Mittwoch, 8. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 19
Internet – Kassel

Internet, Digitalisierung

So manchen »reizvollen« Fall muß ich allein deshalb übergehen oder schmerzlich offen lassen, weil mir die finanziellen / logistischen / akademischen Mittel fehlen, den wieder einmal vernachlässigten Blickwinkel auf das Opfer durch eigene Recherchen zu füllen. Im April 1987 wurde die 18jährige sächsische Textilarbeiterin Heike Wunderlich (1969–87) aus dem VEB Plauener Gardine auf einer Waldlichtung neben ihrem roten Moped vergewaltigt und erdrosselt aufgefunden. Ihre Leiche war mit blauen Flecken übersät. Über die lebendige junge Frau, eine anziehend wirkende dunkle Langhaarige, erfährt man aus den mir erreichbaren Quellen nicht mehr als dies, sie sei gesellig, aber vorsichtig Fremden gegenüber gewesen. Nach einem heimischen Blatt* wohnte sie, mit Brüdern, noch im Elternhaus. Die Reporterin erwähnt vom Prozeß, ein Bruder sei im Zeugenstand gebeten worden, dem Gericht zu schildern, »was für ein Mensch« seine Schwester gewesen sei. Man spitzt alarmiert die Ohren – und die Reporterin verrät kein Wort von der brüderlichen Schilderung. Wunderlichs Charakter? Oder ihre Sehnsüchte, falls sie welche hatte? Belanglos. Hauptsache ein Mordopfer. Der Fall blieb rund 30 Jahre lang ungeklärt und wirkt auch zur Stunde nicht zufriedenstellend gelöst. Was die Persönlichkeit Wunderlichs angeht, wäre man unter Umständen selbst nach 20 Jahren noch fündig geworden, sofern man sich die Fahrkarte nach Plauen und ein Hotelzimmer geleistet hätte, um verschiedenen Angehörigen, Kriminalbeamten und anderen Einheimischen auf den Zahn zu fühlen. Aber von den Kosten und meinen nicht vorhandenen Referenzen einmal abgesehen, wäre auch das noch immer heikel. Man rührt bei solchen Recherchen leicht Unmut oder gar Angst auf, und wenn es schlecht läuft, hat man gleich für den nächsten Toten gesorgt: sich selbst.
~~~ Neuerdings gilt der Fall Heike Wunderlich als erledigt. Das Zwickauer Landgericht verurteilte 2017 einen ungeständigen 62jährigen Frührentner, der bereits zerrüttet und verwirrt war.** Wichtigstes Indiz sei eine sehr alte DNA-Spur gewesen. Zwar fanden sich auch Sperma-Spuren von zwei anderen Männern, aber denen maßen die ErmittlerInnen keine Bedeutung mehr bei – da sie sich ja nun den Rentner Helmut S. ausgeguckt hätten, so ungefähr die Welt. Allerdings wohnte die Mutter des damals 32jährigen lediglich rund drei Kilometer vom Tatort entfernt. S. kannte sein Opfer nicht, die Gegend jedoch umso besser. Außerdem war der trinkfreudige Angeklagte, zuletzt Kranfahrer, schon wiederholt »mit dem Gesetz in Konflikt gekommen«, auch wegen sexueller Verfehlungen. Er saß mehrmals in Haft. Jetzt hat er Lebenslänglich. Der Widerspruch seiner Rechtsanwälte wurde 2018 verworfen. Wunderlichs Angehörigen sollen mit dem Urteil zufrieden sein. Bedenkt man den riesigen volkswirtschaftlichen und nervlichen Aufwand für solch ein bißchen fragwürdige Gerechtigkeit, kann man sich nur in eine anarchistische Zwergrepublik fortträumen.
~~~ Ich will den unbefriedigenden Fall zu einigen grund-sätzlichen Bemerkungen zu meinen Nachforschungen und meinen Quellen nutzen. Womöglich besteht ein gewisser Verdienst meiner lexikalischen Arbeiten bereits darin, all diese, mehr oder weniger durchsichtigen Fälle des meist »zu frühen« Todes zusammen getragen zu haben. Es hat mich vor allem ein langwieriges und stumpfsinniges Abklappern diverser biografischer Listen und einiger Lexika gekostet. Manche Fälle verdanke ich sicherlich auch meiner emsigen, um nicht zu sagen bescheuerten Zeitungslektüre, an der ich über Jahrzehnte festgehalten habe. Im Grunde war ich zwischen 20 und 6o zeitungssüchtig. Allerdings hat sich diese Sucht im Laufe der 40 Jahre zunehmend abgemildert, weil sich einfach zu viel wiederholt. Mancher erkennt das freilich auch in 80 Jahren nicht. Genau darin liegt eine Grundfunktion unserer Presse. Sie serviert ihre »Sagen der Zeit, so wie man Sagen der Vorzeit hat« (Lichtenberg) derart geschickt, bunt, abgewandelt, daß man nie auf die soziologischen Muster kommt, aber immer schön dem »Zeitgeschehen« verhaftet bleibt, an dem sich zigtausend Leute die Goldenen Sporen verdienen, mit denen sie uns auf Trab halten.
~~~ Ohne Bücher wäre man dieser Drogenmafia hilflos ausgeliefert. Walden-Hüttenbewohner Thoreau höhnt vor rund 170 Jahren, viele Zeitgenossen ließen sich zu dem Zwecke, das Neuste nicht zu verpassen, schon alle 30 Minuten wecken, erzählten einem dann aber immerhin zum Entgelt, wovon sie gerade geträumt hätten. Heute dürfte die Deckungsfähigkeit zwischen dem Neusten und den Träumen bereits bei über 90 Prozent liegen. Daher zeitgenössische Buchproduktion als Trieb- und Müllabfuhr. Die klassische Lektorierung findet offensichtlich kaum noch statt. Sie wäre zu aufwendig. Im Ergebnis zieht die Schlamperei in den Verlagen Literatur aufs Niveau mündlicher Rede, mehrt also das allgegenwärtige Gequassel. Ehrenburg behauptet in seinen Memoiren, sogar Lenin habe die ewigen Diskussionen unter den Emigranten als fruchtlos gebrandmarkt. Er selber, Ehrenburg, habe fast alles autodidaktisch aus Büchern gelernt. Schulen sind Quasselbuden. Das sage ich auch dann, wenn noch 20 Pandemien ausgerufen werden. Ich habe nie begreifen können, wie sich Denker wie Alain oder Adorno dazu hergeben konnten zu unterrichten und Vorlesungen abzuhalten. Wie sich versteht, fallen auch »Dichterlesungen« unter meine Acht. Ich ächte alles, was Flüchtigkeit züchtet.
~~~ Mit der digitalen Vernetzung, Presse eingeschlossen, erreichen wir bereits das Stadium der Auflösung des Geistes. Webseiten wimmeln geradezu von Flüchtigkeitsfehlern. Es macht nichts, weil sie ihr Aussehen ohnehin im Minutentakt ändern. Manche verschwinden auch kurzerhand. Auseinandersetzung ist jedoch auf Feststehendes / Gegenstand / Widerstand angewiesen. Deshalb war es mir auch immer verdächtig, wenn die mündliche Kommunikation in Kommunekreisen einen sehr hohen Stellenwert genießt. Sammelndes, klärendes Mit- oder Aufschreiben wird zumindest verpönt, zuweilen verboten. Sind Berichte oder Wunschzettel unumgänglich, strotzen sie von Ausrufungszeichen und Schlagworten, Unterstreichungen und Unklarheit – wie die beliebten »blogs« im Internet. Man umtanzt den Popanz des Authentischen und wundert sich, wenn die Eintagslösungen, die Mißverständnisse und der Groll kein Ende nehmen. Gewiß ist nicht zu leugnen, daß spontane Auseinandersetzungen oft spannungsgeladen sind, woraus sich ihre Beliebtheit erklärt. Sie prickeln, da mit Enthüllung, Geständnis, Herzblut, Tränen, kurz mit Neugier und Angst gewürzt. Doch es bleibt oberflächlich und vorübergehend. Es bleibt das fruchtlose Event der Talkshows. Um zu dauerhaften Linien, Gestalten, Lösungen zu kommen, müßte man schürfen. Das wäre allerdings Arbeit. Es kostet Geduld. Es benötigt Distanz.
