Donnerstag, 9. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 24
Litten – Lüge, Pferdenarren
Litten – Lüge, Pferdenarren
ziegen, 11:19h
Litten, Hans (1903–38), jüdischer linker Rechtsanwalt, erhängte sich mit 34 eigenhändig im KZ Dachau, wie zumeist angenommen wird. In meinem 24bändigen Brockhaus (Band 13 von 1990) kommt er nicht vor. Der Rockmusiker Little Richard war wichtiger. Selbstverständlich muß Litten als Mordopfer begriffen werden. Eine Flucht hatte er mit dem Argument verworfen, viele Tausend deutsche ArbeiterInnen müßten ebenfalls im faschistischen Deutschland ausharren, weil ihnen die Mittel zur Flucht fehlten. Einige von ihnen hatte er vor Strafen bewahrt. Prompt wurde auch Litten am frühen Morgen des 28. Februar 1933, während der Reichstag noch qualmte, aus dem Bett geholt und in »Schutzhaft« genommen.
~~~ Der Sohn eines reaktionären preußischen Justizrates und einer künstlerisch interessierten Ingenieurstochter hatte schon früh ein starkes Gerechtigkeitsempfinden ausgeprägt. Er schloß sein Jurastudium in Berlin ab und ließ sich dort 1928 gemeinsam mit seinem in der Roten Hilfe engagierten Kollegen Ludwig Barbasch als Anwalt nieder. Zu den Höhepunkten von Littens Laufbahn zählte der Edenpalast-Prozeß vom Mai 1931, bei dem es um einen SA-Überfall auf proletarische Besucher eines Tanzlokals ging. Es gelang Litten, Adolf Hitler vorzuladen und derart in die Enge zu treiben, daß sich der zukünftige »Reichskanzler« in einem Wutanfall bloßstellte. Das vergaß er Litten selbstverständlich nicht. Im selben Jahr brachte der rote Rechtsanwalt durch eine Finte (Jungkommunist Heidrich ohrfeigt Polizeipräsident Zörgiebel) ein Gericht zu dem Eingeständnis, am sogenannten Blutmai 1929 habe es ohne Zweifel antikommunistische Exzesse der Berliner Schutzpolizei gegeben. Gleichwohl wird Karl Friedrich Zörgiebel nie belangt. 1953 erhält er (für 32 tote und rund 200 zum Teil schwer verletzte Demonstranten oder Schaulustige) das Große Bundesverdienstkreuz, diesmal in der Bonner Demokratie.
~~~ Die folgenden Angaben entnehme ich vorwiegend Irmgard Littens Buch über ihren ermordeten Sohn, das erstmals 1940 in mehreren Ländern zugleich erschien.* Danach war Hans Litten, obwohl weit links stehend, erklärtermaßen parteilos. Olden nennt den jungen Berufskollegen einen »revolutionären Christen«, spricht von seinem »heiligen Eifer«, seiner Sorgfalt, seiner Uneigennützigkeit. Daher auch jene Weigerung zu fliehen, obwohl, wie seine Mutter versichert, im Ausland ein Haus und ein Geldguthaben auf ihn warteten. In linken und liberalen Kreisen genoß er einen hohen Ruf. Nach Irmgard Litten beziehungsweise den vielen Zeugnissen, die sie anführt, war ihr Sohn auch in der mehrjährigen Haftzeit vielverehrt. Er galt als vorbildlich, äußerst gelehrt und strikt solidarisch, verriet also auch niemanden, obwohl er wiederholt Zeiten schwerer Mißhandlungen und Folterungen durchzumachen hatte. Vom erschreckend verbreiteten Sadismus des Nazi-Personals einmal abgesehen, verdankte er diese Qualen vornehmlich jenem Zusammenstoß mit Hitler vor Gericht, sodann seiner Weigerung, das Anwaltsgeheimnis zu brechen und erwünschte Auskünfte über andere Strafsachen zu liefern. Lieber unternahm er an Gipfelpunkten der Züchtigung (mehrere) Selbstmordversuche, etwa mit Zyankali, das seine Mutter, die ihn, soweit gestattet, unermüdlich besuchte, oder andere Freunde besorgt hatten. Wie er immer wieder zu Heiterkeit und Tatkraft zurückfinden konnte, ist schwer zu verstehen. Neben seiner Gerechtigkeitsgläubigkeit spielten wohl Gutherzigkeit und ein asketischer Zug mit. Litten war in der Freiheit strenger Vegetarier, also auch Tierfreund gewesen. Daneben liebte er Kinder, hatte aber selber offenbar keine.
~~~ Und ja, er liebte das Recht. Ob er vielleicht auch Rechthaber war, kann ich schlecht beurteilen. Ohne Zweifel ging sein »asketischer Zug« mit einer gewissen Sturheit einher, mit der er in seinen vielen Diskussionen und KZ-Lehrveranstaltungen seine zum Teil recht abseitigen Auffassungen verfocht, ob sie nun politische Maßnahmen oder die Rolle des Mittelhochdeutschen im Schulunterricht betrafen. Vielleicht war er in dieser Hinsicht gerade nicht sonderlich duldsam. Sollte er also auch einen fanatischen Zug besessen haben, scheint mir doch sicher, obwohl es nirgends ausdrücklich gesagt wird, daß er konsequent friedliebend war, es also verabscheute und ablehnte, irgendetwas, ob Meinung, Parteilinie, Recht, Unrecht oder Laune, mit Machtmitteln durchzusetzen. Andernfalls wäre er Kommunist geworden, nicht revolutionärer Christ. Olden weist sehr richtig und fast unübertrefflich prägnant darauf hin, Wert und Würde jeder Rechtsprechung beruhten hauptsächlich auf der Unvoreingenommenheit der Richter und der Glaubwürdigkeit der Zeugen und des Eides. Also nicht etwa hauptsächlich auf Buchstabengläubigkeit, wie ich schon früher wiederholt betont habe. Doch in jener »Welt des Kampfes und der moralischen Abstumpfung« um 1930 sei dieses Fundament mehr und mehr der »Parteileidenschaft« zum Fraße gefallen, also dem Clandenken, der Eigennützigkeit, der Vorteilsnahme, dem Kampf um die Macht. Selbstverständlich schließt dieser Machtkampf nicht nur die Rechtsbeugung, sondern den Betrug mit allen Mitteln ein. Und sehe ich mich um, haben wir dieses Klima, bei dem man das Recht getrost in der Pfeife rauchen kann, heutzutage, um 2020, schon wieder. Auf allen Kanälen wird schöngefärbt und verleumdet; auf allen Kanälen wird zur Lüge erzogen; der aufrichtige Mensch gilt bereits als krank.
~~~ Littens Schicksal erinnert in vielem an den anarchistischen Schriftsteller Erich Mühsam, den seine Mutter auch mehrmals erwähnt. Allerdings wissen wir, im Unterschied zu Mühsam, in puncto Liebschaften Littens, auch durch seine Mutter, rein gar nichts. Vielleicht war er auch in dieser Hinsicht entsagungsvoll, eben ein »Heiliger«, aber offenbar um keinen Deut hochnäsig, obwohl er »aus guter Familie« stammte. Als junger, unermüdlicher Rechtsanwalt in Berlin hatte er, laut Mutter, eine »Sekretärin« namens Margot Fürst, die bei seiner Verhaftung (1933) erst um 20 war. Seine Geliebte war sie kaum. Sie wohnten zwar auch zusammen, jedoch gemeinsam mit Margots Gatten Max Fürst, einem Tischler und Jugendfreund Hans Littens, und den Kindern dieses Ehepaares. In dieser gemeinsamen Wohnung war Litten verhaftet worden.
~~~ Margot beteiligte sich dann beträchtlich an den geradezu titanischen Bemühungen seiner Mutter um Haftverbesserung und Freilassung. Übrigens gibt Frau Litten zahlreiche Gespräche derart ausführlich wieder, daß man ihr Gedächtnis gewaltig nennen muß, desgleichen ihren Fleiß, mit dem sie diese Gesprächsszenen entweder gleich zu Hause protokolliert oder aber später erinnert hat. Man gewinnt den Eindruck, der etwas schwülstige Titel ihres Buches sei nicht verfehlt, nämlich sie habe fünf Jahre lang nur für die Rettung ihres Sohnes gelebt. Dabei bleibt sie stets bescheiden und hält sich selber und den Rest der Familie im Hintergrund. Selbst von ihren Gefühlen, darunter vor allem Sorgen, Ängste, Gram, gibt sie wenig preis. Als junge sächsische Ingenieurstochter und Liebhaberin der Kunstgeschichte war Irmgard betrüblicherweise an den weit rechts stehenden Juristen Fritz Litten geraten, der es (in Königsberg) bis zum Universitätsrektor, »Geheimen Justizrat« und Berater der preußischen Regierung brachte. Sein Verhältnis zu Sohn Hans war »schlecht«. Dafür wurde Irmgard Litten in ihrem Kampf von Hans‘ Brüdern Rainer und vor allem Heinz unterstützt, beides (linke) Theaterleute. Rainer, auch Filmschauspieler, floh vor Verfolgungen, über Frankreich, in die Schweiz; Heinz, als Dramaturg in Chemnitz gefeuert, harrte noch aus. Nebenbei war der ganze Kampf natürlich sehr kostspielig, aber am Geld scheiterte in diesem Fall nichts. Zudem konnte Irmgard Litten zahlreiche »Beziehungen«, teils zu Ministern, in die Waagschale werfen – vergeblich. Man kann daraus ersehen, welche Kragenweite dieser Todfeind der Faschisten (und von Hitler persönlich) namens Hans Litten besessen haben muß. Ferner ist es, bei der Vornehmheit seiner Mutter, umso erstaunlicher, wenn diese wiederholt keinen Hehl aus ihrem Haß auf die Faschisten macht. Sie träumt sogar von Rache, Abrechnung, Vergeltung.
~~~ Was daraus wurde, entzieht sich meiner Kenntnis. 1933 amtsenthoben, ging ihr Gatte mit ihr nach Berlin, und dann, bald nach dem Tod von Sohn Hans, nach London ins britische Exil. Dort arbeitet Irmgard Litten an ihrem Buch sowie, zwecks Geldverdienst, für das »Informationsministerium« und die BBC. 1950, schon verwitwet, kehrt sie nach Deutschland zurück – und zwar nach Ostberlin. Dort stirbt sie drei Jahre darauf mit 73. Eine schwergeprüfte und bewundernswerte Frau.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Irmgard Litten, Eine Mutter kämpft gegen Hitler, hier DDR-Ausgabe Rudolstadt 1985, Originalvorwort von Rudolf Olden
In meiner nichtkinofreien Kindheit verkörperte der bewegliche, hagere Schauspieler Hanns Lothar (1929–67), geboren in Hannover, den pfiffigen deutschen Jungen – mal gelassen, mal schnoddrig, zumeist als charmante Nervensäge. Das war genau das Richtige für die westdeutsche Wirtschaftswunderzeit. Lothar gehörte seriösen Bühnen an, zuletzt dem Thalia Theater in Hamburg, trat aber auch gern in Fernsehkrimis auf.
~~~ 1962 gab er den armen Schlucker Axel in Rainer Erlers Film Seelenwanderung geradezu herzzerreißend. Es handelte sich um eine Art Kammerspiel, schwarzweiß, 75 Minuten lang, gedreht nach einer Parabel von Karl Wittlinger. Axels Kumpel Bum war freilich vom Naturell her gar nicht der Richtige für die Wirtschaftswunderzeit. In der proletarischen Kneipe Trübsal blasend, befinden die beiden, Bum (Wolfgang Reichmann, rundlich, mit großer Stirnglatze) sei zu gutherzig, nicht kaltblütig genug, um endlich einmal auf einen grünen Zweig zu kommen. Das gibt Axel den Vorschlag ein, Bum möge sich seiner Seele entledigen. Tatsächlich gelingt es Bum, durch geballte Anstrengungen, seine Seele in einen leeren Schuhkarton zu »denken«, den ihnen der Wirt gegeben hat. Axel macht schnell den Deckel zu; Bum versetzt den Karton anderntags für fünf Mark im Pfandhaus und bahnt so seinen unaufhaltsamen Aufstieg zum skrupellosen Kapitalisten an. Von Axel will er jetzt nichts mehr wissen – bis er ausgebrannt im Sarg liegt und erkennt, aufgrund der verlorenen Seele ist ihm der Weg ins Jenseits versperrt; er muß als »Geist« durch die Stadt seiner Erfolge irren. Damit beginnt die Jagd nach dem Schuhkarton. Axel steht Bum bei, obwohl ihn dieser so schäbig behandelt hat. Der Herzensgute ist hier Axel, der durchtriebene Ganove.
