Mittwoch, 8. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 20
Kelly – Klima
Kelly – Klima
ziegen, 14:48h
Kelly, Petra (1947–92), grüne Kämpferin für Frieden. Ein ziemlich frischer Gedenkartikel von mir hieß »Der General und die Grüne«. Der doppelte Tod von Gert Bastian und Petra Kelly war gerade 30 Jahre alt. Er hatte im Herbst 1992 nicht nur in der damaligen deutschen Bundeshauptstadt wie eine Bombe eingeschlagen, zumal ja ein General a. D. beteiligt war. Die beiden PolitikerInnen hatten trotz eines beträchtlichen Altersunterschiedes von gut 24 Jahren gemeinsam ein zweigeschossiges Reihenhaus in Bonn-Tannenbusch bewohnt. Sie starb mit 44, er mit 69. Bastian war schon im Zweiten Weltkrieg Offizier gewesen, brachte es dann bei der Bundeswehr bis zum Generalmajor, ehe er 1980 seinen Hut nahm. Er hatte sich nämlich inzwischen zum Atom- und Kriegsgegner gewandelt und tat sich deshalb mit den Grünen und eben auch mit deren »charismatischer« Galionsfigur Kelly zusammen. Offiziell blieb er mit seiner Gattin Charlotte verheiratet und besuchte sie sogar öfter in München. Sie hatten zwei Kinder. Bastian saß nun, wie Kelly, im Bundestag (er bis 1987, sie bis 1990) und folgte der Galionsfigur ansonsten auf Schritt und Tritt. Ob er sie dabei eher stützte oder ihr eher wie eine Kanonenkugel am Bein hing, ist umstritten. Manche verunglimpfen ihn als Kellys unentbehrlichen Fürsorger und Trottel, an dem sie ihre Launen auslassen konnte. Sie habe ihn auch durchaus mit anderen Männern betrogen. Jedenfalls waren zunehmende, teils lautstarke Streitigkeiten zwischen den beiden zu bemerken, aus welchem Grund auch immer.
~~~ Kelly, studierte Politologin, muß eine schillernde kleine Person gewesen sein, obwohl ihrem feinen, schmalen Gesicht zumeist eine besorgniserregende Blässe bescheinigt wird. Das würde sich mit ihrem märtyrerhaften Zug decken: es gab kein Leid in der Welt, das vor ihren dunklen Argusaugen sicher war. Das Gründungsmitglied der Grünen (1980) galt als mitreißend, fordernd, arbeitswütig und stets abgehetzt. Kelly wetterte gegen Krieg, aber auch gegen Abtreibung. Sie war für Tibet, für die Kurden, für alle möglichen IndianerInnen. Ungefähr ab 1990 traten die Grünen allerdings die umgekehrte Wandlung des Gert Bastian an: zurück zum Krieg. Aber soweit ich sehe, zogen sich er und Kelly weniger deshalb von der politischen Bühne in das Reihenhäuschen zurück. Kelly war vielen Mitstreitern zu eigensinnig und unkooperativ. Sie liebte den Rummel der Medien um ihre Person zu sehr. Totz ihrer eher »fundamentalistischen« grünen Positionen befürwortete sie, schon damals, bezahlte Berufspolitik. Entsprechend boykottierte sie das »Rotationsprinzip« (den regelmäßigen Ämterwechsel) und den »Ökofond« ihrer Partei. Verständlicherweise trugen die Anfeindungen nicht gerade zu ihrer Gesundheit bei. Laut Biografin Saskia Richter von Kind auf nierenkrank, wirkte sie inzwischen ausgelaugt und durchängstigt. Bei der Polizei hielt man sie für gefährdet. Als Schulkind hatte sie einen aus den USA stammenden Stiefvater bekommen. Erstaunlicherweise war John Edward Kelly auch schon hoher Offizier gewesen, ein Oberst. Nun, vermutlich am 1. Oktober 1992, schießt ihr betagter General und Gefährte sie, der amtlichen Version zufolge, bei einem Nachmittags-schläfchen in die Schläfe. Anschließend richtet Bastian seine Pistole (von schräg oben) gegen die eigene Stirn. Es dauert merkwürdigerweise fast drei Wochen, bis die beiden vermißt und entdeckt werden. Umso rascher hat sich der Staatsanwalt sein Bild gemacht: Bastian habe beide Schüsse abgegeben, entweder im Einvernehmen mit Kelly oder in der Überzeugung, ohne ihn sei sie verloren. Damit liege ein »erweiterter Suizid« vor. Für ein »Fremdverschulden« gebe es keine Anhaltspunkte.***
~~~ Etliche BeobachterInnen sehen das anders. Mal halten sie Bastian für den Mörder seiner Gefährtin; mal glauben sie, Dritte hätten das Paar umgebracht. Beide Annahmen sind keineswegs an den Haaren herbeigezogen, weil es wieder einmal Ungereimtheiten gibt. Warum wurden die Leichen so spät gefunden? Um eine Obduktion zu unterlaufen? Die gab es immerhin noch. Was Kelly angeht, habe die Obduktion keine Hinweise auf eine ernsthafte Krankheit erbracht. Im übrigen fanden sich weder Abschiedsbriefe noch Testamente noch sonstige Erklärungen der Verstorbenen. Zwar surrte im Erdgeschoß eine elektrische Schreibmaschine, doch sie enthielt auf der Walze nur einen belanglosen Geschäftsbrief, der mitten in einem Satz und sogar einem Wort abgebrochen worden war. Von ihm her schloß die Kripo auf das mutmaßliche Todestagsdatum, 1. Oktober. Sie hatte Bastian, den Autor des Geschäftsbriefes, im Flur des Obergeschosses hingestreckt gefunden, Kelly dagegen auf ihrem Bett. Die Alarmanlage des Hauses war abgeschaltet. Weiter geben eine lediglich angelehnte Balkontür und ein umgestürztes Bücherregal (im oberen Flur) zu denken. Bastian könnte es jedoch nach dem Schuß in die eigene Stirn im Fallen mitgerissen haben. Schmauchspuren von der Tatwaffe will die Kripo nur an seinen Händen bemerkt haben. Solche Spuren lassen sich vermutlich auch vortäuschen, falls sie einer benötigt.
~~~ Wer ein Mordmotiv Dritter suchte, könnte es wohl im Antimilitarismus und in den entsprechenden Enthüllungen (Waffengeschäfte) des Paares finden – obwohl mir die Mundtotmachung oder Vergeltung zu jener Zeit des Privatisierens ein wenig spät erschiene. Manche Quellen* führen den Verdacht an, Kelly sei seit Jahren, von CIA und von neofaschistischer Seite her, einem Psychoterror ausgesetzt gewesen. Davon sprach wohl auch Kelly selber wiederholt. Möglicherweise suchten diese Kräfte den bereits angedeuteten Deformierungsprozeß der Grünen zu befördern, der diese »underdogs« binnen weniger Jahre von der Anpinkelei des Imperialismus‘ in die Geschäftsführung des Imperialismus‘ katapultierte. Andererseits war das Paar zumindest teilweise durchaus im Sinne westlicher Strategen tätig, man denke etwa an Tibet. Hier schillert es also ebenfalls.
~~~ Entgegen dem Bild des Staatsanwaltes bezweifeln viele Freunde oder Kollegen von Kelly, ihr Tod könne ihr Wunsch gewesen sein. Lukas Beckmann: in Petras Unterlagen fanden sich Hinweise darauf um keinen Deut, und ihr Terminkalender vor voll. Angeblich hatte sie sogar eine Professur in den USA in Aussicht. 2007 bezweifelt auch Saskia Richter, die 2010 noch eine Kelly-Biografie vorlegen sollte, im Spiegel einen Todeswunsch der abgedankten Politikerin: »Sie hatte Pläne, und als der Schuss fiel, schlief sie.« Nach manchen Quellen ist auch das bekannte, in diesem Fall durchaus naheliegende Motiv Eifersucht nicht ausgeschlossen. Marina Friedt behauptet 2017 im Spiegel, Kelly habe zuletzt eine Liebschaft mit einem tibetischen Arzt unterhalten. Vielleicht sah der Ex-General deshalb rot.
~~~ Eine recht einleuchtende Theorie zum Tathergang vertrat und vertritt der Arzt und Schriftsteller Till Bastian. Das ist der Sohn. Der Focus-Autorin Beate Strobel gegenüber malt er seinen Erzeuger 2017** keineswegs als den humorlosen Schleifer, den man bei einem altgedienten Militär erwarten könnte. Obwohl in schnelle Autos und Waffen vernarrt, sei er eher verspielt und tolerant, vielleicht auch gleichgültig gewesen. Er sei jenseits der Familie seinem Leben nachgegangen, dabei viele Frauengeschichten. Kelly habe Bastian die nach wie vor engen Fäden zu seiner Gattin immer sehr übel genommen. Mich überraschten die Schüsse nicht, sagt der Sohn. Er habe seinen Vater damals sofort für den Täter gehalten. Im folgenden Jahr, 1993, schreibt er in einem Artikel für das Wochenblatt Zeit (Nr. 37): »Ich glaube, daß mein Vater – der an schwerer Gefäßverkalkung auch der Herzkranzgefäße litt – an jenem Donnerstagmorgen von einem heftigen Angina-pectoris-Anfall, einem Infarkt oder einer Lungenembolie heimgesucht wurde; im Gefühl des kommenden Todes glaubte er vielleicht, Frau Kelly, die oft beteuert hatte, nicht ohne ihn leben zu können, nicht allein lassen zu dürfen, sondern mit in den Tod nehmen zu sollen, und erschoß erst sie und dann sich. Es wäre dies eine soldatische Art gewalttätiger Fürsorge gewesen, wie sie sehr gut zu meinem Vater gepaßt hätte.«
~~~ Auf meine briefliche Nachfrage teilt mir Till Bastian freundlicherweise mit, er habe damals mit dem Gerichtsmediziner telefoniert. Mit dessen Befund einer »hochgradigen Arteriosklerose« bei dem Vater sei Bastians Hypothese »gut vereinbar«, habe ihm der Mann versi-chert. Nebenbei habe sich in der Brieftasche des Vaters ein Zeitungsartikel gefunden: Was tun bei Herzinfarkt? Sowas trage man ja nicht ohne Grund mit sich herum. Was Kelly angeht, sei sie ihm, dem Arzt, zuletzt »sehr ängstlich und hypochondrisch« vorgekommen. Sein Vater habe eine seelische Erkrankung bei der Gefährtin befürchtet. Von »Verfolgungswahn« habe er, der Sohn, allerdings weder etwas bemerkt noch auch nur gehört.
~~~ Für Ulrike Winkelmann*** läßt sich der Doppeltod, »wenn überhaupt«, wohl am ehsten »aus der zerstörerischen Abhängigkeit der beiden voneinander« erklären. Das scheint ja auch der Sohn so zu sehen. Winkelmann gegenüber nennt er die Beziehung »eine Falle«.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* etwa die Webseite https://www.arbeiterfotografie.com/politische-morde/index-1992-10-01-petra-kelly-gert-bastian.html, o. J.
** Beate Strobel, 24. November 2017: https://www.focus.de/kultur/medien/mein-vater-ich-hatte-eine-stinkwut-auf-meinen-vater_id_7890282.html (anscheinend aufgrund eines Gesprächs mit Till Bastian)
*** Ulrike Winkelmann, 1. Oktober 2017: https://www.deutschlandfunk.de/tod-von-petra-kelly-und-gert-bastian-zwei-leichen-viele-100.html
Kinder, Kindheit
Mukesh --- Die Maisonne scheint: günstig für radelnde RentnerInnen und für sogenannte deutsche Landwirte. Vorm nächsten Dorf fährt einer mit seinem Schlepper, dessen Mäh-Vorsatz breiter als die Waltershäuser Hauptstraße ist, auf seiner ausgedehnten Heuwiese hin und her. Möglicherweise langweilt er sich, ganz im Gegensatz zu dem Storch, der ihm bei geringstem Sicherheitsabstand wie ein Leibwächter folgt. Das sind schon achtungseinflößende Dolche, die diese Störche mit sich führen.