~~~ Etwas rätselhaft könnte Lichtenbergs anderer, gleichfalls über 200 Jahre alter Satz wirken, nach Zeitung sei Räumung.*** Für mich behauptet Lichtenberg damit, wie Presse Zeit schüfe, so Räumung Platz. So schafft mein beharrliches Ausmisten in allem von mir Gewußten Platz für eine Art einsichtsvoller Gestalt, an der ich mich – wie ich zumindest hoffe – für den Rest meines Lebens noch leidlich würdig aufrechterhalten kann.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Gabi Thieme, https://www.freiepresse.de/vogtland/plauen/mordprozess-heike-wunderlich-er-soll-unseren-hass-spueren-artikel9958655, (Chemnitz) 24. Juli 2017
** Gisela Friedrichsen, https://www.welt.de/vermischtes/article168142300/Lebenslang-fuer-den-Mann-der-sein-Verbrechen-komplett-vergass.html, 30. August 2017
*** Georg Christoph Lichtenberg, Aphorismen, Auswahlband (Max Rychner) bei Manesse, Zürich 1958, S. 405



Lieber KO, kürzlich bat ich einen als »engagiert« geltenden Rechtsanwalt in einer sozialpolitischen Frage per Email um Ratschlag, wobei ich ihm auch ein Pdf mit Dokumenten Dritter zu dem Thema anhängte, das mein Anliegen ganz gut verdeutlichte. Ich dachte, mich trifft der Schlag! Seine Antwort traf nach zwei Minuten ein, ehe ich mein Postfach überhaupt geschlossen hatte. »Nix für ungut, lieber Herr T.«, hob er an – und dann hielt er mir irgendeine Unschicklichkeit meiner Anfrage vor und gab dazu auch einen allgemeinen erläuternden Link, unter dem Herr Hochmut, wie ich ihn einmal nennen will, Dutzende von Dingen auflistet, die einer falsch machen kann, beispielsweise ihn zu duzen oder ihm noch nicht einmal die Chance zu geben, den Kaffee zu verdienen, den er täglich in sich hineinkippt. Ein ekelhafter Typ. Ist der noch normal? Oder alternativ? Wie sich versteht, kann ich den Link nicht anführen, weil mich Hochmut sonst vielleicht prompt wegen Beleidigung verklagt. Da winkte ihm dann wenigstens Verdienst. Ergebenst Ihr Michael Tossen, Aurich, Nordfriesland.
~~~ Lieber Herr T., Hochmut ist normal. Deshalb ist er auch modern oder zeitgemäß, wie man so sagt. Da Sie von zwei Minuten berichten, dürfte er es sich erspart haben, Ihnen persönlich die Leviten zu lesen, vielmehr seinen Roboter vorgeschickt haben. Der klopft jede eingehende Mail in Windeseile auf all die störenden Elemente ab, die einen reibungslosen und somit einträglichen Betrieb der Kanzlei Hochmut vereiteln würden. Ich nehme auch stark an, Hochmut tritt seinen Klienten nur noch selten leibhaftig gegenüber. Das meiste regelt er per Telefon oder Email, wobei diese Einrichtungen zunehmend so wirksam programmiert werden, daß Hochmut sie kaum noch bedienen muß. Ein Tastendruck, und sie machen genau das Richtige für ihn. Früher wurden die Befehle hauptsächlich von Menschen aus Fleisch und Blut gegeben – heute erledigen das eben die Maschinen. Sie sind nämlich weitaus weniger für die lästigen Störungen moralischer Natur anfällig. Bricht ein Computerprogramm oder ein Kraftwerk zusammen, sind sie nicht gleich todkrank oder jedenfalls gekränkt; man tauscht sie hurtig aus, und weiter geht es mit dem Fortschritt der Menschheit. Hochmut würde selbstverständlich nicht von Befehlen sprechen. Für ihn sind einfach »Sach- und Systemzwänge« am Werk, gegen die man sowieso nichts ausrichten könne. Sie verlangen unerbittlich: verdiene Geld, benehme dich wie ein Lump, empfinde die absurdesten oder grausamsten Dinge, Einrichtungen und Sitten eben als so normal, wie Hochmut ist.

∞ Verfaßt 2023, für die Blog-Rubrik Kummerkastenonkel

Siehe auch → Anarchismus, Mahmud (IT-Gehorsam) → Bildende Kunst, Peter Carey (Entkörperlichung) → Briefe, posten → Corona, Schauermärchen (Sieg der entleerten Zeit) → Hände (Online-Zeitung)




Jagd

Nördlich Norwegens und des Polarkreises gelegen, herrscht auf der Inselgruppe Spitzbergen bereits arktisches Klima. 60 Prozent der Landfläche sind von Gletschern bedeckt. Mittlere Jahrestemperatur minus 4,5 Grad. Sonst Geröll, keine Bäume, nur fleckenweise Gras, hin und wieder ein Horst aus gelb oder rot blühendem Steinbrech; kahle, schroffe Berge.
~~~ Am Fuß eines solchen Berges steht ein dunkles Holzhaus mit weißgestrichenen Fenstern, von dem es in Alfred Anderschs schönem Buch Hohe Breitengrade aus dem Jahr 1969 sogar ein Farbfoto gibt. Unter diesem heißt es, es handle sich um das Haus des Jägers Hilmar Nøis (1891–1975) am Ufer des Sassen-Tals, Innerer Eisfjord. Es ist das einzige weit und breit. Als Andersch dort auftaucht, sieht er im benachbarten Vorratsschuppen des Jägers frisch gerupfte Schneehühner und Brandgänse sowie geräucherte Fische hängen. »An einem Gestell am Strand sind Robbenhäute ausgespannt, liegt auch Robbenfleisch. Es gibt ferner einen Stapel Rentierfelle sowie einen alten Hundestall (doch keine Hunde) …« Ich nehme einmal an, Nöis hatte seine Hunde kürzlich abgeschafft oder mitgenommen, als er sich nach Harstad auf den Vesteralen-Inseln aufmachte, wo er bei Verwandten seinen Lebensabend zu verbringen gedachte. Damals hatte er wohl schon die 70 überschritten. Jetzt erklärt der große, hagere und weißhaarige Jäger seinem Besucher, er habe es in Harstadt nicht ausgehalten – er ging zurück. Auf dem Küchentisch steht eine Petroleumlampe. In einem Wandbord ein paar Bücher. Nöis trage ein blaues Hemd und eine lederne Weste, erfahren wir von Andersch. Demnach hat der betagte Polarfuchs gut eingeheizt, falls er nicht schon längst die Widerstandskraft eines Walrosses besitzt. Andersch vermutet: »Ein so alter Mann wie er braucht sicher nur wenig Schlaf.« Schon möglich – was macht er aber, wenn er sich auf der Pirsch ein Bein bricht oder zu Hause von der Leiter fällt? Womit heizt er überhaupt? Was träumt er? Mit wem führt er erbauliche Gespräche über Das einfache Leben (Wiechert), falls er der Geselligkeit nicht restlos entbehren kann?