~~~ Daß Lothar außerdem singen konnte, bewies er unter anderem als Christian Buddenbrock in einer Verfilmung des bekannten Romans von Thomas Mann. Lothar liebte Frauen, Fußball, Boxen, Alkohol. 1967 ereilte ihn bei Bühnenproben in Hamburg eine Nierenkolik, an der er starb. Er war knapp 38. Seine dritte Gattin Gabriele, um 23, soll gerade auf Reisen gewesen sein. An ihre Vermögenslage, im Gegensatz zu einer vietnamesischen Reisanbauerin, wage ich gar nicht zu denken, sonst wird der Artikel zu lang.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022, stark gekürzt
Für die hochbeinigen, dafür stummelschwänzigen Luchse habe ich bereits andernorts wiederholt die Lanze gebrochen. Und das nicht nur wegen ihres hübsch getüpfelten, meist blaßgelben oder hellbraunen Katzenfells. In meinem Porträt Kurt Helds, von dem viele den Roman »Die Rote Zora« kennen dürften, betonte ich, der Luchs greife so gut wie nie Menschen an, auch keine Kinder. In meiner um 1900 gegründeten Freien Republik Mollowina (Roman Zeit der Luchse) wurde er sogar zum Wappentier und Amulett erhoben. Der einzige »Verdienstorden« der jungen Republik ist ein kleiner, stilisierter, aus Bernstein geschnitzter Luchs, der bei Bedarf am Halsband oder als Brosche getragen werden kann. Die Zwergrepublik am Schwarzen Meer verfügt selber über ein Bernstein-Vorkommen. Ich glaube fast, diesen Einfall hat mir (2019) Brockhaus eingegeben. Nach einer Sage, so teilt das Lexikon mit, habe der Luchs aus Neid und Mißgunst seinen Urin verscharrt, weil er dem Menschen den daraus entstehenden Bernstein, den Luchsharnstein Lyncurium, mißgönne. Merken Sie es sich also: der Neidhammel ist der Luchs, und nicht etwa der Mensch.
~~~ Seinen Namen soll er seinen »funkelnden« gelben Augen verdanken. Als Nachtjäger hat er neben den scharfen Augen auch ein ausgezeichnetes Gehör. Ein Comiczeichner, den Gott zur Schöpfung mitgenommen hatte, stattete die Luchsohren mit den bekannten lustigen Haarpinseln aus. Woran Gott nicht dachte, das war die Möglichkeit der Gefangenschaft. Sonst hätte er dem Luchs eine Feile in die Krallen eingebaut. Um 1990 wohnte ich in Kassel-Wilhelmshöhe am Rammelsberg. Der kleine, bewaldete Hügel diente mir oft zur Vogelpirsch. Die nahe Drusel, ein Bach, wies sogar Wasseramseln auf. Aber der Rammelsberg hatte leider auch einen sogenannten Kleintierzoo zu bieten. Er lag auf der Nordseite am Rand des bei Joggern beliebten Rundweges. Prunkstück dieser privaten Einrichtung war ein Luchs – ein Bild des Jammers.
~~~ Ich stand damals öfter vor seinem Käfig, stirnrunzelnd und kopfschüttelnd. In seiner einzigen Astgabel liegend, blickte er die Leute draußen ungläubig an, als hätte Gott außer den Luchsen und Rehen (zum essen) nur noch ZweibeinerInnen geschaffen, denen durchweg der Wahnsinn aus den trüben Augen quoll. Er verstand die Welt nicht mehr. Alles Grübeln brachte ihm keine einleuchtende Erklärung ein. Er tat mir entschieden mehr leid als jener Panther, den Rilke einmal besang, wie alle Real- und OberschülerInnen wissen. Nur Rilke selber bedauerte ich noch mehr, weil der Meister ausschließlich aalglatte Verse drechseln konnte, die die Wahnsinnigen als besonders elegant empfanden. Rilke hatte nur Augen für die zermürbende Gefangenschaft seines »Sujets«. Es war die Freiheitsberaubung, die den Salondichter empörte. Vor dem Rammelsberger Luchs stehend, sagte ich mir dagegen, so ausgestellt und schamlos gemustert zu werden, muß ihm doch mindestens ebensoviel Qual bereiten. Möglicherweise sprach da das langjährige Westberliner Aktmodell aus mir. 1992 trat ich eine Lehre zum Raumausstatter an.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
Mysterien der Luftfahrt
Früher hatte man allerlei Mythen, etwa über den angeblichen Urknall, den Überfall der Japaner auf einen im Hafen von Haweii liegenden Müllhaufen der US-Kriegsflotte, die von Bargeld ausgehende Infektionsgefahr und dergleichen mehr. Heute sind Mysterien der Luftfahrt beliebt. Die folgende kleine Zusammenstellung mag zumindest einen dürren Abglanz der entsprechenden Vorfälle geben.
~~~ Die Sache trug sich Ende Oktober 1959 zu. Der 27jährige Kubaner Camilo Cienfuegos befand sich gerade auf einem Nachtflug von Camagüey nach Havanna – jedenfalls angeblich. Dabei verschwand er mitsamt seiner Cessna 310 spurlos über dem Ozean. Er wurde weder bei einer schnell eingeleiteten Rettungsaktion noch später jemals gefunden. Die offizielle Darstellung nimmt einen Unfall an.
~~~ Nun war aber Cienfuegos nicht irgendwer. Erst im Januar des Jahres war der blendend aussehende Sohn eines Schneiders als erster kubanischer Guerillaführer an der Spitze von 500 Kämpfern in Havanna einmarschiert. Er galt als beliebt. In der Revolutions-Hierarchie (für empfindliche Gemüter ein schwarzer Schimmel) kam er gleich hinter den Castro-Brüdern und Che Guevara. Allerdings glauben einige BeobachterInnen, er habe, auch von seiner Herkunft her, zu anarchistischen Positionen geneigt und in den Monaten vor seinem Verschwinden auch schon Unmut am streng kommunistischen Castro-Kurs geäußert. Gleichwohl hatte Cienfuegos kurz vor seinem Nachtflug getreulich Fidel Castros Auftrag erfüllt, seinen eigenen Freund Huber Matos zu verhaften, der gerade aus Protest gegen die offizielle, kommunistische Linie von seinem Amt als Militärbefehlshaber der Provinz Camagüey zurückgetreten war. Manche halten deshalb Matos – der geschlagene 20 Jahre im Gefängnis zu verbringen hatte – für den Drahtzieher jenes »Unfalls«, der vielleicht ein Abschuß, aber vielleicht auch ein Untertauchen war. Andere tippen wahlweise auf CIA oder KGB.
~~~ Die meisten BeobachterInnen vermuten allerdings, die Regierungsspitze selber habe ihre Hände im Spiel gehabt. Immerhin kamen innerhalb kurzer Zeit nach dem Vorfall nachweislich etliche enge Vertraute Cienfuegos‘ sowie Zeugen und Beteiligte der Aufklärungskommission auf unnatürliche Weise zu Tode, darunter Cienfuegos' persönlicher Adjutant Hauptmann Cristino Naranjo. Es ist freilich auch möglich, daß falsche Spuren gelegt wurden, um ein schlechtes Licht auf die erfolgreiche Revolution zu werfen. Als Historiker sieht man sich wieder einmal mit einem Küchenmesser bewaffnet dem üblichen Dschungel aus Interessen, Intrigen und Lügen gegenüber. Nebenbei äußert sich so gut wie keine Quelle zu der naheliegenden Frage, ob der Verschwundene allein in der Cessna saß oder nicht, ob er überhaupt einen Pilotenschein besaß und so weiter. Da möchte man fast die Eindeutigkeit loben, mit der die Fassade des »Informationsministeriums« in Havanna ein Porträt zeigt, das höher als das achtgeschossige Gebäude selber ist.[1] Es stellt den verschwundenen Genossen Cienfuegos dar. 2015 ist die Kubanerin Yoani Sánchez schon so weit, ihn gar nicht mehr finden zu wollen.[2]
~~~ Nach einem Artikel, der im Januar 2017 im Monatsblatt Graswurzelrevolution zu lesen war, hatte sich der Berufsrevolutionär fliegen lassen. Im übrigen behauptet Autor »Coastliner«, laut den Aussagen verschiedener Zeugen, darunter ein ortsansässiger Fischer, seien Cienfuegos und sein Pilot Luciano Farinas in der Bucht von Masio durch einen Sea Fury 530-Abfangjäger der kubanischen Armee abgeschossen worden. Als Insassen des Jägers nennt er Osvaldo Sánchez und Kapitän Torres, »ein Vertrauter Raúl Castros«. Raúls Bruder Fidel habe von einem Sturm gesprochen, während andere Beteiligte heute versicherten, es habe damals klares Wetter geherrscht. Coastliner stützt sich bei diesen Angaben auf eine französische Fidel-Castro-Biografie, nämlich: Serge Raffy, Castro, L'Infidèle, Paris 2003, S. 337 ff. Diese Quelle wird auch in der französischen Wikipedia erwähnt. Allerdings betont das Lexikon, bewiesen sei nichts; die damaligen (kubanischen) Flugzeuge seien doch recht brüchig gewesen.
~~~ Der italienische Katholik Enrico Mattei (1906–62), ein hochgewachsener, stets elegant wirkender Mann, war Patriot und Antifaschist, aber auch knallharter Unternehmer und Politiker. Im Oktober 1962 zerschellte er, 56 Jahre alt, mit seinem Privatflugzeug bei regnerischem Wetter in den mit Zypressen und Lorbeerbäumen gespickten Fluren der Lombardei. SkeptikerInnen waren nicht verblüfft, hatte Mattei doch als Chefmanager der staatlichen Erdölgesellschaft Agip/Eni sogar den global führenden Ölkonzernen des Freien Westens das Fürchten beigebracht. Er hatte die algerischen UnabhängigkeitskämpferInnen unterstützt und gute geschäftliche Beziehungen zu SU und China gepflogen. Beim Absturz seiner MS.760 Paris in der Gegend von Mailand kamen auch sein Pilot, Irnerio Pertuzzi, und der Time-Life-Journalist William McHale um. Offiziell waren zunächst, wenn nicht das Wetter, »technische Defekte« schuld. Später wurde teils unverblümt von einem Anschlag auf die Maschine gesprochen, so 1986 von Ex-Ministerpräsident Fanfani. Um 2000 strengten Angehörige Matteis und jenes US-Journalisten in Pavia einen Prozeß gegen den Bauern Mario Ronchi an, der als Augenzeuge der Presse gegenüber zunächst von Anzeichen einer an Bord erfolgten Explosion gesprochen, dann jedoch den Schwanz eingezogen hatte, nachdem er offensichtlich bestochen worden war. Dieses Verfahren wurde 2003 »mangels Beweisen« eingestellt.
~~~ Drastischer noch ist die Sache mit dem Journalisten Mauro De Mauro, der 1970 den Filmregisseur Francesco Rosi zum »Fall Mattei« mit Recherchen unterstützen wollte. Anscheinend war De Mauro in Palermo, Sizilien, stationiert, wo er nun Geschäftspartner von Mattei befragte. Mitte September jedoch war De Mauro plötzlich verschwunden. Seine Leiche tauchte nie auf. Der geständige Ex-Mafioso Gaspare Mutolo behauptete 1994, der lästige Journalist sei damals entführt und umgehend erdrosselt worden. Diese und viele andere Angaben finden sich bei der Buchautorin Regine Igel.[3] Ihr Buch läßt sich auch fast als LbZ jener zwei Jahrzehnte der »Strategie der Spannung« in Mitteleuropa lesen, als Lexikon beseitigter Zeugen. Dabei werden die unerwünschten Zeugen auffallend oft mit Hilfe fingierter Autounfälle aus dem Verkehr gezogen. Hätte es um 1880 keine wackeren Pioniere mit Interessen der schnelleren Fortbewegung oder schnelleren Profitmaximierung gegeben, wäre das Auto gleichwohl erfunden worden, nämlich von Geheimdiensten oder anderen kriminellen Organisationen, eben als Zeugenbeseitigungsgerät.