~~~ Das Dorf weist an einem Hang eine hübsche, schlichte, aus hellem Sandstein errichtete Barockkirche auf, die ich ganz gern besuche. Sie bewacht den Friedhof. Etwas nachlässig gekleidete Leute wie ich riechen doch leicht nach Blumendieb. Von meiner Stammbank aus kann ich die mächtigen Linden bewundern, die im Rücken der Kirche stehen. Das Grab von C. habe ich lediglich im Augenwinkel. Sie pflanzten der 16jährigen einen rötlich schimmernden Grabstein auf den Kopf, den die Turmfalken und Dohlen von rechtswegen täglich einmal bekoten müßten. Auf einer Seite zeigt der ausgesparte Stein die Skulptur eines kleinen Mädchens. Um das Maß des Kitsches voll zu machen, blickt dieses Kind auf das Feldblumensträußchen in seiner Hand. Die 16jährige, Realschülerin in Waltershausen, frönte wohl mehr dem Eishockeysport als dem Kranzwinden. Eines Abends kam sie, nach einem Spiel in Erfurt, im Wagen ihrer etwas älteren Freundin und Fahrerin bei Gotha von der Straße ab und landete vor einem Baum. Es stand damals in der Lokalzeitung. Die Fahrerin überlebte. Der Reporter war immerhin pietätvoll genug, um die Frage, wie das mit solchen Schuldgefühlen möglich sein soll, lieber nicht anzuschneiden.
~~~ Kürzlich las ich Berichte über Kinderarbeit in Indien. Die warten da gar nicht, bis die Kinder im Führerscheinalter sind. Millionen von ihnen haben sich bei der Fronarbeit auf Äckern, an Teppichknüpfstühlen, in Steinbrüchen Krankheiten, Demütigungen und Traumata zu holen, die für ein Erwachsenenleben im Siechtum gut sind, falls sie überhaupt über 30 kommen. Das ging mir recht nahe, und so verfaßte ich das Lied Muskesh [jetzt in Band 5]. Die Musik nahm ich von meinem Schlackendörfer-Lied Requiem für ein Gebirgstal, das es nicht in Christian Nagels Auswahl für unsere Platte Leon schaffte. Die Platte wird zur Stunde – wie ich hoffe – von Pianist Nagel und Schlagzeuger und Produzent Christoph Boldt im Hochschwarzwald »abgemischt«. Radeln wäre sicherlich vergnüglicher. Man hockt bei schönstem Sonnenschein mit Deckeln auf den Ohren am Computer und vergleicht die Versionen der aufgenommenen Spuren oder ganzen Stücke solange, bis sie einem buchstäblich zum Hals heraushängen. Andererseits möchte ich anmerken, → Warten ist auch nicht immer das reinste Vergnügen. Auf diese Platte warte ich im Grunde schon seit rund sieben Jahren, und besonders zermürbend seit vielen Wochen. Ich kann ja nichts dazutun, weil ich nicht am Schwarzwald, vielmehr am Thüringer Wald lebe.
~~~ Man könnte mir schmeicheln, immerhin hätte ich die 28 Stücke der Platte beigesteuert. Ja, das stimmt. Aber ich glaube inzwischen schon fast, meine Geduld und Beharrlichkeit in organisatorischer Hinsicht stellten, über sieben Jahre hinweg, die größere Leistung dar. Es bedarf eines dicken Fells, das ich von Hause aus keineswegs vorweisen kann. Aus den Körben, die ich mir bei der Suche nach einem Arrangeur und Projektleiter einhandelte, könnte ich mir eine Trutzburg bauen.
∞ Verfaßt im Mai 2023
Streift Brockhaus Mattium, den »Hauptort der in Nordhessen wohnenden germanischen Chatten«, stellt er beiläufig meine Immunität gegen Patriotismus auf die Probe. Ich darf mir somit keinen Ausfall gegen den römischen Feldherrn Germanicus erlauben, der Mattium im Jahr 15 n.Chr. verwüstet haben soll. Wo es genau lag, weiß man übrigens immer noch nicht. Wie es aussieht, überwand Germanicus von Süden her Lahn und Eder, um den frechen chattischen »Bauernkriegern«, die schon in der Wetterau aufgetaucht waren, eins auf die Rübe zu geben. Lange Zeit nahm man als deren Hauptquartier die Altenburg bei Niedenstein an; das soll jedoch inzwischen widerlegt sein. Als ziemlich sicher gilt eigentlich nur, daß die fragliche Festung, Kultstätte, möglicherweise auch ganze lokale Besiedelung »Mattium« in der Gegend lag, die in einer Wikipedia-Karte umrissen wird.* Man sieht vielleicht, es handelt sich um nichts Geringeres als die Gegend meiner Kindheit, die ich just im nördlichen Winkel zwischen Eder und Fulda verbrachte.
~~~ Eben hat ein Edelpatriot sogar den nahe bei Gudensberg gelegenen Odenberg für Mattium in die Waagschale geworfen.** Im Städtchen Gudensberg saß ich meine Grundschulzeit ab. Ich jagte Molche im Goldbach, beschimpfte unsere schwarze Schäferhündin Anka und möglicherweise auch hin und wieder meinen Vater Rudi – aber nur aus gehöriger Entfernung. Angeblich war er zu hartherzig, vor allem gegen meine Mutter Hannelore. Bald nach der Ehescheidung gab Rudi sein Rundfunk- und Fernsehgeschäft am Untermarkt auf und zog nach Niedenstein, wo er sich ein recht stattliches, modernes Haus am Hang erbaut hatte. Von der Terrasse aus hatte man rechterhand prompt den bewaldeten Hügel »Altenburg« im Blick. Dort waren Überreste einer mutmaßlich chattischen Ringwallanlage freigelegt worden. Daß Rudi einmal auf der Altenburg herumstapfte und -stöberte, ist eher unwahrscheinlich. Ich glaube, die Natur ließ ihn ähnlich kalt wie die Geschichtswissenschaft.
~~~ Einen Vater schlecht zu machen, an den man kaum noch eigene Erinnerungen, ansonsten lediglich befangene Urteile Dritter hat, dürfte unzulässig sein. Eine Tante behauptete einmal, nachdem mir wegen irgendwas der Kragen geplatzt war: »Das hast du bestimmt von Rudi!« Sie meinte den Jähzorn. Und wenn schon! Ein Vater kann ja wohl so wenig für seine Anlagen wie dessen Sohn. Man darf ihm deshalb nicht vorhalten, er hätte dem Sohn diese oder jene ungünstige Neigung eingepflanzt. Was ich allerdings schon seit etlichen Jahren verwerflich finde, ist sein hartnäckiger Wunsch, überhaupt zu pflanzen. Rudi hatte gerade die Schlächterei des Zweiten Weltkrieges überstanden. Jedenfalls sage ich, wer auf diesen Planeten heute noch Sprößlinge setzt, muß entweder so hartherzig wie angeblich Rudi oder so dumm wie Wahlschafe und ihre Leidhammel sein. Kürzlich hat mir sogar ein jüngerer Brieffreund, der eigentlich als kluger, rand- und widerständiger Kopf gilt, beiläufig gestanden, er habe gerade eine Familie gegründet; Mutter und Söhnchen seien wohlauf. Ich war entsetzt. Was hat denn dieses Söhnchen noch an Gesundheit, Freude und Zukunft zu erwarten? So gut wie nichts. Beziehungsweise ganz überwiegend Qual. Das habe ich dem Brieffreund aber wohlweislich nicht gesagt. Er weiß es schließlich selber. Doch er setzt sich brutal über sein Wissen hinweg, weil auch in ihm der irrationale »Vaterwunsch« keimt. Der Wunsch nach dem Eigenen. Nur darf der Abkömmling keinen eigenen Kopf haben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 25, Juni 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Mattium#/media/Datei:Mattium2.svg
** Helmut Saehrendt, »Argumente für den Odenberg«, 2024, 20 Seiten, Beschreibung https://www.grin.com/document/1470264
Laut Brockhaus wurde das Münchener Oktoberfest im Jahr 1984 zum 150. Mal gefeiert. Damaliger Bierumsatz: rund fünf Millionen Liter. Etwas früher gab es auf diesem »größten Volksfest der Erde« auch ein paar Leichen zu sehen. Das erwähnt das Lexikon aber aus ästhetischen Gründen lieber nicht. Der Anschlag auf unschuldige BesucherInnen des Oktoberfestes von 1980 wird unter den schwersten Terrorakten der deutschen Nachkriegsge-schichte geführt. Neben zahlreichen, zum Teil schwer verletzten Opfern hinterließ er 13 Tote, darunter die Geschwister Ignaz (6) und Ilona (8) Platzer als die jüngsten der Zufallsopfer. Auch den Attentäter Gundolf Köhler (21), nach offizieller Version zwar »Rechtsextremist«, jedoch als solcher »Einzeltäter«, erwischte es. Etliche BeobachterInnen halten eine Verstrickung faschistischer Gruppen und überdies staatlicher Geheimdienste in den Anschlag für wahrscheinlich.* Jedenfalls sind die beiden Kinder tot. Den Gram von ihren Eltern, Lehrern, Freunden möchte ich nicht erlebt haben.
~~~ Um es einmal deutlich zu sagen: Entschlösse sich jemand dazu, mich aus bestimmten Gründen umzubringen, fände ich das zwar ziemlich unangenehm, aber auch verständlich. Er hat eben, aus diesen oder jenen »niederen« Motiven, seine Wut auf mich. Aber so? Irgendwo eine Bombe hochgehen zu lassen, die irgendwen trifft?
~~~ Nicht völlig anders liegen die Dinge übrigens im jüngsten Gazakrieg. Anfang April meldete dpa für das erste halbe Jahr allein 13.800 tote Kinder, dazu noch zahlreiche verstümmelte oder sonstwie verletzte.** Im Gazastreifen gibt es eben vergleichsweise viele Kinder, und da bleiben solche Kollateralschäden nicht aus. Man muß dazu allerdings sagen: es handelt sich (überwiegend) um palästinensische Kinder, und da unten tobt gerade kein Volksfest, vielmehr ein Krieg. Im Krieg sind Todesopfer üblich und erlaubt. Und solange es nichtdeutsche Unschuldige trifft, weinen wir keine Krokodilstränen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 28, Juli 2024
* Birgit Lutz-Temsch, https://www.sueddeutsche.de/muenchen/schmerzende-erinerungen-am-montag-jaehrt-sich-das-oktoberfest-attentat-1.757631, wohl 22. September 2005
** https://www.zeit.de/news/2024-04/04/sechs-monate-gaza-krieg-mehr-als-13-800-tote-kinder, 4. April 2024
Siehe auch → Berufskünstlertum, Panorios (Bild Cosette) → Bevölkerungsfrage, Pöhsnick (aussterben) → Bildung, Renard → Corona, Schauermärchen (Kinderwagen) → Ehre, Pergaud (Kinderbande) → Erziehung → Schule → Band 5 Folgen eines Skiunfalls (Gebärstreik)
Kirche
Der aus Bayern stammende Organist und Komponist Hugo Distler (1908–42) wird zumeist als wichtiger Erneuerer der evangelischen Kirchenmusik seiner Zeit, zudem rastlos tätiger und mitreißender Mann gerühmt. Nun ja. 1940 schuf er für das Chorliederbuch der Wehrmacht unter anderem das Werk für Männerchor Morgen marschieren wir in Feindesland. Im selben Jahr wurde Distler, schon seit 1933 Mitglied der NSDAP, Professor an der Berliner Staatlichen Musikhochschule. Im April 1942 übernahm er außerdem die Leitung des Berliner Staats- und Domchors und bezog, da er mit seiner Familie (drei kleine Kinder) ein Haus in Strausberg bewohnte, eine Dienstwohnung in der Nähe des Doms. Allerdings muß er im Apparat nicht nur Gönner gehabt haben. Fünfmal hatte er den Gestellungsbefehl der Wehrmacht abwenden können, doch am 14. Oktober 1942 kam die sechste Aufforderung. Am 1. November 1942 begab sich der 34jährige Professor nach dem Gottesdienst im Dom zu seiner Dienstwohnung in der Bauhofstraße und brachte sich um.
