Donnerstag, 9. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 23
Krieg, Montevideo – Literaturbetrieb
Krieg, Montevideo – Literaturbetrieb
ziegen, 10:47h
Einige deutsche AußenseiterInnen liebäugeln mit Uruguay – sicherlich ein hübsches Ländchen, übrigens an der südamerikanischen Atlantikküste gelegen, mildes Klima, keine Riesengebirge, die ausgedehnten, Campos genannten Steppen vielleicht inzwischen etwas baumarm, aber in denen wohnt sowieso kein Mensch. Diesen Seitenhieb verdanke ich dem Brockhaus-Eintrag über Montevideo, Uruguays Hauptstadt. Sie habe 1985 rund 1,25 Millionen EinwohnerInnen gezählt, und das seien 42 Prozent der Landesbevölkerung gewesen. Heute wird die Gesamtbevölkerung, laut Internet, auf 3,44 Millionen beziffert. Dabei könne Montevideo, als Ballungsraum, bereits 1,97 Millionen EinwohnerInnen vorweisen. Narrt mich meine Rechenkunst nicht, sind das rund 57 Prozent. Gut die Hälfte des Landes tritt sich somit allein in Montevideo auf die Füße. Das Internet wehrt natürlich sofort ab: im Vergleich sei Montevideo die südamerikanische Großstadt mit der höchsten »Lebensqualität«. Ja, sicher. Hongkong oder die Hölle dürften noch schlimmer sein.
~~~ Man macht sich selten klar, daß die sogenannte Industrialisierung (= Kapitalisierung) des 18./19. Jahrhunderts ganz wesentlich auch eine Verstädterung war. Mottek beschreibt das im zweiten Band seiner Wirtschaftsgeschichte (S. 218–23) unmißverständlich. Die Kapitalisierung der Gutshöfe machte zahlreiche TagelöhnerInnen und HäuslerInnen überflüssig. Die städtischen Fabriken wiederum entzogen dem dörflichen Hausgewerbe und den dortigen Handwerksbetrieben den Boden. Folglich blieb den Landlosen und Proletarisierten nur der Weg in eben diese städtischen Fabriken. Zufällig wurden damals auch wie der Teufel Chausseen und Eisenbahnstrecken gebaut. Da konnte man einen Teil der Erwerbslosen erst einmal günstig einsetzen – und wenn sie fertig waren, rauschten sie gleich dreimal so schnell in die Städte, und ein Löwenanteil aus den Dörfern folgte ihnen zudem auf den Fuß. Man könnte glatt von der Völkerwanderung des Industriezeitalters sprechen. Unterschlagen wir aber nicht die rund 2,5 Millionen Deutschen, die um 1850 nach Amerika auswanderten, ob nach Montana oder Montevideo.
~~~ Mottek gibt sogar Zahlen über das preußische Berlin. Es sei zwischen 1820 und 1870, also in nur 50 Jahren, von rund 200.000 auf gut 800.000 EinwohnerInnen angewachsen. Das ist eine Vervierfachung, ganz schön happig. Heute hat Berlin 3,75 Millionen EinwohnerInnen, darunter betrüblich viele Bürokraten. Gewiß laden Großstädte oder Ballungsräume, von allen anderen Gebrechen einmal abgesehen, geradezu dazu ein, sie zu bombardieren und in Trümmerwüsten zu verwandeln. Trotzdem nehme ich an, sie werden ihre jeweiligen Länder eher durch jene anderen Gebrechen verwüsten, etwa durch Schmutz, Lärm, Seuchen, Verbrechen und all den Hader, den sich die lieben StädterInnen untereinander bereiten. Sie erdrosseln sich eigenhändig, was soll man sie da noch bombardieren? In diesem Fall bestünde ja doch, wie ich kürzlich schon sagte, die Gefahr, die Elite setzt die eigenen Produktions- und Verkaufsstätten und die eigenen Sprößlinge aufs Spiel.
~~~ Nein, wir stehen wahrscheinlich auch in der Kriegsführung an einer »Zeitenwende«: sie wird auffallend niederträchtiger und abscheulicher. In den jüngsten Wochen häuften sich Anschläge auf Staatsmänner. Die Waffen sind eben inzwischen so ausgefeilt oder »präzise«, daß man sich fast beliebig die Oberhäupter unerwünschter Rebellen oder Rivalen beziehungsweise die kinderreichen Familien von palästinensischen Führern herauspicken kann. Eine ferngesteuerte Drohne, zwei oder drei Raketen – weg sind sie. Vielleicht war das klassische linke Verdammungsurteil, Soldaten seien Mörder, in der Tat ein bißchen leichtfertig. Aber man wußte es nicht besser, weil die Kriegsgeschichte, soweit ich sehe, erst im Lauf der Postmoderne zur Mordgeschichte wird. Die kaum zählbaren Mordanschläge von CIA, Mossad, KGB und dergleichen bis 2007 kann man bei Tim Weiner nachlesen. Dann kam »Hausneger« Barack Obama ins Weiße Haus, um die Drohneneinsätze prompt beträchtlich zu steigern. Die jüngsten Mordanschläge werden Sie morgen wieder Ihrem Nachrichtenportal entnehmen können. Falls Sie noch kein Ziel für Drohnen sind.
~~~ Ja, wenn das Wörtchen wenn nicht wär! Hätten es die Angelsachsen 1945 trotz Stalins gegenteiligem Wunsch geschafft, Deutschland in Teilstaaten zu zerlegen, sähe die Welt inzwischen womöglich angenehmer aus. Jetzt hat Putin den Salat. Die Angelsachsen bedachten es noch einmal und sagten sich: ein fettes Deutschland als Prellbock und Kanonenfutterlieferant gegen unsere »bolschewistischen« Rivalen ist doch viel günstiger. Und so geschah es leider. Dabei hätte man Baerbocks niedersächsische Mama, die die Natur sehr liebte, in einem zerlegten Deutschland sicherlich (aus Hannover) in die vorsichtshalber eingezäunte Lüneburger Heide locken können. Dort hätte die kleine Annalena nach Herzenslust im Sand gespielt, das Trampolin zum Quietschen gebracht und wütend auf ihrem Möbius-Band herumgetrampelt, weil es um keinen Preis auf ihren Dickkopf passen wollte. Jetzt spielt sie mit dem Feuer. Mit einem für uns alle.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 26, Juli 2024, letzter Absatz importiert
Das Städtchen Oberndorf am Neckar lebt traditionell vom Schwerverbrechen. So unverblümt drückt sich Brockhaus natürlich nicht aus. Er erwähnt lediglich die »Herstellung von Waffen«. Hielte es ein in Oberndorf urlaubender Brockhaus-Redakteur mit meinem Vorwurf, könnte ihn einer von den 14.600 Einwohnern, die auf Gedeih und Verderben von den ortsansässigen Firmen Mauser und Heckler & Koch abhängen, leicht zu einem kleinen Streitgespräch herausfordern. Der Einheimische hat nämlich jede Wette ein »überzeugendes Argument mit durchschlagender Wirkung« im Rucksack, wie eine Firmenwebseite das Sturmgewehr HK437 in der Koseform nennt.*
~~~ Während Mauser bereits mit Nazi-Erfahrung aufwarten kann, ist Heckler & Koch erst nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet worden. Zum Glück gab es in der Folgezeit zahlreiche unbedeutendere Kriege, deren Waffenbedarf sich angenehm summierte. So darf sich Heckler & Koch inzwischen zu den fünf größten Herstellern von Pistolen und Gewehren weltweit zählen. Nach böswilligen Berechnungen linker KritikerInnen werden mit Waffen von Heckler & Koch Stunde für Stunde weltweit vier Menschen erschossen. Natürlich nur für gute Zwecke. Neben den Polizeien und Armeen zahlreicher Nato-Staaten, Bundeswehr und Bundeskriminalamt eingeschlossen, beliefert der schwäbische Fachbetrieb wahrscheinlich auch die eine oder andere Söldnerfirma. In den USA hat er allein drei Zweigstellen. Damit dürfte klar sein, Deutschland hat mit diversen Amokläufen und Kriegen in Nordamerika, Nahost oder Afrika nichts zu tun.
~~~ Gründervater Edmund Heckler, bei Mauser und auf einer Esslinger Maschinenbauschule ausgebildet, kam zwar vorzeitig um, jedoch nicht durch Waffengewalt, wie mancher glauben könnte. Dem Schwarzwälder Boten zufolge** erlag er im Sommer 1960 mit 54 Jahren einem schnöden Herzinfarkt. Den Zeitraum um 1940, wo Heckler noch am ehsten das Opfer einer verirrten feindlichen Kugel aus einer Kalaschnikow oder einer Mauser-Pistole hätte werden können, läßt Bote S. Blocher, der Verfasser des Gedenkartikels, unerschrocken im Neckarnebel. Wir erfahren lediglich, Heckler habe es damals bis zum Oberingenieur der Leipziger Hugo Schneider AG gebracht, wobei er auch »maßgeblich« am Aufbau neuer Produktionsstätten beteiligt gewesen sei – vielleicht für Unterhosen? Im Frühjahr 1945 sei Heckler, inzwischen 39, »in seine am Boden liegende Heimatstadt Oberndorf« zurückkehrt. Wahrscheinlich war Schwaben von einem Erdbeben heimgesucht worden. Blocher ziert sich sogar, das bekannte Kürzel jener Aktiengesellschaft anzuführen, HASAG – ein Rüstungsbetrieb, der mit Geschichte schrieb, auch in der Beschäftigung von Zwangsarbeitern. Die feine Gesellschaft hatte mehrere Zweigwerke in Sachsen, Thüringen und Berlin – zwei oder drei davon hat, nach verschiedenen Quellen, in der Tat Heckler aufgebaut und dann auch geleitet. Der pfiffige Schwabe rannte nicht über entlegene Schlachtfelder; er war, für die heimische Wehrmacht unentbehrlich, Lieferant.
~~~ Blochers Artikel ist mit einem erstaunlich ungünstig wirkenden Porträtfoto garniert, das den Mitgründer der Oberndorfer Waffenschmiede (offiziell 1949) eher als einen Biedermann zum Fürchten zeigt, obwohl er in den ersten Nachkriegsjahren hauptsächlich Nähmaschinen herstellen ließ und auf manche Hausfrauen und Mütter möglicherweise, kleinmündig, schmallippig und profillos, wie er geraten war, einen vertrauenerweckenden Eindruck machte. Vielleicht wurde er eben von diesen 1956 auch noch in den Gemeinderat gewählt. Diesmal vertrat er nicht die NSDAP, in die er am 1. Januar 1940 aufgenommen worden war. Von Hecklers familiären Verhältnissen verrät Blocher nichts, von Hecklers seelischen ganz zu schweigen. Was dessen Mitstreiter Koch und Seidel angeht, hatten sie ebenfalls schon Erfahrungen bei Mauser – und im Faschismus gesammelt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 28, Juli 2024
* https://www.heckler-koch.com/de/Produkte/Milit%C3%A4r%20und%20Beh%C3%B6rden/Sturmgewehre/HK437, Stand 2024
** S. Blocher, https://www.schwarzwaelder-bote.de/inhalt.oberndorf-a-n-im-hauptquartier-der-sorgen.4c2f294c-ea52-4a7d-9636-27cbc1025864.html, 1. Juli 2010
Zu den Gebrechen in Tim Weiners CIA-Geschichte zählt die wiederholte Anführung des US-Albtraums Pearl Harbor, ohne diesem jemals auf den Zahn zu fühlen. Der berüchtigte japanische »Überraschungsanfgriff« (so auch Brockhaus) vom 7. Dezember 1941 auf den hawaiischen US-Flottenstützpunkt geht damit als bare Münze durch. Er zerstörte die Flotte und sorgte für rund 2.500 Tote. Nebenbei bestand die Flotte »zufällig« zu einem Gutteil aus veralteten Schiffen, die ohnehin bald ausgemustert worden wären. In Wahrheit hatte es sich keineswegs um eine Überraschung gehandelt, jedenfalls nicht für die Bosse im Weißen Haus, Washington D.C. Das deutet sogar Brockhaus zaghaft an, wenn er seinen Eintrag mit dem Hinweis schließt, der »im einzelnen kontrovers diskutierte Vorgang (z.B. hinsichtlich der Frage, ob Angriffsort und -zeitpunkt der US-Regierung bekannt waren)« habe in den Staaten »zu einmütiger Unterstützung der Politik des Päsidenten F. D. Roosevelt« geführt. Es war um das Eingreifen in den Zweiten Weltkrieg gegangen. Die US-Rüstungsbosse und ihre weiße Pappnase Roosevelt wünschten es – und da die brutale Falle auf Haweii funktionierte, bekamen sie es auch.