~~~ Der US-Politiker (der »Demokraten«) Nick Begich, geboren 1932, gilt inzwischen seit genau 50 Jahren als verschollen. Er war zuletzt Kongreßabgeordneter für Alaska. Am 16. Oktober 1972 wurde ihm ein Inlandsflug von Anchorage nach Juneau zum Verhängnis. Der Flug fand im Rahmen des Kampfes um die Wiederwahl Begichs in den Kongreß statt. Neben dem Piloten Don Jonz, 38, befanden sich Wahlkampfhelfer Russel Brown, 37, und der Kongreßabgeordnete aus Louisiana Hale Boggs, 58, an Bord. Auch von ihnen sowie von der Cessna 310 fehlt bis heute jede Spur. Begich wurde zwar wiedergewählt, sogar mit absoluter Mehrheit, doch das war natürlich gegenstandslos, weil der 40 Jahre alte Mandatsträger trotz vieler Gebete nicht wieder auftauchte. Den Sitz übernahm sein unterlegener Konkurrent Don Young von den »Republikanern« als Sieger einer Nachwahl. Das Flugzeug der vier Männer war überprüft, das Wetter für Sichtflug eher ungünstig. Der Pilot und Eigner der Cessna galt jedoch als erfahren.[4] Normalerweise wäre er, bei knapp 1.000 Kilometer Strecke, nach drei bis vier Stunden in Juneau angekommen. Der letzte Funkkontakt fand schon bald nach dem Start statt. Möglicherweise stürzte die Maschine – nicht als erste in diesem riesigen unwegsamen Staat – in eine bewaldete Schlucht oder in ein Gletschergebiet. Eine aufwendige Suche über Wochen hinweg blieb erfolglos.
~~~ Begich hinterließ, neben seiner Frau, sechs Kinder. Von diesen heißt eins auch wieder Nick. Nach einigen Internet-Quellen behauptete Nick Begich junior später öffentlich, es sei wichtiges Beweis- beziehungsweise Vergleichsmaterial beseitigt worden. Nun darf der Junior sicherlich als befangen gelten, zumal er sich, als Forscher und Autor, mit mahnenden Schriften über Parapsychologie, psychologische Kriegsführung (auch aus dem Weltall heraus) und Bewußtseins- und Gedankenkontrolle hervorgetan haben soll, die auf Wikipedia-Niveau unter den bekannten Holzhammer-Begriff »Verschwörungstheorie« fallen. Andererseits ist der Sohn natürlich nicht der einzige, der Unheil wittert, da es dafür naheliegende Gründe gibt. So soll Begich senior, ursprünglich Lehrer, dann Bauunternehmer, unliebsamer Vertreter der Rechte der Eingeborenen Alaskas gewesen sein. Vor allem aber war der mitverschollene Boggs ein bekannter Gegenspieler Präsident Nixons und früher, 1963/64, Mitglied der Warren-Kommission zur »Aufklärung« des Attentats auf Präsident John F. Kennedy gewesen. Boggs soll die amtlich bevorzugte »Einzeltäter-Theorie« zumindest zeitweise abgelehnt haben.
~~~ Laut Isabel Goyer[4], immerhin Chefredakteurin des anscheinend renommierten Magazins Plane & Pilot, wird die Vermutung, Boggs sei Ziel eines Anschlages gewesen, 2020 auch im Podcast Missing in Alaska des Journalisten Jonathan Walczak vertreten. Sie selber hält nach wie vor einen wetterbedingten Absturz, etwa wegen Vereisung, für am wahrscheinlichsten. Dennoch betont sie, Walczak habe zahlreiche Anhaltspunkte für einen Bombenanschlag geliefert, die man kaum übergehen könne. So führe er beispielsweise Entkräftungen der Behauptung ins Feld, die Überlebens-Ausrüstung in der Cessna sei mangelhaft gewesen. Ferner habe er eine echte Komödie ausgegraben. Danach hatte das FBI um 1995 mit einem niedrigrangigen Mafioso aus Tucson, Arizona, zu tun, Jerry Max Pasley, der den Beamten, offenbar im Gefängnis, von seiner Tatbeteiligung an einem Anschlag auf Begichs Flugzeug erzählte. Erstaunlicherweise hatte dieser Gangster gut ein Jahr nach dem Verschwinden der vier Männer Pegge Begich geheiratet, die Witwe des Kongreßabgeordneten. Die Ehe hielt nicht lang. Inzwischen ist Pasley gestorben.
~~~ Begichs mehr politisch motivierten Widersacher Young, immerhin ein Nutznießer des Unglücks, scheint keiner auf der Liste zu haben. Jedenfalls kann man auch ihn nicht mehr befragen, da er soeben, im März 2022, mit 88 verschied.
~~~ Nun will ich den buchstäblichen Fall Ustica streifen. 30 Jahre nach dem Blutbad witterte sogar ein italienischer Staatspräsident Unheil. Es gebe »Spuren einer Verschwörung«, erkühnte sich Giorgio Napolitano 2010 zu erklären, vielleicht sogar eine »internationale Intrige«, und dies gelte es in Erinnerung zu rufen. Was war geschehen? Im Sommer 1980 war eine italienische Linienmaschine (Itavia-Flug 870) unweit der Insel Ustica, Sizilien, ins Mittelmeer gefallen; alle 81 Insassen kamen um. Ursache sei entweder ein Bruch der Douglas DC-9 wegen Materialermüdung oder eine in der Maschine explodierende Bombe gewesen, hieß es sofort. Dummerweise wurde später das Wrack geborgen. 1999 stellte der hartnäckige Untersuchungsrichter Rosario Priore in einer Anklageschrift unmißverständlich fest, die Angelegenheit sei zielstrebig verschleiert worden. In Wahrheit hätten sich damals im angeblichen »Unglücks«-Gebiet mehr als ein Dutzend »Kampfflugzeuge« verschiedener Nato-Staaten und Libyens getummelt. 2013 sprach der römische Kassationshof, laut Michael Braun[5], eindeutig von einem Abschuß durch Nato-Kampfflieger. Und wie kamen die auf diese menschenfreundliche Idee? Nach der am meisten bevorzugten Theorie sollte eine Tupolew Tu-134 abgeschossen werden, in der Libyens Oberhaupt Gaddafi zu einem Staatsbesuch nach Polen unterwegs war; durch eine Verwechslung habe die Rakete dann aber die ähnlich gebaute italienische Linienmaschine mit den 81 Insassen erwischt. 2013 wurden sogenannte Entschädigungen zugebilligt. Von diesen, je nach Quelle, 100 oder 110 Millionen Euros (aus italienischer Steuerschatulle) haben die 81 Pechvögel des Fluges Nullkommanichts.
~~~ Wer für runde Todesopferzahlen schwärmt, könnte einwenden, tatsächlich seien es um 100 Pechvögel gewesen. Während der aufwendigen und zielstrebigen Vernebelungsarbeit diverser PolitikerInnen, Behörden und Geheimdienstleuten – die selbstverständlich »der Aufklärung« dienten – kam es nämlich sehr wahrscheinlich zu ungefähr 15 bis 20 vorsorglichen Zeugenbeseitigungen, wie sogar in Florence de Changys Buch über MH 370 zu lesen ist (S. 443–46). Die französische Journalistin führt eine Bilanz der Verantwortlichkeiten im Fall Ustica an, die ihr italienischer Berufskollege Andrea Purgatori 2014 im Monatsblatt Le Monde diplomatique zog.[6] Danach hatte Italien die Verletzung seines Luftraumes erlaubt und in der Folge alles vertuscht. Die USA seien zumindest Zeuge, wenn nicht Komplize gewesen. Der Abschuß selber ging wahrscheinlich auf das französische Konto. Doch sämtliche beteiligten Staaten, Libyen eingeschlossen, hüllten sich nach wie vor in Schweigen, stellte Purgatori abschließend fest. Als Witz nebenbei versichert De Changy, derselbe Kollege, Purgatori, habe bereits zwei Tage nach dem Unglück, 34 Jahre früher also, aufgrund von Insider-Hinweisen im Corriere della Sera gemutmaßt, die Linienmaschine sei durch eine eigentlich auf Gaddafi gemünzte Rakete vom Himmel geholt worden. Um diese »Verschwörungstheorie« zu zertrümmern, legten sich über Jahrzehnte ganze Hundertschaften aus kaltschnäuzigen Vertuschungskünstlern und Killern ins Zeug.
~~~ Ein ähnlicher Reißer war das bis zur Stunde ungeklärte Verschwinden von MH 370, das im Frühjahr 2014 die halbe Welt in Atem hielt. Eine Boeing 777 mit 239 Menschen und einiger Fracht an Bord war (am 8. März) auf ihrem planmäßigen Nachtflug von Kuala Lumpur, Malaysia, nach Peking schon bald nach dem Start nicht mehr ansprech- und auffindbar. Nun begann ein wochenlanges Verwirrspiel, das unter Geheimdienstlern Desinformation heißt. Um von der Wahrheit abzulenken und alle Empörten zu beschwichtigen, arbeitet man also emsig mit Gerüchten, Falschmeldungen, Trugspuren und so weiter. In diesem Fall wurde ein rätselhafter Umschwenk der Linienmaschine nach Süden erfunden, in die Weiten des Indischen Ozeans, wo trotz aufwendigster, australisch geleiteter Suche nie etwas Handfestes aus dem Wasser gezogen wurde. Die höchstwahrscheinlich zurechtfrisierten Notsignale, die den Südkurs erhärten sollten, hatten die Briten mit Hilfe der Londoner Firma Inmarsat geliefert. In Wahrheit dürfte die nordwärts fliegende Riesenmaschine schon 90 bis 120 Minuten nach dem Start ihr Ende in vietnamesischen Gewässern gefunden haben: durch Notlandung oder Abschuß. Dort benötigte man jedoch Muße zur Trümmerbeseitigung, wovon auch einige Zeugenbeobachtungen sprachen. Zur Erklärung des Schwenks und des ausgedehnten Ausflugs nach Süden bevorzugten die malaysischen und australischen PolitikerInnen oder Behörden die Mutmaßung auf »erweiterten Pilotensuizid«. Das klingt bereits wie ein Witz, wenn man Verschwunden, das 2021 erschienene, umfangreiche Buch Florence de Changys, noch gar nicht zur Hand genommen hat.[7] Übrigens versichert die Autorin, hauptsächlich Hongkong-Korrespondentin für Le Monde, Paris, grundsätzlich seien Selbstmorde von diensthabenden Piloten »sehr selten«. Häufigste Unfallursachen seien technisches Versagen oder (irrtümliches) militärisches Eingreifen, doch genau die würden auch häufig vertuscht. Schließlich möchten weder die HerstellerInnen noch die Aufsichtsorgane ihr Gesicht und ihre Umsätze einbüßen. Den Ehrverlust mutet man dann lieber den sowieso schon mausetoten Piloten zu.
~~~ Es ist nicht immer bequem, der französischen Journalistin zu folgen, hat sie sich doch durch einen wahren Dschungel an Fakten, Lügen und Theorien zu kämpfen. Ich hätte manches abgekürzt, aber das ist vielleicht Geschmacksache. De Changys Gründlichkeit hat freilich den Vorteil, das Märchen vom Abstecher in den südlichen Indischen Ozean mit 100- und das Märchen vom Amok laufenden Piloten mit 98prozentiger Wahrscheinlichkeit vergessen zu können. Für den Südabstecher reicht eigentlich schon eine Parallele zu 9/11, die De Changy wohlweislich vermeidet. Damals, 2001 in New York City und Washington, D.C., soll es bekanntlich einigen »Terroristen«, die Riesenmaschinen gekapert hatten, gelungen sein, die Luftabwehr des Giganten des Militarismus und der Scheinheiligkeit USA mit ein paar Teppichmessern in der Hand auszuhebeln. Was nun Indischen Ozean und Chinesisches Meer angeht, hält es De Changy für nahezu unmöglich, mit einem fetten Passagierflugzeug dem äußerst dichten Spähnetz der Yankees zu entgehen. Mit Diego Garcia und U-Tapao lagen zwei US-Militärstützpunkte, übrigens mit ausreichend langer Landebahn versehen, ganz in der Nähe. Zur Verschwindens-Zeit waren sogar sehr wahrscheinlich zwei AWACS der USA in der fraglichen Luft. Das sind fliegende Spionage- und Einsatzzentralen. Doch die Yankees ließen sich nie dazu herab, irgendwelche Radar- oder Satellitenbilder aus der Unfall- oder Tatzeit zur Verfügung zu stellen, obwohl sie dadurch doch vielfach geäußerte Verdächtigungen auf Faulspiel hätten entkräften können. Sie taten einfach so, als besäßen sie solche Aufzeichnungen nicht. Der nächste Witz.