~~~ Wie, läßt sich der sogenannten Offiziellen Hompage Hugo Distler (Stand November 2016) nicht entnehmen. Einige andere Quellen sprechen davon, Distler habe, vermutlich in seiner Küche, »den Gashahn aufgedreht«. Gottseidank ist nirgends zu lesen, das ganze Wohnhaus oder der ganze Dom seien in die Luft geflogen. Es mißlang mir übrigens festzustellen, ob die Offizielle Homepage von Distler persönlich oder dem Berliner Senator für Kultur und Erbauung genehmigt worden ist. Was die Motive für Distlers Selbstmord angeht, vermutet Nick Strimple (2002) laut englischer Wikipedia, mehr als staatliche Repression habe dem Komponisten der eigene Gewissensdruck zugesetzt – und die Befürchtung, auf Dauer sei es nicht möglich, zugleich den Nazis und Gott zu dienen. Vielleicht ist dem kalifornischen Dirigenten und Autor nicht bekannt, daß es anderen durchaus möglich war, beispielsweise den Bischöfen Theophil Wurm und Otto Dibelius.
~~~ Andere, offiziellere Quellen verweisen dagegen stets auf Distlers starke Lebens- und Versagensängste, die dem »unehelich« Geborenen von Kind auf zugesetzt hätten. Nach Jürgen Buch* leistete sogar das Übliche, nämlich eine Liebschaft, einen nicht unmaßgeblichen Beitrag zu Distlers Verzweiflung. Er war diese Liebschaft in Stuttgart parallel zu seiner Ehe eingegangen, hatte dann aber mit der Berufung nach Berlin dem (Strausberger) Haussegen zuliebe auf sie verzichtet. Distlers Tochter und Biografin Barbara Distler-Harth sei der Ansicht, mit diesem Verzicht habe ihr Vater »den Todeskern in sich gelegt«. Damit sind sowohl Gott wie der Faschismus fein heraus: es war Hugos freier Wille.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »In der Welt habt ihr Angst«, in: 50 Jahre Hugo-Distler-Chor Berlin, Festschrift aus 2003, S. 7–11: https://hugo-distler-chor.de/wp/wp-content/uploads/2010/08/hdc_festschrift.pdf
Klepper, Jochen (1903–42) und Familie. Vor 80 Jahren geschah in Berlin ein selten beleuchteter Dreifach-Selbstmord. Aber bekanntlich sind Gottes Wege sowieso unerforschlich. Ursprünglich evangelischer Theologe, hatte sich Jochen Klepper nicht, wie sein Erzeuger, aufs Pfarramt, vielmehr auf Freie Schriftstellerei verlegt. Das faschistische Schreibverbot ereilte ihn erst 1937, wurde zudem erst 1942 in Kraft gesetzt. Man hatte Klepper inzwischen, nach rund einjährigem Kriegsdienst, als »wehrunwürdig« eingestuft und zuletzt die ganze Familie mit Deportation bedroht, weil seine (13 Jahre ältere) Ehefrau Johanna und deren jüngere Tochter Renate Stein, wohl 18 Jahre alt, »jüdisch« waren. Im Dezember des Jahres entschlossen sie sich deshalb (angeblich) gemeinsam, in den Tod zu gehen: Schlaftabletten und Gas. An die Wohnungstür hatten sie vorsorglich ein Warnschild geklebt. Die ältere Tochter Brigitte entging diesem Familientod, weil man ihr noch die Ausreise gestattet hatte. Klepper war 39.
~~~ Entgegen manchen schöngefärbten Quellen war der glühende Christ Klepper keinesfalls »Widerstands-kämpfer«, ja noch nicht einmal Demokrat. Ohne seine »falsche« Ehe hätte er im »Dritten Reich« kaum Ärger gehabt. Klepper war monarchistisch, also autoritär gestimmt. Neben einem angeblich bedeutenden Tagebuch wird oft sein zweibändiges Werk Der Vater. Roman des Soldatenkönigs (Friedrich Wilhelm I. von Preußen, um 1700) gelobt. Klepper hatte selber einen übermächtigen Vater, entschuldigte ihn aber, wie er alles entschuldigte, mit »Gottes Wille«. Die Arnsberger Freie Publizistin Ursula Homann, geboren 1930, drei Kinder, verhehlt dies alles (auf ihrer Webseite*) nicht, scheint es freilich auch nicht für sonderlich betrüblich zu halten. Selbst bei ihr finde ich kein Aufmerken angesichts der Tatsache, daß wir in Kleppers Fall vor einem Dreifach-Selbstmord stehen. Seine ungefähr 18jährige Stieftochter Renate, über die man leider im gesamten Internet buchstäblich nichts erfährt, starb ja ebenfalls – freiwillig? Von den lebensbedrohlichen Aussichten erzwungen? Oder vielleicht doch in erster Linie von ihren Eltern? Möglicherweise wird diese heikle Frage in der vergleichsweise umfangreichen Literatur über Klepper erörtert; ich fürchte freilich, eher nicht.
~~~ Wird Kleppers innige Liebe zu seinen Kindern beschworen, gerate ich jedenfalls ins Grübeln. 1933 erzielte er als Journalist und Schriftsteller die erste größere Aufmerksamkeit mit seinem gern als »frech« ausgegebenen Roman Der Kahn der fröhlichen Leute, 1950 sogar verfilmt (Regie Hans Heinrich). Der Roman ist im zeittypischen »coolen« Ton der »Neuen Sachlichkeit« geschrieben, der wahrscheinlich, in seiner Kurzangebundenheit, mitverantwortlich für den Mangel an Anschaulichkeit und Buchklima ist. Nun, das fand man damals geil. Man nahm es dem Autor vermutlich auch nicht übel, daß er sich für diesen Roman aus dem Dunstkreis der zeitgenössischen Oderschiffahrt als Theologe oder sendungsbewußter Laienchrist vollständig in Nebel gehüllt hatte. Die Religion hat nicht den geringsten Anteil an der angeblichen Fröhlichkeit des gesamten Romanpersonals. Die ungefähr 12jährige, blonde Wilhelmine Butenhof, Vollwaise und »Schiffseignerin« eines altersschwachen Frachtkahns, darf sogar ungerügt den Konfirmandenunterricht, ja sogar die Konfirmation selber schwänzen. Dafür macht sich Klepper einmal unverhohlen über die »frommen Leute in Köben« lustig, »die in den Nachmittagsgottesdienst gingen statt in den Schifferzirkus« (S. 111).**
~~~ Nun mag man die Abwesenheit der Religion in der Tat verschmerzen können, aber leider spielt auch die Soziale Frage nicht die geringste Rolle in dem Werk. Ob Fischer, Bauer oder Bäcker; Gutsherr, Tuchfabrikant oder Reichsminister, man hat die jeweils zugemessene Bürde halbwegs redlich – und eben fröhlich zu tragen. Prahlerei ist erlaubt, sogar förderlich. Dem Schiffsjungen ist der Traum von der Kapitänsmütze unbenommen. Es ist ein völlig unkritisches, dazu wenig einfühlsames Buch. Mit Wilhelmine mutet uns Klepper ein Waisenkind zu, das in einem geschlagenen Jahr für keine Minute seine Eltern oder sonst eine Geborgenheit vermißt. Aber verloben muß sich Wilhelmine, am Schluß. Zwei Hochzeiten krönen das Werk. Bis dahin hat das Waisenkind auch das Spielen selten vermißt, denn Klepper hat ihm schließlich die erwähnte Rolle der »Schiffseignerin« verordnet, der eingebildeten Chefin, die bald ein Dutzend Leute zu ernähren glaubt. Dieser an der Oder zwischen Breslau und Stettin aufgefädelte, eigentlich bemerkenswerte Grundeinfall erweist sich dummerweise als Krampfader. Vielleicht hätte Klepper aus seiner Wilhelmine doch lieber die Flußpiratin und Rachefurie machen sollen, von der sie anfangs, nach dem Tod ihrer Eltern und der Übernahme des mürben Kahns unter Aufsicht eines Vormunds, wenigstens einmal träumen darf (S. 38). Aber das wäre, mit Günter Eich aus Lebus an der Oder gesprochen, Sand im Getriebe gewesen. Klepper stammte aus dem nahen Oderstädtchen Beuthen, dieselbe Gegend. Kurz, das Buch ist schlecht. Das hindert jedoch zahlreiche Verlage nicht daran, es bis zur Stunde immer wieder neu aufzulegen.
~~~ Erstaunlich differenziert und gründlich äußerte sich vor knapp 10 Jahren*** der damalige Regensburger Prälat Bernhard Felmberg in einem Vortrag über Klepper. Der Pastorensohn habe leider von Jugend an – wo er häufig an Asthma, Migräne, Schlafstörungen litt und auch schon Selbstmordgedanken hegte – eine befremdliche Neigung zu Gehorsam, Masochismus, Märtyrertum gezeigt. Durch die Heirat kam es zum Bruch mit dem autoritären und antisemitisch gestimmten Vater. Die Frau war vermögend. 1938 wird die Familie wegen den städtbaulichen Plänen der Nazis aus ihrem Haus gesetzt. Gleichwohl dachte Klepper offenbar nie an Flucht. Er habe im Gegenteil wiederholt Ergebenheit und Abwarten dem schließlich von Gott gewollten NS-Staat gegenüber angemahnt. Auch zuletzt habe er verschiedene ungesetzliche Möglichkeiten, seine Stieftochter Renate zu retten, gehorsam ausgeschlagen. Für Klepper sei alles Prüfung durch Gott gewesen.