~~~ Ich habe ein wenig nachgeforscht. Nöis brachte es noch (1975) auf 84 Jahre. Da hielt er sich allerdings nicht mehr auf Spitzbergen auf. Als Trapper, gelegentlich auch Bergmann und Retter, war er rund fünf Jahrzehnte aktiv, bis 1963. Zwei Brüder waren ebenfalls Trapper oder Fischer. Seit ungefähr 1930 hatte er seinen Hauptsitz in jener schwarzen so genannten Villa Fredheim im Sassental. Das Häuschen gilt als vergleichsweise luxeriös. Hier wohnte anscheinend auch Nöis zweite Ehefrau Helfrid. Zum Heizen dient vorwiegend Treibholz, sonst Kohle. Nöis besaß aber noch zahlreiche andere Hütten in seinem ausgedehnten Jagdgebiet. Er soll einige tausend Füchse (per Falle) gefangen und 300 Eisbären geschossen haben, daneben zahlreiche Moorhühner. Die Kriegsjahre verbrachte er in Schottland, als Quartiermeister bei der Marine. Er galt als Meister im Hundeschlittenfahren. Er starb in Andöya, der nördlichsten Insel Vesterålens, Norwegen, wo sein verzweigter, namhafter Clan auch herstammte.
~~~ Martina Wimmer betont*, es gab nie Einheimische, nie ein Volk auf Spitzbergen. Man ging hin, um etwas zu holen, sprich zu erbeuten. Ab dem 17. Jahrhundert stellte man vor allem dem Grönlandwal nach – bis er, am Ende des 18. Jahrhunderts, nahezu ausgerottet war. Soweit ich weiß, waren Robben und Wale vor allem wegen dem einträglichen, in der Fettschicht sitzenden Tran (Brennstoff, Kosmetika) begehrt. Dabei war der Drang nach Norden der Rechnung geschuldet: je kälter, desto mehr Fett – und eben mehr Tran. Zu Nöis erster Gattin schreibt Wimmer, sie habe, nachdem sie allein in der entlegenen Hütte einen Sohn geboren hatte, einen Nervenzusammenbruch erlitten, von dem sie sich nie mehr erholen sollte. Nöis hatte wohl mindestens zwei Kinder.
~~~ Nach dem Dresdener Rolf Stange** hatte Nöis seine erste Frau Ellen Dorthe (geb. Johansen) 1913 in Norwegen geheiratet. Schon bei Geburt einer Tochter (Embjörg) habe er sich freilich nach Spitzbergen verzogen. Man sah sich selten. Stange bestätigt die Geschichte mit der einsamen, traumatischen Geburt des Sohnes, Kaps getauft. Angeblich hatte Nöis den Arzt aus Longyearbyen holen wollen, sich jedoch verspätet. Die Ehe wurde bald geschieden. Laut Stange war Villenbesitzer Nöis für seine Gastfreundschaft bekannt. Die Villa hatte zwei Nebenhütten und wohl auch ein Klohäuschen. Da sie noch heute steht, war sie anscheinend sturmfest verankert und gebaut. Laut Stange lebten die Eheleute bis in die 1960er Jahre zusammen in dem abgeschiedenen Haus, ehe sie endgültig nach Norwegen zogen. Hilmar sei auf legendäre 38 Überwinterungen in Spitzbergen gekommen. Helfrid wurde sogar beträchtlich älter als er; sie starb 1996 in Bodö mit 96. Warum hatte Andersch dann nicht auch sie erblickt? Hatte der Trapper sie etwa im ausgebauten Dachgeschoß eingesperrt? Nun, ich deutete es bereits an. Offenbar war Nöis noch einmal solo zurückgekehrt, ehe auch er das Handtuch warf. Laut Stange galt die größte Begierde der meisten Trapper dem »neugierigen« Polarfuchs, Winterfell weiß und dicht. Die Schlagfalle schonte das Fell – nicht etwa den Fuchs. Selbst heute dürfen die Ansässigen noch Polarfüchse jagen. Andersch spricht auf S. 130 vom Beutedrang des Zweibeiners und von den Eisbären. Er konnte einige Eisbären beobachten. Noch vor 100 Jahren habe Spitzbergen von ihnen gewimmelt. Dann schrumpfte der Bestand. Seit 1973 ist dieser größte aller Bären, von Forschern wie Nansen einst gefürchtet, auch auf Spitzbergen geschützt. Man darf ihn nur erschießen, wenn er jemanden angreift. Das kommt gelegentlich vor.
~~~ Andersch erwähnt (157) das norwegische Wort »arktis-bitten« – von der Arktis gebissen, nämlich von ihrer seltsamen Schönheit betört, was ohne Zweifel für manche ForscherInnen und Touristen, nach Christiane → Ritter auch für manche Jäger gilt. Sie war Nöis, beträchtlich früher als Andersch, einmal begegnet. Andersch gibt allerdings noch weniger Erklärung als Ritter. Die Kapitänsgattin und Künstlerin streicht die Liebe zu dem kargen, schweigsamen Land und den Durst nach göttlicher Ansprache heraus. Zum fragwürdigen Gewerbe des Jägers oder Trappers schweigt auch sie sich aus. Sie erwähnt noch nicht einmal, wem sie was verkaufen. Ich nehme an, es ging schon zu ihrer Zeit vor allem um die Pelze. Das Fleisch der Beutetiere verzehrten Nöis und Gattin vermutlich zu einem geringen Teil selber, während der Löwenanteil jede Wette in die Mägen der Schlittenhunde wanderte. Die fressen einem ja die Haare vom Kopf.
~~~ Zur Persönlichkeit des Trappers Hilmar Nöis sagen die Quellen so gut wie nichts. Auf einem Foto, das ihn unter Verwandten zeigt, wirkt der stämmige, untersetzte Mann mit seinem tadellos rasierten Mondgesicht etwas töricht, aber das kann natürlich auch an der Mitternachtssonne oder am Beleuchter der Stubenszene liegen. Grundsätzlich glaube ich freilich, zum Vorbild für Anarchisten eignen sich professionelle Trapper wie Nöis kaum. Letztlich stellen sie dem Geld nach, und dabei gehen sie vermutlich so wenig mit Samthandschuhen vor wie ein Bankier. Allerdings geben sie auch ihrer starken Neigung zu Entsagung und Märtyrertum nach. Dem setzen »spirituell« gestimmte Damen wie Ritter oder die eingefleischten trekking-Fans natürlich gern noch den Heiligenschein auf.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022, deutlich gekürzt
* Martina Wimmer, https://www.mare.de/spitzbergen-content-5286, April/Mai 2022
** Rolf Stange, https://www.spitzbergen.de/fotos-panoramen-videos-und-webcams/spitzbergen-panoramen/fredheim.html, Stand 2019



Vielleicht muß man die Gebirgsstadt Provo in Utah, USA, nicht unbedingt kennen – und noch weniger den aus Kanada stammenden Trapper und Pelzhändler Etienne Provost (1785–1850), nach dem sie einst benannt wurde. Wie es aussieht, zählte der Mann zu den typischen Draufgängern, dem die Staaten »die Erschließung« des Wilden Westens verdanken. 1824 war Provosts Bande unweit des Großen Salzsees von Snake-Indianern angegriffen worden, was wohl acht Weißen das Leben kostete. Nur der Chef überlebte leider, damit er weiter emsig Pelze abziehen und Handelsposten einrichten konnte. Vielleicht hatte er sich wohlweislich im Hintergrund gehalten.
