man müßte einander erleben. Ich hatte in der Tat das Wunschbild, zumindest Gerd, Richard und mich noch einmal an einen Tisch zu holen, in eine Wohnung, am besten für mehrere Tage. Eine Art Klassentreffen der besonders abwegigen Art schwebte mir vor – das möglicherweise überraschende Ergebnisse zeitigt, seien es Liebesgeständnisse, Selbsterkenntnisse, Streit und Prügelei. Wie illusionär! Wie kindisch! Sowas gibt es nur in Romanen – und Filmen.

∞ Verfaßt 2012
* Ein mir bis dahin unbekannter Herr Bernd Ziesemer fragt am 1. Mai 2018 bei mir an, ob ich ihm für ein Buch etwas über G. L. Flatow sagen könnte, ein Alt-Maoist. Dadurch kommt mir ungerufen ein weiteres Beispiel gegen Richards Abtun des westdeutschen Maoismus ins Haus. Ziesemer selber, Jahrgang 1953, erklärt mir über sich, er sei seit über 35 Jahren Journalist (u.a. Chefredakteur des Handelsblatts) und Buchautor. »Ich kenne die K-Gruppen-Szene der 70er Jahre aus eigener Anschauung, wenn gleich ich Mitglied einer anderen Gruppe war (KPD/AO).« Auf seiner Webseite verrät er seine Jugendsünde nicht, falls ich mich nicht irre. Bei Wikipedia dagegen wird sie erwähnt. Ziesemer studierte bei Wolf Schneider. Handelsblatt-Chef war er fast neun Jahre lang, bis 2010. Derzeit hat er, unter anderem, eine wöchentliche Kolumne bei Capital.



Ezra --- Vor gut 10 Jahren stellte ich einen Bericht über meinen fehlgeschlagenen Plan, einige ehemalige Oberhäupter meiner ehemaligen »Partei« um mich zu versammeln, in meinen Blog: »Die Kaderschmiede bleibt dicht«. Die besagte »Partei« hatte sich um 1970 von der in Hamburg residierenden Sekte KPD/ML abgespalten, deren ZK-Chef Ernst Aust den Roten Morgen herausgab. Unsere Abspaltung wurde meist KPD/ML-ZB oder KPD/ML-Rote Fahne genannt, nach unserem neuen »Zentralbüro« und unserem neuen »Zentralorgan«. Wir, die Rote-Fahne-Leute, thronten in Bochum, also im Herzen des proletarischen Ruhrgebiets, lag uns doch, im Gegensatz zu den Aust-Leuten, die Massenarbeit am Herzen. Die Aust-Leute schworen mehr auf Abwarten & Teetrinken, also Theorie und Schulung. Im Grunde stritt man sich zweifelsohne um die Haare im Barte des Propheten und wetteiferte um den dickeren Katalog an Schimpfworten. Oft nannten wir unsere Erzfeinde klangvoll Ezristen. Die Anspielung auf »Trotzkisten« war gewollt. Unfreiwillige Quelle des Namens war ein Häuptling der Roten Garde, der Jugendorganisation der Hamburger Mutter- oder Vaterpartei. Ich glaube, der junge Funktionär, geboren 1951, wirkte damals vor allem in Westberlin, wo er wohl auch zur Schule gegangen war. Er hieß Ezra Gerhardt und hatte noch einen zwei Jahre älteren Bruder, Titus. Das waren die gemeinsamen Kinder von Renate und Rainer Maria Gerhardt. Gegen Renate und Rainer nehmen sich die Namen der Sprößlinge sicherlich wie Edelsteine zwischen Eisenbahnschotter aus.
~~~ Brockhaus schreibt den alttestamentarischen, heute ziemlich ungebräuchlichen Vornamen Ezra bevorzugt mit s, also Esra. Aber das ist ja egal, ich lernte »unseren« Ezra sowieso nie persönlich kennen. Seinen Erzeuger Rainer Maria Gerhardt (1927–54) allerdings auch nicht; denn er lag längst unter der Erde. Ursprünglich Versicherungskaufmann, hatte sich Gerhardt spätestens nach Kriegsende als Gasthörer an der Uni in Freiburg im Breisgau für Moderne Lyrik erwärmt, voran die nordamerikanische, darunter die von Ezra Pound. In der Prosa schätzte der Nachwuchs-Literat James Joyce und Arno Schmidt. Westdeutsche Schriftsteller wie Curtius, Andersch, Enzensberger lobten Gerhardts poetischen Blickwinkel, und so wagte er es im Verein mit Übersetzerin und Gattin Renate, in seiner Heimatstadt Karlsruhe einen Poesie-Verlag zu eröffnen. Offenbar strandete das Unternehmen rasch im Ruin. Ob sich Gerhardt vor allem deshalb mit 27 Jahren (1954) umbrachte, kann ich nicht beurteilen. Alfred Andersch soll dazu bemerkt haben*, der »ebenso begabte wie gefährdete junge Mann«, der zeitweise in einem Zelt wohnte, sei »vom eisigen Wind des wirklichen Hungers, der Schulden, der inneren Schwierigkeiten und von der Kälte des Wartens auf ein Echo« ausgelöscht worden, »das er, ein sehr Ungeduldiger, nicht vernahm.« Demnach fühlte er sich verkannt, wie so viele. Jedenfalls ließ er, je nach Quelle, 20.000 bis 40.000 DM Schulden zurück – von den beiden Söhnchen nicht zu schweigen.
~~~ Renate Gerhardt, die Witwe, scheint sich später in Westberlin als Übersetzerin und Verlegerin durchgeschlagen zu haben. Sie starb 2017, gut 90 Jahre alt.** Die beiden Söhne dürften noch leben. Wie es aussieht, haben sie gleichfalls künstlerische Wege beschritten, ohne dabei je berühmt zu werden. Ich habe lange überlegt, ob ich sie anschreiben und um Auskünfte bitten sollte, denn die Quellenlage ist wieder einmal schlecht. Ich verzichte jedoch darauf. KünstlerInnenkinder sind grundsätzlich sehr schwierig, von ihrer Befangenheit einmal abgesehen, und warum sollten Ezra und Titus eine Ausnahme darstellen? Zumal in dem Alter, in dem sie jetzt sind? In meinem. Aber ich bin kein KünstlerInnenkind. Schließlich waren meine Eltern Landwirtschaftshelferin und Radiobastler, sodaß ich mich mit der Brechstange durchaus nach wie vor meiner »proletarischen Herkunft« rühmen kann …

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
* »Rainer Maria Gerhardt« bei https://www.literatur-live.de/gerhardt/index.htm
** https://trauer.tagesspiegel.de/traueranzeige/renate-gerhardt

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