~~~ Bedauerlicherweise traf es dann auch Vortragsredner Felmberg hart. Er stieg 2020 zum Militärbischof auf und mutierte bald zum Ukraine-Fan. Hoffentlich hat er damit nicht den Keim zum eigenen Selbstmord gelegt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Aufsätze »Das Leid der Welt zur Sprache bringen / Leben und Werk von Jochen Klepper« und »Religiöse Fundierung«, beide o. J.: https://ursulahomann.de/DasLeidDerWeltZurSpracheBringenLebenUndWerkVonJochenKlepper/komplett.html und https://ursulahomann.de/JochenKleppersRomanDerVaterDieRomanbiografieDesSoldatenkoenigsAlsZeitansage/kap002.html
** Seitenangaben nach der Ullstein-Ausgabe Ffm 1984
*** https://www.ekd.de/27209.htm, 17. Januar 2013
Neben den Lebkuchen, die sie dort »Printen« nennen, scheint die Großstadt Aachen an der Wurm vornehmlich durch den Umstand herauszuragen, Sitz eines Bischofs zu sein. Das täuscht aber den nicht, der dank Brockhaus viele andere Städte kennt, die keineswegs mit dem Buchstaben A anfangen. Auch von denen unterschlägt das Universallexikon den Umstand, Bischofssitz zu sein, nie. Ich nenne nur die Hafenstädte Limerick, Irland, und Uruguaiana, Brasilien, wegen der hübschen Namen. Gott sei Dank kam ich nie auf den Gedanken, sämtliche Bischofssitze dieses Planeten zu zählen – gegen diese Kette wäre ein Rosenkranz bloß ein Stecknadelkopf. Somit ist klar, Brockhaus nimmt die Kirche ungemein wichtig. Das mag sogar dem gewaltigen schädlichen Einfluß entsprechen, den sie über viel zu viele Jahrhunderte hinweg ohne Zweifel besessen hat – nur, wie sieht es heute aus? Die paar Schäfchen zu zählen, die heute noch in die sogenannten Gottesdienste trotten, wäre wirklich eine leichte Übung. Aber gerade diesem Absinken in die Bedeutungslosigkeit möchte Brockhaus vielleicht entgegenwirken, indem er die Bischofssitze als genauso allgegenwärtig hinstellt wie die denkmalgeschützten Kirchtürme, die wir überall sehen und fotografieren müssen. Ich wäre allerdings auch nicht verblüfft, wenn schnöde Sammlungen mit dem Hut auf verschiedenen Bischofskonferenzen und Kirchentagen der entscheidende Beweggrund für die Mannheimer Lexikonredaktion gewesen wären, den Klerus tüchtig zu hätscheln. In diesem Fall wären die Kollekten aus dem Hut geradewegs in den Brockhaus-Schoß gepurzelt. Den naheliegenden Einwand, da habe doch wahrscheinlich nur die übliche »Macht der Gewohnheit« gewirkt, lasse ich aber gerne gelten. Sie ist für alle Redaktionen, die sich als »unabhängig« und gar »kritisch« ausgeben, eine Seuche, die unsere kleinen Corona-Viren mindestens im Ausmaß des Aachener Doms in den Schatten stellt. Höhe Westturm um 75 Meter.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 1, November 2023
Hans Böhm († 1476), auch Pauker/Pfeifer von Niklashausen genannt, war nicht etwa der Erfinder der bekannten, mit etlichen Klappen bewehrten Böhm-Querflöte, vielmehr ein fränkisch-schwäbischer Viehhirte, Musiker, Prediger, Massenagitator. Niklashausen liegt im schönen Taubertal. Der Agitator hatte in wenigen Monaten Zehntausende von armen Schluckern begeistert und zu seinen Anhängern gewonnen, weil er gegen die Habgier der Fürsten und Pfaffen wetterte und eine Ausbreitung von Gemeineigentum und überhaupt Gleichheit forderte – fast ein frühkommunistisches Programm. Immerhin 16.000 seiner AnhängerInnen sollen im Juli 1476 sogar nach Würzburg gewallfahrtet sein, um beim Fürstbischof die Freilassung des jungen, als »Schwärmer« getarnten Agitators zu erwirken. Der Herrscher ließ sie zunächst trösten, dann jedoch beim Abzug blutig verjagen. Ihr Leitstern, Böhm, wurde wenige Tage später als Ketzer verbrannt. Er war bestenfalls 25 Jahre alt.
~~~ Über Böhm, von dem wir wenig wissen, ist schon viel geschrieben worden. Einen guten Überblick scheint mir der Artikel über ihn in der deutschen Wikipedia zu geben. Sollte man aber nicht noch ein paar Takte zu den Bischöfen sagen? Sogar Brockhaus verheimlicht nicht, daß den Böhm »der Bischof von Würzburg« auf dem Gewissen hat. Allerdings dürfte dieser gar kein Gewissen gehabt haben. Was Brockhaus etwas früher in seinem Eintrag über die Bischöfe mitteilt, kann ich jedenfalls nur erbärmlich nennen. Darin geht er mit keinem Komma auf die haarsträubende Machtfülle zumindest der Bischöfe unseres Mittelalters ein. Dagegen werden diese meist Wohlgenährten in einem lesenswerten Konferenzbericht* von 2018 unmißverständlich als »entscheidende Herrschaftsträger« bezeichnet. Bleibt man da etwa an Bischof Benno von Osnabrück (um 1050) hängen, nimmt man erstaunt zur Kenntnis: »Zur Erweiterung seines Einflusses und der Macht seines Bistums avancierte er zum wohl erfolgreichsten Urkundenfälscher des gesamten europäischen Mittelalters.« Ähnlich habe ich mir von Hans Mottek im ersten Band seiner Wirtschaftsgeschichte mit Genugtuung versichern lassen, damals seien, neben Königsthronen, auch Bischofssitze käuflich gewesen. Deshalb also führt Brockhaus sie immer brav an. Schließlich trachtet er danach, sein 24bändiges Universallexikon ebenfalls gut zu verkaufen. Mottek erwähnt den Oberschurken Albrecht von Brandenburg (um 1500), der sich zwecks Erwerbung des Mainzer Erzbischofsitzes von den Augsburger Fuggern 21.000 Dukaten lieh. 1518 wurde er zusätzlich Kardinal. Als besonders gottesfürchtigen Betrüger hebt der DDR-Historiker daneben den Abt von Kempten (um 1400) heraus, der auch vor einem Meineid nicht zurückgeschreckt sei. Möglicherweise war dies auf Friedrich von Laubenberg gemünzt, der für seine Prasserei und seine Rechtshändel bekannt war. Der Papst hatte ihn sogar zum Fürstabt von Kempten erhoben. Er starb 1434.
~~~ Böhms Mörder, der Fürstbischof von Würzburg, hieß übrigens Rudolf II. von Scherenberg, gestorben 1495. Leider kann man dem schmallippigen Satansbraten nichts mehr abschneiden, eine Mützenecke zum Beispiel. Er wurde, trotz eines Steinleidens, steinalt, über 90.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024
* https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-126777
Den bekannten evangelischen Theologen und Berliner Bischof Otto Dibelius (1880–1967) gibt Brockhaus geradezu als Widerstandskämpfer, ja sogar als antiautoritären Rebellen aus. Er habe »die Eigenständigkeit der Kirche dem national-sozialistischen und dem kommunistischen Herrschaftsanspruch gegenüber« vertreten. »Wegen seiner kritischen Stellungnahme zum Problem der ‚Obrigkeit‘ in totalitären Staaten heftig angegriffen, wurde ihm seit 1960 die Ausübung seiner bischöflichen Aufgaben im Ostteil seiner Diözese verwehrt.« Fertig. Vom Wirken Dibelius‘ unter Hitler haben wir lediglich erfahren: 1933 »aus politischen Gründen« als Generalsuperintendent der Kurmark amtsenthoben und »danach führend in der Bekennenden Kirche« tätig. In Wahrheit hatte Dibelius den Machtwechsel ausdrücklich begrüßt. In der Potsdamer Nikoleikirche hatte er am 21. März 1933 zum Wohlgefallen Hermann Görings gepredigt. Er hatte nie verhehlt, das Judentum und die Sozialdemokratie zu verabscheuen. Wenn die Nazis gleichwohl die Kirche und damit auch Dibelius‘ hohes Amt einkassierten (Entlassung im September 1933), war es natürlich ärgerlich für ihn. Ein Anbiederungsversuch hatte die neuen braunen Kirchenchefs nicht erweicht. Zur Mitarbeit in der Bekennenden Kirche rang sich Dibelius meines Wissens erst im nächsten Sommer durch. Ab 1937 soll er mehrmals Haft erlitten haben. Gegen die Judenverfolgung predigte er nie, obwohl ihm gewisse Vorgänge in gewissen KZs, laut verschiedenen Quellen, keineswegs unbekannt waren. Dem Staat mußte gehorcht werden, wie es schon Luther wollte. Nach dem Krieg erfreute sich Dibelius einer einzigartigen Ämter- und Machtfülle. Er stieg bis zum »Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland« auf. Der Theologe Thomas Klatt nennt ihn 2017 schon in der Überschrift seines Porträts* den »erfolgreichen Opportunisten«. Mit der Obrigkeit seines Parteifreundes Konrad Adenauer, Militär eingeschlossen, hatte Dibelius nie Probleme. Der Berliner Historiker und TU-Professor Manfred Gailus habe ihn deshalb als echten »Kalte-Kriegs-Bischof« bezeichnet. So also muß man die verklausulierte Schlußbemerkung des Brockhaus-Eintrages verstehen: Ostberlin sperrte den Bischof in Nato-Uniform.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Thomas Klatt, »Der erfolgreiche Opportunist: Otto Dibelius«, 15. Mai 2017: https://www.evangelisch.de/inhalte/142177/15-05-2017/ekd-ratsvorsitzender-otto-dibelius-antisemit-predigt-zu-hitlers-machtergreifung-vor-dem-bundestag
Dinant ist eine wallonische Stadt an der unteren Maas, zu Brockhaus‘ Zeiten 12.000 EinwohnerInnen. Für ihn scheint sie vor allem als Handelsplatz und Teil eines Bistums bemerkenswert zu sein. Wahrscheinlich grämt er sich noch heute, daß sie nicht auch Bischofssitz war. Der lag in Lüttich. Immerhin bringt Brockhaus ein Foto, das eine reizvolle Uferansicht vor felsigem Hintergrund zeigt. Die Häuserzeile an der Maas strahlt wahrscheinlich genau den Charme aus, den ich schon andernorts gepriesen habe. Leider wird sie aber von der zur Rechten hinter ihr aufragenden klotzigen, auch noch grau gefärbten Stiftskirche Notre-Dame nahezu zermalmt. Die Kirche ist fast so breit wie eine Hälfte der Häuserzeile und etwa dreimal so hoch. Im Adventskranz, der bei meinen Großeltern auf dem Wohnzimmertisch zu stehen pflegte, wäre schon allein der Kirchturm eine bis zur Hängelampe reichende fette Altarkerze gewesen. Als Teufel hätte ich sie bereits am ersten Advent mit der Handsichel meines Großvaters umgemäht, aber damals war ich noch kein Teufel, vielmehr ein Mitarbeiter der Jungschar des CVJM-Kassel, der zu großen Hoffnungen berechtigte. Die Waltershäuser Bürger und die Bauern aus den umliegenden Dörfern des Amtes Tenneberg machten es um 1525 leider nicht viel besser. Als sie niedergeworfen waren oder freiwillig gekuscht hatten, zog der reformfreudig gestimmte Landesfürst händereibend die Güter und Schätze der Klöster ein, schickte die katholischen Prediger in die Wüstungen seines Landes und stellte sich gleichsam als Busenfreund Martin Luthers hin. Schon 1536 war der Waltershäuser Stadtrat wieder blöd genug, um die eigene Stadtkirche für 350 Gulden neu eindecken zu lassen. Dabei gab es leider einen Arbeitsunfall, den Gott wohl im Keime übersehen hatte. Sieben Handwerker, von denen »zwei todt geblieben, die anderen aber ungesund und Krüppel worden«, waren vom Gerüst gestürzt, wie sich Sigmar Löfflers detailreicher Stadtgeschichte entnehmen läßt. Waltershausen hatte damals ungefähr 500 EinwohnerInnen. Nun waren es zwei weniger.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
Kürzlich habe ich den bemerkenswerten elsässischen Wallfahrtsort Drei Ähren vorgestellt, wo ein Schmied eine Marienerscheinung hatte. Aber dank Brockhaus kann ich das schon wieder übertrumpfen. In Fátima, einem Städtchen in Mittelportugal, hatten sage und schreibe drei Kinder im Jahr 1917 »jeweils am 13. der Monate Mai bis Oktober Marienerscheinungen, die 1930 von der katholischen Kirche für glaubwürdig erklärt wurden«. Das hätte die UNESCO (gegründet 1945) kaum besser einfädeln können. Flugs wurden die einschlägigen Kirchen, Hotels und Kassenhäuschen errichtet – inzwischen pilgern mindestens vier Millionen Leute jährlich zu dieser »gut geölten Maschine des weltweiten Wallfahrtstourismus«, wie Tilo Wagner für den Deutschlandfunk 2017, also zum 100. Jahrestag der Erscheinungen mitteilt. Jene drei kleinen Pioniere sollen übrigens schlichte Hirtenkinder gewesen sein.* Zwar räumt der Sender ein, auch in Portugal hätten sich die katholischen Kirchen im Laufe der Postmoderne eigentlich in rasender Geschwindigkeit entvölkert, zumal von der Jugend. Gleichwohl dürfe keiner es wagen, in Fátima ketzerische Töne von sich zu geben. »Den Glauben und die Marienerscheinung in Frage zu stellen, wird hier nicht als persönliche Meinung akzeptiert, sondern als eine direkte Bedrohung für die lokale Wirtschaft betrachtet.« Kritik an Rüstungsgeschäften ist nur deshalb noch schlimmer, weil sie die globale Wirtschaft torpediert.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/F%C3%A1tima#/media/Datei:ChildrensofFatima.jpg
Die keineswegs winzige bayerische Kreisstadt Freising (zwischen Landshut und München) wäre für den Brockhaus-Verlag ein idealer Firmensitz gewesen. Einst Castrum Frigisinga genannt (»nach dem Personennamen Frigis«), glänzte sie noch im frühen Mittelalter mit einer Herzogspfalz. Dann jedoch kam der Wanderbischof Korbinian vorbei – und binnen weniger Jahrzehnte mauserte sich Freising (um 800) zu einer ausgesprochen geistlichen Stadt, mit Bischofssitz, Domschule, Kloster, Brauerei und allem, was sonst noch an PR-Instrumenten für die Volksverdummung vonnöten ist.