~~~ Ich nehme einmal an, Provost und seine Leute verschmähten auch den amerikanischen »Berglöwen« nicht, der offiziell Puma heißt. Brockhaus nennt ihn »vielerorts bedroht oder ausgerottet«, dies sicherlich nicht zuletzt aufgrund seines meist braunen bis silbergrauen Fells. Ich räumte schon andernorts ein, die Jagd zu Ernährungs- oder eben Bekleidungszwecken nicht grundsätzlich verdammen zu können. Aber den Provosts ging es weder darum, ihre Mägen zu füllen noch ihre Blößen zu bedecken und auf diese Art eine Lungenentzündung zu verhindern. Sie wollten Geld einsacken. Und die Liebhaber von flotten Berliner oder Pariser Bienen hatten das Geld, das sich die Bienen dann als kostbare, Eindruck schindende Pelze um die anmutigen Hälse hängten.
~~~ In einem Vorläufer meines Zwergliedes Walnußpost reimte ich einmal »Hälfte« (der Walnuß) auf »Pelze« (weil sie fror). Darauf war ich eigentlich stolz, aber dann rüffelte mich ein akademisch ausgebildeter Berliner Chorleiter, mit solchen »unsauberen, dilettantischen« Reimen könnte ich ihm schon gar nicht kommen. Ihn verlangte es nach der Sauberkeit und Eleganz jener modebewußten Damen, die sich rudelweise nach Fuchs- oder Gepardpelzen verzehren. Meine Verse waren ihm zu räudig.
~~~ Nach verschiedenen Quellen gilt der Puma als scheu. Ähnlich wie der Luchs, greife er in der Regel keine Menschen an. Deren blödes Hausvieh nimmt er natürlich gern aufs Korn. Die IndianerInnen sollen ihn geschätzt, wenn nicht sogar verehrt haben. Jedenfalls belästigten sie ihn nicht. Oft sei dem Puma bereits die menschliche Stimme nicht geheuer, wie Experimente von Zoologen bewiesen hätten. SZ-Redakteur Hanno Charisius wagt dazu die Bemerkung*, die geschilderten Experimente unterstrichen, »das gefährlichste Tier auf diesem Planeten« sei der Mensch.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024
* https://www.sueddeutsche.de/wissen/puma-bergloewe-stimme-angst-1.4532008, 19. Juli 2019

Siehe auch → Fremdworte, Walder (Wilderer) → Jefferies (Amateur Poacher) → Band 4 Bott Jagdschein Kap. 2 + Ausmisten Kap. 3 (Vegetarier) → Band 4 Mollowina, Zeit der Luchse, Kap. 15




Jefferies, Richard (1848–87). Falls Ihnen der Name dieses englischen Schriftstellers nichts sagt, was ich fast befürchte, kann ich Sie beruhigen: es gibt schlimmere Bildungslücken. Mir fiel er sogar in Gestalt einer etwas speckig glänzenden und bereits aus dem Leim gehenden Erstausgabe in der Originalsprache in die Hände, die mich vor allem dadurch bestach, daß ich bis dahin nicht wußte, was ein »poacher« ist. Von Nachschlagewerken her erwartet man in Jefferies 1879 in London* erschienenem Werk The Amateur Poacher eher einen Kranz aus Blumen, Tannenzapfen und Schmetterlingen, tatsächlich sind es jedoch Jagdgeschichten. Der Bauernsohn bezieht sie aus seiner Kindheit, die er im Hügelland bei Swindon in der Grafschaft Wiltshire, Südwestengland, verbrachte. Offenbar fand er als Halbwüchsiger kein größeres Vergnügen, als Kaninchen, Hasen, Forellen oder Barschen und zahlreichen Vögeln nachzustellen, etwa Fasanen, Rebhühnern, Tauben, Schnepfen. Allerdings mag, neben dem Jagdfieber, auch die Not im Spiele gewesen sein, war doch Jefferies Alter nur ein kleiner Farmer. Entsprechend führt der Autor allerlei absonderliche halb- oder ganzprofessionelle Wilderer (poacher) vor, was nicht völlig ohne Reiz ist. Dabei läßt er die durch Malthus oder Engels berühmte Soziale Frage weitgehend auf sich beruhen. Der Löwenanteil des Landes gehört eben den »Herren«, das war schon immer so. Sie machen auch die Politik. Soweit er nicht umhin kommt, Mitjäger, gipsys (»Zigeuner«) oder andere Mitmenschen zu erwähnen, verfängt sich Jefferies nie in der nächsten interessanten Frage, was sie ihm, außer Spießgesellen oder Konkurrenten, vielleicht noch bedeuten könnten. Für mein Empfinden bleiben seine eher holprig verfaßten Prosa-Oden auf »the morning on the hills, when hope is as wide as the world«, ziemlich hohle Gebilde. Kurz, weder als Natur- noch als Sozialphilosoph und schon gar nicht als Psychologe trifft der Autor auch nur einmal ins Schwarze. Von Thoreau ist er einen Atlantik entfernt – wahrscheinlich sogar von Gissing.
~~~ In seinem vier Jahre später veröffentlichten schmalen Werk The Story of My Heart (Geschichte meines Herzens) bemüht sich Jefferies, jene Hohlheit mit dem bekannten »kosmischen Bewußtsein« zu füllen, mit dem uns später noch, auf deutscher Seite, Leute wie Rudolf Steiner und Ernst Kreuder benebeln werden. Um das Maß voll zu machen, besitzt er auch noch die selbstironisch angestrichene Frechheit, das Werk im Untertitel als My Autobiography auszugeben. Über den Bauernbuben, Schuljungen, Dorfreporter und Londoner oder Swindoner Journalisten, der sich mit seinen ländlichen Skizzen nur mühsam über Wasser halten konnte, erfährt man in dieser inbrünstigen Offenbarung des Jefferies kein Komma. Stattdessen hören wir von seiner felsenfesten Überzeugung, die Weltgeschichte habe noch nicht ihr letztes Wort gesprochen, hinter den Phänomen steckten ungeahnte Möglichkeiten, das Entdecken habe gerade erst begonnen. Was wünscht er denn zu entdecken? Eben das »kosmische Bewußtsein«. Es soll ihm derart weit ums Herz werden, daß ihn keine Hautpore mehr an die Ernüchterungen oder gar Erniedrigungen erinnern kann, die jener Bauernbub und Schuljunge vermutlich zu erleiden hatte, wenn man den Andeutungen seines gleichfalls merkwürdigen Anwaltes Edward Thomas traut. Danach zog sich der wenig kräftige und wenig geliebte Knabe schon früh in das Schneckenhaus seiner vom Kuckucksruf und den Hummeln gewebten Träumereien zurück. Mit 20 wurde der Nachwuchs-Mystiker mit der Tochter eines benachbarten Bauern verlobt, die er mit 26 sogar geheiratet haben soll. Mehr ist dann von dieser Frau (Jessie Baden) nicht mehr zu erfahren. Der vollbärtige Gatte, laut Thomas ein angenehm schlichter, bescheidener Mitbürger, also immerhin kein alle Welt nervender Prediger, kränkelte und erlag mit 38 Jahren der übelsten Erscheinung seiner Zeit, der Tuberkulose. Zwei Jahre vorher, 1885, war sein drittes Kind an einer Gehirnhaut-entzündung gestorben. Dagegen soll die Mutter und Witwe noch über 70 geworden sein.