~~~ Diese Sicht wurde um 200o entschieden durch ein dickes Buch des nordamerikanischen, kriegserfahrenen Journalisten Robert B. Stinnett untermauert.* Spätestens damit dürfte sie unwiderlegbar sein. Eine gute Zusammenfassung des Werkes lieferte das Online-Magazin Schattenblick im Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe 2003. Deren Autor merkt auch an, die damals mächtige US-Friedensbewegung sei als »Isolationismus«, als »krankhaft« also verteufelt worden. Deshalb mußte der Elektroschock Pearl Harbor her. Was in der Besprechung weitgehend fehlt, sind die breitgefächerten Kriegsinteressen der USA.** Dieses Versäumnis des Rezensenten gilt freilich mehr noch für Buchautor Stinnet, der im Grunde, gerade so wie Tim Weiner, ein braver Yankee ist. Nennt der Rezensent Stinnets Werk »ungemein spannend«, kann ich nur bedingt beipflichten. Meines Erachtens ist es, für Laien, viel zu ausführlich und dadurch streckenweise langatmig geraten. Das schließt unnötige Wiederholungen ein. Jedenfalls hätte ich viele Einzelheiten und Belege kurzerhand in den Anhang (für Fachleute) verbannt. Damit will ich freilich nicht an Stinnets forscherischen Verdiensten rütteln. Insofern ist seine Hartnäckigkeit bewundernswert.
~~~ Ich picke noch ein paar Leckerbissen heraus. Der Plan für die Falle war bereits ein gutes Jahr früher, im Oktober 1940, von dem Kapitän und Nachrichtenoffizier Arthur H. McCollum in einer streng geheimen Denkschrift umrissen worden. Als Stinnet dieses »Memo« 1998 dem inzwischen betagten Funkaufklärungsoffizier Homer Kisner unterbreitete, habe dieser mit »ungläubiger Empörung« reagiert. Kein Mensch in der Marine würde es übers Herz bringen, Kriegsschiffe und Seeleute vorsätzlich einer Gefahr auszusetzen. »Hätte ich von diesem Plan gewusst, ich wäre direkt zu Admiral Kimmel gegangen und hätte ihn gewarnt.« (S. 99) Aber eben dies wurde bis zur letzten Minute verhindert. Stützpunktchef Kimmel wurde deshalb in der Tat von dem japanischen Angriff »überrascht«. Man hatte die eigene Abwehr ausgehebelt, wie es offensichtlich 2001 neuaufgelegt worden ist, nur diesmal in der Luft.
~~~ Ein Gegenstück zu Kisner war der Funkaufklärungsoffizier Joseph Rochefort, eine echte Charakterruine. Nach Kriegsende habe er befunden: »Es war ein recht billiger Preis, den wir für die Einmütigkeit der Nation bezahlen mussten.« Zufällig hatte Rochefort, ein bedeutender Mitverschwörer, aufgrund seiner »Überarbeitung« am 6. Dezember für das Wochenende des Angriffs (7. Dezember morgens) freigenommen. Sein Haus habe rund 16 Kilometer vom Stützpunkt entfernt in den Hügeln von Honolulu gelegen (S. 323 + 352). Jedenfalls ging McCollums »genialer« Plan auf. Der Kongreß erklärte bei nur einer Gegenstimme schon am Montag dem 8. Dezember, die Staaten befänden sich mit Japan im Kriegszustand. Drei Tage später wurde das auf Deutschland und Italien ausgeweitet. Die Gegenstimme kam von der Abgeordneten Jeannette Rankin (1880–1973), einer Farmers- und Lehrerstochter aus Montana, dazu Biologin und Sozialarbeiterin, bekannte Frauenrechtlerin und Friedenskämpferin. Sie hatte bereits 1917 gegen den Kriegseintritt gestimmt (S. 405), mit 56 anderen. Noch 1968 soll sie mit einigen tausend Frauen gegen den Vietnamkrieg demonstriert haben. Dort, in Indochina, landeten die Yankees (1964) mit der Falle des angeblichen Überfalls des Vietcongs in der Tonkin-Bucht einen weiteren Erfolg. Aber sie verloren diesen abscheulichen Krieg trotz erheblicher Übermacht. Und erfreulicherweise sieht inzwischen alles danach aus, daß sie endlich dem Untergang geweiht sind. Die nordamerikanischen FallenstellerInnen, meine ich.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* Robert B. Stinnett, Pearl Harbor, USA 200o, deutsche Ausgabe Ffm 2003
** Zu diesen siehe etwa Randolph → Bourne und → Widerstand, Maquis
Wie sogar Brockhaus in seinem Eintrag über den berühmten Sacco-Vanzetti-Fall erwähnt, gab der amtierende Gouverneur von Massachusetts Michael S. Dukakis am 23. August 1977 eine Art Ehrenerklärung für die beiden aus Italien eingewanderten, anarchistisch gesinnten Arbeiter ab, die 1927 als angebliche Raubmörder hingerichtet worden waren. Das Verfahren gegen sie sei eindeutig unfair gewesen und habe in einem Klima der Ausländerfeindlichkeit und der Intoleranz stattgefunden, deshalb müsse das Gedenken an sie hochgehalten werden, meinte der Staatschef. Eine »Rehabilitierung«, wie Brockhaus meint, oder gar ein Freispruch war das allerdings nicht. Wahrscheinlich wird die Frage, ob Ferdinando »Nicola« Sacco (36) und Bartolomeo Vanzetti (39) im August 1927 in Charlestown, Massachusetts, schuldbeladen oder unschuldig auf dem Elektrischen Stuhl saßen, der sie ins Jenseits beförderte, auch nie zu klären sein. Die Meinungen sind geteilt, wobei die Zweifel an ihrer Schuld, wie es aussieht, überwiegen. Die Ungereimtheiten und Widersprüche etwa zwischen Zeugenaussagen sind zahlreich, Fälschungen von Beweismitteln wahrscheinlich. Etliche beteiligte Juristen gestanden später ihre eigenen, rassistischen oder antikommunistischen Motive mehr oder weniger deutlich ein.
~~~ Der Fall schlug schon in den 1920er Jahren Wellen der Kragenweite Dreyfus-Affäre und Reichstagsbrand. Mit den Büchern über ihn könnte man einen Leuchtturm mauern. Der US-Komponist Marc Blitzstein wollte ihnen um 1960 noch ein Opern-Libretto hinzufügen, doch dieses Vorhaben scheiterte an seinem eigenen gewaltsamen Tod. Blitzstein war übrigens von der Unschuld der angeblichen anarchistischen Raubmörder überzeugt. Den beiden war damals im wesentlichen ein bewaffneter Überfall vom April 1920 in South Braintree, Massachusetts, vorgeworfen worden, bei dem ein Lohnbuchhalter und ein Wächter der Schuhfabrik Slater & Morrill Shoe Company erschossen worden waren. Beute: rund 15.000 Dollar. Der Prozeß, die Hetze gegen »Staatsfeinde« und die Bücher haben schätzungsweise 150 Millionen Dollar verschlungen.
~~~ Diesseits der Schuldfrage müssen sich fühlende und denkende Wesen wie Blitzstein selbstverständlich gegen die Todesstrafe verwahren. Im Gegensatz zu einem Gerichtsverfahren läßt sich, bei neuer Beweislage, ein hingerichtetes Leben nicht wiederaufnehmen. Eindeutige Beweislagen sind ohnehin seltener als Schmerztabletten ohne Nebenwirkungen. »Abschreckung« verfing noch nie. Im übrigen kommt jedes Todesurteil der verbotenen Folter gleich, sofern der Richter nicht sofort nach dem Verkünden zum Revolver greift, um sein Urteil auf der Stelle im Gerichtssaal zu vollstrecken. Wie Friederike Freiburg 2007 feststellt, sind in den USA allein seit 1973, also in rund 30 Jahren, 124 Todeskandidaten begnadigt worden, nachdem sich, meist auf Betreiben von Angehörigen und Menschenrechtlern, ihre Unschuld herausgestellt habe. Für einige andere kam die Einsicht der Behörden zu spät.* Wenn jeder von diesen 124 lediglich drei Jahre in der Todeszelle geschmort haben sollte, hätten wir schon 372 Jahre ununterbrochener Folter beisammen, sogar für nichts und wieder nichts. Man braucht die Nächte dabei keineswegs ausnehmen. Mit dem Schuß des Richters wären die Verurteilten besser bedient gewesen. Schließlich hat damals beim Überfall auch der Lohnbuchhalter nur drei oder 30 Sekunden um sein Leben gezittert.
~~~ Im Zusammenhang mit dem Weltsheriff und Oberbrandstifter aus dem Weißen Haus bietet es sich an, auf einen jüngsten Internet-Beitrag** Michael Schneiders hinzuweisen. Der Berliner Schriftsteller hängt ihn an der Sommerloch-Ankündigung der Nato auf, in Deutschland wieder Langstreckenwaffen zu stationieren. Kein Scherz! Schneider ist zurecht entsetzt. Er ruft die ganz überwiegend verschwiegenen oder verharmlosten Verluste und Verdienste der SU im Abwehrkampf gegen das faschistische Deutschland ins Gedächtnis. Das hatte Rußland angegriffen. Nebenbei rückt Schneider die Fälschungen zum Jugoslawienkrieg und dem Krieg in der Ukraine zurecht; der zweite habe Jahre vor dem Angriff durch die SU 2022 begonnen. Aber alle deutschen Nachkriegsgenerationen (die 68er ausgenommen) gefallen sich in der dreisten Umkehr, Deutschland als Opfer russischer Bedrohung hinzustellen und einen »Revanchekrieg« vorzubereiten. Der Aufsatz ist gut geschrieben und vom Thema her unbedingt wichtig. Man kann ihn vielleicht schon jetzt den deutschsprachigen Aufsatz des Jahres nennen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 32, August 2024
* Friederike Freiburg, »Sacco und Vanzetti / Die Macht des Zweifels«, http://www.spiegel.de/einestages/sacco-und-vanzetti-a-946780.html, 22. August 2007
** Michael Schneider, »Das große Karthago«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=118765, 27. Juli 2024
Bekanntlich ist der Mensch von alters her Explosivexperte. Den sozusagen philosophisch-kriminellen Gesichtspunkt des Sprengens klammert Brockhaus jedoch zumindest in diesem Eintrag aus. Ich habe dabei im Auge, daß der Mensch nicht nur Gewalttäter, sondern auch Selbstschädiger ist. Im Notfall schreckt er nicht davor zurück, seine eigenen, mühsam errungenen Werke sowie sich selber in die Luft zu sprengen. Er würde sich lieber ein Bein abhacken als etwa dem einrückenden Feinde eine wunderbare, mordslange Eisenbahnbrücke zu überlassen. Also weg damit. So erging es zum Beispiel 1945 der rheinpfälzischen Marnheimer Brücke*, kurz bevor die Alliierten einfielen. Aus Görlichs Stadtgeschichte von Wolfhagen (Nordhessen) ist Ähnliches zu erfahren. Am 30. März 1945 jagten die Nazis die Anlagen der »Lufthauptmunitionsanstalt« im Garsterfelder Holz in die Luft. Gebäude, Wälder und andere Werte waren vernichtet. »Den Rest besorgte die anschließende Plünderung« – durch die Einheimischen und die sogenannten FremdarbeiterInnen. Ich sagte ja schon, das eigene Hemd … Aus den hellen Stoffballen für Pulverbeutel nähten sie sich zum Beispiel Hochzeitskleider. Das Leben geht weiter … Für den Landwirt Johannes Kranz aus Philippinendorf allerdings nicht. Bei der Sprengung waren nämlich zahlreiche Granaten und Blindgänger in die Landschaft geschleudert worden. Kranz erlitt bei der Feldbestellung »schwere Verletzungen, an denen er starb«.**
~~~ Immerhin gibt Brockhaus noch den Hinweis, »Unterwassersprengungen« dienten unter anderem zur Tieferlegung von Flußbetten und dergleichen. Im September 2022 dienten sie dazu, russisch-deutsche Erdgas-Pipelines in der Ostsee unbrauchbar zu machen. Die Suche nach den Tätern wurde zielstrebig sabotiert. Jetzt gibt es aber starke Anhaltspunkte dafür, daß es Experten aus dem osteuropäischen Land waren, das wir seit vielen Monaten mit Waffen und Euros vollstopfen.*** Sozusagen zur Belohnung für den Ärger, den es uns mit der Sprengung von Nord Stream bereitet hat. Möglicherweise ein Novum in der Weltgeschichte?