~~~ Der erste Bischof war selbstverständlich Korbinian. Über diesen gibt es eine hübsche Legende, die sich prompt im Siegel, dann auch im Wappen der Stadt niederschlug. Auf einer Reise nach Rom sei der fromme Mann von einem Bären überfallen worden. Das Tier zerfetzte Korbinians Lastpferd; dieser selber war ihm vielleicht zu zäh. In der Tat war nun Korbinians heilige Überzeugungskraft gefragt. Denn er dachte natürlich nicht im Traume daran, sich sein Gepäck selber aufzubürden. Also herrschte er den schmatzenden Bären an: Greife dir sofort mein Reisegepäck und lade es dir auf den Buckel! Wir müssen nach Rom. Der Bär gehorchte aufs Wort, und seitdem sieht man ihn, im Wappen, als gedemütigtes Lasttier.
~~~ Allerdings wurde an dem Wappen schon wiederholt herumgedoktert, zuletzt 2023. Die oberpostmodernen Mütter und Väter der Stadt versichern dazu*, jetzt könne der Bär »mit einer überarbeiteten Körperhaltung Optimismus und Zuversicht für die Zukunft« vermitteln. Bis dahin wirkte er zu gebeutelt. Dabei geht es dem bayerischen Volk doch schon seit Jahrhunderten wunderbar! Vor allem den Bischöfen und einer gewissen Frau Susanne Klatten. Das ist die bekannte BMW-Kühlergrillfigur, 2018 reichste emanzipierte Dame Deutschlands. Sicherlich hat Klatten auch die Erstattung der geschätzt 250.000 Euro übernommen, die die Stadtkasse für die jüngste »Corporate Identity«-Maßnahme locker zu machen hatte.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* https://www.freising.de/stadtportraet
Siehe auch → Religion
Kivi, Aleksis (1834–72), südfinnischer Schriftsteller, verkannt. Ein Spezial-Lexikon über die Spezies der Verkannten dürfte ähnlich umfangreich wie mein 24bändiger Brockhaus ausfallen. Kivi steht immerhin schon drin. Vielleicht ist mir zunächst die Frage gestattet, durch was sie alle, die Verkannten, eigentlich verbunden werden. Die Antwort liegt auf der Hand: durch Zufall. Das Alphabet täuscht nur. Man wird nicht einen Fall der Verkennung oder aber der Anerkennung vorbringen können, der nach so etwas wie zwingender Notwendigkeit verlaufen wäre. Das schließt Namen von etlichen Berühmtheiten ein, die ich für Windbeutel halte, wobei ich mich allerdings hüten werde, sie an dieser Stelle zu nennen. Erfolg und Mißerfolg hängen immer von Dutzenden von Faktoren ab, die der Betreffende nicht oder kaum zu beeinflussen vermag, die kulturpolitischen Umstände, seinen Gesundheitszustand und selbst das Wetter eingeschlossen. Dieser schwankenden Lage, bei der ein Künstler wie auf einem Fluß zu turnen hat, der genauso viele Eisschollen wie Strudel bietet, entspricht natürlich der Umstand, daß noch niemand den Meßpegel für künstlerische, insbesondere literarische Qualität erfunden hat. Auch deren Beurteilung hängt von vielen zufälligen Bedingungen ab, unter denen die Voreingenommenheit oder die Faulheit des Kritikers nicht die seltenste darstellt.
~~~ Das einzige, worauf in diesem Bereich Verlaß ist, sind die betroffenen KünstlerInnen selber. Sie fühlen sich immer verkannt. Woran liegt das? Selbstverständlich an jener befangenen Selbstliebe, die vom Automobil bis zur Vaterlands- und Kindesliebe vor nichts Halt macht. Was uns gehört, unser Eigenes, ist immer das Schönste und Wichtigste. Das beliebte Argument zur Rechtfertigung dieser Selbstüberschätzung, nämlich man wünsche die Anerkennung billigerweise als Entschädigung für die große Mühe, das viele Wissen und die lange Zeit, die man in das betreffende Kunstwerk gesteckt habe, darf getrost in der Pfeife geraucht werden. In die Stadt X. zum Beispiel habe ich nicht einen Backstein gesteckt. Aber ich wurde in ihr geboren, ich wuchs in ihr auf, ich verliebte mich in ihr zum ersten Male, ich kenne alle ihre lauschigen Winkel wie meine Westentaschen, ich durfte in ihr die Uraufführung meines ersten Theaterstückes erleben und so weiter – und deshalb ist sie immer die schönste und wichtigste Stadt auf der Welt.
~~~ Nehmen wir Weimar. Im September 1987 war dort eine Ausstellung über Aleksis Kivi zu sehen. Ich will mich darauf beschränken, den berühmten Mann mit einigen Worten des zu unrecht wenig bekannten DDR-Schriftstellers Armin Müller vorzustellen, gestorben 2005. Müller lebte in Weimar. Er schreibt* über den Schneidersohn, der sich schon früh auf Bücher geworfen hatte: »Als Kivi, Anfang Dreißig, seine Sieben Brüder zum Druck geben wollte, winkten die Verlage ab, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Roman im Selbstverlag herauszubringen. Doch das sollte ihm nichts helfen. Der berühmteste Kritiker des Landes verriß das Buch, und Kivi, ein sensibler, kränklicher Mann, zerbrach daran. Er war erst achtunddreißig, als er 1872 in einer Nervenheilanstalt starb. / Zehn Jahre später fand sein Buch die verdiente Anerkennung. Seitdem gilt Kivi als der bedeutendste Dichter Finnlands, der Roman ist in zwanzig Sprachen übersetzt, und der Geburtstag seines Autors wird als Nationalfeiertag begangen. / W. H. erzählt diese Geschichte auf der Wahlversammlung des Schriftstellerverbandes in Weimar, und mancher der Anwesenden hört sie sichtlich gern. Die potentiellen Kivis unter uns scheinen in der Mehrzahl zu sein.« – Laut Petri Liukkonen** hatte man bei dem verschuldeten und zunehmend verwirrten Schriftsteller Kivi »Schizophrenie« diagnostiziert. Sein Bruder Albert habe ihn aus der erwähnten Nervenheilanstalt losgeeist und ihn für sein letztes Lebensjahr in ein gemietetes oder gekauftes Häuschen in Tuusula am Tuusulanjärvi-See (bei Helsinki) verfrachtet, wohl dem Heimatort ihrer Mutter. Das selbstbewußte letzte Worte des 38jährigen Verkannten gibt Liukkonen mit »minä elän!« wieder: Ich lebe!
~~~ Einmal abgeschweift, führe ich auch noch Wien an. Niemand kennt Antonín Smital – auch ich nicht. Für den österreichischen Schriftsteller und Journalisten Stefan Großmann war er »ein slawisches Talent«, das seine wöchentlichen »dichterischen Skizzen« in Victor Adlers Wiener Arbeiterzeitung mit »Oblomow« zeichnete. Auch Peter Altenberg habe damals, um 1895, große Stücke auf Smital gegeben. Doch eines schlechten Tages, das war 1897, habe man just aus der Arbeiterzeitung erfahren, Smital sei tot. Niemand habe sich um den Nachlaß des ungefähr 34jährigen tschechisch-deutschen Schriftstellers gekümmert, der sich auch als Übersetzer (Bozena Němcová) versuchte. »Nie ist auch nur eine einzige Sammlung der kleinen Novellen Smitals erschienen, die ihn berechtigt hätten, sich neben Anton Tschechow zu stellen«, schreibt Großmann in seinen 1930 veröffentlichten Erinnerungen Ich war begeistert. Für ihn zählt Smital zu den vielen Beweisen dafür, wie töricht der Glaube sei, jedes wirkliche Talent finde auch die Beachtung, die es verdiene. »Ruhm ist Zufall und noch dazu ein unhaltbarer. Ruhm ist außerdem eine Angelegenheit des Willens. Gerade die Edelsten wollen nicht.« Oder die Götter waren nicht gewillt, wie ich schon gelegentlich bemerkte, ihnen einen starken Willen mitzugeben.
~~~ Für »die vielen Kivis unter uns« ist es natürlich tröstlich, wenn auch Großmann sich fragt, welche Unmengen an Talenten oder Genies, an zukünftigen Shakespeares oder Tschechows wohl allein deshalb verkümmern mußten, weil die Ungunst der Stunde oder Lebensunmut sie am Aufblühen hinderten. Dasselbe fragte sich 1985 der zeitweilige P.E.N.-Vorsitzende Martin Gregor-Dellin in seinem Buch Was ist Größe? Man muß aber heute zu bedenken geben, daß an dieser Verkümmerung nicht nur Gene, Milieus und Austilger wie der finnische Kritiker August Ahlqvist oder wie Johannes Brahms schuld sind (Fall → Rott). Sondern es gibt inzwischen, entsprechend sowohl zur Übervölkerung dieses Planeten wie zur grundsätzlichen Überschätzung des Kunstschaffens, einfach zu viele Talente. Unter »marktwirtschaftlichen« Bedingungen ist unmöglich Platz für sie alle. Das Netz ist voll. Da kommen nur die ruppigsten Exemplare oder die Eintagsfliegen durch.
~~~ Eine jüngste Internet-Suche zwingt mich zu einer Ergänzung zu Smital. Möglicherweise hat er mindestens zwei Bücher veröffentlicht, nämlich 1888 das »Galiziſche Sittenbild« Die Familie Kobinſan und 1894 den Roman Von Herzen — mit Schmerzen. Das steht in einem zeitgenössischen Lexikon (Franz Brümmer, Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. 6, 6. Aufl. Leipzig 1913, S. 450) – aber auch nur dort. Brümmer hat überdies ein paar spärliche biografische Angaben zu bieten. Danach war Smital Landwirtssohn aus dem mährischen Dorf Pollein. Als Gymnasiast von schwacher Gesundheit, befaßte er sich in einigen Jahren neben dem Feldbau »privatim« mit Philologie und Geschichte. Besonderes Vergnügen hätten ihm vogelkundliche Studien bereitet. Schließlich aus familiären Gründen zur Erwerbstätigkeit gezwungen, habe er sich zunächst in Prag, dann in Wien schriftstellerisch betätigt. Dort sei er in die Redaktion des Neuen Wiener Tagblatts eingetreten. Damit endet Brümmers Schilderung. Ferner scheint es einen deutlich jüngeren, 1991 erschienenen, ungefähr fünf Seiten langen Porträt-Artikel über Smital von František Spurný zu geben. Eine Webseite*** nennt als Titel: »Zapomenutý česko-německý spisovatel Antonín Smital« (Der vergessene tschechisch-deutsche Schriftsteller Antonín Smital, 1863–97).