~~~ Mit welchen Geschmacksnerven Thomas der Prosa Jefferies, neben der unverzichtbaren Feierlichkeit, Schönheit und Glanz abgelesen hat, ist mir aufgrund meiner Einblicke völlig schleierhaft geblieben. Soweit ich sehe, liegt Jefferies auf deutsch lediglich mit einem Buch vor. Darin hat man die Geschichte meines Herzens mit dem Hauptteil seines sogenannten utopischen Romanes After London oder Der Rückfall in die Barbarei vereint.** Der zweite Text schildert ein nach großen, weiß der Teufel warum ausgebrochenen Feuersbrünsten verwildertes und gleichsam re-feudalisiertes England, von dem kein Mensch, geschweige denn ein Literaturfreund zu sagen wüßte, was es eigentlich soll. Für Jefferies ist es die Gelegenheit, einen selten fruchtlosen, abwegigen Sumpflandtext vor seiner kaum vorhandenen Leserschaft auszubreiten. Mit Geschichten, Handlungen, Konflikten im herkömmlichen Sinne hat Jefferies diesen Roman nicht im Ausmaß von auch nur einer Entenfeder befrachtet. Sollte es in London einen renommierten Literaturpreis für Langweile geben, hätte ihn Jefferies unbedingt verdient. Das würde sich doch prima mit der Bemerkung des Herausgebers Rathjen decken, Jefferies größte Bedeutung für die Literaturgeschichte liege womöglich gar nicht in seinen Schriften selbst, sondern in deren Wirkung auf den englischen Landschaftsschriftsteller, Literaturkritiker und Lyriker Edward Thomas.***
~~~ Wohlgemerkt: nicht in den Schriften selbst! Vielmehr werden literarische Werke, wie man aus Rathjens verräterischem Hinweis schließen darf, vor allem deshalb geschaffen, um eben in der Literaturgeschichte Bedeutung zu erringen oder um zumindest auf einen Literaturkritiker, Lyriker oder Herausgeber zu wirken.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* bei Smith, Elder, & Co., 15 Waterloo Place
** Richard Jefferies, Herz & Barbarei. Mit einem Nachwort von Edward Thomas herausgegeben von Friedhelm Rathjen, Edition ReJoyce 2005
*** »Gefallen« 1917, mit 39 Jahren, gleich nach dem Übersetzen auf einem Schlachtfeld bei Arras, Nordfrankreich, wohl durch deutschen Brustschuß.




Kapitalismus

In der renommierten Monatszeitschrift Merkur (Ausgabe März 2000) nimmt der Göttinger Literaturprofessor Gustav Seibt eine Bücherumschau zum Thema »Kapitalismus als Lebensform« vor. Angeblich hat er auch das kurz zuvor erschienene Schwarzbuch Kapitalismus von Robert Kurz gelesen. Menschliche Kommunikation in gesellschaftlichen Institutionen durch eine paradoxe Kommunikation der Waren und ihrer Preise untereinander auf einem anonymen Markt zu ersetzen, stelle für Kurz den Sündenfall des Kapitalismus dar. In einer Revolte der Basis wolle Kurz die Abstraktionen der Moderne wieder rückgängig machen – was wohl nur mit einem Zusammenbruch aller überlokalen Strukturen einhergehen könne. »Allen Ernstes« gedenke Kurz, den stummen Preismechanismus durch die bewußte Selbstverständigung der Akteure zu ersetzen. »Die wüste Materialschlacht von Kurz‘ autodidaktisch zusammengeschustertem Werk ist bemerkenswert lediglich als Symptom: dafür, daß eine materialistische Fundamentalkritik am Kapitalismus offenbar nur noch um den Preis des Sektierertums zu haben ist. Daß die Anonymisierung der Wirtschaftspro-zesse nicht nur Entfremdung und Ausbeutung bedeutet, sondern – ebenso wie die Arbeitsteilung – vermutlich die dauerhafteste Garantie für die individuellen Freiheiten der Moderne sein könnte, dieser Gedanke kommt Kurz nicht.«
~~~ Gediegenes Parkett unter den Füßen, dürfte Gustav Seibts Schreibtisch kaum auf ein Obdachlosenasyl, einen Fabrikhof oder gar eine Müllhalde am Rande Kalkuttas blicken. Seibt nimmt die klassische Warte des Privilegierten und des Eurozentrierten ein. Auch solche verbreiteten Phänomene wie Arbeits- und Sozialämter, Prostitution, Massenverblödung, Humanes Bomben, Videoüberwachung sind für Seibt Phantome. Das von ihm ein paar Absätze weiter angeführte »Entsetzen Webers angesichts der seelischen Verödung in der Berufserfül-lung« ist ihm so fremd wie die Öde, die sich in der nächsten Fußgängerzone, in den Gewerbegebieten und in den Slums dieser Welt besichtigen läßt. Die Wirtschafts-prozesse sind eben zu anonym. Beeinflussungen zwischen unseren mobilen und stationären Automaten – die für das Seibtsche Freiheitsgefühl sorgen – und gewissen überseeischen Wirbelstürmen oder Hungersnöten auszumachen, scheitert am neoliberalen Nebel. Seibt hofft darauf, in einer Demokratie seien alle frei – und manche freier. Unsere Millionenerben beispielsweise haben für ihre individuelle Freiheit nicht den Preis jener »Entfremdung und Ausbeutung« zu zahlen, die Professor Seibt recht lässig in Kauf nimmt, weil er sie ohnehin anderen aufgebürdet weiß. Zum Glück verbietet mir die Gewaltfreie Kommunikation nach der Schule Marshall Rosenbergs, dies eine Unverschämtheit zu nennen.
~~~ Kurz dagegen widmet sich all den peinlich häßlichen Zügen der »schönen Maschine« Kapitalismus (Adam Smith) ausführlich. Damit tut er im Grunde nichts anderes, als ständig auf dem von Seibt vermißten Gedanken herumzuhacken. Nebenbei läßt Kurz keinen Zweifel daran, nicht der Geborgenheit patriarchal-feudaler Strukturen nachzutrauern, wenn er den stummen Preismechanismus, wie schon angeführt, durch Absprachen zwischen den Akteuren ersetzt haben will. So etwas wagen sich unsere versklavten seibten Gehirne, die auch gerne in Parlamentsfraktionen von »Linksparteien« dümpeln, natürlich überhaupt nicht mehr vorzustellen. Wobei es in erster Linie tatsächlich nur aufs Vorstellen ankommt, aufs Darandenken – also nicht etwa darauf, ob dies alles »realistisch«, nämlich machbar sei. Leute wie Marx, Adorno, Kurz liefern Beschreibungen: dessen, was ist, und dessen, was wünschenswert ist. Sie sind kritische Theoretiker. Indem sie ihre Kritik konsequent zu Ende denken, setzen sie sich gern der Gefahr aus, von einem Gustav Seibt zum »Sektierer« gestempelt zu werden, empfinden sie dies doch im Zeitalter der Vermassung und Gleichschaltung eher als Auszeichnung.