~~~ Nachdem sie zahlreiche Theorien von Dritten erschüttert hat, wagt De Changy ein eigenes »Szenario« vorzustellen, das sie zugleich für das naheliegendste und wahrscheinlichste hält. Die Frachtpapiere von MH 370 wiesen mehrere Mängel oder Lücken auf. Kuala Lumpur gilt ohnehin als bekannter Schmuggelplatz. Demnach könnte sich ein wertvolles US-Spionagegerät im Frachtgut befunden haben, das Peking nur zu gern entgegen genommen hätte. Die Yankees bemerkten den Diebstahl jedoch und bedrängten die Boeing mit den bereits erwähnten zwei AWACS-Flugzeugen, wodurch sie auch den Funkverkehr ihres Opfers lahmlegten. Schließlich riefen sie aber einen Jäger herbei, weil sich die Piloten nicht zu einer Zwischenlandung auf einer US-Base bereit gefunden, vielmehr gehofft hatten, noch rechtzeitig den rettenden chinesischen Luftraum zu erreichen. Nun, im Grenzgebiet Vietnam/China, schoß der Jäger die Boeing ab. 239 Leichen wegen eines ausgefeilten elektronischen Spielzeugs. Möglicherweise seien es aber auch die Chinesen selber gewesen, weil da fremde Maschinen in ihren Luftraum eingedrungen waren.
~~~ Für mich hat dieses »Szenario« lediglich eine Schwachstelle, nämlich die Piloten der geopferten Linienmaschine. Mit De Changy probeweise angenommen, sie lassen sich auf die Vorwände eines Zwischenhalts in U-Tapao (Thailand) ein, warten 20 Minuten, bis Agenten das Spionagegerät aus der Fracht gerettet haben – und setzen den Linienflug, mit Verspätung, einfach so fort ..? Stumm machen konnte man sie ja schlecht. Man durfte ihnen noch nicht einmal die Augen zubinden. Aber hätten sie dann nicht, ob in Peking oder in Kuala Lumpur, von diversen Ungereimtheiten ihres Fluges berichten müssen, »höhere Gewalt« eingeschlossen? Das wäre für die Yankees ziemlich peinlich geworden.
~~~ De Changy übergeht diese Schwachstelle – die hoffentlich kein Denkfehler von mir ist. Dafür läßt die Französin keinen Zweifel, wer dem mutmaßlichen Drahtzieher aus Washington beigestanden hat. Es ist vor allem die übliche Brüderschaft: Australien, Singapur und Großbritannien. Die Briten steuerten wahrscheinlich die schon erwähnten gefälschten, in den Indischen Ozean führenden Notsignale bei. Was Malaysia angeht, ist es laut De Changy im Laufe des Unglücks und der Vertuschung »zu einer geradezu sensationellen Annäherung« zwischen ihm und den USA gekommen (S. 62). Vermutlich hat Washington diese Annäherung gut bezahlt. Nebenbei scheint Malaysia von Hause aus ein ähnlich korrupter Landstrich zu sein wie etwa die sprichwörtliche Bananenrepublik. Oder wie Kiew.
~~~ Andernorts erwähnte ich kürzlich Michael Schneiders Lob einer neuen »fulminanten« Studie seines geringfügig jüngeren Kollegen Kees van der Pijl: Die belagerte Welt. Aber etwas früher (deutsch 2018) legte der Niederländer das Buch Der Abschuß vor. Es bezieht sich natürlich auf ein Aufsehen erregendes Boeing-Unglück, das nur wenige Monate nach dem fernöstlichen Vorfall in der Ostukraine stattfand: MH 17. Erneut war also Malaysia beteiligt, aber den Löwenanteil der Passagiere dieses Linienfluges von Amsterdam nach Kuala Lumpur stellten just NiederländerInnen. Im ganzen hatte die Maschine 298 Personen an Bord. Sie wurde, am 17. Juli 2014, sehr wahrscheinlich abgeschossen. Von Überlebenden ist nichts bekannt. Die vielfältigsten Beschuldigungen und Hintertreibungen blühen bis zur Stunde. Nach dem Ausholen über der Indischen See will ich mich jedoch auf ein paar Waschzettel-Sätze zu Van der Pijls Arbeit beschränken. »Auf der Basis bisher unveröffentlichter Dokumente der niederländischen Regierung und gehackter E-Mails des damaligen NATO-Kommandeurs General Philip Breedlove trägt das Buch aussagekräftige Indizien zusammen. Es behauptet nicht, die wirklich Verantwortlichen zu identifizieren, belegt aber, dass die neuen Herren der Ukraine das größte Interesse, das ausgeprägteste Motiv und die beste Gelegenheit hatten, den Absturz herbeizuführen.«
~~~ Sehen wir zum Abschluß einmal sträflich von den leiblichen und seelischen Kosten all dieser »Mysterien« ab, bleibt immer noch das liebe Geld. Gegenwärtig beträgt der Listenpreis einer Boeing 777 mindestens 300 Millionen Dollar. Für die getürkte oder aufrichtige Suche nach MH 370 werden, laut De Changy (S. 74), um 10 Millionen Dollar geschätzt. Kommen die ganzen Pressekonferenzen, Untersuchungsausschüsse, Agentenspesen, Versicherungsgelder, Entschädigungszahlungen, Gerichts-, Artikel- und Bücherkosten und vieles mehr hinzu. Sagen wir insgesamt, für diese sechs Fälle, drei Milliarden. Dafür können Sie sämtliche irdischen Rüstungsunternehmer-Innen mit Überlebensrationen versehen und auf den Mond schießen. Aber Sie können die drei Milliarden selbstver-ständlich auch in Schokoladeneis und Smartphones anlegen, falls Sie ein gutzivilisierter Mensch sind.
∞ Verfaßt 2022
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Camilo_Cienfuegos#/media/Datei:Homenaje_a_Camilo_Cienfuegos_en_La_Habana.jpg
[2] Yoani Sánchez, https://generacionyde.wordpress.com/2015/10/28/ich-mochte-dich-nicht-mehr-finden-camilo/
[3] Regine Igel, Terrorjahre. Die dunkle Seite der CIA in Italien, München 2006, S. 74–82
[4] Isabel Goyer, »1972 Cessna 310C Alaska Disappearance of Hale Boggs and Nick Begich«, https://www.planeandpilotmag.com/news/2020/09/24/1972-cessna-310c-alaska-disappearance/, 22. März 2020, jetzt 18. August 2022
[5] Michael Braun, »Zusammenbruch des Lügengebäudes«, https://taz.de/Flugzeugabsturz-von-Ustica-1980/!5074320/, 29. Januar 2013
[6] Andrea Purgatori, »Ein mysteriöser Flugzeugabsturz vor 34 Jahren«, https://monde-diplomatique.de/artikel/!297499, 11. September 2014
[7] Florence de Changy, The Disappearing Act, London 2021, hier deutsche Ausgabe Verschwunden, Berlin 2022
Der Schauspieler und Kabarettist aus Wien und Berlin Wolfgang Müller (1922–60) war außerdem ein Scherzvogel, der unbedingt Flugkapitän werden wollte. Müller starb erheblich früher und unauffälliger als sein Partner aus der Jugendzeit Wolfgang Neuss, der noch als »Mann mit der Pauke« Karriere machte, nachdem Müller keineswegs als Bühnenkünstler, vielmehr als Flugschüler abgestürzt war. Die beiden hatten sich 1949 gefunden. In der Folge schossen sie unter der Firma »Die zwei Wolfgangs« als Adenauer-feindliches Komiker-Duo aus der »Frontstadt« Westberlin aus allen blitzenden Rohren. Daneben waren sich beide Wolfgangs nicht zu schade, ob solo oder gemeinsam, in etlichen zeitgenössischen Filmklamotten mitzuwirken, darunter Das Wirtshaus im Spessart von 1958. Als 1960 in der Schweiz Dreharbeiten zum Spukschloß im Spessart folgten, nutzte der 37jährige Müller die Gelegenheit zu einem Besuch beim Piloten und Fluglehrer Max Manger aus Basel, der inzwischen in Minusio lebte, einem Nachbarort von Locarno am Lago Maggiore, also im schönen Tessin. Dieser Entschluß kam Mangers Todesurteil gleich.
~~~ Wie schon angedeutet, hatte sich Müller die Pilotenlizenz in den Kopf gesetzt, und Manger, geboren 1916, galt als erfahrener und geschickter Flieger. Aber lediglich bis zum 26. April. Dies alles weiß ich übrigens nur, weil mir eine freundliche Frau aus der Gemeindeverwaltung von Lostallo mit einem leider auf italienisch verfaßten Zeitungsartikel* vom 27. April unter die Arme griff. Danach waren die beiden Männer in einer Piper um Mittag in Lugano-Agno gestartet. Man führte mehrere »Außenlandungen« durch, darunter im berühmten Städtchen Ascona. Der Versuch, am frühen Nachmittag auf dem Flugfeld von Lostallo, Graubünden, zu landen, ging jedoch schief. Aus meiner Quelle geht beim besten Willen nicht hervor, wer da gerade am Steuer des Sportflugzeuges saß. Ich vermute, es war Flugschüler Müller, weil ja Manger wohl keine »Außenlandungen« mehr nötig hatte. Doch wenn in einem motorisierten Sportgerät zwei Hohlköpfe sitzen, dürfte es Jacke wie Hose sein. Auf dem genannten Flugfeld verfing sich die Piper bei ihrem Landeanflug in rund 30 Meter Höhe an einem »überhängenden Draht«, stürzte ab und ging, ausgerechnet neben einem Bach, in Flammen auf.
~~~ Leider nützte der Bach weder dem 37jährigen Komiker Müller noch Max Manger, der wohl 42 war. Beide verbrannten. Manger soll Sprößling einer seinerzeit recht bekannten Baseler Konzertpianistin gewesen sein. Was den verhängnisvollen »Draht« angeht, war es wohl keine Stromleitung, aber doch ein Hindernis, das schon früher bei Piloten Mißfallen erregt hatte. Vielleicht wurde es entfernt. Über die Ermittlungen der Behörden ist im Internet nichts zu lesen.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Un attore ed un ardito pilota periti in un aereo decollato da Agno«, Giornale del Popolo (Lugano), 27. April 1960, S. 2
Quakenbrücker Segelflugschülerin († 2012). Für den Autoführerschein war diese vermutlich deutsche junge Frau noch zu jung. Als sie am 4. August 2012 im niedersächsischen Quakenbrück mit ihrem unmotorisierten Flugzeug gegen eine Zeile von Reihenwohnhäusern krachte, war sie 17 und tot. Man könnte das mit dem Hinweis übergehen, kein Fortschritt sei ohne Lehrgeld zu haben. Knapp zwei Jahre darauf legte freilich eine schon 56jährige Segelflugschülerin aus dem nordhessischen Baunatal auf dem nahen Dörnberg einen zu steilen und damit letztlich »harten« Landeanflug hin, weshalb sie, wegen Verdachts auf schwere Rückenverletzungen, gleich weiter ins Kasseler Rote-Kreuz-Krankenhaus – geflogen wurde.* Eine Alternative wäre der auch nicht ganz ungefährliche Weg über die Autobahn Dortmund–Kassel gewesen. Jetzt fährt die gute Frau vielleicht Rollstuhl. Der Dörnberg bietet schon seit 1924 einen Segelflugplatz. Seit 2015 beherbergt er außerdem, im ehemaligen Landesjugendhof, eine Kommune: befremdlicherweise, wie ich finde.