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Armin Müller, Tagebuch Ich sag dir den Sommer ins Ohr, Rudolstadt 1989, S. 283
** Petri Liukkonen in seinem Authors' Calendar, Stand 2018: https://authorscalendar.info/akivi.htm
*** https://biblio.hiu.cas.cz/records/b231a41b-6e53-4620-8484-a247db911b9c?back=https%3A%2F%2Fbiblio.hiu.cas.cz%2Frecords%2Fe36b151d-d9b9-420c-9424-a64d8d27ba40%3Flocale%3Dde&group=b231a41b-6e53-4620-8484-a247db911b9c
Klima
Risse im Hockeystick --- Wer denkt noch an alle Einbrüche unterhalb der Kragenweite Watergate? Das jüngste Ding ist schon nach wenigen Wochen Schnee von gestern. Ende November 2009 brachen KetzerInnen, die an den überall beschworenen Klimawandel nicht glauben, in den Server der Universität von East Anglia im britischen Norwich ein, wobei sie über 1.000 Mails und etliche andere Dokumente von maßgeblichen Klimaforschern erbeuteten, die am Climate Research Unit (CRU) dieser Hochschule arbeiten und dem UNO-Klimarat IPCC regelmäßig die wissenschaftliche Absolution erteilen. Ein russischer Server veröffentlicht die Beute. Die Hochschulleitung bestätigt den Einbruch. Die Webseite Alles Schall & Rauch (ASR) bringt Auszüge aus den Dokumenten – sie überführen die KlimareligionsführerInnen eindeutig des Betrugs. Danach sind emsig Daten gefälscht worden, um eine jüngste Erwärmung des Erdklimas zu »beweisen«, die es gar nicht gibt.
~~~ CRU-Chef Phil Jones, selber in den Dokumenten belastet, dementiert ihre Echtheit nicht; vielmehr tritt er am 2. Dezember von seinem Posten zurück. Offenbar haben die HackerInnen (oder Gewährsleute) ins richtige Wespennest gestochen. Wolfgang Pomrehn, »Klimaspezialist« diverser angeblich kritischer Blätter, giftet am 22. November in Telepolis zurück, weil ihr die Argumente ausgingen, sei »die Lobby der Dinosaurier-Industrien und ihre Fangemeinde« jetzt schon auf Diebstähle angewiesen. Nicht die großen VerbergerInnen, die kleinen Wallraffs sind also die Schweine. Pomrehn rückt die nicht staatlich oder privatwirtschaftlich legitimierten DatenräuberInnen in die Nähe von Rassisten und anderen Aufhetzern. Sein einziges eigenes Argument ist fadenscheinig; selbst recherchiert hat er nichts.
~~~ Am 23. Februar 2010 wartet ASR mit einem Film auf, der die fragwürdigen Methoden des angelsächsischen »Hockey-Teams« von Finnland aus beleuchtet. Die knapp 30minütige Dokumentation Ilmastogate des öffentlich-rechtlichen finnischen Fernsehsenders YLE vom Jahresende 2009 ist hier mit deutschen Untertiteln versehen. Sie stützt sich wiederholt auf den »gehackten« Email-Verkehr der Fälscherbande, läßt aber auch zahlreiche ein- und ausheimische »seriöse« KlimaskeptikerInnen zu Wort kommen, darunter den kanadischen Statistiker Steve McIntyre. Der Bitte der FilmemacherInnen um Auskünfte oder Gespräche schenkten weder Jones noch die CRU-Pressestelle Gehör. Das Resümee ihres Beitrags ist trotz behutsamer Formulierungen für das Hockey-Team vernichtend. Ein Dogma wurde in die Welt gesetzt und mit Zähnen und Klauen verteidigt. Auf diesem niemals korrekt abgesicherten Dogma fußt ein beträchtlicher Teil gegenwärtiger Weltpolitik.
~~~ Ich will die Argumentation der »Klimaskeptiker-Innen« kurz zusammenfassen. Es hat auf Erden schon immer Kalt- und Warmzeiten gegeben. Die Rolle des keineswegs giftigen Gases CO² beim modernen Treibhauseffekt und der möglichen Erderwärmung ist verschwindend gering. Hauptverursacher der Klimaschwankungen dürfte die unterschiedliche Aktivität der Sonne sein, auf der Tag für Tag ungeheuerliche Prozesse stattfinden. Damit verglichen stellt unser industrielles Wirken auf Erden ein Basteln im Hobbykeller dar. Die Methoden sowohl der rückwärts-gewandten wie der zeitgenössischen Temperaturmessung, beispielsweise über Baumringe und Meßstationen der CRU, sind unter Klimawissenschaftlern durchaus umstritten. Ich nenne nur das Problem »urbaner Wärmeinseln«, die deutlich andere, nämlich höhere Werte als ländliche Meßstationen liefern. Für das Abschmelzen der Gletscher, gar der Polkappen gibt es so wenig handfeste Beweise wie für den Anstieg des Meeresspiegels – keine. Selbst wenn die letzteren schmölzen, könnten sie laut einem physikalischen Grundgesetz gleichwohl niemals den Meeresspiegel anheben. Senken Sie einen Eiswürfel in Ihr fast randvolles Glas Glühwein, und Sie werden das Gesetz nach einigen Minuten bestätigt finden: das Glas läuft nicht über.
~~~ Das globale Klima selbst verhält sich leider nicht so simpel. Es stellt ein überaus komplexes Phänomen dar, das mit Computermodellen nicht erfaßbar ist. Wird von hundert Faktoren nur ein Faktor verändert, ergibt sich sofort ein anderes Gesamtbild. Für Manipulationen öffnet sich hier ein riesiges Feld. Wie die gehackten Emails belegen, war die Crew um den Briten Phil Jones und dessen Busenfreund Michael Mann aus den USA natürlich darauf bedacht, nie an Manns schon berüchtigter »Hockeystick«-Grafik zu rütteln. Danach beschreiben die langfristigen Kurven irdischer Temperaturen einen Hockeyschläger, dessen »Schaufel« just in den jüngsten Jahrzehnten nach oben zeigt, also einen jähen Anstieg vorgaukelt.
~~~ Eigentlich hätte ich schon 1999 die Stirn runzeln müssen. Laut meinem Privatarchiv stellte damals Christian Pfister in der kleinen FAZ-Serie Jahrhundertwetter einige historische Wetterextreme vor. Die heißesten und trockensten Jahre des Jahrtausends seien 1473 und 1540 gewesen. Andererseits kamen in der Zwischenzeit grimmigste Eiswinter vor. Das Jahr 1473 schildert Pfister recht farbig. Um Basel blühten die Kirschbäume Anfang März. Das Getreide wurde Anfang Juni gemäht. »Im August wurde ein feuriger Wein gelesen. Gnadenlos brannte die Sonne. Am 30. Juni fiel für neun lange Wochen der letzte Regen. Dürre breitete sich aus. Die Brunnen versiegten, das Vieh verschmachtete, das unreife Obst fiel zu Boden. Bäume warfen schließlich ihre Blätter ab, so daß sie unbelaubt dastanden wie mitten im Winter. Böhmerwald, Thüringer Wald, Schwarzwald und andere Wälder standen in Flammen. Rauch lag in der Luft. In höchster Not wurde Ende August in Frankfurt am Main eine Prozession um Regen angesetzt. Als im Herbst das ersehnte Naß vom Himmel strömte, sproß das Gras wie im Frühjahr, die Bäume belaubten sich wieder, ja, manche blühten sogar ein zweites Mal.«
~~~ Gegen so etwas waren die letzten zwei oder drei Sommer in Deutschland Schläge ins Wasser. Im jüngsten fror ich geradezu. Noch im Juli heizte ich deshalb in meiner Gartenhütte mehrmals morgens ein. Im August gab es in Westthüringen lediglich einen wirklich drückend heißen Tag mit 33 Grad und abschließendem Gewitter. Dagegen zeigt sich der gegenwärtige Winter ausgesprochen streng. Doch das mediale Trommelfeuer der befremdlichen Einheitsfront aus Straße und Gipfelkonferenz, Bürgerinitiative und Staat, Arm und Reich, Frankfurter Allgemeine und Junger Welt, Graswurzlern und Ex-FDJ-Funktionärin Angela Merkel gefriert bis zur Stunde nicht, wobei die ergebnislose Posse des »Klimagipfels« in Kopenhagen vom Dezember 2009 ein Geld verschlingt, mit dem man die angeblich vom Untergang bedrohten knapp 1.200 Inseln der Malediven hydraulisch aus dem Indischen Ozean heben könnte.
~~~ Hier drängt sich natürlich die Frage auf: wozu dieser ganze Aufwand, mit dem die »Klimalüge« lanciert und verteidigt wird? Um den Planeten zu retten? Nein, die Profite – wie immer. Zunächst kommt die Ächtung des CO²-Ausstoßes der Atomenergiebranche zugute, die seit einigen Jahren wieder Morgenluft wittert. Die Gewinnspannen von Betreibern hochsubventionierter Kernreaktoren sind riesig. Was Wunder, wenn die Energiebosse bei den Laufzeiten um jeden Tag kämpfen. Neue AKWs sprießen weltweit schon wieder wie Pilze – zur Freude von Siemens & Co. Weiter beschwingt jene Ächtung den lukrativen Emissionshandel, dem sich unter anderem die Ölkonzerne widmen. Auch Klimaschutzvorkämpfer Al Gore soll damit eine Menge Geld verdienen. Allein für seine flammenden Vorträge streicht er um 50.000 Dollar ein – pro Auftritt. Der geplante Boom für Elektroautos wiederum – unter Insidern Nachtspeicheröfen auf Rädern – wird selbstverständlich den Stromgiganten zugute kommen.
~~~ Aber vergessen wir die angeblich wertfreie Wissenschaft nicht. Wer heute über den »Klimawandel« forscht, sitzt in einer Goldgrube, denn die »Fördergelder« prasseln genau auf ihn. Tut er es nicht, ziehen sie an ihm vorbei: Milliarden ade. Daneben gebar die Religionsstiftung »Klimawandel« Hunderttausende von gut dotierten Arbeitsplätzen für KlimaschützerInnen, die sich zudem im Brennpunkt »öffentlichen Interesses« sonnen können. Das hat beiläufig den Vorteil, uns und das Kapital der Sorge um alles Elend der Welt zu entheben, das mit drohenden Warm- oder Eiszeiten nicht das geringste zu tun hat. Ferner sehen sich gigantische Wasserbauprojekte in Südkorea, Türkei, Brasilien begünstigt, die bereits clever als Klimaschutzmaßnahmen ausgegeben werden. Schließlich reiben sich auch die FinanzminsterInnen aller so gut wie bankrotten Staaten ihre Hände, läßt sich doch eine derart »konkrete« Ursache des »Klimawandels« wie der CO²-Austoß wunderbar einfach mit Steuern belegen.
~~~ Dagegen kommt ein Pomrehn wahrscheinlich kaum über sein Zeilenhonorar hinaus – was hätte er also davon, am Mythos »Klimawandel« festzuhalten? Er bekäme sein Zeilenhonorar auch für Texte, die den Lärmschutz ankurbeln. Nur hätte er dann falsch gelegen! Der finnische Fernsehfilm krönt seine Entlarvung mit einem Jones-Zitat aus den gehackten Emails, das sinngemäß besagt, der Herr Institutsleiter wünsche sich die Klimaerwärmung brennend, damit alle Welt sehe, sie hätten recht gehabt. Hierin erblicke ich das persönliche Hauptmotiv der Hockeystick-Fetischisten. Sie und alle, die ihnen die Pucks und die Aufputschpillen hinterhertragen, müssen erbittert an der einmal eingeschlagenen Marschroute festhalten, damit sie ihr sprichwörtliches Gesicht nicht verlieren.