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Pfrimmtalviadukt#/media/Datei:Pfrimmtalviadukt01.JPG
** Paul Görlich, Wolfhagen. Geschichte einer nordhessischen Stadt, Wolfhagen/Kassel 1980, S. 164
*** »Nord-Stream-Sprengung – neue Enthüllungen bringen die Bundesregierung in Zugzwang«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=119718, 16. August 2024
Könnte das Berliner Kabinett Scholz die Ukraine nicht mit Starfightern beliefern? Das sind beziehungsweise waren Kampfflugzeuge der US-Firma Lockheed, die unsere Bundeswehr ab 1961 bezog. Der Großeinkauf führte zu Ausredennot beim damaligen »Verteidigungsminister« Franz Josef Strauß im Rahmen der sogenannten Starfighter-Affäre, an die sich heutige wehrdienstwillige Gymnasiasten wahrscheinlich gar nicht mehr so recht erinnern können. »Von insgesamt 916 Maschinen«, schreibt Brockhaus, seien bis 1987 sage und schreibe 269 »verloren« gegangen. Sie waren abgestürzt. Mitten im Frieden! Dabei seien 110 Piloten ums Leben gekommen.
~~~ In gewissen Volkskreisen war damals von diesem Kampfflugzeug als »Witwenmacher« die Rede, kein übler Spitzname. In der Tat fuhren die Witwen gar nicht so schlecht, erstritten sie doch allein vom Hersteller, wohl um 1975, durch eine Sammelklage rund sieben Millionen Dollar. Das war damals viel Geld. Renten und Zuwendungen von Lebensversicherern bekamen sie natürlich auch noch. Es hatte sich also gelohnt, daß sie einst von irgendwelchen Schurken gezwungen worden waren, sich mit einem Jägerpiloten zu verheiraten.
~~~ Die Riesen-Korruption in industriellen und politischen Kreisen, die damals im Spiel war, erwähnt Brockhaus mit keinem Wort. Mir jedoch fehlt dazu gerade die Lust. Man darf jedenfalls ziemlich sicher sein: von sämtlichen horrenden Kosten des Großeinkaufs trugen sowohl Lockheed wie Bonn nicht eine müde Mark. So etwas wird immer restlos auf andere »Marktteilnehmer-Innen«, somit die Volkswirtschaft und das Volk im ganzen abgewälzt. Was ich allerdings vielleicht noch merkwürdig finden darf: Soweit ich sehe, werden nirgends auch nur zwei oder drei verletzte oder getötete Opfer der Abstürze erwähnt, die es doch nach aller Wahrscheinlichkeit – bei dieser eindrucksvollen Absturzrate von fast einem Drittel der 916 Bundeswehr-Maschinen – auch am Boden gegeben haben muß. Vielleicht steht dazu in einigen Büchern ein bißchen. Vielleicht streuten sich diese Schäden auf dem Lande ähnlich vorteilhaft wie Mist zum Düngen und wie die Abstürze selber in zeitlicher Hinsicht. Man stelle sich einmal vor, die 269 Jäger wären alle auf einen Schlag und an einem Ort heruntergekommen, etwa im Bonner Regierungsviertel! Ich nehme allerdings an, man legt die Trainingsrouten der Piloten eher über Arbeiterviertel und Naturschutzgebiete.
~~~ Mindestens einen recht deftigen Unfall hatte es übrigens durchaus gegeben, nämlich am 22. Mai 1983 in Südhessen, wie die Welt dankenswerterweise erst unlängst berichtet hat.* Bei einer Flugschau unweit des Frankfurter Rhein-Main-Flughafens stürzte ein kanadischer Starfighter ab. Er fiel auf die Bundesstraße 44 und dort wiederum genau auf das Auto der fünfköpfigen Familie des Pfarrers Martin Jürges, der auch noch ausgerechnet als Friedensfreund bekannt war. Alle fünf verbrannten. 500 Meter weiter waren übrigens rund 25.000 Leute im Stadtwald versammelt, um den Wäldchestag zu feiern. »Viele entgingen also nur um Haaresbreite dem Feuertod.« Das ist natürlich wieder so eine Welt-Verschwörungstheorie. Schließlich geht es nicht an, das ganze moderne Verkehrs- und Militärwesen in die Nähe des hellsten Wahnsinns zu rücken, der je durch unsere astronomischen Riesenteleskope beobachtet worden ist.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* Martin Klemrath, https://www.welt.de/geschichte/article245379568/Starfighter-Die-brennenden-Flugzeugtruemmer-trafen-ausgerechnet-eine-Pfarrersfamilie.html, 22. Mai 2023
Der polnische Augenarzt Ludwig Zamenhof (1859–1917) ist vor allem als Erfinder und Entwickler der Plansprache Esperanto berühmt. Selbst Bob Dylan kennt ihn, wie man auf den Seiten 308–11 seines schon früher herangezogenen jüngsten Prosawerkes sieht.* Dylan hält die Plansprachen-Bemühungen zurecht für gescheitert. Bekanntlich fochten sie gegen den »Sumpf der Mehrdeutigkeiten«, so Dylans Bild für die Vielfalt im Reich der natürlichen Sprachen. Sie setzten auf eine schlicht gezimmerte globale Zweitsprache, die ausschließlich jener Information und angeblichen Verständigung dient, die wir inzwischen schon weitgehend den IT-Übersetzungs-Robotern überlassen. Auch das war selbstverständlich ein schwerer Mißgriff. Vielleicht sollte ich ein wenig ausholen.
~~~ Zu den klugen Köpfen, die jene Bemühungen einst begrüßten, zählte Arthur Koestler, Essayist und Erzähler zugleich. Er betont**, Kriege würden um Worte geführt. Als köstliches Beispiel bringt er die unterschiedliche Bananen-Behandlung bei japanischen Affen derselben Art. Zwar brächten diese Unterschiede Unverständnis, zuweilen sogar Mißbilligung – nicht aber Krieg hervor. Denn was dazu fehlt, ist die Sprache, die das jeweilige Brauchtum ideologisieren würde. Unter uns Menschen dagegen verhält es sich gerade so. »Jede Sprache wirkt als starke bindende Kraft innerhalb der Gruppe und als ebenso starke trennende Kraft zwischen Gruppen.« Daher wäre eine »globale Sprache« durchaus zu begrüßen, glaubt Koestler allem Anschein nach. Es gebe freilich nur eine Handvoll »unerschütterlicher Esperanto-Anhänger«, die nicht ins Gewicht fielen. So vor 45 Jahren. Meine spätere Anmerkung dazu: Jetzt spricht alle Welt Englisch. Ist aber damit das Problem der Lüge, Auslegung, Fälschung entfallen? Wankt deshalb die Macht der großen PR-Einflüsterer? Nicht die Bohne wankt sie.
~~~ Der bekannte Journalisten-Ausbilder und Buchautor Wolf Schneider hebt zunächst das Erfreuliche hervor.*** Esperanto habe lediglich einen Artikel (la) und 16 grammatische Regeln, die keine Ausnahmen kennen. Somit dürfte es uns eigentlich viel Beugungsärger und das leidige Geschlechterproblem, außerdem die Rechtschreibfolter weitgehend ersparen. Es ist überhaupt vergleichsweise kinderleicht zu erlernen, schließe ich aus verschiedenen Internetquellen. Schneider beklagt jedoch »die zwei meistkritisierten Beschwerlichkeiten des Esperanto«, nämlich (slawische) Akzente und umständliche Deklination des Eigenschaftswortes. Somit mildert Esperanto die wesentlichen Nachteile natürlicher Sprachen, nämlich Undefinierbarkeit, Manipulierbarkeit, unklarer Bezug zur Realität, höchstens ab. Gelänge es ihm aber sogar, »unwandelbare Eindeutigkeit« herzustellen, wäre es eine tote Sprache, wie das Latein. Die vorhandenen Welthilfssprachen seien nicht deshalb wenig erfolgreich, weil sie schlecht konstruiert sind, sagt Schneider, sondern weil sie konstruiert sind. Damit fehlt ihnen Geschichte, kultureller Hintergrund, Volksgut. Ein Musiker würde vielleicht sagen, es fehlten ihnen soundsoviele wichtige Schwingungen, und so ähnlich äußert sich Dylan dann auch.
~~~ Hätten wir jene von Koestler vermißte »globale Sprache«, hätten wir immer auch Herrschaft, stellt Schneider sinngemäß fest. Weltsprachen wie Latein und Englisch verdankten ihre Ausbreitung dem Kolonialismus; sie siegen nur durch »Übermacht«. Hitler und Stalin verfolgten Esperanto-AnhängerInnen. Sie fürchteten ungehemmten Gedankenaustausch, jüdische Einsickerung, »Spionage«, nehme ich an; sie wollten, daß die Welt deutsch oder russisch spricht, denkt, gehorcht. Sollte eine Universalsprache die natürlichen Sprachen verdrängen können, wäre es mit einer »gewaltigen Verarmung« verbunden, glaubt Schneider. Schließlich sei eine Brechung der Deutungsmacht der Universalsprache nur von alternativen, unabhängigen Sprachen zu erwarten. Die Universalsprache würde sich hüten, sich selbst in Frage zu stellen.
~~~ Damit liegt er nicht so schief. Überlegen Sie einmal, welche Verarmung uns mit der heutigen Universalsprache Englisch aufgebürdet worden ist. Erwin Chargaff beklagte die Dürftigkeit des Nordamerikanischen wiederholt.**** Er mußte es wissen, denn er war ein scharfzüngiger Essayist, der etliche Jahrzehnte in New York City lebte, weil er an der Columbia-Universität Biochemie lehrte.
~~~ Ich beschließe den Ausflug, indem ich mir, an Schneider gelehnt, den folgenden Hinweis erlaube. Gemeinsamer Sprachbesitz verbürgt weder Einmütigkeit noch Gleichberechtigung. Das wird von Ost-/Westberlin und zahlreichen Bürgerkriegen bewiesen. Hier kommen der Einheitssprache Interessenkonflikte in die Quere. Von den Hitlers, Parks und Willy Brandts werden diese Konflikte selbstverständlich nach Kräften geleugnet oder vertuscht. Diese Leute wünschen Einheit der lieben großen Sprachfamilie – unter ihrer Führung.
~~~ Damit noch einmal zurück zu Bob Dylan. Der Star ist sich über diverse »Verständnisbarrieren«, so die Übersetzerin, durchaus im Klaren. Überraschenderweise stellt sich jedoch im Lauf seines hochtrabend so genannten Philosophiebuches heraus: Verständnis ist ohnehin keineswegs das, was ihm vor allem am Herzen liegt. Wahrscheinlich gilt das in seinem Fall für jede Textgattung. Bei Zamenhof stellt er (S. 310) zu den Songs ausdrücklich fest, wie alle anderen Kunstwerke auch, strebten sie gar nicht danach, verstanden zu werden. Für sein Philosophiebuch dürfte das Gleiche gelten, unternimmt Dylan doch alles, um uns das Verständnis zu erschweren. Er liebt das Überladene, er steht auf Wiederholungen. Striche man allein seine überflüssigen Wiederholungen oder Tautologien, hätte das Buch bereits 100 Seiten weniger. Dylan muß alles mindestes doppelt, besser dreifach sagen. Im Kapitel über den Song The Pretender bescheinigt er dem Titelhelden zum Beispiel: »… inzwischen hat er kapituliert, die weiße Fahne geschwenkt.« Nur eins von beiden wäre ihm zu billig gewesen.
~~~ Mit Dylans Meditation über den Pretender – ein Blender vielleicht – hätten wir überhaupt ein Musterbeispiel für seine Art zu schreiben. Hier wie anderswo wird bald deutlich, Dylan möchte vor allem möglichst viele hübsche Worte unterbringen. Denn so arm ist das Nordamerikanische ja nun auch wieder nicht. Er ist also gleichfalls ein Prahlhans; er gibt mit seinem reichen Wortschatz an. Nur trägt diese Anhäufung nicht im Geringsten zum Verständnis des behandelten Songs bei. Sie sorgt im Gegenteil für Vernebelung. Dylan klingelt unglaublich gern mit Worten – nun ja, schließlich ist er selber Musiker. Fragt man sich freilich nach zwei Seiten Klingeln, was dieser Pretender eigentlich für ein Kerl gewesen sei, macht man ein langes Gesicht. Jedem zweiten Psychogramm von Dylan fehlt die Kontur. Das sind wirre, häufig unbrauchbare Analysen. Oft sind die Texte oder zumindest Absätze sowieso austauschbar. Dylans Schilderung paßt auf so gut wie alles. Einen Charakter vor unsere Augen stellen, ist nicht seine Sache. Dafür hätte er Tschechow statt Zimmermann heißen müssen.