~~~ Jene 17jährige starb noch am Unfallort. Was die beteiligten BodenbewohnerInnen angeht, kamen sie anscheinend mit dem Schrecken davon. Das Mädchen war auf dem Quakenbrücker Flugplatz per Seilwinde gestartet. Zuletzt war es, nach Augenzeugenberichten, sehr tief geflogen. Laut Untersuchungsbericht der BFU lagen bei der jungen Pilotin weder Anfälle noch Drogenkonsum vor; vielmehr: Überforderung beim ersten Alleinflug. 2009, am 5. Juli, hatte es ein 19jähriger Sportkamerad besser getroffen. Er rettete sich durch Fallschirmabsprung, ehe sein Segelflugzeug bei Quakenbrück in einem Getreidefeld zerschellte.** Auch die brütenden Wachteln waren rechtzeitig davongestoben. Wie ich im Internet lese, lieben es die SegelfliegerInnen, ihren »Sport« als Poesie oder Mentaltraining, somit als gesundheitsdienlich, anonsten harmlos auszugeben. Ertüchtigung und Beherrschung des Luftraums sind nicht im Spiel.
~~~ Soweit ich weiß, waren in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst alle nichtstaatlichen Flugaktivitäten verboten. Der Segelflug wurde 1951 wieder erlaubt. Der deutsche Faschismus hatte dem Segelflug großes (vormilitärisches und ideologisches) Gewicht beigemessen; schon in der HJ gab es recht begehrte »Luftsportscharen«, die vor allem Gleit- und Segelflug pflogen. Heutzutage haben wir im schönen Deutschland ungefähr 50 Segelflugunfälle jährlich. 2009 sollen diese sogar den Löwenanteil aller Flugunfälle gestellt haben. 2010 teilt ein FAZ-Sportredakteur*** beiläufig mit, der gesamte europäische Segelflug fordere jährlich zwischen 16 und 20 Todesopfer. Alle anderen Schäden, die »mentalen« eingeschlossen, wollen wir wieder mit Schweigen bedecken.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://112-magazin.de/aus-der-region/item/11716-segelflugsch%C3%Bclerin-bei-harter-landungschwer-verletzt, (Korbach), 17. April 2014
** https://www.noz.de/artikel/243148/segelflugzeug-sturzt-in-quakenbruck-in-wohnhaus-17-jahrige-pilotin-tot#gallery&0&0&243148, Bersenbrücker Kreisblatt, 4./6. August 2012 (am Artikelende)
*** Leonhard Kazda, https://www.faz.net/aktuell/sport/randsportarten/segelfliegen-weltmeister-der-luefte-mit-der-nummer-007-11012274.html, 18. Juli 2010
Hier und dort wies ich bereits auf die erstaunliche Fähigkeit des Zweibeiners hin, Überflüssiges zu erfinden und, je nach dem, zu genießen oder zu fürchten. Man denke nur an den Stöckelschuh oder die Mittelstrecken-rakete. Der Yankee George W. G. Ferris (1859–96), ein Bauingenieur in Pittsburgh, der Stahlkocherei von Pennsylvania, beglückte uns vor ungefähr 130 Jahren mit dem Riesenrad. Schnödes Straßenpflaster, damit die Gäule der Republik nicht im Schlamm versinken, und eine leicht gewölbte Steinbogenbrücke, die (1904) den eher schmalen Hauptfluß Kus meiner Freien Republik Mollowina überspannt – das wäre Ferris auf die Dauer zu langweilig gewesen. Zwar hatte er zunächst im Eisenbahn- und Brückenbau gearbeitet. Um 1890, inzwischen verheiratet, gründete er eigene Firmen. Dann jedoch nahte die für 1893 in Chicago, Illinois, geplante sogenannte Weltausstellung. Die Organisatoren suchten fieberhaft nach einem ungewöhnlichen Bauwerk, das imstande wäre, den Pariser Eiffelturm (von 1889) in den Schatten zu stellen – und Ferris hatte den entscheidenden Geistesblitz: ein großes Rad, das statt Wasser Menschen beförderte. Man genehmigte sein Projekt schließlich unter der Bedingung, er habe es selbst zu finanzieren.
~~~ Nun waren solche Dinger nicht unbedingt brandneu, aber das von Ferris war einzigartig riesig. Das Ferris Wheel oder Riesenrad maß im Durchmesser rund 75 Meter und wies 36 breite, aufgehängte Gondeln auf, in denen jeweils 60 Personen Platz finden konnten. Allein die auf zwei Zwergeiffeltürme gehievte Achse wog fast 90.000 englische Pfund.* Tatsächlich fand Ferris‘ Ding regen Publikumszuspruch. Nachdem das Fest gelaufen war, verstrickte er sich allerdings in Rechtsstreitigkeiten wegen seiner Verbindlichkeiten an Lieferanten und seiner Forderungen an die Eintrittsgeld-EinzieherInnen und verschuldete sich deftig. Davon litt seine Gesundheit wahrscheinlich mehr, als wenn man ihn in einer schleudernden Kabine seines Rades an den Sitz gefesselt hätte. Und als er 37 war, gab ihm eine Typhus-Erkrankung den Rest.
~~~ Ärgerlicherweise lese ich nirgends von einem schweren Betriebsunfall am Chicagoer Ferris Wheel. Behelfen wir uns also mit einem Unglück, das am 23. Mai 2021 – einem Pfingstsonntag, wie viele Quellen betonen – am norditalienischen Monte Mottarone geschah. Nach dem Riß eines Zugseils und dem anschließenden Versagen der Zwangsbremsung raste die Kabine Nr. 3 der Seilbahn Stresa–Monte Mottarone bergabwärts gegen die nächste Stütze, sprang vom Seil und krachte zu Boden. Von 15 Insassen kamen 14 zu Tode. Nur ein Fünfjähriger überlebte, als Waise. Um ihn entbrannte dann nebenbei ein anhaltender, widerlicher Sorgerechtsstreit. Was die Absturzursachen angeht, wird Mitarbeitern des Betreibers vorgeworfen, sie hätten die Tragseilbremsen unwirksam gemacht, um geschäftsschädigende Stockungen zu vermeiden.** Ansonsten wird Materialermüdung im Zugseil und Fahrlässigkeit bei dessen regelmäßig vorgeschriebener Überprüfung vermutet.
~~~ Fehlt noch der Hinweis, gerade mit dem vielen heiklen Überflüssigen, das uns überschwemmt, lasse sich prima Geld verdienen. Neben den Mittelstreckenraketen sind das beispielsweise die Raumfähren und Drohnen, mit dem das Weiße Haus beliefert wird, oder auch unsere rheinmetallischen Panzer und Kanonen, die nach Kiew gehen.
∞ Verfaßt 2023
* Jamie Malanowski, »The Brief History of the Ferris Wheel«, Smithsonian Magazine, Juni 2015: https://www.smithsonianmag.com/history/history-ferris-wheel-180955300/
** https://www.nau.ch/news/europa/gutachten-zu-todlichem-gondelabsturz-verzogert-sich-weiter-66208300, 24. Juni 2022
Während die einen ihre Rennpferde motorisierten, bliesen sich andere als BallonfahrerInnen auf. Der Ostseeanlieger Werner Delbrück (1868–1910) betrieb die Ballonfahrt wahrscheinlich nur als Hobby. Im Brockhaus stehen einige Delbrücks; Werner jedoch nicht. Sein Hobby kostete die deutsche Volkswirtschaft im Jahr 1910 drei Tote. Delbrück war von Hause aus Chemiker, ferner Reserveoffizier, zuletzt auch Reichstagsabgeordneter, vor allem jedoch Direktor eines weitläufigen und als »schick« geltenden, selbstverständlich kapitalistisch orientierten Badebetriebes in Heringsdorf, Usedom, den er um 1900 von seinem Erzeuger Hugo übernommen hatte. Die tödliche Ballonfahrt des Sprößlings begann am 3. April 1910 in Stettin. Laut Fritz Spalink* war das Ziel Rügen. Man erreichte es auch fast. Neben Delbrück (41) als Kapitän befanden sich der Kaufmann Theodor Heyn, der Bankbeamte Johannes Semmelhack und Stadtbaurat Karl Bendhuhn im Korb des Ballons, falls Dieter Naumann** richtig liegt. Peinlicherweise verfing sich der auf Pommern getaufte Ballon schon kurz nach dem Aufstieg in Telegrafendrähten und warf außerdem einen Fabrikschornstein um. Dabei wurden sowohl die Gondel und einige Taue wie die Insassen mehr oder weniger schwer verletzt. Es folgte freilich noch eine dreistündige »Horrorfahrt« des Ballons, wie der einzige Überlebende Semmelhack in einem Zeitungsinterview berichtet haben soll. Während stürmischer Wind den Ballon gen Rügen trieb, erwiesen sich Rettungsversuche seitens der verletzten Crew als vergeblich. Bei Sassnitz schlug der Ballon, wohl aus ungefähr 50 Meter Höhe, mit Gewalt auf die Ostsee. Nur Semmelhack habe sich trotz eines Beinbruchs vor dem Ertrinken bewahren und auf Pommerns Hülle retten können. Sassnitzer Fischer bargen ihn.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Fritz Spalink, Heringsdorfer Geschichten, 2011, S. 46–50, online https://www.strandhotel-heringsdorf.de/files/public/pdf/Heringsdorfer_Geschichten_rund_um_das_Strandhotel.pdf
** Dieter Naumann, »Die Katastrophe des Ballons Pommern«, Das Blättchen, 29. Januar 2018, online https://das-blaettchen.de/2018/01/die-katastrophe-des-ballons-%E2%80%9Epommern%E2%80%9C-42892.html. Nebenbei dürfte die im Internet kursierende Angabe, Delbrück sei am 17. Juni 1910 gestorben, falsch sein. Schließlich würde das bedeuten, Delbrück habe noch 10 Wochen im Siechtum gelegen.
Statt mich in ferner Zukunft (Band 24) mit den berühmten Grafen von Zeppelin abzugeben, will ich mich hier einem »Kollateralschaden« der deutschen Luftschiffahrt widmen, den Brockhaus natürlich leicht übergehen kann. Es handelt sich um das unrühmliche Ende des Bremer Tischlersohns Hans Gluud (1875–1913). Hans wurde Seemann und Kapitän, fand jedoch seinen frühen Tod (mit knapp 38) erst in der Luft: er stieg zum Luftschiffer im Dienste des Ferdinand Graf von Zeppelin auf, stationiert in dessen Friedrichshafener Werft am Bodensee. Damit stand er zunehmend auch im Dienste der kaiserlichen Marine. Im Oktober 1913 war es ihm, dem Luftschiffkomman-danten, zunächst gelungen, LZ 18/L 2, das jüngste Produkt des greisen Zeppelins, ohne Zwischenfälle von Friedrichshafen nach Berlin-Johannisthal zu überführen. Erst bei einem neuerlichen Startversuch am 17. Oktober, der die Übergabe der 158 Meter langen Luftgurke an die Marine einleiten sollte, explodierte sie bereits in 200 Meter Höhe. Von je nach Quelle 28 oder 30 Menschen an Bord kamen 28 oder 30 um. Es wären deutlich mehr gewesen, hätten die »technischen Mängel«, die man dann verantwortlich machte, mit dem Zuschlagen noch gewartet, bis das Luftschiff die ersten Johannisthaler Hausdächer streifte. Dabei hatte es sich weder um den ersten noch den letzten Schiffbruch eines Zeppelins gehandelt. Allein im Ersten Weltkrieg, der ja vor der Haustür stand, wurden knapp 90 Ungetüme gebaut, von denen rund 30 durch »Feindeinwirkung«, rund weitere 30 durch Unfälle verloren gingen. In einigen Fällen hatten sie wenigstens schon ihre Bombenlast auf England geworfen, sodaß man auf beiden Seiten des Ärmelkanals seufzen konnte, geteiltes Leid sei halbes Leid.