~~~ Was Wunder, wenn Seibt ein autodidaktisches, also in eigener Regie vorgenommenes Studium ebenfalls für ein Vergehen wider den Zeitgeist und die sogenannte Globalisierung halten muß. Bei so etwas kann nur Flickschusterei herauskommen. Allerdings scheint Seibt den Wälzer, den er anpinkelt, lediglich überflogen zu haben. Er könnte sonst niemals behaupten, was die realen Folgen der frühliberalen Lehren a lá Smith, Kant, Bentham gewesen sein sollen, bleibe bei Kurz noch unklarer als bei den ähnlichen Zurechnungen an die Vordenker des Kommunismus. Es bleibt nicht unklar, wie ich nach wiederholter Lektüre der 800 Seiten feststellen kann. In dieser genealogischen Aufrollung liegt gerade eine Stärke der Kurzschen Analyse. Aber womöglich hat Seibt sie durchaus verfolgt, nur überstieg sie sein Sehvermögen? Dies scheint nämlich beim Merkur Tradition zu haben. 1980 legte Wolfgang Hädecke in der Jahresschrift Scheidewege eine ausgezeichnete Betrachtung des Buches Die Perfektion der Technik von Friedrich Georg Jünger vor. Damals war es Max Bense, der Jüngers überragende Untersuchung für den Merkur besprach – indem er sie verriß. Hädecke bemerkt dazu nur, Benses Kritik stelle ein Beispiel »hochintelligenter Blindheit« vor Jüngers Buch und den technischen Phänomenen dar.
~~~ Nebenbei empfiehlt es sich, die beiden genannten Werke von Kurz und Jünger parallel zu lesen, da sie einander ergänzen. Als Nichtmarxist unterschätzt Jünger die Entfremdung, die sich völlig unabhängig vom Grad der Technisierung und der Organisation aus der Wertform ergibt. Diese drischt der Vielfalt der Welt ihre sinnlichen Qualitäten aus, um dafür das quantitative Denken zu züchten, das heute die Welt so gut wie absolut beherrscht. Dafür unterschätzt Kurz die Entfremdung, die unabhängig von der Produktionsweise und den Eigentumsverhält-nissen in jeder großangelegten Maschinerie lauert. Angenommen, Hessens Ministerpräsident Koch wirft der Autohalde namens Opel Rüsselsheim (2009) nicht nur 300 Millionen Euro in den Rachen, sondern übergibt sie irgendeiner rotgrünen Zelle zwecks Produktion von Solarmobilen – durch diesen neuen Anstrich wird dieselbe Maschinerie nicht über Nacht zu einem Streichelzoo. Warum nicht? Professor Seibt verrät uns den Grund:
~~~ Nachdem er Kurz abgefertigt hat, ist er nämlich so freundlich oder einfältig, ihm noch schnell ein paar Waffen in die Hand zu drücken. Mit Max Weber, Werner Sombart und Max Scheler – auf die sich Kurz nicht oder nur am Rande stützt – fährt er etliche lange Spalten auf, die durchweg in die Kurzsche Kerbe hauen. Wenn jene Autoren befinden, der Kapitalismus verdanke sich eher geistigen und religiösen Quellen als technischen Fortschritten oder auch als Besitzverhältnissen, so ist das ohne Zweifel bedenkenswert, ändert aber am Ergebnis nichts. Im Ergebnis nimmt die Schöne Maschine einen totalitären, selbstherrlichen Zug an, der sie unreformierbar macht. Darauf ziele die vielzitierte Rede vom »stahlharten Gehäuse« ab, referiert Seibt. »Hat es sich genügend entwickelt und ausgedehnt, kann es irgendwann auch ohne seine geistig-religiösen Voraussetzungen existieren – in den veräußerlichten Sachzwängen eines abstrakten Wirtschaftssystems, das einen nahezu naturgeschicht-lichen Eigensinn entwickelt.« Seibt betont sogar, es handle sich um ein System, »das sich seine Menschen immer wieder formt«. Ihn selber natürlich nicht.

∞ Verfaßt 2000 / 2009


Wie ich Brockhaus entnehme, gibt es bei Colmar in den Vogesen die Ortschaft Drei Ähren (Les Trois Épis). Er empfiehlt sie als Sommerfrische und Wallfahrtsort. Ich muß aber zugeben, der ausgefallene Name genügt mir bereits. Er geht auf einen einheimischen Schmied zurück, der eben dort, am 3. Mai 1491, eine Marienerscheinung hatte. Die sogenannte Gottesmutter hätte in der Linken mit drei Gerstenähren gewunken, jedoch in der Rechten ein dickes Hagelkorn gewogen; fast hatte es der Schmied bereits an seinem Kopf verspürt: Platzwunde! Nun wurde an besagter Stelle in Windeseile eine Kapelle errichtet, in der man bis heute fleißig opfern und beten kann. Die Klerikalen hatten nämlich versichert, die Erscheinung besage nichts anderes als: je frömmer wir sind, desto üppiger fallen unsere Ernten aus, wird doch Maria sie im besten Fall vor allen Unbilden schützen.
~~~ Wie es aussieht, wurde um 1825 in Deutschland irgendwie falsch geopfert und gebetet. Damals stöhnte die Bevölkerung über Jahre hinweg unter landwirtschaftlicher »Überproduktion«, um Hans Motteks Fachbegriff (Wirtschaftsgeschichte Band II) zu übernehmen. Gebietsweise sei das Getreide »auf dem Halm verfault«, weil es keiner mehr kaufen wollte. Unterdessen dürften in so und sovielen anderen Winkeln Europas massenhaft Leute verhungert sein. Beispielsweise in Irland. Aber wer hätte das den Bauern beziehungsweise Junkern schon bezahlt, das überschüssige Getreide nun als Geschenk nach Irland zu schicken? Mottek hält die Angelegenheit nicht für eine Marienerscheinung, vielmehr für ein typisches Symptom des äußerst krisenanfälligen Kapitalismus, der sich damals gerade etablierte. Glauben Sie aber nicht, die Bevölkerung hätte vorgeschlagen, dieses verrückte Wirtschaftssystem lieber nicht zu etablieren. Sie folgte vielmehr den Mahnungen der Klerikalen und der diese allmählich ersetztenden »Wirtschaftsweisen«, entweder inbrünstiger zu opfern und zu beten oder aber das x-te Reformmodell des Kapitalismus auszuprobieren.
~~~ Um 1930 litten in Europa Millionen Erwerbslose an Hunger und Elend. In den USA jedoch wurden zur gleichen Zeit »Millionen von Tonnen Kaffee ins Meer versenkt, Weizen und Schweine verbrannt, Orangen mit Petroleum übergossen, um die Marktsituation zu erleichtern«, schreibt Arthur Kostler in seinen Erinnerungen. Das hätte seine Empörung zu einer bis dahin nie erreichten Weißglut gebracht und ihn in die Kommunistische Partei getrieben. Aber eben nur ihn und ein paar Handvoll andere. Später erfreuten uns die berüchtigten EWG-Butter- und Gurkenberge. Das Volk erduldete sie und fotografierte sie. Um ehrlich zu sein, begreife ich bis heute nicht, warum sich ein so groteskes wie grausames Wirtschaftssystem wie der Kapitalismus schon mehrere hundert Jahre halten konnte. Das kann ja nicht nur an den Pfarrern und Ökonomieprofessoren liegen. Wobei ich vorsichtshalber sagen muß, vor 1770 war auch nicht alles Gold, was glänzte. Liest man Sigmar Löfflers Waltershäuser Stadtgeschichte, kommt man aus dem Kopfschütteln kaum heraus. Im hiesigen (späteren) Amt Tenneberg gab es mindestens ab 1200 unablässig Händel aus Konkurrenzgründen. Die Bürger oder Bauern stritten sich untereinander; die Städter mit den Dörfern oder den Adelsnestern; der Burgvogt (Amtmann) mit dem Abt des Klosters Reinhardsbrunn, und so weiter. Es ging um Grenzen, Geld, Ehre. Man hatte eben schon Privateigentum, wenn auch der Landesfürst und die Bischöfe entschieden den Löwenanteil davon besaßen. Wie sich versteht, verschlangen diese unablässigen Händel Unmengen an Zeit, Geld und nicht zuletzt Nerven. Volkswirtschaftlich betrachtet, war das ganze ein einziges Verlustgeschäft.