~~~ Ich neige immer mehr zu der Ansicht, dieses Motiv sei erheblich fundamentaler als landläufig angenommen wird. Meinungen, Moden, Trends kommen oft sehr zufällig zustande; jedenfalls entspringen sie nur selten ausschließlich der naheliegendsten Profitquelle. Sind sie aber erst einmal zur verbreiteten Überzeugung oder gar zur Weltreligion erhoben worden, fordern sie ihre Daseinsberechtigung so massiv, daß auch ihre VerkündigerInnen gerne recht behielten. Das macht grundsätzlich alle Unheilspropheten so unangenehm, wie Alain wiederholt bemerkte. In Bremerhaven gibt es seit Sommer 2009 sogar ein Museum, das sich speziell dem »Klimawandel« widmet. Das Klimahaus 8 Grad Ost hat 100 Millionen Euro gekostet. Wer wollte eine eherne Instanz wie ein Museum kleinlaut wieder schließen? Kürzlich las ich die dicke Darwin-Biografie von Desmond/Moore zum zweiten Mal. Dabei fiel mir gerade dieser Zug an dem gutbetuchten, verbindungsreichen Evolutions-Theoretiker aus dem 19. Jahrhundert auf: »seine Furcht vor Ablehnung und Prestigeverlust«, wie es auf Seite 620 der Rowohlt-Ausgabe heißt. Darwin kränkelte zeitlebens, und genauso lang verfolgte ihn die Angst, sich in die Nesseln zu setzen oder, schlimmer noch, als Außenseiter zu gelten. Entsprechend frohlockte er bei jedem »Beweis«, der seine Annahmen unterstützte, und grämte sich über gegenteiliges Material.
~~~ Am 18. Februar 2010 ist die Lage des Eishockeyteams so brenzlig geworden, daß Ausputzer Pomrehn von der kommunistischen Tageszeitung Junge Welt eine halbe Seite bekommt, damit er – gegen die »Desinformations-kampagne« von »Boulevard-Journalisten, Industrielobbyisten und Verschwörungstheoretikern« – in die vermeintliche Offensive gehen kann. Offenbar läßt sich jene »Kampagne« nicht mehr ignorieren. Nicht etwa, daß er Jones Eingeständnis erwähnte, die mittelalterlichen Warmzeiten könne es gegeben haben, während für die letzten 15 Jahre gar keine »signifikante« Erderwärmung nachweisbar sei. Das sagte Jones laut Daily Mail vom 14. Februar in einem BBC-Interview. Oder daß er wenigstens jene »Vertrauenskrise der Klimaforschung« erwähnte, die sich laut Spiegel vom 25. Januar seit Wochen »vertieft«. »Zunächst ging es um die unerlaubte Veröffentlichung von E-Mails aus den Archiven der University of East Anglia, die die Klimawissenschaftler in Mißkredit brachten. Jetzt gibt es Wirbel um Fehler in den offiziellen IPCC-Berichten und Verdacht auf Interessenkonflikte. Im Mittelpunkt der Krise steht der Uno-Klimarat, der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), und dessen Vorsitzender Dr. Rajendra Pachauri.«
~~~ Nichts davon bei Pomrehn. Für ihn hacken die VerschwörungstheoretikerInnen (vom Spiegel) auf nur einem Fehler herum, der sich in dem 1.000 Seiten starken Klimabericht des IPCC von 2007 gefunden habe: das Abschmelzen der Himalaya-Gletscher betreffend. Sie hecheln die Erdoberfläche nach unsachgemäß aufgestellten Meßstationen ab und blasen »das Abzocken von Forschungsgeldern« zum Hauptmotiv der angeblichen VerschwörerInnen auf. Im Verein mit der Global Climate Coalition aus Automobil-, Öl-, Chemie- und Kohlekon-zernen versuchen sie der Öffentlichkeit hartnäckig weiszumachen, unter Wissenschaftlern gebe es einen ernsthaften Streit über die Bedeutung der Treibhausgase. »Aber wie wenig an diesem angeblichen Streit dran ist, zeigt schon die Tatsache, daß Fachpublikationen, die den drohenden Klimawandel grundsätzlich in Frage stellen, mit der Lupe zu suchen sind.«
~~~ Leider gilt das auch für Fachpublikationen, die den Kapitalismus, den Afghanistankrieg oder den Segen der Privatisierung von Eisenbahnen und Wasserwerken grundsätzlich in Frage stellen. Man kann sie mit der Lupe suchen. Die Pomrehns dagegen sind klug genug, stets auf die Mehrheit zu setzen, weil sie auf diese Weise – als der Stärkere – stets im Recht bleiben. Da kann man sich nur mit Montaigne trösten, der in seinem vor gut 400 Jahren verfaßten Essay Von den Hinkenden die unselige Sitte beklagt, als den »besten Prüfstein der Wahrheit die Menge der Gläubigen« zu erachten – »in einem Gewimmel, in dem die Zahl der Narren die der Weisen um ein so Vielfaches übertrifft.«
∞ Veröffentlicht 2010 in Nr. 153 der Zeitschrift Die Brücke. Mehrere andere »linke« Blätter hatten den Beitrag verschmäht, wobei sie nicht mit fadenscheinigen Gründen oder Schweigen sparten.
Nachruf auf die Malediven --- Der jüngste Winter, der gerade ausklingt, war zumindest in Deutschland erfreulich mild. Ende Januar soll es wegen Schnee und Straßenglätte gehäuft zu Autounfällen gekommen sein. Am Thüringer Wald hatten wir ebenfalls nur im Januar Schnee, wenn ich mich recht erinnere, und dabei nie klirrenden Frost. Vielleicht klappt es ja doch noch mit dem »Klimawandel«. Selbst in Großbritannien hat man wieder Hoffnung geschöpft, obwohl es dort im Vorjahr noch kurz vor Ostern zu einem »Kälteinbruch« einschließlich »Schneeverwehungen« gekommen war, wie ich einer t-online-Meldung vom 24. März 2013 entnehme. Weiter weg sieht es freilich ungünstig aus. Die USA erlebten in diesem jüngsten Winter »mehrere kräftige Kälteeinbrüche«, falls Wikipedia zu trauen ist. Deutschlandradiokultur.de behauptete am 31. Januar 2014, Kiews SchülerInnen hätten kältefrei. So konnten sie trotz »mehr als 20 Grad minus« auf den bekannten Maidan pilgern, um die angebliche Revolution zu befeuern. »Im ganzen Land fordert der Frost Opfer. Stromausfälle werden gemeldet, Autofahrten werden zur Gefahr …« Sonst stellen sie keine Gefahr dar. Eine Schlagzeile der Süddeutschen.de am 4. Februar 2014 lautete: »Sotschi vor Olympia – Blauer Himmel, reichlich Schnee«. Sotschi liegt wie Jalta am Schwarzen Meer. Eine Freundin von mir hat Anfang Februar beruflich in Kaliningrad (früher: Königsberg) zu tun und teilt mir per Email mit, sie gehe dort wie auf Eiern, weil der Schnee auf den Straßen vereist sei. Doch genug der Klage! Vielmehr frage ich Sie: Darf das alles wahr sein?
~~~ Am 20. März 2000, vor genau 14 Jahren, war im britischen Independent ein Artikel von Charles Onians mit der Überschrift Snowfalls are now just a thing of the past erschienen. Der Autor führte unter anderem den bekannten »Klimaexperten« Dr. David Viner vom Klimaforschungsinstitut CRU der Universität von East Anglia ins Feld. In den kommenden Jahren werde Schneefall »ein sehr seltenes aufregendes Ereignis« werden, versicherte Viner und fügte bildkräftig und zu Herzen gehend hinzu: »Kinder werden einfach nicht mehr wissen, was Schnee ist.«
~~~ Beliebt war damals auch die Sorge um das Überleben des Urlaubsparadieses Malediven im Indischen Ozean, das KlimakatastrophenmahnerInnen wie Wolfgang Pomrehn so gern in umweltfreundlichen Maschinen anfliegen, nachdem sie sich ihren Urlaub durch flammende Artikel in »linken« Blättern wie Contraste, Freitag, Graswurzelrevolution, Junge Welt, Neues Deutschland, Ossietzky, Scharflinks, Telepolis, WOZ redlich verdient haben. Aufgrund eines durch unseren brutalen CO²-Ausstoß bewirkten beträchtlichen Anhubs des Meeresspiegels drohten die Malediven, die im Schnitt nur einen Meter über demselben lägen (wie auch meine Lieblingsenzyklopädie Wikipedia jammert), noch in diesem Jahrhundert zu versinken, klagten viele MahnerInnen. Zwar schieben sie diese spezielle Sorge neuerdings nicht mehr so in den Vordergrund, aber ansonsten lassen sie, soweit ich es beobachten kann, in ihrem Kampf gegen den »Klimawandel« nicht locker.
~~~ Bei dieser Hitze stellen Journalistinnen wie Laura Frommberg fast eine Labsal dar. Am 26. Oktober 2012 meldet sie auf der Webseite aerotelegraph.com, auf dem Baa Atoll der Malediven sei ein neuer Flughafen eröffnet worden. »Der Dharavandhoo Airport ist der neunte Flughafen für den asiatischen Staat, der aus fast 2.000 Inseln besteht. Er ist ein reiner Inlandsflughafen, der dazu beitragen soll, dass Touristen aber auch Einwohner schneller als mit dem Boot zwischen den Inseln reisen können. Zwei internationale Flughäfen gibt es bisher auf den Inseln, den Malé International Airport und den Gan International Airport.« Von vorsorglichem Hochbau wegen gewaltiger Hochwassergefahr im ganzen Artikel kein Komma.
~~~ Solveig Michelsen warnt auf der Webseite marcopolo.de (mit copyright-Angabe mairdumont 2013) vor einigen gefährlichen Landebahnen in der Welt. »Auch Maledivenurlauber erwartete ein erstes Abenteuer, wenn der Pilot das ins Meer eingebettete Rollfeld des Malé International Airports anfliegen muss. Nach zahlreichen Erweiterungen ist die Landebahn mit 3.200 Metern nun zwar fast genauso lang wie die Insel selbst, doch sie ragt weit ins Meer hinein und gibt einem das Gefühl, auf einem Flugzeugträger zu landen.« Auf dem beigegebenen Foto wirkt die ständig erweiterte Rollbahn allerdings nicht annähernd so hoch wie ein Flugzeugträger, ganz im Gegenteil. Nicht anders äußert sich übrigens K. Seitz am 23. April 2013 auf t-online.de.
~~~ Damit zu einem Fachmann, falls mich die »skeptische« Webseite eike-klima-energie.eu nicht übers Ohr haut. Auf ihr findet sich ein Gespräch* mit »Prof. em. Dr.« Nils-Axel Mörner aus dem Jahr 2010. Der schwedische Ozeanograf, laut Redaktion einer der weltweit führenden Experten auf seinem Gebiet, war unter anderem von 2000 bis 2009 Leiter des Maledives Sea Level Projects. Ich empfehle seine Ausführungen. Mörner nennt die hartnäckigen Warnungen vor einem drastischen Anstieg des Meeresspiegels und den entsprechenden Gefahren insbesondere für Inselstaaten wie Malediven, Tuvalu, Vanuatu »blanken Unsinn« und begründet das auch. Warum sich jene Inselstaaten dann trotzdem davor ängstigten? Mörners Antwort: »In Wahrheit haben sie keine Angst vor einer künftigen Überflutung. Vielmehr haben sie Angst davor, die finanziellen Mittel zu verlieren, die sie als Entschädigung für die vorhergesagte Überflutung bekommen können.«
~~~ Ich muß mich zum Weiterschreiben zwingen, denn mein Überdruß am Thema allgemein, dazu an meinem schlechten Englisch im besonderen, ist groß. Wahrscheinlich könnte man mit der geistigen und finanziellen Energie, die uns der Streit ums Klima schon gekostet hat, ganz Australien innerhalb von Sekunden um drei Meter anheben, vom Hunger Afrikas einmal zu schweigen. Wie es aussieht, bin ich mit Garth Paltridge durch reinen Zufall auf einen weiteren Fachmann gestoßen. Obwohl er offensichtlich kein Antikapitalist ist, dürften seine Ausführungen im Sinne eines Kampfes gegen den Untergang der Aufklärung durchaus von Interesse sein. Paltridge ist emeritierter Professor der University of Tasmania, wo er von 1990 bis 2002 das Institute of Antarctic and Southern Oceans Studies leitete, und Autor eines 2009 erschienenen Buches mit dem Titel The Climate Caper: Facts and Fallacies of Global Warming. Ich versuche einen Essay von ihm zusammenzufassen, der in der diesjährigen Januar-Februar-Ausgabe (2014) des australischen Magazins Quadrant zu lesen ist.**
~~~ Vor rund 40 Jahren unternahm die metereologische Weltorganisation der UN die ersten Schritte zur Etablierung eines weltweiten Klimaprogramms. Unter anderem benannte sie auf einer Konferenz in Stockholm verschiedene Probleme, die zunächst zu lösen seien, ehe an verläßliche Klimaprognosen zu denken sei. Das Hauptaugenmerk galt dabei der noch unwägbaren Rolle der Wolken und der Ozeane, die beide erheblichen Einfluß auf das irdische Klima haben. An diesen Unklarheiten, so Paltridge, hat sich in den folgenden Jahren im wesentlichen nichts geändert: sie bestehen nach wie vor.