~~~ Immerhin, unter jenen knapp 30 verkohlten Leichen auf dem Johannisthaler Rasen befanden sich auch die Überreste von Marineschiffbaumeister Felix Pietzker, 34, der die betreffende Luftgurke entworfen hatte. Ein Kanzleibuckel des sogenannten Kaisers schrieb* Pietzkers Witwe Frieda, wohl Mutter zweier Kinder: »Seine Majestät haben mich ferner Allerhöchst beauftragt Ihnen Allerhöchst sein wärmstes Beileid auszusprechen. Seine Majestät hoffen, daß es Ihnen und den Ihrigen ein Trost sein werde, zu wissen, daß Ihr Gatte in treuester Pflichterfüllung im Dienste des Vaterlandes einen ehrenvollen Tod gefunden hat.«
~~~ Jener ungünstigen Verlustrate von knapp zwei Dritteln eiferten dann nach dem Zweiten Weltkrieg die bundesdeutschen Starfighter nach – mitten im Frieden. Darauf komme ich zurück.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* laut Peter-Philipp Schmitt, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/ungluecke/luftschiff-unglueck-vor-100-jahren-ein-traum-der-luefte-explodiert-12619255.html, 16. Oktober 2013
Die Tochter eines Bonner Architektenpaares Rita Maiburg (1952–77) war Fliegerin geworden. Nun hieß sie aber nicht Rita Metermaid oder wenigstens Charles Lindbergh, und deshalb blieb sie im Brockhaus unberücksichtigt. Das nenne ich einen Fehler. Schließlich war Maiburg, ab 1976, nicht nur der erste weibliche Flugkapitän im Liniendienst zumindest der westlichen Hemisphäre. Sondern ihre Laufbahn endete keineswegs in der Luft! Das könnte man sogar witzig nennen, hatte sie doch zunächst einen Prozeß führen müssen, bis sie um 1975 Aufmerksamkeit und erneut eine Anstellung als Pilotin bekam, wenn auch nicht bei der beklagten Lufthansa. Sie flog für DLT.
~~~ Allerdings hatte sich dieser Job bald erledigt. Am 2. September 1977 frühmorgens auf dem Weg zum Flughafen Münster-Osnabrück, Greven, wo sie das Cockpit einer Short 3-30 (30 Sitze) mit Ziel Frankfurt/Main zu erklimmen gedachte, stieß die 25jährige grünäugige und langmähnige Blondine, Größe 1,73, mit ihrem Auto frontal mit einem Milchtankwagen zusammen. Nach einem Sachbuchautor* sah es draußen ähnlich wie im Tankwagen aus: Nebel. Eine Woche später erlag Maiburg in einem Grevener Krankenhaus ihren schweren Verletzungen und sah gar nichts mehr.
~~~ Dafür gibt es aber inzwischen schon mehrere Rita-Maiburg-Straßen in Deutschland, wie ich anderen Quellen entnehme. Alle FußgängerInnen, die nicht blind und keine Analphabeten sind, werden Rita lieben. Und sie werden sich auch einen Roman über Rita besorgen, der kürzlich erschienen und kongenial besprochen worden ist. Für Maiburgs tödlichen Autounfall (mit 25) hatte die Rezensentin (falls es eine war) keinen Platz mehr.** Schließlich ist die Gießener Allgemeine nicht die Londoner Times.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 24, Juni 2024
* Ernst Probst, Buchauszug auf FF (FlugzeugForum.de), 14. Februar 2006: http://www.flugzeugforum.de/threads/30307-Rita-Maiburg-Der-erste-weibliche-Flugkapitaen
** https://www.giessener-allgemeine.de/kultur/eine-mutige-frau-kaempft-sich-ins-cockpit-90313289.html, 1. April 2021
Siehe auch → Bückeburg, Harder (Absturz mit Adligen) → Chaoui (Pilotin) → DDR, Sindermann (Absturz) → Faschismus, Fieseler (Flugzeugbauer) → Krieg, Starfighter
Lüge
Alle Kreter lügen --- Ich will zunächst das Schauerdrama von der Luftbrücke und den Rosinenbombern streifen, das vor rund 60 Jahren in Berlin gegeben wurde. Es ist sehr beliebt. In einem fünfbändigen Brockhaus von 1971 hat es in einem Abschnitt über Berlins Geschichte die folgende Version. »Die gemeinsame Verwaltung der Militärbefehlshaber geriet seit 1947 in Schwierigkeiten, die sich 1948 seit der Währungsreform sowie dem Auszug der Sowjets aus dem Kontrollrat schnell verschärften. Am 24.6.1948 verhängten die Sowjets eine totale Blockade der W-Sektoren, die von den Amerikanern (Gen. Clay) durch Einrichtung der Luftbrücke (bis 12.5.1949) überwunden wurde. Die Spaltung wurde vollendet durch die gewaltsame Verdrängung des Magistrats aus Ost-B. (30.11.1948) und die dortige Konstituierung eines eigenen Magistrats.«
~~~ Somit hatten die bösen Kommunisten die Spaltung betrieben. Geht man im Internet etliche Treffer zum Suchbegriff »Luftbrücke« durch, liest man zu 95 Prozent nichts anderes, Wikipedia (Stand Mai 2009) eingeschlossen. Die vertragswidrige »Währungsreform« seitens der Westalliierten vom 20. Juni 1948 wird bestenfalls schöngeredet, meistens gar nicht erwähnt. Sie verstieß gegen das Potsdamer Abkommen; sie war die entscheidende Spalterin. Da die sowjetischen BesatzerInnen befürchten mußten, Ostberlin werde von Unsummen entwerteter Reichsmark überschwemmt, sahen sie sich gezwungen, sämtliche Verkehrsverbin-dungen von und nach Westberlin zu sperren. Ihr Angebot, die WestberlinerInnen mit allen lebensnotwendigen Gütern zu versorgen, wurde selbstverständlich ausgeschlagen. Nahezu sämtliche Nachkriegsmaßnahmen der Westalliierten waren auf Spaltung, Antikommunismus und Schüren der Kriegshysterie angelegt, wie etwa Albert Norden in seinem Buch So werden Kriege gemacht! von 1950 nachweist. Ein neutrales Gesamtdeutschland mit der Hauptstadt Großberlin war nie erwünscht. Das heißt, die »Rosinenbomber« säten vor allem Zwietracht. Nebenbei erwies sich die Berliner Luftbrücke als mächtige Konjunkturspritze für westliche Flugzeugfabriken und Benzingroßhändler – und als »ein großes strategisches Übungsfeld«, das »alle früheren Erfahrungen mit der Luftversorgung im Krieg … völlig über den Haufen geworfen hat«, wie die Londoner Times im Februar 1949 jubelte. Laut Ralph Hartmann* wurde diese Einschätzung unter anderem vom Nazigeneral Hans Speidel geteilt, nachdem er sich in Konrad Adenauers »Sicherheitsberater« verwandelt hatte.
~~~ Kritische Darstellungen sucht man auch im Literaturverzeichnis des Wikipedia-Artikels vergeblich – beispielsweise jenes Buch von Albert Norden, das 1968, überarbeitet und stark erweitert, schon in 4. Auflage erschien. Für Norden zeigen die Tatsachen, »daß alles Gerede über Blockade und Aushungerung der Westberliner bewußt Verleumdung, Erfindung und Provokation war. All die Beschränkungen, die die Westberliner damals ertragen mußten, die Verdunkelungen und Stromsperren von 1948/49, die zeitweilige Massenarbeitslosigkeit« – all das gehe auf das Konto der westlichen Marschroute, nicht Verständigung sondern Konfrontation zu suchen. Trägt Norden zu dick auf? US-Präsident Truman skizzierte die Marschroute in seinem Mittsommerbericht 1948 ohne Zweifel verklausulierter. Norden zitiert von Seite 45: »Sollte die internationale Spannung nachlassen, dann würden wir unmittelbar auf die Probe gestellt werden, ob unsere Fabrikanten und Verteiler die Preise und Kosten schnell genug anpassen können, um Beschäftigung und Erzeugung ohne ernste Rückschläge aufrechtzuerhalten.« Im Klartext: wer die wirtschaftliche und soziale Krise und den Fall der Profitrate vermeiden will, muß emsig die internationale Spannung schüren. Frieden ist geschäftsschädigend.
~~~ Man hat mich gelegentlich gefragt, woher ich die Überzeugung nähme, von Leuten wie Norden nicht ähnlich belogen und ausgetrickst zu werden wie von seinen Widersachern? Der Journalist und Historiker Norden war hoher SED-Funktionär gewesen. Meine Überzeugung stützt sich auf mehrere Gesichtspunkte. Zunächst kann Norden das, was er »die Tatsachen« nennt, erstaunlich gut belegen. Wer die Geschehnisse, Quellen und Zitate, die Norden anführt, bezweifelt, kann sie also mit Hilfe seiner Angaben überprüfen. Als ausgefuchster Journalist führt er dabei am liebsten gegnerische oder zumindest neutrale Aussagen ins Feld. Beispielsweise läßt er Trumans Eingeständnis von der Politikerin und Schriftstellerin Claire Booth-Luce unterstreichen, die zeitweilig US-Botschafterin in Rom war. Passend zwischen Berlin- und Korea-»Konflikt« sagt sie der großbürgerlichen Pariser Wochenschrift La Vie Francaise am 18. Februar 1949: »Unser Volk will weder Krise noch Krieg, aber wenn es wählen müßte, dann würde es den Krieg wählen.« Es wählte ihn in der Tat unzählige Male. Allein im 20. Jahrhundert dürfte nicht ein Jahr zu finden sein, in dem die Yankees nicht über irgendeinen Landstrich dieses Planeten oder wenigstens einen Quertreiber hergefallen wären. Immer wurden dabei schnöde Gründe wie Öl oder Bananen (United Fruit Company) als Wedel der Friedenspalme ausgegeben.
~~~ Für die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg wird die eingefleischte nordamerikanische Kriegslüsternheit sogar von einem hochdekorierten Generalmajor der US-Marineinfanterie bezeugt, den Norden erstaunlicherweise nicht heranzieht. Dafür taucht er in Arthur Millers Erinnerungen auf.** Smedley D. Butler, Autor des Buches War is a Racket von 1935, erklärte schon zwei Jahre zuvor in aller Öffentlichkeit, während seines rund 33jährigen Militärdienstes, der ihn über alle Kontinente führte, habe er vornehmlich als »erstklassiger Muskelmann« oder »Gangster« für das Big Business, die Wall Street, die Banker gearbeitet. Was die Zeit nach 1945 angeht, müßte eigentlich schon Weiners CIA-Geschichte reichen, die jedem unvoreingenommenen Leser alle Illusionen über Außenpolitik und den Menschen schlechthin rauben wird, die er noch hat. Auf Seite 60 der deutschen Ausgabe (von 2008) ist zu lesen, die Idee mit der separaten Bonner Währungsreform habe niemand anders als Frank Gardiner Wisner ausgeheckt. Er war damals für die »verdeckten Operationen« der jungen CIA zuständig und zählte zu deren stärksten Männern. Angeblich endete er im Irrsinn und erschoß sich 1965 in seinem Jagdhaus.
~~~ Damit habe ich schon den zweiten Gesichtspunkt angesprochen: ich ordne die Vorfälle, die es zu beurteilen gilt, historisch und weltanschaulich ein. Paßt das, was uns Norden erzählt, in mein Vorwissen, empfiehlt er sich also bereits als Gewährsmann. Aber entblöße ich mich damit nicht als vorurteilsbeladen? Man kann es so nennen. Fast jeder Mensch – es sei denn, er zählt zu den Schwammigen, die sich nie festlegen, weil sie im Gehirn statt Rinde nur Schlamm haben – beurteilt das ihm Begegnende durch seine Brille, deren Fassung von Jahr zu Jahr immer klarer, oft auch unumstößlich wird. Weder von der dummdreisten Aggressivität der Eroberer des nordamerikanischen Wilden Westens noch von der Farce jener deutschen »Entnazifizierung«, die schon wenige Monate nach Kriegsende von den pferdehüfigen US-Besatzern und ihrem aus Eiche geschnitzten Adenauer ungefähr so eifrig blockiert wurde wie später angeblich Berlin durch die Bolschewisten, erfährt man ja zum ersten Mal bei Norden. Hinsichtlich der »Entnazifizierung« kann ich beispielsweise Wie wir wurden, was wir sind von Bernt Engelmann (1980) und die Erinnerungen von Heinrich Hannover (1999) und Günther Schwarberg (2007) empfehlen. Statt »vorurteilsbeladen« könnte man meine Haltung allerdings auch »parteilich« nennen. Das wäre ein dritter Gesichtspunkt. In allen Fällen, wo ich nichts oder noch zu wenig weiß, schlage ich mich instinktiv auf die Seite (der Darstellung) der Schwachen, Angegriffenen, Unterdrückten, Betrogenen. Zu diesen zählte in der Nachkriegszeit auch die Bevölkerung der Sowjetzone/DDR. Sie wurde von den Westmächten um ein geeintes, entmilitarisiertes und neutrales Deutschland betrogen.