~~~ Dylan möchte uns vor allem verblüffen. Aufklärung, Erkenntnisgewinn, Bildung darf man nicht von ihm verlangen. Dazu ist er auch viel zu unkritisch. Zum Medium Film zum Beispiel, das er öfter anführt, weiß er nicht eine Bemerkung, die einen gewissen fragwürdigen Zug an diesem imperialen Medium andeuten könnte. Er schätzt das Kino eben. Darin ist er aufgewachsen. Prompt pflastert er die Hälfte seines Philosophiebuches mit hübschen, meist farbigen Fotos aus der Glitzerwelt, die er ja auch selber vertritt. Entsprechend stellt er uns vorwiegend mehr oder weniger große Stars vor. Das sind die Leute, deren überragende Bedeutung zuerst Filmmagnat Adolph → Zukor erkannt haben soll. Das sind die Helden, die Verwegenen, die Rätselhaften. An denen gibt es nichts zu erkennen. Entweder man verehrt sie oder man ist verloren für sie.
~~~ Jemand hätte Dylan einmal erzählen müssen, gute ProsaschreiberInnen wie Thoreau, Orwell, Chargaff, FG Jünger, Marlen Haushofer hätten sich stets vorrangig um Klarheit bemüht. Ihr hatte der treffende, anschauliche, persönlich gefärbte Ausdruck zu dienen. Es hätte nichts genützt. Jemand hätte ihm von der »Maurerregel« des französischen Philosophen Alain erzählen müssen. Darüber hat der Franzose am 19. November 1923 einen Propos von zweieinhalb Druckseiten verfaßt, für die Zeitung, die ihn als Kolumnist angeheuert hatte. Das Handwerk wende nie einen Stein zuviel auf, heißt es darin etwa. Diesen handwerklichen Geiz benötige auch der Schriftsteller. Das Schmückende suche er nicht; es werde bestenfalls zufällig gefunden. Sie finden die Betrachtung in dem Sammelband Spielregeln der Kunst, Fischer-TB Ffm Mai 1985.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
* Bob Dylan, Die Philosophie des modernen Songs, deutsche Ausgabe München 2022
** Arthur Koestler, Die Armut der Psychologie, Bern 1980, S. 324/25
*** Wolf Schneider, Wörter machen Leute, Neuausgabe München 1986, bes. S. 320–23
**** Erwin Chargaff, Alphabetische Anschläge, Stuttgart 1989, bes. S. 60–65
Siehe auch → Bourne Randolph (US-Kriegsgegner) → Brandt, Müller (Demonstrant) → DDR, Tuchscheerer (Samenzellen) → Ehre, Pergaud (Knopfkrieger) → Größe, Proksch (Blut) → Immerwahr (+ Haber) → Kassel, Panzer → Nobel Emil (Sprengstoff) → Scheele Meta (Frauen) → Selbstmord, Lee (Soldaten veralten) → Band 4 Mollowina Luchse Kap. 6 (Wehrübung)
Das publizistische Wirken des bekannten westdeutschen linken Journalisten und Buchautors Erich Kuby (1910–2005) ist mir sicherlich lieber als die Propaganda Kubas, des DDR-Schriftstellers. Brockhaus widmet Kuby immerhin 15 Zeilen. Dessen mit Abstand erfolgreichstes Werk Rosemarie übergeht das Lexikon allerdings. Zur Zeit von Brockhaus-Band 12 (1990) war Kuby noch putzmunter. Er starb mit 95 in Venedig, wo er, mit seiner zweiten, beträchtlich jüngeren Ehefrau Susanna Böhme-Kuby, seit ungefähr 1980 vorwiegend lebte. Mit ihr zeugte er sogar noch ein Kind. Mit seiner ersten, 1938 geheirateten Frau Edith Schumacher, einer Bildhauerin, hatte er auch schon vier Kinder. Das geht natürlich ins Geld. Aber für ein Leben als Bettler oder Mönch war Kuby ohnehin ungeeignet. Selbst sein bissiger Bericht (von 1951) über eine Cocktailparty auf dem Landsitz des angeblich sozialistischen Marschalls Tito verrät, daß Kuby persönlich für die Verlockungen erlesenen Genußreichtums keineswegs unempfänglich war. Das bestätigte ihm später (in einem Nachruf) auch sein Kollege aus der stern-Redaktion Günther Schwarberg. Kuby sei gewiß »der einfallsreichste Journalist« gewesen, hätte es freilich »mit den großen Namen und der feinen Lebensart« gehabt. Kubys gutes Gespür für den Lebenswandel der Oberen Zehntausend geht selbstverständlich auch aus jenem erfolgreichen Buch über eine Prominenten-Gespielin (Rosemarie) aus Frankfurt/Main hervor. Andererseits betont er in seiner dickleibigen Aufsatzsammlung von 1989, neben dem »aktiven Musizieren« sei es ihm immer wichtig gewesen, handwerklich zu arbeiten, so am elterlichen Gehöft in Bayern, später an seinem ehemaligen Fischerhäuschen auf einer jugoslawischen Adriainsel. Damit habe er versucht, der Lebensfremdheit entgegenzuwirken, die sehr viele seiner Zunft auszeichnet.
~~~ Kuby war gut verdienender Redakteur unter anderem bei Süddeutscher Zeitung, Spiegel, stern gewesen, doch den meisten Gewinn und Ruhm trug ihm das bereits erwähnte Buch Das Mädchen Rosemarie von 1958 beziehungsweise dessen Verfilmung (mit Nadja Tiller, Mario Adorf, Gert Froebe, Peter van Eyck) aus demselben Jahr ein. Die 24jährige »Edelhure« Rosemarie Nitribitt war im Jahr zuvor in Frankfurt/Main ermordet worden. Von diesem bis heute unaufgeklärten Kriminalfall angeregt, prangerte Kuby Habgier, Heuchelei und Doppelmoral in Ludwig Erhards Wirtschaftswunder-deutschland an. Im Vorwort zu meiner DDR-Ausgabe von 1988 erwähnt der Autor, sein zumeist als Roman bezeichneter Wurf über Rosemarie habe damals binnen zweier Jahre 17 Übersetzungen erlebt, »sogar ins Japanische«. Doch für mein Empfinden mangelt es diesem Text über die Sinnlichkeit an Sinnlichkeit. Er fesselt wenig. Vermutlich brachte er es vor allem deshalb zum »Renner«, weil die KäuferInnen auf den »geilen« Inhalt scharf waren, den sie sich (gemäß der zeitgenössischen Prüderie) von ihm versprachen. Wenn ja, wurden sie enttäuscht. Mehr noch, verärgert das Buch sogar durch einige Längen. Stark ist es in den Zügen Betrug, Erpressung, Industriespionage und Kalter Krieg, die es dem um ein »Isoliermattenkartell« gerankten Mordfall verleiht. Diese Freiheit nimmt sich Kuby, doch den Mord selber (und die TäterInnen) spart er aus, was erneut nur zur Enttäuschung des Lesers beitragen kann. Wahrscheinlich krankt sein Werk über die Prostituierte Rosemarie an dem Umstand, weder Fisch noch Fleisch zu sein, also weder Reportage noch Roman.
~~~ 1989 brachte Kuby eine umfangreiche Sammlung journalistischer Arbeiten unter dem Titel Mein ärgerliches Vaterland heraus. Etliche Beiträge zeugen von bemerkenswerter Hellsicht, so wenn Kuby 1950 vor den drohenden Verheerungen massenmedialer »pausenloser Unterhaltung« warnt, 1954 die Anfälligkeit des »Konsumenten« für die »Perfektion der Technik« beklagt, ab 1958 wiederholt das fraglose Inkaufnehmen von jährlich mehreren Tausend Autoverkehrstoten erwähnt und 10 Jahre später auf eine westliche Doppelmoral hinweist, die Revolutionen plötzlich liebenswert findet, sofern sie im Prager Frühling ausbrechen. Die xte Auflage davon haben wir neulich in Kiew erlebt. Andererseits unterlaufen Kuby naturgemäß auch ein paar Fehleinschätzungen. Die gravierendste (Kubys Lieblingsfremdwort) betrifft den sozialdemokratischen russischen Wolf im Schafspelz, Gorbatschow. Dafür machte er sich über die Ikone vieler Sozialisten oder Trotzkisten Tito keine Illusionen, wie ich bereits angedeutet habe. Seine eigenen Vorstellungen von einer »alternativen« Gesellschaft bleiben verschwommen. Im Grunde seines Herzens dürfte er jedenfalls nie Umstürzler, vielmehr Reformist gewesen sein. Auch Kuby wirbt dafür, sich für die jeweiligen Übelchen stark zu machen, wie ich sie einmal genannt habe. 1987 versteigt er sich sogar zu diesem interessanten Vergleich: »Also was tun? Kleinere Brötchen backen, wenn das große Brot nicht gebacken werden kann? Ist das Opportunismus? Natürlich, aber kein egoistischer, jedenfalls generell nicht. Wer als Grüner mitmischt, tut es nicht, weil es angenehm ist, Abgeordneter oder gar Minister zu sein; er tritt in die SS ein, um das Schlimmste zu verhüten. Ein böser Vergleich? Gewiß. Bös, aber nicht falsch!«
~~~ Für mich hinkt dieses Urteil nur, weil Leute wie Baerbock oder Habeck, in den Fußstapfen Joschka Fischers, inzwischen selbstverständlich durchaus MachtliebhaberInnen, PfründejägerInnen, Karrieristen sind. Aber Faschisten sind sie auch schon fast. Was Kuby angeht, ist er immerhin nie selber in den zahlungsfreudigen Staatsapparat »eingetreten«. Er schrieb und veröffentlichte bis kurz vor seinem Tod. Seine Kolumne »Der Zeitungsleser« erschien noch 2003 im Wochenblatt Freitag. Er hielt bis zuletzt an der vertrauten Schreibmaschine fest, schickte die Texte allerdings per Fax an die Redaktion. Weiter heißt es, er habe bis zu seinem Tod (2005) gezeichnet und aquarelliert. Von Krankheiten, Gebrechen, Schmerzen wird nichts berichtet. Selbst die Bombardierung Venetiens, das seit Jahrzehnten Sezessionsgelüste zeigt, durch die Nato blieb ihm erspart.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 24
Landesverrat
Mertens, Carl (1902–32), zunächst Hauptmann, dann Publizist. 1924 war ein Buch des pazifistisch gesinnten Mathematikers und Statistikers Emil Julius Gumbel mit dem Titel Vier Jahre politischer Mord erschienen. Gumbels Befund wurde, laut Wolfram Wette*, noch im selben Jahr von einer Denkschrift aus dem Reichsjustizministerium unter Gustav Radbruch (SPD) bestätigt. Danach waren in Deutschland verübt worden: »354 Morde von rechts; Gesamtsühne 90 Jahre und 2 Monate Einsperrung, 730 Mark Geldstrafe und 1 lebenslängliche Haft.« Dem standen gegenüber: »22 Morde von links; Gesamtsühne: 10 Erschießungen, 248 Jahre und 9 Monate Einsperrung, 3 lebenslängliche Zuchthausstrafen.« Daher die Rede vom Rechtsstaat. Leider hat sich an diesem krassen Mißverhältnis grundsätzlich bis zur Stunde kein Deut geändert. Es merkt nur so gut wie keiner, weil auch die unablässige Verteufelung des »Linksextremismus« blieb – während vom »Verfassungsschutz« gehätschelte Kräfte wie der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) für die erforderlichen Leichen sorgen.
~~~ Die meisten politischen Morde jener Zeit gingen auf das Konto verschiedener illegaler, oft Freikorps genannter militärischer Verbände, war die Reichswehr doch »offiziell« durch den Versailler Vertrag stark beschnitten worden. Man spricht allgemein von der Schwarzen Reichswehr und ihren Fememorden. Über diese blutigen Umtriebe und das entsprechende Truppenklima legte der 1902 in Kassel als Sohn eines Polizeikommissars geborene Carl Mertens 1925 in einer Serie der Weltbühne Aufsehen erregende Enthüllungen vor. Er ergänzte sie im Jahr darauf mit einem Buch über die illegale Wiederaufrüstung Deutschlands mit dem Titel Die deutsche Militärpolitik seit 1918. Mertens wußte, wovon er sprach. Trotz einer Buchhändlerlehre war er ins väterliche Fahrwasser geraten, nämlich Polizeischüler und dann Offizier der Schwarzen Reichswehr geworden, zuletzt Hauptmann. Aufgrund moralischer Skrupel »stieg er jedoch aus« und ging zum kritischen Journalismus über. Es hagelte Drohungen seitens der Ex-Kameraden und Anklagen wegen »Landesverrats« seitens des demokratischen Staates. Wette seufzt, weit davon entfernt, die von Mertens namentlich angeführten 40 Fememörder zu verfolgen, deckte die Weimarer Justiz deren Hintermänner und verfolgte nun unerbittlich den Boten, der die schlechte Nachricht überbracht hatte. Auch dieser Mechanismus arbeitet bis heute ungebrochen.