~~~ Nun will ich keineswegs behaupten, ohne Kapitalismus und Privateigentum ließe sich jeder Streit vermeiden. Findet er aber in egalitär gestimmten Gesellschaften auf der Folie von Gemeineigentum und gemeinsamer, nicht durch Klassen und Interessengruppen zersplitterten Werte und Verfahrensweisen statt, ist er sowohl in der Heftigkeit wie im Umfang viel begrenzter. Das sagen mir meine Erfahrungen in anarchistischen Kommunen, außerdem etliche Bücher, die ich im Hinblick auf meine eigenen utopischen Erzählungen studiert habe. Dabei wurden gerade auch in den jüngsten Jahrzehnten, seit 1968, zahlreiche Regeln oder Instrumente erfunden, die bei der Konfliktlösung sehr dienlich sind. Das schließt auch »primitive«, schon vor Zeiten erprobte Mittel ein wie etwa das Im-Kreis-Sitzen aller Beteiligten oder die Beiziehung von unbefangenen Dritten, wenn es um die Schlichtung eines Streites geht. In den Kirchen lief und läuft das bekanntlich anders. Der Pfarrer steht auf der Kanzel und erzählt den in die Bankreihen gepferchten Schafen, warum es hin und wieder zu bedauerlichen Mißernten und Mißbräuchen kommt. Auch an Kindern. Weil wir zu sündhaft leben! Also mehr opfern und mehr beten.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 10, Februar 2024


Die kleine portugiesische Kreisstadt Elvas liegt auf einem Hügel unweit der Grenze zu Spanien. Ihr berühmter 7 ½ Kilometer langer, zum Teil vierstöckiger Aqueduto de Amoreira, 1498–1622 auf römischer Basis in zahlreichen Bögen erbaut, ist laut Brockhaus noch heute »in Funktion«. Es handelt sich natürlich um eine Wasserleitung – freilich eine künstliche. Im Flachland wäre sicherlich einige Mühe entfallen, aber die Stadtgründer wünschten eben eine mehr oder weniger uneinnehmbare Festung zu errichten. Da heißt es Brücken bauen und Fässer buckeln. Im nordhessischen Städtchen Wolfhagen hatten sie ein ähnliches Problem. Auch Wolfhagen, Burg voran, thront auf einem Hügel. Nach Görlichs Stadtgeschichte* stand der mittelalterlichen Siedlung innerhalb des Mauerrings überhaupt keine Quelle zur Verfügung. Irgendwann erschloß man eine vor dem Teichtor, doch dann hieß es, wie schon angedeutet, immer noch Wasserschleppen. Brach Feuer aus, winkte Wolfhagen die Hölle. Und es brach öfter aus. Nach und nach führte man Wasser aus der Umgegend in Leitungen heran, doch das alles war äußerst aufwendig, da ja zumindest streckenweise kein natürliches Gefälle zur Verfügung stand. Der heutige Schlaumeier knurrt vielleicht: Einfach Pumpen nehmen! Die pflegen allerdings bis zur Stunde auch nicht vom Himmel zu fallen: man muß sie herstellen, einbauen, betreiben.
~~~ Der »Siedlungs-Masochismus«, den ich der Menschheit neulich schon bescheinigt habe [→ Heimat, Chaltschajan], trug also auch im Hinblick auf die Wasserversorgung gehörig zu unserer Belästigung bei. Besonnene Leute hätten sich niemals auf einem Bergrücken oder in einer Wüste niedergelassen. Aber die Leute waren von militärischen Rücksichten oder sogenannten Rentabilitätserwägungen oder einfach vom Wilden Watz getrieben. Im besten Fall handelten sie planlos. Ich verwahre mich hier gegen die verbreitete Ansicht, die typischen Chaoten dieses Planeten seien die Anarchisten. Solche Chaoten haben wir vielmehr mit all den kleinen und großen Geschäftemachern am Hals. Die modernen Kapitalisten sind die Oberchaoten. Wie ich Motteks Wirtschaftsgeschichte Band II entnehme, war auch der Eisenbahnbau in Deutschland um 1850 keine planvolle Angelegenheit. Er lag zunächst überwiegend in privaten kapitalistischen Händen – und die verfuhren selbstverständlich gemäß ihrer Standortinteressen und Gewinnerwartungen. Nur wenn Verlustgeschäfte drohten, wenn ihnen der Bahnbau also zu teuer oder »unrentabel« vorkam, riefen sie schon damals gern nach dem preußischen Staat. Und so ist es bis heute geblieben. Gewinnbringendes wird privatisiert, Unergiebiges sozialisiert.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
* Paul Görlich, Wolfhagen. Geschichte einer nordhessischen Stadt, Wolfhagen / Kassel 1980, S. 572–77



Man denkt zunächst: bei Herrn Brockhaus kommt die Glühlampe aber erstaunlich schlecht weg. Vielleicht hatte ihn ja ein Lobbyist der neuen, grotesken Energiespar-lampe angepiekt. Ihr und weiteren modernsten Ausgeburten hatte die Glühlampe bekanntlich inzwischen staatlich verordnet (2012) zu weichen. Brockhaus erläutert (1989): Die Lichtausbeute bei Glühlampen ist lächerlich gering, um fünf Prozent; sie geben ansonsten Wärme ab, die für ein Treibhaus mit Ananasstauden ausreicht. Bei Sonderlampen läßt sich die Lichtausbeute vielleicht erhöhen, jedoch auf Kosten der Lebensdauer der Lampe. Diese betrage bei Allgebrauchslampen im Mittel 1.000 Stunden. Dann lobt Brockhaus allgemeiner das Streben der Industriellen »nach höchstmöglicher Lichtausbeute bei ausreichender Lebensdauer« – was freilich auf die und die technischen Probleme stoße. Er nennt sie auch. Dafür schweigt er konsequent von allen nichttechnischen, nämlich unmoralischen oder politischen Motiven, die bei der Produktion von Lichtquellen, nach allen Erfahrungen, durchaus ebenfalls im Spiel sein könnten.