~~~ Man könnte einwenden, ein auf Verständigung erpichter Mensch müsse damit rechnen, daß auch die Herrschenden oder ihre Sprachrohre zuweilen die Tatsachen, statt sie zu verdrehen, öffentlich anerkennen, also der Wahrheit verpflichtet seien. Damit wären wir bei einem vierten Gesichtspunkt. Meine Antwort lautet: rechnen Sie grundsätzlich damit, von jedem Menschen betrogen zu werden, allerdings insbesondere von Machthabern oder deren guthonorierten Sprachrohren. Dazu zählen laut dem Politikwissenschaftler Jörg Becker (Ossietzky 20/2009) seit Jahrzehnten auch PR-Agenturen. Allein in den jüngsten Balkankriegen der 90er Jahre waren Dutzende von ihnen engagiert. James Harff von der nordamerikanischen Agentur Ruder Finn: »Es ist nicht unsere Aufgabe, Informationen auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen.« Vielmehr gehe es darum, »Informationen auszustreuen und so schnell wie möglich in Umlauf zu bringen, damit die Anschauungen, die mit unserer Sache im Einklang stehen, als erste öffentlichen Ausdruck finden. Schnelligkeit ist hier die Hauptsache. Wenn eine Information für uns gut ist, machen wir es uns zur Aufgabe, sie umgehend in der öffentlichen Meinung zu verankern. Denn uns ist klar, daß nur zählt, was einmal behauptet wurde. Dementis sind dagegen völlig unwirksam.« Als seinen größten PR-Erfolg bezeichnet Harff die Verwandlung der angeblich verfolgten bosnischen Muslime in Juden. So konnte der Westen den riesigen Antifaschismus-Bonus einheimsen, den ja 1999 auch Scharping/Fischer herbeilogen.
~~~ Das Niederschmetternde ist: man muß diese Verlogenheit offizieller Propaganda immer wieder entlarven, obwohl sie eigentlich längst bekannt sein müßte. Ich erinnere nur an ein Märchen aus dem Münchener Revolutionsjahr 1919, das Zeitzeuge Ernst Toller in seinem Buch Eine Jugend in Deutschland erwähnt: die Roten hätten den Leichen von gemeuchelten Gefangenen auch noch die Geschlechtsteile abgeschnitten und sie dann in Kehrichtfässer geworfen. Als man zwei Tage später wahrheitsgemäß erklärte, »in den Fässern hätten Fleischteile geschlachteter Schweine gelegen, niemand sei verstümmelt worden, hatte die erbärmliche Lüge ihre Wirkung getan.« Das Wüten der Weißen in München ist hoffentlich bekannt. Dergleichen Lügen sind heute, 100 Jahre später, kaum noch zu zählen. Dagegen stellen verklausulierte Bekenntnisse der jeweils Herrschenden, wie etwa von Truman, lediglich unumgängliche Ausnahmen dar; die Trumans haben das Problem, schließlich auch ihren Anhängern, Sprachrohrträgern und Kumpanen signalisieren zu müssen, wie der Hase laufen soll. Unverhüllter äußern sie sich unter Umständen lange nach den betreffenden Ereignissen in ihren Memoiren. Diese Äußerungen sind dann der Erziehung des verschlagenen Nachwuchses und der eigenen Eitelkeit geschuldet. Ungefähr dazwischen können wir ein Meeting ansiedeln, auf dem der designierte US-Außenminister John Foster Dulles schon im Januar 1949 vor Schriftstellern in Paris eingestand, hätte man gewollt, hätte man sich mit den Russen in Berlin ohne Zweifel ins Benehmen setzen können, statt die »Rosinenbomber« anzuwerfen.* Man wollte ersichtlich nicht.
~~~ Mit solchen Betrachtungen zieht man sich allerdings unweigerlich das Keulenwort Verschwörungstheoretiker aufs Haupt. Die Bösewichte verlangen nur zu gern von uns, an das Gute im Menschen zu glauben. Nach treuherziger Leseart zockelte der Pharao auf seinem Esel durch die Scharen der Bauersleute, die im Nilschlamm umherstocherten, und rief ihnen zu: »Männer und Frauen, ich habe Lust euch zu knechten, macht ihr mit!?« Brutus ließ den Cäsar zunächst die Schneide seines Dolches prüfen, bevor er diesen unter seinem Gewand verbarg. Fugger schlug seine Gewinn- und Schmiergelderwartungen neben Luthers Thesen ans Kirchenportal. Die Explosion des US-Schlachtschiffes Maine im Hafen von Havanna 1898 löste das Kriegsgeheul der Yankees sicherlich nur aus Versehen aus. Die kleinen Imbisse, die der schillernde Verleger Eugène Merle um 1930 in seinem bei Paris gelegenen Landschlößchen gab, dienten ausschließlich der Anbahnung erotischer Eskapaden. Merles Günstling Georges Simenon laut Steve Trussel: »Alles, was uns gesagt wurde, war falsch. Ich sah Direktoren von Zeitungen, Minister, manchmal sogar Ministerpräsidenten wie Édouard Herriot, mit ihren Augen zwinkern, während sie über all ihre Verschwörungen plauderten. Wie sie über die Ankündigungen und Erklärungen lachten, die sie anderntags der Presse aufbinden würden. In Avrainville erhielt ich meine Ausbildung auf der politischen Bühne. Es ekelte mich ein- für allemal an.«
~~~ Verständlicherweise hüten sich diese nie miteinander verschworenen Führungskräfte davor, ihre Aktivitäten an die große Glocke zu hängen. Deshalb finden auch die Preisabsprachen unserer BranchenführerInnen und die Einigung des SPD-Vorstandes darauf, ob der Wähler eher von einem schleimigen Steinmeier oder einem pockennarbigen Müntefering hinters Licht geführt werden könne, in der Regel nicht in der jeweils beliebtesten Talkshow oder auf sogenannten Pressekonferenzen statt. Die größten Lügenbolde dieses Planeten sind ohne Zweifel die Staaten und ihre sogenannten Organe, einerlei, wer gerade am Ruder steht. Sie verstecken Rüstungsausgaben in Haushaltsposten für Altkleidersammlungen, erklären PfandflaschenanglerInnen und Karteileichen zu ordentlichen Erwerbstätigen, richten in Nordafrika »Friedenslager« ein, die 500 eigene Soldaten nebst einer Landebahn für Kampfflugzeuge beherbergen. Hin und wieder kommt es freilich auch in solchen »Friedenszeiten« zu mehr oder weniger erzwungenen Geständnissen der amtlich bestallten Frisöre. Stuttgarts Innenminister Heribert Rech stellte kürzlich auf einer Veranstaltung in Gechingen fest, zöge er alle seine verdeckten ErmittlerInnen aus den NPD-Gremien ab, würde die NPD in sich zusammenfallen. Im Berliner sogenannten mg-Prozeß, bei dem es um die berüchtigte Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung nach Paragraph 129 geht, mußte zunächst Verfassungsschutzchef Heinz Fromm eingestehen, die »Erkenntnisse« eines wichtigen Informanten und Belastungszeugen beruhten lediglich auf »Hörensagen«; damit hatten sie den Beweiswert von Luft. Dann mußte das BKA zugeben, zwei wortradikale angebliche mg-Aufrufe in dem linken Blatt Interim selbst verfaßt zu haben, um Leute auf die BKA-Webseite zu locken. Diese war als »Honigtopf« präpariert: in der Absicht, lüsterne Besucher identifizieren und vielleicht überführen zu können.
~~~ Ob Falle, Lüge oder sonst eine Täuschung, die Staaten greifen notwendig dazu, um die Herrschaft ihrer Eliten abzusichern. Ohne Betrug ist Herrschaft undenkbar. Denn wer läßt sich schon gern beherrschen? Also müssen die Funktionäre oder Sprachröhren »gute« Gründe für die jeweiligen volksfeindlichen Maßnahmen finden, und deshalb lügen sie. Lüge verwandelt sich in Legitimation. Allerdings sind die lieben Untertanen von der betrügerischen Neigung keineswegs frei. Denn wie alle Staaten, lügen auch alle Menschen. Ersetzen wir »Herrschaft« durch »Macht«, sind auch unsere kleinen alltäglichen Lügen einschließlich Selbstbetrug einbegriffen. Der begnadete Erzähler Tschechow hatte dafür eine gute Nase. Seine Menschen leiden an der Öde, Verstricktheit, Gemeinheit – und Verlogenheit ihres Daseins. In den Erzählungen Die Dame mit dem Hündchen und In der Schlucht wird dies ausdrücklich thematisiert. Sie könnten erst gestern erschienen sein. Wenn die Statistik einmal nicht lügt, dann mit dem oft angeführten Befund, während einer zehnminütigen Konversation belögen sich 60 Prozent aller GesprächspartnerInnen bis zu dreimal. Ich lüge, um besser dazustehen als die anderen. Ich lüge, um meinen Vorteil zu wahren. Ich lüge, um mein Gesicht nicht zu verlieren. Ich bin darauf erpicht glaubhaft zu machen, ich lebte rechtschaffen. Das rede ich mir auch selber ein. Die Lüge ist das entscheidende Werkzeug der Selbstbehauptung, noch vor der physischen Gewalt.
~~~ So gerne sie sich selber etwas vormachen – daß sie das Lügen lieben, wissen die meisten Menschen durchaus. Vielleicht erklärt sich von daher zumindest teilweise die große Nachsicht, die sie ihren prominenten Lügnern entgegenbringen. 2006 erregte vorübergehend eine intern gehaltene, aber an die Öffentlichkeit gedrungene Rede des ungarischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány Aufsehen. In einem »vulgären« Ton räumte der »Sozialist« darin ein, er und seine Partei hätten das Volk in den vergangenen Jahren und im Wahlkampf 2006 nach Strich und Faden belogen, um an der Macht zu bleiben; geleistet hätten sie so gut wie nichts. Es kam zu Krawallen, aber Gyurcsány blieb im Amt bis April 2009. Bei den Europawahlen im Juni gab es allerdings die Quittung: der offen reaktionäre Block, Faschisten eingeschlossen, erzielte sage und schreibe 70 Prozent. Der Fall illustriert das Ammenmärchen, »Sozialisten« seien das kleinere Übel …
~~~ Sicherlich hat der Wunsch der Welt, betrogen zu werden – wie es schon im Narrenschiff des Sebastian Brant von 1494 heißt – noch einige andere Gesichtspunkte. Wo Gewalt angeblich nur in Knüppeln oder Kanonen steckt, erscheint die Lüge als Kavaliersdelikt. Als sanftestes Kissen für unser Gewissen dient dabei die Unterschlagung, können wir uns doch in allen Fällen, wo wir »nur« etwas weggelassen haben, darauf zurückziehen, wir hätten ja gar nicht »direkt« gelogen. Der Zeitgenosse dankt es uns. Die Wahrheit möchte er gar nicht hören, weil sie zu unbequem wäre. Das schließt so manchen Politiker ein, der für frisierte Geheimdienstberichte dankbar ist. Durch Lügen, Fälschungen, Illusionen wird die Welt erträglicher. Vor der Ahnung, unsere spitzen Bemerkungen rissen beim Busenfreund alte Wunden auf, verschließen wir so gern die Ohren wie vor der Nachricht aus Sri Lanka, die elenden, eingezäunten und bewachten Flüchtlingslager für die vertriebenen Tamilen, die gegenwärtig systematisch nach Regierungsfeinden durchkämmt werden, firmierten offiziell als Wohltätigkeitszentren. Auch die oft gehörte Rechnung, im Schnitt bereite einem die Wahrheit mehr Ungemach als die Lüge, ist keineswegs abwegig. Lieber des Kaisers neue Kleider rühmen als mit dem Fingerknöchel auf seine Nacktheit pochen. Die Wahrheit nicht herauszufordern dient der beliebten Konfliktvermeidungsstrategie.