~~~ Einem Haftbefehl (der später wieder aufgehoben wurde) wich Bote Mertens Anfang 1927 ins Exil aus. Über Österreich und die Schweiz ging er nach Paris. Im Januar 1928 reiste er aufgrund der Zusage sicheren Geleits als Zeuge nach Leipzig, wo Hitlers Fahrer und Leibwächter Julius Schreck vor Gericht stand, der übrigens aus der berüchtigten »schwarzen« Brigade Ehrhardt hervorgegangen war. Schon am Bahnhof wurde Mertens von »Nationalsozialisten« angegriffen und verprügelt. Die kurze Spur seines restlichen Lebens verliert sich im Dunkel. Die Lexikon-Zeile, im Oktober 1932 sei der 30jährige Antimilitarist Mertens zwischen Fontainebleau und Paris bei einem Autounfall umgekommen, schreibt auch Wette ab** – ohne Verdacht zu schöpfen oder wenigstens den Mangel an näheren Angaben zu beklagen. Solange der Mangel also nicht behoben ist, sollte man in dem »Autounfall« sicherlich eher einen Anschlag vermuten.
~~~ Immerhin geben Kramer/Wette nützliche Hinweise zu jener Absurdität »Landesverrat/Vaterland«, die ich bereits wiederholt streifte. Für mich zählt sie zu den vielen »großen Sachen«, wie Koestler sie gern nannte. Sie drücken uns aufs Gehirn und gestatten den jeweils Herrschenden, uns in jede von ihnen erwünschte Richtung zu schicken. Der freiheitsliebende Mensch wird seine »Sachen« eher klein halten. Entsprechend wird er überschaubare Lebens- oder Arbeitsgemeinschaften vorziehen, in denen dann auch Gesetzbücher und 300 Bände mit Kommentaren zu den Gesetzbüchern überflüssig sind. Nationalität oder Rasse der Beteiligten sind dabei völlig unerheblich, sofern sie die Freiheitsliebe teilen und gemeinsame Interessen besitzen. Das ist selbstverständlich nicht der Fall, wenn in der betreffenden Gemeinschaft einige Leute darauf pochen, sich als Kapitalisten, Soldaten, BerufspolitikerInnen – oder eben Patrioten zu betätigen. Sie werden bekämpft, sofern sie nicht freiwillig gehen, um sich woanders eine ihnen angemessenere Gemeinschaft zu suchen. Genau nach diesem Muster hätte man 1989/90 die DDR entvölkern sollen. Jede Wette, die Leute zum Auffüllen der entstandenen Lücken wären binnen weniger Monate mit Handkuß gekommen – und zwar »aus aller Herren Länder«.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Helmut Kramer / Wolfram Wette (Hrsg): Recht ist, was den Waffen nützt, Berlin 2004, S. 135 & ** S. 139
Siehe auch → Bontjes van Beek (Antifaschistin)
Lärm
Radio Igel --- Bekanntlich zählt die Stille zu den gefürchtesten Zuständen der Welt. In Büros, Läden, Gast- und Werkstätten pflegt man sich ihrer bevorzugt mit Radios zu erwehren. Da wird dem empfindsamen Polsterer sogar sein Preßlufttacker zum Schutz und Schirm. Mit der wahllosen verblödenden Dauerbeschallung haßt der Polsterer den Zwangsanschluß an jenen »lärmenden Betrieb, den sie hinterher Geschichte nennen«, wie Ernst Kreuder (1954) in seiner Odenwaldmühle schrieb.
~~~ In vielen zähen Kämpfen gelang es mir immerhin, den Lärmpegel unseres Werkstattradios deutlich zu senken. Habe ich eine längere Handnaht zu machen, hole ich mir aus der Schreinerei – wo er über der Kreissäge hängt – den Bügel mit den knallroten Plastikmuscheln an den Enden und stülpe ihn über meine Ohren. Meine Mitgesellen werfen sich vielsagende Blicke zu. Sind sie sämtlich weggerufen worden, quittiere ich dies mit einem erleichterten Hieb auf die Aus-Taste unseres Werkstattradios. Jetzt können mir Werkzeug und Werkstoff ihre Melodien vorsingen. Mein leicht gekrümmter, zierlicher Tapezierhammer spielt Specht. Eine zu teilende Bahn Nessel wird zur Ratsche. Während sich in den Hofgebüschen die übliche Rasselbande aus Spatzen tummelt, eignet sich unser Schuster-Dreifuß als Triangel. Von einem verstorbenen Sattlermeister hieß es, er habe seinen Stiften eingeschärft, wenn draußen einer am Fenster vorbeigehe, dürfe er nicht merken, daß sich hier eine Werkstatt befinde. Taucht jedoch ein Mitgeselle wieder auf, faßt er garantiert nach 20 oder 30 Sekunden gequält schnuppernd zunächst das Werkstattradio, dann mich ins Auge: »Was liegt denn hier wieder für eine bleierne Stille in der Luft!« – »Was hast du denn gegen Stille?« frage ich einmal zurück. Mein Kollege erwidert maulend, das sei doch, als ob man tot sei.
~~~ Immerhin erhärtet er damit einen Befund des kanadischen Klangforschers Murray Schafer. Nach dessen Buch Klang und Krach (1977) genießt die Stille in der modernen Literatur einen ziemlich schlechten Ruf. Die meisten Figuren/Menschen empfinden sie als unangenehm oder gar bedrohlich. Die Stille haucht sie bereits mit der Leichenstarre an. Das Seitenstück der Stille ist ersichtlich die Weile oder das Verweilen. Jeder Stillstand aber kommt unter die Räder unseres hochgerüsteten Fortschritts. Werde ich selber auf Montage befohlen, werde ich vom Igel zum Hasen gemacht. Ob im Firmenwagen, beim Kunden im Wohnzimmer oder auf einer Rohbaustelle: Radio SWF 3, Regenbogen, FFH sind immer schon eher da.
∞ Verfaßt um 2000
Die dürren Angaben zum ostwestfälischer Orgelbauer Michael Oestreich (1802–38) lassen dennoch die Vermutung aufkeimen, sein Lebensweg sei nicht ganz so glatt und gradlinig wie eine Orgelpfeife verlaufen. Er stammte aus einer im Raum Fulda ansässigen Orgelbauer-Sippe, wandte sich aber, mit Ende 20, um 1830 nach Dringenberg (zwischen Paderborn und Höxter), um dem Meister Arnold Isfording als Geselle zur Hand zu gehen. Vielleicht hatte er gewittert, daß der Meister schon 1831 das Zeitliche segnen würde. Oestreich übernahm den Laden des 67jährigen und gleich auch Isfordings Witwe Anna Maria oder Anna Catharina, je nach Urkunde, geb. Waldhoff. Der 31jährige hatte inzwischen die amtliche Befugnis erwirkt, im (preußischen) Regierungsbezirk Minden Orgeln zu bauen, zu reparieren und zu stimmen. Laut freundlicher Auskunft des Dringenberger Heimatvereins war Anna, Tochter eines »Ackersmannes« aus Istrup, günstigerweise erst 29. Vermutlich brachte sie, neben der Werkstatt, auch ihre zwei Kinder mit in die neue Ehe ein. Drei kamen dann noch hinzu. Dafür verlor ihr Mann eine ganze Orgel, wenn man der deutschen Wikipedia trauen darf. Es handelte sich um eine von Oestreich gebaute kleine, transportable Orgel, die er einem Bösingfelder Gastwirt (bei Hameln) als Pfand wegen Zechschulden habe überlassen müssen. Sie wurde nach Oestrichs Ableben umständlich freigekauft und schließlich in der Kirche von Bad Lippspringe (bei Paderborn) untergebracht.
~~~ Die Gründe für Oestreichs Ableben (wahrscheinlich mit 35) schränkt das Dringenberger Kirchenbuch auf »Zehrfieber« ein. So nannte man damals die Tuberkulose. Vielleicht war das Zehrfieber aber vom Höllenfeuer seines Temperamentes und seiner Ehe geschürt worden. Jedenfalls darf man häufige Löschversuche in Kneipen vermuten. Ein Detail macht mich allerdings stutzig: Die Strecke Dringenberg–Bösingfeld. Sie bemißt sich bereits in der Luftlinie (nach Norden) auf 45 Kilometer. Die damaligen Transportverhältnisse berücksichtigt, ist wohl kaum anzunehmen, Oestreichs Stammkneipe sei ausgerechnet von dem erwähnten Pfandnehmer in Bösingfeld betrieben worden. Hatte er am Ende eine Geliebte dort? Und dann mußte er auch noch seine Kleinorgel dahin schaffen, falls er sie nicht sowieso gerade auf dem Pferdefuhrwerk hatte, weil er unterwegs gern musizierte.
~~~ Denkt man genauer darüber nach, sind mit Orgeln noch andere gewaltige Probleme verbunden – Stichwort Lärm. In der hiesigen Puppenfabrikkomunne, in der ich früher wohnte, wurden zuweilen »Workshops« für Schulkinder jeglichen Alters veranstaltet – ein Wunder, daß die bröckligen Ziergiebel über den Treppenhäusern sogar heute noch stehen. Allein 30 Kinder, die in einem geräumigen Innenhof nichts anderes tun, als an, unter oder auf langen Klapptischen ihr Frühstück einzunehmen, haben die Sprengkraft dreier Horst-Lange-Hummeln. Lange verglich 1937 in Schwarze Weide eine schnöde Dorfkirchenorgel mit einer offenbar extrem angeschwollenen Hummel, die ringsum gegen die mit Blei eingefaßten Kirchenfensterscheiben dränge. Kirchenglocken sind dann wahrscheinlich die Hodensäcke Gottes und Satans, während sie miteinander ringen.
~~~ Von daher bin ich unsicher, ob ich den Stadtpfarrer Ulrich Boom aus Miltenberg am Main bewundern soll. Er wurde Ende 2006 für 20 Minuten Glockenläuten mit dem Aschaffenburger Mutig-Preis geehrt. Im Juli jenes Jahres hatten nämlich Neonazis versucht, auf dem Miltenberger Marktplatz eine Kundgebung abzuhalten. Dies vereitelte Boom von der Jakobuskirche aus – über knapp 800 Meter! Ja, das können die Christen eben: Gewalt mit Gewalt beantworten. Wenn sie in einigen größeren deutschen Städten Sturm gegen Moscheen laufen, sollten sich die Minarettsänger vielleicht Musikkapellen mit Verstärkertürmen mieten. Ich kenne deren Wirkung, da ich eine Zeitlang das Vergnügen besaß, schräg gegenüber von einer sogenannten linken Kneipe zu wohnen, die jeden Samstag um 21 Uhr ein sogenanntes Konzert gab. Sobald meine Scheiben klirrten, sah ich zur Uhr um festzustellen, ob die Genossen RockmusikerInnen wieder ihren Verspätungsrekord gebrochen hatten, auf daß sich meine Samstagsnacht noch kürzer gestalte.
~~~ Wie sich versteht, wies das revolutionäre Kneipenkollektiv es entrüstet zurück, seine Konzerte in die Nähe von CIA-Kursen für Lärmterror und akustische Folter zu rücken. In den Händen der Guten werden aus Granaten Schokoladeneier und aus Rammbässen Engelszungen. Im übrigen beobachten wir in der Frage des Lärmes eine Ignoranz, die dem dummdreisten Übergehen aller mörderischen Zivilisationserscheinungen, die nicht dem Corona-Virus gleichen, doch sehr ähnlich ist. Dabei dürften allein die Opfer des Verkehrs, des Chemiekeuleneinsatzes, der Krankenhausinfektion, der Justiz- und Bürokratenwillkür und der imperialistischen Kriege oder »Sanktionen« Tag für Tag, weltweit, in die Hunderttausenden gehen – Tag für Tag. Aber ich will nicht ablenken. Zur Stunde scheint sich der unprogrammgemäß kalte April zu einer Wende in den Sommer zu entschließen. Da müssen wir sofort unsere Waffen schmieren. Die wirkungsvollsten Nachbarterrorisierungsgeräte außerhalb regulärer Schlachtfelder stellen wahrscheinlich Motorsensen dar. Ihr jaulendes, gleichwohl schneidendes Mähgeräusch läßt nie Langweile aufkommen. Sie übertrifft Kettensägen und sogar Zwergtraktoren, die von den Leibesumfängen ihrer LenkerInnen gesprengt werden, während sie auf 12 Quadratmeter Rasen hin- und herfahren. Eine herkömmliche Sense könnte zwar verschlankend wirken – auf die Profitspanne gewisser Industrien jedoch auch.