~~~ Paltridge erläutert im einzelnen, warum es schwierig, ja fahrlässig ist, in Computer-Modellen mit dem zukünftigen Verhalten der Wolken und der Ozeane zu rechnen. Wie es dann jedoch, vor diesem Hintergrund, eine Mehrheit seiner Kollegen fertigbrächte, mit der Hand auf dem Herzen zu beteuern, für die beobachtete Erwärmung auf der Erde sei mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit der menschlich verursachte CO²-Ausstoß verantwortlich?
~~~ Die angebliche Erwärmung selber zweifelt Paltridge offenbar nicht an, wie auch die englische Wikipedia bestätigt. Er hält sie für wahrscheinlich, obwohl sich jüngst die Berichte und Eingeständnisse über eine schon rund 15jährige »Pause« in derselben häufen, wie er selber einräumt. Er macht sich lediglich über die Versuche einiger Mainstream-Kollegen lustig, die nun fehlende »Hitze« beispielsweise in den Tiefen der Ozeane zu verstecken: diese hätten die Erwärmung »absorbiert«.
~~~ Aufgrund der Ungewißheiten und Fahrlässigkeiten in den gängigen Prognosen glaubt Paltridge jedoch, die Erwärmung werde weitaus glimpflicher ausgehen, als jene Kollegen uns weismachten. Er fürchtet, das »wissenschaftliche Establishment« sei vor Jahrzehnten in die Falle getappt, das Klimaproblem um den Preis der Ignorierung der Unwägbarkeiten in der Forschungsarbeit maßlos zu dramatisieren – und nun komme sie nicht mehr heraus. Damals sprangen die WissenschaftlerInnen auf den Zug der neuen Umweltbewegung, weil sie erkannten, wie gut sich auf diese Weise Gelder locker machen und Prestige gewinnen ließe. Bald gefielen sie sich auch selber in dieser Rolle der MahnerInnen vorm drohenden Weltuntergang, die von einer spesenträchtigen Gipfelkonferenz zur anderen gondeln und bereitwillig Interviews geben. Und sie halten an ihrem fragwürdigen Kurs aus politischen, finanziellen und moralischen Gründen fest, die Paltridge durchaus sieht: Sie gehorchen dem einmal gesetzten, jetzt hoffähigen »Trend«, und sie wollen ihre Gelder und ihre Gesichter nicht verlieren. Dadurch drohten sie freilich den guten Ruf »der Wissenschaft« zu zerstören.
~~~ Paltridge fürchtet, das Engagement zur »Abschwächung der globalen Erwärmung« könne sich als teuerster Fehler herausstellen, den sich die Wissenschaft in der bisherigen Menschheitsgeschichte jemals geleistet habe. Gegenwärtig flössen den weltweit tätigen Fonds gegen den Klimawandel bereits Tag für Tag eine Milliarde Dollar zu.
~~~ Dabei liegen, so schließt Paltridge, die Chancen sowohl auf Beweise für wie auf Beweise gegen die Annahme eines in den kommenden 100 Jahren eintretenden Klimawandels mit verheerenden Folgen aufgrund der eingangs gezeigten Meßprobleme und Ungewißheiten »praktisch bei Null«. Ich wiederhole: virtually nil, praktisch bei Null. Doch auch dieses Eingeständnis wage in seiner Zunft so gut wie niemand. Zu seiner Verwunderung seien noch nicht einmal nennenswerte kritische Stimmen zum jüngsten Report des [zumeist so genannten, selbsternannten »Weltklimarats«] IPCC zu vernehmen. Wo sei nur die Skepsis geblieben, die angeblich den Lebensnerv jeder Wissenschaft ausmacht? Vermutlich bleibe sie aus, weil sie sich erfahrungsgemäß sehr schnell in ein Karrierehindernis verwandele.
∞ Verfaßt 2014, leicht gekürzt. Dafür wird mir durch weitere kritische Quellen zusätzlich klar, daß die Erde keine Scheibe und der Meeresspiegel folglich keine hydraulisch anhebbare planetenbreite Fläche ist. Er unterliegt schon immer, gerade so wie das Klima überhaupt, sowohl historischen wie regionalen Schwankungen. Werden uns somit aus Hochrechnungen oder Prognosen gefilterte globale »Durchschnittswerte« vorgesetzt, sind sie ungefähr so tröstlich wie Mittelwerte irdischer Zweibeiner-Körpergrößen für verkrüppelte Menschen wie G. C. Lichtenberg oder Randolph Bourne. Im übrigen behaupten einige Autoren, wo der Meeresspiegel tatsächlich ansteige, wüchsen in der Regel auch, wohl dank der Korallenriffe, die Atolle mit. Die Landmassen nähmen zu.
* https://eike-klima-energie.eu/2010/02/08/was-ist-dran-am-globalen-anstieg-des-meeresspiegels/
** https://quadrant.org.au/magazine/uncategorized/fundamental-uncertainties-climate-change/. Falls gesperrt, siehe ersatzweise https://judithcurry.com/2014/01/08/the-fundamental-uncertainties-of-climate-change/.
Lieber KO, meine Tochter sollte Informatik studieren, aber jetzt ist sie Klima-Kleberin geworden! Kürzlich war der gewählte Klebstoff zu stark und sie hatte den halben Belag der betreffenden asphaltierten Straße an der Hand – auch noch der rechten, mit der sie mir zuweilen beim Teppichklopfen geholfen hat! Ihrem Vater hat sie zeternd vorgeworfen, wer sich jetzt nicht endlich für das Klima, somit die Rettung der Welt einsetze, sei ein elendes Weichei. Hätten Sie sich das gefallen lassen? Er klebte ihr eine – und jetzt hat er Post vom Staatsanwalt: Kindesmißbrauch! Ergebenst Ihre Hiltrud P., Mechterstädt.
~~~ Liebe Frau P., gegen machtvolle Weltreligionen kommt man nicht so leicht an, schon gar nicht mit Ohrfeigen. Deutlich früher als die Pandemie-Besessenheit entstanden, zog die Religion vom Klimawandel anscheinend nur vorübergehend gegen jene den Kürzeren. Jetzt hat sie wieder ein Oberwasser, das die Meeresspiegel nur in ungeahnte Höhen treiben kann. Wer heutzutage keine Angst vor dem Klimawandel hat, setzt sich sofort dem Verdacht aus, minderwertigen Tierarten anzugehören, etwa Wanderratten oder Siebenschläfern. Wer ihn gar noch bestreitet, wie möglicherweise Ihr werter Gatte, wandert auf der Stelle in die Atomschutzbunker, die Annalena Baerbock in Norwegen oder in der Holsteinschen Schweiz einzurichten gedenkt. Ich persönlich bestreite den Klimawandel übrigens keineswegs. Schließlich hat es ihn schon immer gegeben. Unsere irdische »Weltgeschichte« wimmelt geradezu von Warm- oder Eiszeiten. Schuld sind wahrscheinlich solare oder gar universale Vorgänge, die sich leider schlecht beobachten lassen, weil sie zu weit weg stattfinden. Wird freilich behauptet, die Klimaschwankungen gingen aufs Konto unseres menschlichen industriellen oder sonstwie unökologischen Wirkens, dürfte doch der bekannte Wurm des Größenwahns in den behauptenden Hirnen bohren. In vielen früheren Warm- oder Eiszeiten gab es null Industrie und allenfalls eine Handvoll Keulen oder Hellebarden schwingender ZweibeinerInnen. Nun stoßen sie CO² aus, die Rabauken. Aber gerade dieses Gas spielte auf Erden schon immer eine wichtige Rolle. Ein Gift ist es wahrscheinlich nicht, da es sehr gern von Pflanzen eingeatmet wird.
~~~ Das postmoderne Märchen vom drohenden, insbesondere erhitzenden und ausdörrenden Klimawandel wurde, soweit ich weiß, vor ungefähr 45 Jahren, also zur »grünen« Hochzeit ausgeheckt. Ich werde mich allerdings hüten, dafür einen Ober-Aushecker verantwortlich zu machen. Solche Trends liegen irgendwie in der schlechten Luft. Einer krempelt die Ärmel auf, und dann kommt ein Hölzchen aufs andere, bis auch seriöse Leidmedien den Knüller wittern. Nach so und so langer Anlaufzeit liegt schließlich ein prächtiges Motivbündel vor, dem selbst Bundeskriminalamt und CIA ausreichende Tragfähigkeit für die Ausrufung einer neuen Weltreligion nicht mehr absprechen können. Bedenken Sie einmal, es war ja auch nicht so, daß sich vor rund 250 Jahren ein Dutzend fetter, mit Frack, Zylinder und Zigarre wohlversehener Herren an einen Tisch gesetzt hätten, um festzustellen: So, meine Verehrtesten, langsam wirds ja wohl Zeit, jetzt gründen wir den Kapitalismus. Man kann höchstens sagen: Damen waren damals noch nicht dabei. Der Kapitalismus lag eben in der Luft – und eben deshalb, weil er vor 45 Jahren ziemlich angeschlagen wirkte, mußte etwas her, das zu seiner Gesundung dient oder wenigstens dazu, von seiner Überfälligkeit abzulenken. Man strich die vielversprechendsten Geschäftsmodelle einfach grün an, Sie verstehen? Man hämmerte den jungen Leuten ein, der unter Schadstoffen, Raubbau und Militärmaschinerie ächzende Planet sei nur noch durch »intensiven« Gebrauch von Windradmasten, Smartphones und biologisch einwandfreiem Kleber zu retten.
~~~ Sie wenden vielleicht ein, Ihre Tochter bombardiere sie aber bei jeder Gelegenheit mit den allerneusten und allerschlimmsten Fakten, Fotos, Meßwerten und dergleichen mehr, die doch das Abschmelzen der Gletscher, die Versengung der Eisbärenfelle und die Verwandlung des in der Türkei niedergehenden Schnees in Fliegende Schaumteppiche hinlänglich bewiesen! Unfug tun sie, liebe Frau. 95 Prozent davon sind zurechtfrisiert, um nicht von Fälschungen zu reden. Diese Manipulationen kennen wir ja eigentlich auch von vielbeschworenen »Statistiken« aus zahlreichen anderen Bereichen. Glauben Sie erst dann an die versengten Eisbärenfelle, wenn Ihnen Ihre Tochter eins davon um die Ohren geschlagen hat. Vergewissern Sie sich aber vorsichtshalber, ob sie es nicht im Heizungskeller selber versengt hat. Das wäre ja wohl zu riechen, falls man der eigenen Nase noch traut.
∞ Verfaßt 2023, für die Blog-Rubrik Kummerkastenonkel
Siehe auch → Band 5 Lömmbecks Hütte (Eiskartoffeln)
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