~~~ Die unbequemste Wahrheit ist übrigens die Botschaft, der Mensch sei sterblich; jeder von uns lebe auf den Tod zu. Wie sehr diese Botschaft deshalb verdrängt oder verharmlost wird, ist bekannt. Aber auch das Eingeständnis, sie hätten sich über Jahrzehnte hinweg wie die größten Dummköpfe von ihren Obrigkeiten und Spiegeln »verarschen« lassen, wäre für die meisten StaatsbürgerInnen alles andere als angenehm. Wie stünden sie da, wenn sich plötzlich unwiderlegliche Beweise dafür fänden, 9/11 sei eine Kriegshandlung des US-Imperialismus gewesen? Da lassen wir die sich anschließenden Vertuschungsmanöver lieber unaufgedeckt. Wir wünschen eure Argumente nicht zu hören; sie machen uns Angst.
~~~ Hier bietet sich ein Streiflicht auf unsere Kinderstuben an. Was sehen oder hören wir da? Ein Trommelfeuer aus elterlichen Befehlen, das uns anpaßt. Zum Trost fürs Peitschen tischen uns die Erwachsenen als Zuckerbrot ihre verlogenen »Erklärungen« in Gestalt von Märchen, Horrorgeschichten, Ausreden, Verniedlichungen und erneuten Verboten auf. »Laß das, sonst werden dich Schwarzer Mann oder Außerirdische holen!« Gustav Regler rankt im Ohr des Malchus seine ganzen Kindheitserinnerungen um dieses Phänomen, das mit viel Angst verbunden ist. In der Kommunistischen Partei fand es Knirps Gustav später wieder. Der Verdacht, mit ihr in einen finsteren »Orden« geraten zu sein, kommt ihm während der 30er Jahre. Heuchelei, Mittel-zum-Zweck-Denken, Warnung vorm Gießen von wenn auch wahrem »Wasser auf die Mühlen des Feindes«, Geheimniskrämerei, Inquisition auf allen Ebenen. 1935 wird auf Betreiben von Malraux, Aragon, Ehrenburg, Kolzow und vielen prominenten Liberalen in Paris ein Schriftstellerkongreß im Geiste antifaschistischer Einheitsfront veranstaltet. Als Regler durch seine flammende Ansprache ungewollt das Absingen der Internationale durch das sich geschlossen erhebende Publikum hervorruft, wird er von Genossen wie Johannes R. Becher, Alexander Abusch und durch die Genossin Anna Seghers scharf zurechtgewiesen und als Saboteur beschimpft. Reglers Rechtfertigung auf der Zellensitzung, die Aktion sei doch spontan »aus dem Herzen heraus« erfolgt, nennt die Autorin des Siebten Kreuzes »sentimentalen Quatsch«. Parteivertreter Abusch, später zeitweilig DDR-Kulturminister, greift ihr unter die Arme: »Revolutionen haben nicht spontan zu sein … Wir sind in einer Periode der Tarnung. Wer die Tarnung aufdeckt, ist ein Konterrevolutionär.«
~~~ Viele Werdegänge, ob nach links oder rechts, deuten darauf hin, daß unsere Kleinen durch das lügenhafte Verfahren nicht besser, vielmehr an dieses Verfahren gewöhnt werden. Man startet oder schluckt dann auch »Rosinenbomber« oder einen »Aufbau Ost«. 1996 bekennt der damalige Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD), in Wahrheit seien die fünf Jahre Aufbau Ost »das größte Bereicherungsprogramm für Westdeutsche« gewesen, das es je gegeben habe. Man läßt die »Drohnen« ausfliegen, stellt im eigenen Keller »Honigtöpfe« auf, verrät den Freund, belügt die Gattin. Sie tritt an die Stelle unserer lieben Mami. Sperber erinnert in seinem Buch über Adler (von 1970) daran, wie rasch des Säuglings Hilfsschrei, der ihn ursprünglich vorm Hungertod bewahren soll, zum beliebten Erpressungsmittel in völlig anderen Sachen wird. Das nennt man auf deutsch die Kunst der Verstellung. Nur mal kurz gebrüllt – schon schenkt uns Mami Aufmerksamkeit oder ein Überraschungsei oder auch nur die Genugtuung, uns als Machthaber fühlen zu können. Im zarten Knabenalter erlernen wir dann die Kunst der Auslegung. Reicht es nicht zu einer Laufbahn als PolitikerIn, können wir unsere kleinen Makel und Schandtaten wenigstens im Rahmen unseres Freundeskreises zu segensreichen Eigenschaften oder Handlungen umbiegen, indem wir sie »rationalisieren«, wie es freudianisch heißt.
~~~ Sperber führt dafür ein köstlich schlichtes Musterbeispiel an. Frau A. will Freundin B. ein Stück der Resttorte anbieten, kann aber den Schlüssel zur Speisekammer nicht finden. Kaum ist B. mit vielen tröstenden Worten verschwunden, fällt A. wieder ein, wo der Schlüssel liegen könnte: sie verzehrt den Leckerbissen ohne Gewissensbisse selbst. Für Anspruchsvolle hält Sperber eine andere Variante bereit. Nun wird die vergebliche Schlüsselsuche von Frau A. nur gespielt, weil sie gegen Gewissensbisse ob ihrer Eigennützigkeit und Niedertracht ausreichend geschützt ist. SkeptikerInnen gehen deshalb davon aus, alle unsere Bushs und Abuschs hätten auch die Suche nach dem Schlüssel zum Heil der Menschheit lediglich vorgetäuscht, um der irdischen Speisekammer möglichst nahe zu sitzen.
~~~ Mit Sperber erhebt sich hier ein letztes Problem: Hat man sich selbst betrogen – wie durchschaut man das dann selbst? Es handelt sich natürlich um das Problem unserer Befangenheit – die vom verbreiteten Glauben an »Willensfreiheit« geleugnet wird. Sperber empfiehlt, zum Zwecke des Durchschauens unserer selbst den Blickwinkel zu wechseln. Üben wir uns darin, die Warte anderer Menschen, ungewöhnlicher Meinung, kluger Bücher – kurz Distanz einzunehmen, stellen sich unsere Glaubensartikel und Selbstbilder oft in enthüllendem, tadelndem Licht dar. Allen Ergebnissen moderner Gehirnforschung fern, scheint Sperber davon überzeugt, diesen Spielraum zum Blickwechsel hätten wir und er genüge auch. Offenbar konnte ihn darin auch das berühmte klassische Schulbeispiel für Paradoxe oder Teufelskreise (Zirkelschlüsse) nicht beirren. Es ist die Aussage Alle Kreter lügen – geäußert von einem Kreter.
∞ Verfaßt um 2010, kräftig gekürzt
* Ralph Hartmann, »Historische Lappalien«, Ossietzky 14/2008
** Arthur Miller, Zeitkurven, Fischer-TB-Ausgabe 1989, S. 332 ff
Lieber KO, neuerdings muß ich mir ein Büro mit zwei Pferdenarren teilen. Ich bin schon bald ein wandelndes Lexikon für Schritt, Trab, Galopp und so weiter. Jetzt legen sie mir ans Herz, meinem Siebenjährigen ein Shetlandpony zu kaufen – falls Sie nicht im Bilde sind: letztlich nichts anderes als ein etwas aufgeblähter Kurzhaardackel. Würde ich es aber so nennen: plumper Kurzhaardackel, wäre ich binnen einer Woche aus dem Büro gemobbt. Noch befremdlicher ist ihr Wort für die Anweisungen oder Befehle, die der Reiter seinem Untertan via Gewichtsverlagerung, Schenkeldruck, Zügelzug, manchmal auch Gerte oder Peitsche zu erteilen hat. Sie nennen es reiterliche Hilfen, ungelogen! Ja, wenn ich meinem Buben im Rooter klammheimlich das Internet sperre und ihm morgens statt Popcorn Reißzwecken ins Müsli mische – ist das dann eine gelungene Erziehungsbeihilfe ..? Ergebenst Ihr Markus R., Treffurt.
~~~ Lieber Herr R., die ZweibeinerInnen sind der verlogenste Schlag, der seit der Altsteinzeit auf diesem Planeten herumläuft. Der Kulturphilosoph Friedell behauptet, in der griechischen sogenannten Antike, oft von sogenannten Demokraten in den Himmel gehoben, hätte die Verlogenheit bereits die tollsten Blüten getrieben. Die bekannte Schreckensherrschaft der Französischen Revolution wurde nicht etwa von Oberschurken wie Robespierre, Danton und Saint-Just angeleitet, vielmehr von einem 12köpfigen Wohlfahrtsausschuß … Das klang doch kaum nach den vielen tausend Köpfen, die rollen mußten. Man munkelt bereits, das nächste rotgrüne Bundeskabinett werde sich, zwecks Gewinnung der wahlberechtigten Wandersleute, Talfahrtausschuß nennen. Wer sich weigert, an der Talfahrt der deutschen Volkswirtschaft teilzunehmen, kommt erst einmal in Schutzhaft, und zwar ohne Fernsehen und Handy. All diese Hilfen sind also Hüllwörter – nur wird dieser korrekte Begriff, Hüllwort, im Rahmen der nächsten Rechtschreibreform verboten. Ob Sie sich dann von Ihrem Gehalt noch Reißzwecken leisten können, lieber Herr R., darf bezweifelt werden. Schließlich sinnt Ihr Arbeitgeber unentwegt auf Kostendämpfung, nimmt somit eifrig Lohnraub mit Samthandschuhen vor.
~~~ Ähnlich häßlich und fehlleitend wie die eben gestreifte faschistische Schutzhaft dürfte der angeblich in antifaschistischem Geiste bemühte Holocaust sein. Erwin Chargaff, damals schon seit Jahrzehnten in New York City ansässig, nennt diese Wortprägung 1983 (in seinem Büchlein Kritik der Zukunft) »dumm«; sie sei »dem amerikanischen Fernsehmisthaufen entsprossen. So etwas sollte keinen Namen haben, denn Namen erzeugen Fächer, in die man das zum Vergessen Bestimmte zu den Akten legt.« Damals bürgerte sich das überseeische Kunst- und Schlagwort – das die gnadenlose Verfolgung der Juden im Faschismus meint, übrigens unter Ausklammerung anderer Opfergruppen – gerade auch im Deutschen ein. Inzwischen ist jeder, der unter Aufbietung von neun Buchstaben den »Holocaust« beklagt, automatisch auf der Seite der Guten. Um was es eigentlich geht, braucht er ja nicht unbedingt zu wissen. Alle Hüllwörter sind auf Ablenkung, Irreführung, Verdummung angelegt.
~~~ Vielleicht darf ich noch auf eine Abart des Verhüllens hinweisen, das Verniedlichen. Mein kinderreicher Nachbar bekam ein schwarzes Kätzchen geschenkt, das begreiflicherweise Puma hieß. Kaum war es jedoch drei Tage im Haus, rief alle Welt es Pumi. Unter diesem Namen wird es nun verhätschelt, am Schwanz gezupft oder in die Seite getreten, je nach dem. Eine Tante von mir meldet sich am Telefon stets mit »Hier ist die Moni«, obwohl sie einem knapp 80jährigen Schlachtroß gleicht. Mein Neffe Emil ist, wie so viele, in die gegenwärtige deutsche Außenministerin vernarrt und spricht beim Skat in der Kneipe nur noch von seinem Baerböckchen. Durch Verniedlichung werden die Dinge und Zustände vereinfacht und sozusagen gleichgeschaltet. Dadurch werden sie erträglicher und handhabbarer. Drückt jedem ein Handy in die Hand, und jeder hält sich für einen Gott.
∞ Verfaßt 2023, für Blog-Rubrik Kummerkastenonkel
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