~~~ Autoren wie Tschechow, Theodor Lessing, F. G. Jünger wiesen bereits vor Jahrzehnten auf den aggressiven Charakter maschineller Geräusche hin. In den völlig berechtigten Lobliedern auf das Handwerkzeug fehlt dieser Hinweis meistens. Das Fauchen einer herkömmlichen Sense ist nahezu einschmeichelnd. Über die schlichte Bügelsäge, mit der ich mein Brennholz zerkleinere, hat sich noch nie ein Schmetterling oder – im Winter – ein Buntspecht bei mir beschwert. Im Bohren und Schrauben bin ich erfreut zur Handarbeit zurückgekehrt. Selbst die Spitzhacke, mit der ich Platz für ein Betonfundament schaffe, geht im Vergleich als Musikinstrument durch.
~~~ Der Kapitalismus haßt das Musische so gut wie die Muße. Daher seine Vorliebe für das schon früher behandelte Explosive. Alfred Nobel, der Panamakanal-Pionier, wußte es: der kürzeste Weg zum Erfolg ist die Sprengung. Leider enttäuscht in dieser Frage E. G. Seeliger. Während sich bei ihm Musik auf Mozart beläuft, kennt er Lärm überhaupt nicht. Auch Stichworte wie Alarm, Glocke, Hundegebell, Krach, Orgel, Sirene wird man in seinem Handbuch des Schwindels (von 1922) vergeblich suchen. Dabei war er jahrelang Lehrer gewesen! Vielleicht litt der Geißler unzähliger Sperren an einer Ohrensperre.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Zum Brockhaus-Eintrag über Lärm fällt mir Jakob Keusen (1966–89) ein. Den kann das Lexikon natürlich leicht übergehen. Aber vielleicht wäre der Düsseldorfer Schlagzeuger, als Gastspieler auch auf der Scheibe Bis zum bitteren Ende der Rockgruppe Die Toten Hosen zu hören, noch berühmt geworden, wenn er mein Alter erreicht hätte? Keusen hatte das Pech, mit seinen akustischen Lebensäußerungen auf einen Mann zu stoßen, den das Leben sowieso schon benachteiligt hatte. Von den Eltern vernachlässigt, fällt Peter F. mit neun Jahren auch noch von einer Treppe; davon behält er ein lahmes Bein zurück, das später zur Hälfte amputiert und durch eine Prothese ersetzt wird. Nach Düsseldorf gekommen, läßt er sich vom Metallarbeiter zum Bürokaufmann umschulen. Nebenbei entwickelt sich der nur 1,65 große Mann zum Ordnungsfanatiker und Rechthaber. Unter seinen Arbeitskollegen ist er unbeliebt.* Zu allem Unglück wohnt er im Dachgeschoß einer ehemaligen Fabrik zufällig über dem Künstlerehepaar Keusen, dessen Sohn Jakob das Trommeln liebt. Trotz der Vermittlungsversuche von Jakobs Mutter Almuth entspinnt sich ein anhaltender Kleinkrieg, in dessen Rahmen der 50jährige Junggeselle schließlich mit zwei Radios arbeitet, die er auf die Treppe hinausstellt, sobald Jakob Keusen auf die Felle haut. Ende August 1989 ist »das bittere Ende« erreicht. Der fast 1,90 große, 23jährige Schlagzeuger stapft mit seinen Trommelstöcken nach oben, um die Radios wieder einmal auszudrehen. F. fühlt sich angegriffen und sticht mit einem Brotmesser zu. Es fährt dem jungen Mann fast genau ins Herz, sodaß er am Fuß der Treppe zusammenbricht und wenig später stirbt. F. bekommt acht Jahre Gefängnis.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
* Gisela Friedrichsen, »Wenn Sie das noch mal machen!«, Spiegel 46/1990: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13501526.html
Siehe auch → Anarchismus, Amphitheater → Hopffgarten (Autobahn) → Waltershausen, Löffler (Mittelalter) → Band 5 Ellen mit voller Kraft (Gartenparty) + Lömmbecks Hütte (Trommeln)
Lebensalter (Klüfte) → Bevölkerungsfrage, Pöhsnick → Bildung, Renard → Wiechert
Will einer die ersten 100 Plätze einer Rangfolge kultureller Erfindungen vergeben, stünde die Leiter, neben Knoten, Schraube, Fahrrad, Schreibmaschine, jede Wette in seiner Liste ganz oben. Überlegen Sie nur einmal: Plötzlich stehen Sie unvermutet unter einer Palme, die mit Kokosnüssen winkt. Wie wollen Sie nun an die verlockende Beute herankommen – ohne Leiter? Schütteln Sie die Palme oder werfen Sie Steine hinauf, fällt Ihnen auch schon eine Kokosnuß – oder der Stein – auf den Kopf, und aus ist die Maus: Schädelbruch. Somit bleibt nur, die Nüsse zu pflücken.
~~~ Brockhaus meint, im Althochdeutschen war die Leiter »die Angelehnte«. Erfreulicherweise bildet er aber auch wichtige andere Leiter-Typen ab, die auf eine erstaunliche Artenvielfalt hindeuten. Was Wunder, wenn im Internet oft Begriffsverwirrung herrscht. Man nennt das Gerät am Palmenstamm Stehleiter, obwohl es doch angelehnt ist. Was wirklich steht, nämlich frei und unabhängig von Stützen, ist die gegrätschte zweischenkelige Leiter, die einem Satteldach ähnelt. Die Leiter mit Stütze ist die Stufensteh- oder Treppenleiter, ein häufiges Hausfrauenunglück. Meisterbetriebe des Handwerks besitzen eine ausziehbare Sprossen-Stehleiter. Der Kaminfeger hängt seine kleine, mit Haken versehene Steigleiter unter dem Schornstein ein, um denselben auch sicher zu erreichen.
~~~ Als Knabe haben mich besonders die Strickleitern gefesselt, die ich zuweilen im Kino an Schiffsbäuchen herabhängen sah. Die Dampfer im Kasseler Fuldahafen waren dafür nicht hoch genug. Meist machten da nur Lastkähne fest, die Flachheit an sich. Die wichtigste Leiter war aber die in Wäldern an Hochsitzkanzeln angelehnte. Sie mußte erklommen werden. Diese Narrheit überlebte ich, während mein Kommissar Köfel einmal den hinterhältig herbeigeführten, für den Jäger tödlichen Einsturz eines Hochsitzes zu untersuchen hatte. Das ist allerdings die Schattenseite aller Erfindungen: Sie bieten niemals ausschließlich Vorteile. Manche Zeitgenossen, ob Faschisten oder nicht, foltern gern. Zum Beispiel drehen sie gefangenen Untergrundkämpfern genüßlich Schrauben ins Fleisch.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
Man möchte sich fast wundern, daß Theodor Lessing immerhin 61 wurde, ehe er 1933 Mördern zum Opfer fiel. Zu den großen Begabungen des jüdischen Gelehrten und Feuilletonisten aus Hannover zählte es nämlich, sich unbeliebt zu machen. Kollege Thomas Mann zum Beispiel hatte um 1910 darauf verzichtet, Lessing zu erschießen. Damals hatte sich eine langwierige Fehde zwischen den beiden an einer scharfen Satire Lessings über den Literaturkritiker Samuel Lublinski entzündet. Gewiß schoß der zumeist vollbärtige Lessing in einer Kehrseite seiner »weiblichen« Nachgiebigkeit öfter übers Ziel hinaus, aber auch Mann, der hochgewachsene, schöne und bereits angesehene Mann aus München, leistete sich in dieser Auseinandersetzung, Axel Schmitt zufolge*, etliche starke, teils unverhohlen antisemitische Gehässigkeiten. Wie einige Autoren vermuten, waren die Ausfälle der beiden Kampfhähne nicht völlig von dem Umstand unberührt, daß Lessing ein paar Jahre zuvor, 1904, als Aushilfslehrer in der Reformschule Haubinda in Thüringen seine erste Ehefrau, die attraktive Blondine Maria Stach von Goltzheim, ausgerechnet an den damaligen Schüler Bruno Frank verloren hatte, der später Schriftsteller und ein Freund der Familie Mann wurde. Der Mensch wandelt allenthalben über »niedrige Beweggründe«, Lessing wußte es wohl. Meist fangen sie im Elternhaus und in der Schule an – im damaligen Hannover Einrichtungen, die der Sohn eines Modearztes und einer Bankierstochter nach eigenen Worten als »die zwei Höllen meines Lebens« erfuhr. Dem undurchsichtigen Scheitern seiner ersten Ehe ging das undurchsichtige Scheitern seiner Schul- und Jugendfreundschaft mit dem späteren Holzhammer-Philosophen Ludwig Klages voraus, der 1899 mit dem »ekelhaften, zudringlichen Juden« bricht. Gleichwohl scheint sich Lessing nie wirklich von Klages‘ engstirnig-dünkelhafter, zugunsten des »Lebens« vorgenommenen Ächtung des »Geistes« gelöst zu haben.
~~~ Nach Medizin- und Philosophiestudien wird Lessing 1908 an der TH Hannover lediglich »Privatdozent«, ohne Lehrstuhlweihen und Gehalt, weil er den Wissenschaftsbetrieb schon zu sehr gegen sich aufgebracht hat. Prompt läßt der angeblich »assimilierte« Jude im Ersten Weltkrieg (Lazarettarzt und Hilfslehrer) die verbreitete Kriegsbegeisterung vermissen, nachdem er bereits in jenem Jahr 1908 in einer Kampfschrift gegen die Geräusche unseres Lebens auf dem Lärm herumgehackt hatte. Das fand man zumindest ziemlich albern. Später erklärt sich Lessing zum Feind Hindenburgs (1925) und hält dafür ArbeiterInnenbildung hoch. Seine zweite Ehefrau Ada war 1919 Leiterin der gemeinsam aufgebauten Volkshochschule Hannover geworden. 1924 verfolgt er den Prozeß gegen den berühmten grausamen Serienmörder (und Polizeispitzel) Fritz Haarmann, Hannover, woraus dann, nach Artikeln, ein Buch entspringt. Lessing rügt zahlreiche Versäumnisse in Ermittlung und Gerichtsverfahren und prangert die allgemeine Heuchelei an: »Dieselbe Menschheit, die nach den Materialschlachten mit fünfhunderttausend Toten ihre Feldherren mit Orden schmückte, ist über einen Mann entsetzt, der vielleicht zwanzig, dreißig Menschen umgebracht hat.« Mit solcher Sichtweise wird man leicht »Kulturpessimist« und entsprechend gescholten. Lessing befürchtet, die »Bestie« heiße nicht Haarmann, vielmehr lauere sie grundsätzlich in jedem notdürftig durch »Zivilisation« gebändigten Menschen und breche in gesellschaftlichen Krisenzeiten leicht wieder aus. Er zählte dann bald zu ihren Opfern.
~~~ 1926 sieht sich Lessing nach anhaltender Bedrohung von rechter Seite aus zunächst gezwungen, seinen Hochschuldienst zu quittieren. Obwohl sein eigener Zionismus durchaus befremdliche »völkische« Züge hat, entfaltet er nun, schon aus Erwerbsgründen, eine breite antifaschistische publizistische Tätigkeit, darunter im Prager Tagblatt. Am 1. März 1933 flüchtet er sich in Begleitung seiner 20jährigen Tochter Ruth in einen Zug, der ihn just in die tschechische Hauptstadt bringt. Seine beiden Töchter aus der ersten Ehe hatte er übrigens genauso alttestamentarisch benannt, Judith und Miriam. Am 10. Mai landen auch die Bücher von Theodor Lessing auf deutschen Scheiterhaufen. Er plant inzwischen, im Verein mit seiner ihm nachgereisten Gattin Ada im westböhmischen Marienbad eine Schule für Kinder jüdischer Emigranten zu eröffnen. In diesem Kurort hat die Familie in der Villa Edelweiß eine Wohnung gemietet, die offenbar nicht im Erdgeschoß liegt, denn am 30. August erblickt die Polizei auf der Gartenseite der Villa eine lange Leiter, die zu den Fenstern des Arbeitszimmers des Schriftstellers und Pädagogen führt. Mit Hilfe der Leiter ist Lessing soeben von den drei sudetendeutschen Nazis Rudolf Max Eckert, Rudolf Zischka und Karl Hönl überrascht und erschossen worden. Sie entkamen zunächst nach Deutschland.
~~~ Lessing hatte die zweifelhaft Ehre, das erste Todesopfer des deutschen Faschismus auf tschechischem Boden zu sein. 1919 hatte er sich in seiner, für Schmitt »ungemein klugen« Schrift Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen über den »frommen Wahn« lustig gemacht, Geschichte spiegele Vernunft, Sinn, Fortschritt, Gerechtigkeit und dergleichen wider. Vielmehr wird sie stets, von Wünschen und Interessen geleitet, konstruiert. In ihr können die Erfolgreichen lesen, sie waren erfolgreich. Das maßgebliche Geschichtsbild über den Autor der Schrift meldete die Hannoversche Niederdeutsche Zeitung, Ursula Homann zufolge**, schon wenige Stunden nach den Schüssen auf ihn: »Mit Prof. Lessing ist eine der übelsten Erscheinungen der Nachkriegszeit aus dem Leben geschieden.«
∞ Verfaßt 2014
* Axel Schmitt, »Ein Januskopf der Moderne«, https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=6637&ausgabe=200312, Dezember 2003
** https://ursulahomann.de/DieWaffeDerKritikVortrefflichGenutztVorSiebzigJahrenWurdeTheodorLessingErmordet/kap001.html, wohl 2003
Lexikon
Renatus Gotthelf Löbel (1767–99) war möglicherweise ein wichtiger Kollege von mir, Lexikograph. Der Sohn eines sächsischen Finanzbeamten hatte zunächst Jura studiert und machte darin (1791 in Leipzig) seinen Doktor. Er warf sich jedoch zunehmend auf Schriftstellerei und Rhetorik. Ab 1796 war er Mitherausgeber und Redakteur eines Conversationslexikons mit vorzüglicher Rücksicht auf die gegenwärtigen Zeiten, das ihn ziemlich bekannt machte. Für ihn reichte es allerdings nur zu drei Bänden, weil er bereits 1799 unter die Erde kam, 31 Jahre alt. Das Werk wurde 1808 von Friedrich Arnold Brockhaus gekauft und stellte damit einen Vorläufer der heutigen Brockhaus Enzyklopädie dar.
~~~ Löbels Todesumstände? Seine Gesundheit? Gar seine sonstigen persönlichen Verhältnisse? Eine komplette Fehlanzeige. Habe ich nichts übersehen, ist die Quellenlage zu Löbel äußerst betrüblich. Selbst in der Sächsischen Biografie wird man mit ein paar statistischen Angaben abgespeist.* Stadt- und Staatsarchivare aus Leipzig machen sich immerhin die Mühe mir mitzuteilen, sie wüßten beziehungsweise fänden leider auch nicht mehr.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://saebi.isgv.de/person/snr/24183
Falls Sie vom Schein-Lexikon noch nichts gehört haben: es macht sich die Form herkömmlicher Nachschlagewerke wie Wörterbuch, (Real-)Lexikon, Enzyklopädie in literarischer Absicht zunutze. Die Lexikon-Form kann dabei mehr oder weniger verfremdet werden. Die Scheinhaftigkeit des angeblichen Lexikons kann offen eingeräumt oder kunstvoll verbrämt werden. Die Nähe zu Fingierungen, Fälschungen, Fakes kann groß oder gering sein. Selbst die alphabetische Anordnung der einzelnen Textstücke halten nicht alle Autoren für unabdingbar.
~~~ In der Spätantike wird die Bezeichnung Lexikon für Wörterbücher der griechischen Sprache verwendet. Das erste deutschsprachige als Lexikon bezeichnete Nachschlagewerk dürfte vom Barockdichter Gotthilf Treuer stammen, der 1660 einen rund 2.000 Seiten starken Zitatenschatz mit dem für Schein-Lexikographen schon wegweisenden Titel Deutscher Daedalus, begreiffendt ein vollständig außgefuhrtes Poetisch Lexicon vorlegt. Es bleibt nicht bei der Poesie. Als Medium, das ein systematisiertes Chaos präsentiert, strebt das Lexikon nach mehr. Es hat System, weil es sich beim Alphabet ohne Zweifel um ein strenges Ordnungsprinzip handelt. Allerdings unterwirft es die Phänomene, die es erfaßt, genauso zweifellos dem puren Zufall, was bedeutet, es löst das Chaos nie auf. Folgt Berta auf Anton, ist nichts über ihre Beziehung oder über ihr Verhältnis zur Umgebung von Xanten ausgesagt. Aber das Ordnungsprinzip Alphabet ist verblüffend aufnahmefähig; nach Ansicht des Aufklärers Denis Diderot und seiner MitstreiterInnen – die als die ersten »Enzyklopädisten« gelten – paßt sogar die ganze Welt hinein. Spätestens hier – in Mitteleuropa um 1750 – mußten sich skeptische und gewitzte Köpfe finden, die mit einem (erstmals wohl von mir so genannten) Schein-Lexikon zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen suchten: einerseits Parodie der vielen fragwürdigen Wissensanhäufungsbemühungen der zivilisierten Menschheit, andererseits Präsentation der ureigenen, mehr oder weniger genauso fragwürdigen subjektiven Welt des Schein-Lexikon-Schöpfers.
~~~ Den Urvater des deutschen Schein-Lexikons haben wir womöglich in Gottlieb Wilhelm Rabener zu sehen. Der sächsische »Aufklärer« wartete 1745 mit einem offensichtlich satirisch gemeinten Versuch eines deutschen Wörterbuchs auf, das verständlicherweise von Lichtenberg begrüßt wurde, der bald darauf mit seinen Sudelbüchern in ähnlicher Richtung ging. Wegweisende ausländische Schein-Lexika waren Ambrose Bierces Wörterbuch des Teufels von 1906/1911 (USA) und Franz Bleis Bestiarium Literaricum von 1920, das die – zumeist berühmteren – Schriftstellerkollegen des Österreichers in Tiere verwandelt. Seeligers Handbuch des Schwindels von 1922 habe ich schon oft genug erwähnt. In jüngster Zeit warteten verschiedene Autoren mit Spezial-Schein-Lexika auf, die sich wahlweise solchen interessanten Fachgebieten wie Fabeltiere und Engel, Träume, Stilblüten, Fiktive Orte, Fiktive Künstlerbiografien, Nie geschriebene Bücher und dergleichen Absonderlichkeiten widmen.
~~~ Leider sind dem Schein-Lexikon-Autor nicht nur in thematischer Hinsicht keine Grenzen gesetzt, sondern auch was die Leichtfertigkeit angeht, mit der er sein Werk arbeitet. Eine alphabetische Anordnung verschiedener Beobachtungen kann selbstverständlich recht bequem sein, indem sich der Autor jede nennenswerte Mühe erspart, andere Zusammenhänge herzustellen. Er zieht der Durchdringung die Reihung vor. Das Erzählen verkommt zum Aufzählen. Andererseits kann das Schein-Lexikon in bewundernswerten Fällen eine beißende Kritik jener Wissensanhäufungsbemühungen (auch der Windbeutel- und Schaumschlägerei) darstellen und dem Alphabet trotzdem eine neue oder jedenfalls aufschlußreiche Sicht auf die Dinge abringen. Übrigens kann es auch die Willkür aller Einengungen verhöhnen oder geißeln, nämlich auf sogenannte Sachgebiete, Themen, Motive, also die Willkür von Abgrenzung und Auswahl. Es selber stemmt sich in den meisten Fällen gegen die bekannte Mauer zwischen »wissenschaftlicher« und »schöngeistiger« Literatur. Man wird wohl behaupten können, jedem guten Schein-Lexikon eigne Ambivalenz. Das sehr gute Schein-Lexikon atmet den Geist der Polemik und der Selbstkritik zugleich.
~~~ Die Gattung der Schein-Lexika ist noch wenig erforscht. Zu keinem geringen Teil wird die Forschung schon durch die Schwierigkeit vereitelt, einen angemessenen und einigermaßen breit akzeptierten Namen ihres Sachgebietes zu finden. Die Bochumer Germanistin Monika Schmitz-Emans arbeitet abwechselnd mit den Begriffen lexikographisches Schreiben / enzyklopädisches Schreiben / Lexikofiktion. Vor der Suchmaschine seines Internet-Browsers steht der Forscher ratlos. Ein unanfechtbarer Erfinder des Schein-Lexikons kann bislang so wenig präsentiert werden wie eine Vorhersage darüber, ob sich diese Gattung womöglich mit der Ausbreitung sogenannter Internet-Enzyklopädien erübrigen wird. Bekanntlich stehen und fallen diese nicht mit dem Alphabet, weil sie mit punktgenauer Suchmaschine arbeiten.
~~~ Ich möchte zum Schluß dieser kleinen Bestandsaufnahme ein nahezu seriöses Schein-Lexikon aus der Feder des österreichischen Biochemikers und Essayisten Erwin Chargaff hervorheben, der ja viele Jahrzehnte in New York lebte. Er brachte 1986 Serious Questions: An ABC of Sceptical Reflections heraus. Eine von ihm selbst vorgenommene deutsche Bearbeitung erschien dann drei Jahre später unter dem hübschen Titel Alphabetische Anschläge. Chargaff begnügt sich mit je einem Artikel unter jedem Buchstaben des Alphabets. Das genügt ihm für einen weltkritischen Rundschlag. Interessanterweise denkt er unter V (»Versuch mit unzulänglichen Mitteln«) über den Essay nach. Zuviel Fachwissen schade ihm, da es die aus dem Inneren kommende Überzeugung (des Essayisten) vergifte. Zu den wesentlichen Vorraussetzungen eines gelungenen Essays zählt Chargaff ein bestimmtes Temperament – einerlei, welches. Er meint das schreibende Subjekt. »Die Gedanken, die den Text zusammenhalten, fügen sich zu einem Stil, aus dem ein Mensch herausblickt.«
~~~ Hat Chargaff recht, ist bei Kollektivwerken wie den herkömmlichen Lexika oder Enzyklopädien die Gefahr gebannt, ihre Artikel mit Essays, vielleicht auch die VerfasserInnen dieser Artikel mit Menschen zu verwechseln. Bei Wikipedia werden diese Schattenwesen »BenutzerInnen« genannt.
∞ Verfaßt um 2010
Siehe auch → Angst, Wikipedia → Zierenberg (Verantwortlichkeit? z.B. bei Brockhaus)
Literaturbetrieb
Meine Erwartung, mit Mihail Sebastians unlängst veröffentlichtem Tagebuch aus der Zeit des Faschismus eine erheblich genießbarere Lektüre als die entsprechenden Aufzeichnungen von Victor Klemperer aufgestöbert zu haben, wurde enttäuscht. Beide Werke ähneln sich in vielen, ärgerlichen Zügen, voran die Langatmigkeit und die Flüchtigkeit. Daran konnte auch der Generationsunterschied nicht rütteln. Der rumänische, jüdische Schriftsteller Sebastian (1907–45) war rund 25 Jahre jünger als der Dresdener Romanistik-Professor, sodaß er das Wüten der einheimischen und deutschen Faschisten (Besatzung) in seinen Jahren um 30 erlebte. Im Brotberuf ursprünglich Rechtsanwalt, verlor er 1940 seine Anwaltslizenz und zudem einen Posten als Redakteur bei der Königlichen Stiftung, weil er außer Rumäne auch Jude war – »Saujude«, wie es damals gerne hieß. Sebastian wurde zu mehreren Wehrübungen und Arbeitsdiensten eingezogen, entging jedoch der Verschleppung. Zuletzt überstand er die wiederholte Bombardierung Bukarests durch die Alliierten im Frühjahr 1944. Ein Jahr darauf, kaum der Angst und dem Elend entronnen, kam er in der Hauptstadt, mit 37 Jahren, bei einem angeblichen Verkehrsunfall ums Leben.
~~~ In der Unschlüssigkeit und Wehleidigkeit nehmen sich beide Autoren vielleicht nicht viel, doch der stets unverblümt vorgebrachten Kritik Klemperers sowohl am Faschismus wie am Zionismus kann Sebastian selten das Wasser reichen. Im Grunde interessieren ihn die gesellschaftlichen Verhältnisse gar nicht. Er ist Schlafwandler und Einzelgänger. Mit seiner Nachgiebigkeit, die er sich ein ums andere Mal selber vorwirft, erweist sich der aus bürgerlich-liberalem Hause stammende Rumäne ironischerweise als waschechter Jude. Ihr Seitenstück ist Sebastians Angewohnheit, sich mit Alkohol, Kino, Frauen, Musik »zu betäuben« und sich »aus all diesem Ekel und Widerwillen in kindische, ausführliche Tagträume« zu flüchten, wie er am 27. September 1941 notiert. Er hält sich für einen »Versager«; er sei nicht fürs Leben gemacht. So beklagt er in jedem dritten Eintrag, wie so vieles andere, auch seine Neigung zur Niedergeschlagenheit – bei der es Jahr um Jahr bleibt.
~~~ Dummerweise war er auch nicht so richtig für die Literatur gemacht. Gewiß kann Sebastian ein paar Romane veröffentlichen oder hin und wieder ein Stück im Theater unterbringen, doch der rauschende Beifall stellt sich bestenfalls vorübergehend ein. Er ist beileibe nicht so erfolgreich wie beispielsweise seine fragwürdigen Freunde Nae Ionescu, Mircea Eliade, Camil Petrescu. Immerhin wird er nicht wie sie. Trotz jener Duldsamkeit hat Sebastian nämlich nicht das Zeug zum Opportunisten, was ja das Karrieremachen sehr erleichtert hätte. Er bleibt seinen liberalen Überzeugungen und seiner Randposition treu. Allerdings bleibt er auch den genannten Personen und anderen »alten Freunden« treu, die sich nach Sebastians ungeschminkter, wenn auch zumeist kommentarlosen Darstellung im Tagebuch nur als sowohl eitle wie gemeingefährliche Strohköpfe bezeichnen lassen. Zu sehen, daß sich Sebastian nie dazu aufraffen kann, mit einem dieser Tintenfaßträger des Faschismus und des militanten Antisemitismus wirklich zu brechen, kommt für einen Leser wie mich schon beinahe Folter gleich. Petrescu, in jedem Lexikon als bedeutender Neuerer der rumänischen Literatur ausgegeben, biedert sich später auch erfolgreich den Kommunisten an. Ein widerlicher Kerl. Warum kam er nicht unter das Auto? Er starb 1957 mit 63.
~~~ Wie es aussieht, wird Sebastian ein glückliches Verhältnis zur Literatur vor allem durch seine ihm vom eigenen Naturell bereiteten Arbeitsschwierigkeiten erschwert. Er berichtet unablässig davon. Er findet keinen Anfang, bekommt Skrupel, schreibt zu langsam, stolpert vom Überschwang zum Selbstzweifel und wieder zurück. Möglichkeiten sich abzulenken, etwa durch »Ausgehen«, nimmt er so sicher wahr wie sie ihm kurz darauf Katzenjammer bereiten. Oft kann er nur schreiben, wenn er Bukarest verläßt, um sich als Feriengast am Schwarzen Meer oder in den Karpaten zu verschanzen. Sowohl die Ablenkungen wie die Reisen kosten natürlich Geld und sind ungeeignet, den schmal entlohnten Redakteur oder Hilfslehrer (an einer jüdischen Schule) aus seiner ständigen Geldnot zu führen. Dies alles wiederholt sich durch die Jahre gnadenlos, es ändert sich um keinen Deut, aber Sebastian schreibt es, im Tagebuch, trotzdem auf. Auch seine Erschöpfung und Schlaflosigkeit beklagt er immer wieder, ohne je zu bedenken, er könne auf diese Weise vielleicht dereinst die LeserInnen seines Tagebuchs ermüden. Ähnlich häufig erwähnt er Kopfschmerzen, Sehschwäche und andere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die ihm zusetzen. Man könnte vermuten, irgendwo nage ein Wurm in ihm, aber dazu sagt er nichts. Er bemüht sich auch nicht um eine ärztliche Diagnose.
~~~ Überhaupt kommt Sebastian ähnlich selten zu nennenswerten Erkenntnissen wie ich es, andernorts, schon Klemperer bescheinigt habe. Sie sind Tretmühlen-Protokollanten. Auch in stilistischer Hinsicht hat der Romancier und Dramatiker dem Wissenschaftler aus Dresden nichts voraus. Dabei hätte Sebastian, im Vergleich zu Klemperer, sicherlich die Muße gehabt, seinen Einträgen aus dem Abstand heraus durch Feilen etwas mehr Glanz und Tiefe zu verleihen. Er beläßt es dabei, sich auch die Flüchtigkeit seiner Tagebuch-Prosa immer mal wieder selber vorzuwerfen. Sebastians vergleichsweise große Geschütztheit geht übrigens auch aus dem Umstand hervor, daß er es – auf den 800 Seiten der deutschen Ausgabe von 2005 – nicht einmal für erforderlich hält, die Frage zu erörtern, ob er sich selbst und vor allem andere Personen durch dieses Tagebuchführen nicht fahrlässig gefährde. Selbst von einem Versteck für das Manuskript in seiner jeweiligen Wohnung ist nie die Rede. Im Gegensatz zum Fall Klemperer ist es mir ohnehin nicht immer ganz leicht gefallen, den angeblichen Ernst der Lage Sebastians nachzuvollziehen. Vielleicht liegt das nur an Sebastians unverschuldetem Pech, eine geballte Mischung aus zeitgenössischem Faschismus und allgemeinem jugendlichem Lebensüberdruß aushalten zu müssen. Er liebäugelt sogar mehrmals mit Selbstmord. Sein Eintrag vom 6. Dezember 1942 beginnt mit einer Klage über seine Lethargie und die Fadheit allen Geschehens. Es fehle ihm sogar »die Kraft zum Selbstmord, doch wenn ich eine geladene Pistole in der Hand hielte, würde ich vielleicht den Abzug drücken.« Ja, vielleicht … Sobald die Pistole vom Himmel fällt und ein Engel die Entschlußkraft zum Abdrücken mitliefert. Merkt der Mann nicht, wie lachhaft er sich aufführt und ausdrückt? Und wie vergeßlich er ist? Hat er doch erst im Februar desselben Jahres seinen Kollegen Stefan Zweig angepinkelt, weil sich dieser (in Brasilien) soeben umgebracht hat. »Er hatte kein Recht dazu, durfte es nicht tun.« Widersprüchlichkeit lasse ich mir ja gerne gefallen, aber naseweise Oberflächlichkeit nicht.
~~~ Ein erfrischender Widerspruch ergibt sich aus dem Vorwort des Herausgebers und Mitübersetzers der deutschen Ausgabe Edward Kanterian. Sebastians »sicheres Urteil« als jugendlicher Literaturkritiker für diverse einheimische Blätter leitet Kanterian aus der Tatsache ab, »so gut wie alle Autoren, die er besprach«, hätten »Eingang in den Kanon rumänischer Literatur gefunden«. Eben diesen, noch um berühmte Ausländer erweiterten Kanon wagt Sebastian später, im Tagebuch, wiederholt anzugreifen, weil die gleichsam amtliche Beweihräucherung seinem eigenen Urteil als Leser der betreffenden Autoren widerspricht. Selbst seine Bewunderung für Shakespeare ist nicht ungeteilt. »Was für ein kindisches, stellenweise sogar idiotisches Zeug!« entfährt es ihm am 13. Oktober 1941. Gemeint ist ein Stück, das im Titel das oberste Geschäftsprinzip der Kanterians bezeichnet: Viel Lärm um nichts.
~~~ Ob sich Sebastian bis zu seinem frühen Tod, der ihn auf dem Weg zu seiner Antrittsvorlesung als frischgebackener Literaturprofessor ereilte, trotz mancher Bedenken mit Plänen trug, sein Tagebuch früher oder später – in der einen oder anderen Form – zu veröffentlichen, geht weder aus diesem selber noch aus dem Vorwort des Philosophieprofessors aus Kent, GB, hervor. Wenn ja, hätte es Sebastian möglicherweise noch einmal gründlich im Geiste Jules Renards bearbeitet, den er sehr schätzte. Aber das ist Spekulation. Tatsache dagegen ist, seine wohl in Paris lebenden (und darbenden) Erben entschlossen sich zu einer Veröffentlichung des Tagebuchs in der vorliegenden Form. Man sollte sie einmal fragen, ob sie sich vielleicht noch an Sebastians Eintrag vom 25. September 1941 erinnern könnten: Dieses Tagebuch ist ziemlich nutzlos. Ich lese es manchmal durch, und das Fehlen einer jeglichen Tiefe ernüchtert mich. Ereignisse ganz ohne Gefühl, ohne Glanz und Ausdruck aufgezeichnet. Nirgends sieht man, dass all dies ein Mensch schreibt, der tagtäglich, stündlich den Tod neben sich, in sich spürt. Ich fürchte mich vor mir selbst, fliehe vor mir selbst, gehe mir aus dem Weg. Ich drehe lieber den Kopf in die andere Richtung, wechsle das Thema. Nie fühlte ich mich älter, glanzloser, lustloser, ganz ohne Jugendlichkeit. Zerrissene Saiten, zwecklose Gesten, nichtssagende Phrasen.
~~~ Angeblich war Sebastian »von einem Lastwagen erfaßt« worden. Zu erforschen, warum und wie, fehlt den Damen und Herren Literaturwissenschaftlern offenbar die Zeit. Oder das Geld. Oder die Lust.
∞ Verfaßt um 2010
Der spanische Jurist, Musikwissenschaftler, Akademie-sekretär und Literaturhistoriker Emilio Cotarelo y Mori (1857–1936) machte sich vor allem als Herausgeber und mit diversen gründlichen Studien, darunter eine Geschichte der spanischen Oper (1917) und der Zarzuela (1934), einen Namen. Die Latte seiner Arbeiten in der spanischen Wikipedia ist kein Baumstumpf. Kurz und schlecht, er dürfte der typische Gelehrte und insofern nichts Besonderes gewesen sein, denn diese emsigen Exemplare gibt es in der zivilisierten Menschheit wie Sand am Meer.
~~~ Machen Sie sich nur gelegentlich klar, welcher Wahnsinn hier am Werke ist. Trotz ihrer begrenzten Lebenszeit befassen sich diese Leute zum x-ten Male mit den Schöpfungen Lope de Vegas oder Tirso de Molinas, mit dem nationalen Musiktheater oder der Literaturgeschichte überhaupt, obwohl Kollegen vor ihnen genau das gleiche auch schon taten, sodaß die Iberische Halbinsel längst von wahren Sanddünen aus Sekundärliteratur durchzogen ist. Die wandern dann durch die Hände von riesigen Rudeln aus Studenten und Doktoranden, damit sich auch diese alsbald im selben Sinne nützlich machen und bewähren können. In individualpsychologischer und volkswirtschaftlicher Hinsicht handelt es sich selbstverständlich um eine maßlose Vergeudung. Kein asturischer Fuchs käme auf die Idee, Tag für Tag viele Stunden damit zu verplempern, ein historisch-kritisches Sammelwerk über einheimische Speisekarten im Wandel der Zeiten anzulegen, statt sich gehörig mit Mäusen und Hühnern vollzuschlagen und seine gewohnte Siesta nicht zu verpassen. Aber unsere Gelehrten sind eben keine Füchse, vielmehr Wiederkäuer wie unsere Kühe und Stiere auf den Viehweiden.
~~~ Sie werden vermutlich einwenden, jeder Gelehrte triebe und schriebe seine Speisekartenkunde doch stets von wieder einer etwas anderen Warte aus. Er führe stets ein paar neue Begriffe ein und glänze mit seiner neuen, persönlichen Masche, genannt Stil. Aber das ist fruchtlose Augenwischerei. Die sogenannten Nuancen zwischen zwei Spitzen-Sopranen machen lediglich Vollidioten fett. Vielleicht dient die Schaffens- und Abgrenzungswut in nicht wenigen Fällen auch als Trostpflaster auf dem Tod, dem bekanntlich keiner entgeht. Am Ende aller Mühsal, mit knapp 80 Jahren oder so, liegt jeder Gelehrte in seinem Sarg, und zwar als das immergleiche Skelett. Da haben sich die Nuancen irgendwie verflüchtigt. Insofern wäre es nicht verfehlt, der Digitalisierung sogar eine gewisse bewundernswerte Folgerichtigkeit zu bescheinigen. Man meißelt nicht mehr in Stein, sondern gleich in die Luft, wie ich oben schon sagte.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024
Siehe auch → Andersen-Nexö, Ablaufberg (postmoderne Romane) → Angst, Last der Verantwortung (SelbstverlegerInnen) → Balkon (Großschriftstellertum) → Dienstboten (für Autoren) → Gogh van (Kanon) → Hunde, Winseln (Preise) → Internet, Wunderlich (Quellenfrage, Bücher) → Kapitalismus, Schutzumschläge → Kivi (Verkennung) → O'Casey (Streit mit Orwell) → Titel, Titelite (Preise) → Xylothek (Bücher online) → Band 4 Düster, Favoriten, Kap. 2 (schlampige Bücher) + Müllerkoog (Großschriftstellertum) → Band 5 Mann im Trafoturm (Preise)
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