~~~ Vielleicht ist es am einfachsten und eindringlichsten, die verwickelte Sachlage mit Hilfe des Berliner Erfinders Dieter Binninger (1938–91) zu umreißen. Man geht wohl kaum fehl, diesen Mann zu den zahlreichen Opfern der bekannten Wendung = Umkrempelung der DDR zu zählen. Er starb mit vermutlich 53 beim Absturz seines Privatflugzeuges. Der gelernte Uhrmacher und Elektroingenieur hatte zunächst mit auf der Mengenlehre fußenden Lichtzeichen-Uhren auf sich aufmerksam gemacht. Ein größeres Exemplar von diesen, die sogenannte »Berlin-Uhr«, steht noch heute vor dem Europa-Center in der Budapester Straße. Dann tüftelte Binninger in einer winzigen Kreuzberger Fabrik an einer haltbaren Glühlampe, weil die herkömmlichen Birnen, die er in seinen Uhren verwendete, wie üblich viel zu schnell kaputtgingen. Bekanntlich ist ja die Menschheit im ganzen schon seit knapp 100 Jahren Opfer eines kapitalistischen Glühlampen-Kartells, das sich auf eine Begrenzung der Haltbarkeit von 1.000 Stunden geeinigt hatte. Binninger jedoch erfand eine »Ewigkeitsglühlampe«, die (angeblich und möglicherweise um den Preis anderer Nachteile) fette 150.000 Stunden halten wollte oder sollte, das entspräche einer pausenlosen Brenndauer von 17 Jahren. Zufällig fiel sein Plan, sie auch selbst herzustellen, mit der schon erwähnten »Wende« zusammen. Am 27. Februar 1991, »einen Tag vor Auslauf der Angebotsfrist«, so Helmut Höge*, gab Binninger zusammen mit der Berliner Commerzbank ein Kaufangebot für eine Teilfabrik des Ex-DDR-Leuchtstoff-Kombinats Narva bei der berüchtigten Treuhand ab. Damit hatte er im krassesten Fall sein Todesurteil unterzeichnet.
~~~ Am 5. März von Berlin nach Döhren (nördlich von Helmstedt) unterwegs, wo er ein Ferienhaus hat, stürzt Binningers einmotorige Tobago B10 kurz vor dem Ziel ab. Angeblich fällt sie bei Döhren genau in den ehemaligen »Todesstreifen«. Neben dem designierten Industriellen kommen auch dessen Sohn Boris, wohl 23, und der Pilot Lothar Scholz in den Flammen ums Leben. Die unterschiedlichsten Quellen nennen diesen »Unfall« durchweg ungeklärt** oder mysteriös, aber nicht eine von ihnen schildert Einzelheiten. Es muß ja eine, wie fragwürdig auch immer durchgeführte amtliche Untersuchung gegeben haben. Augenzeugen waren anscheinend nicht vorhanden. Immerhin führen einige Quellen das nächste bedeutsame Datum an: den 1. April. An diesem Tag, knapp vier Wochen nach dem Absturz bei Döhren, wird in Düsseldorf der damalige Treuhand-Chef Detlev Rohwedder erschossen. Auch dieser Todesfall, offiziell der RAF in die Schuhe geschoben, ist ungeklärt. Rohwedder hatte sich gegen die brutale »Abwicklung« der DDR-Fabriken stark gemacht, dabei ausdrücklich, wenn ich nicht irre, auch der Ostberliner Narva, die verständlicherweise vor allem Siemens/Osram ein Dorn in der eigenen Glühbirne war. Nun aber wurde das Kombinat zügig weiter zerlegt oder zweckentfremdet, soweit nicht gleich stillgelegt, und dadurch plattgemacht, wie die ganze DDR.
~~~ Gegen Ende seiner gründlichen und stoffreichen Studie zieht Höge unter Bezug auf zwei kritische Dokumentarfilme von Mayr/Gieselmann und Cosima Dannoritzer ein niederschmetterndes Fazit. Ich zitiere es kaum gekürzt. Danach stellten Mayr/Gieselmann klar: >Das Glühbirnenverbot war keine umweltpolitische Maßnahme, sondern eine rein profitorientierte der Elektroindustrie. Und die EU-Politiker sowie Greenpeace waren ihre verlogenen Erfüllungsgehilfen: Die Ersetzung der Glühbirne durch Energiesparlampen hat fatale gesundheitliche Konsequenzen für die Bevölkerung: Diese umgebogenen Leuchtstoffröhren verursachen Quecksilbervergiftung, kontaminieren die Umwelt, haben ein schlechtes Lichtspektrum und stören mit ihrem Flackern neurologische Prozesse. Der Film zeigt »die kartellartigen Machenschaften der großen Lampenhersteller,« heißt es in einer Rezension. / Diesen »Machenschaften« ist Cosima Dannoritzer [..] genealogisch nachgegangen: Mit der Glühbirne begann das, was man »planned obsolescence« (geplanten Verschleiß) nennt, indem ihre »Lebensdauer« sukzessive reduziert wurde [scheibchenweise verkürzt], um mehr davon zu verkaufen. Es folgten Nylonstrümpfe, Textilien usw. – bis hin zu Druckern von Epson und IPhones von Apple. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 wollte man in den USA sogar – analog zum weltweiten Elektrokartell (Phoebus) – jeden Unternehmer, dessen Waren zu lange halten, von Staats wegen mit einem Bußgeld bestrafen. Man begnügte sich dann jedoch mit immer kürzeren Produktzyklen – bis heute. Der Elektroschrott – vom Computer bis zur Energiesparlampe, der dabei anfällt, landet seit Jahren in Ghana als »Second Hand«-Ware – und vergiftet dort ganze Landstriche.<
~~~ Ich schließe mit Höges Klage, in der Postmoderne sei die »Suche nach sozialen Lösungen für technische Probleme« schon nahezu erstickt worden. Genau so ist es. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es Höge schmecken würde, die Bevölkerung Richtung Mollowina zu bewegen. In dieser kleinen, freien Balkanrepublik hat man (um 1904) freiwillig auf elektrischen Strom verzichtet. Will einer abends noch lesen, zündet er eine Kerze an. Meistens zieht er es aber vor zu schlafen, weil er dann auch wieder früh, beim ersten Morgendämmer, aus dem Bett hüpfen kann. Also, mit einem derart rückschrittlichen und unbequemen Programm gelänge der rührigen Frau Wagenknecht wohl kaum der Sprung ins Tag und Nacht erleuchtete Regierungsviertel unserer Siemens-und-Osram-Stadt an der Spree.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* Helmut Höge in seinem https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2012/08/31/zum-vorubergehenden-gluhbirnenverbot/, 31. August 2012
** So am 5. Juni 2012 selbst der Berliner Tagesspiegel (Sylvia Hallensleben: »Verteidigung der Glühbirne«)



Ich fürchte, Brockhaus‘ Ausführungen über Inflation, immerhin 3 ½ Seiten lang, werden ihrem Gegenstand insofern gerecht, als sie wahrlich »aufgeblasen«, dabei aber leider ziemlich fruchtlos sind. Es ist schon viel, wenn er am Rande einräumt, meistens schädige die Geldentwertung »die ärmeren Teile der Bevölkerung«, könne auch zu »Einkommensumverteilungen«, ja sogar »Verteilungskonflikten« führen. Da wird selbst die politökonomische Niete Stefan Zweig deutlicher. Nichts habe das deutsche Volk so erbittert, haßwütig und hitlerreif gemacht wie die Inflation zwischen den beiden Weltkriegen, schreibt er in seinen Erinnerungen, wohl seinem wichtigsten Buch.* »Die Arbeitslosen standen zu Tausenden herum und ballten die Fäuste gegen die Schieber und Ausländer in den Luxusautomobilen, die einen ganzen Straßenzug aufkauften wie eine Zündholzschachtel; jeder, der nur lesen und schreiben konnte, handelte und spekulierte, verdiente und hatte dabei das geheime Gefühl, daß sie alle sich betrogen und betrogen wurden von einer verborgenen Hand, die dieses Chaos sehr wissentlich inszenierte, um den Staat von seinen Schulden und Verpflichtungen zu befreien.«
~~~ Die Namen der verborgenen Hand, Oskar Tauschwert, und dessen Enkel, Konrad Kapitalismus, läßt natürlich auch Brockhaus nicht fallen. So kann er den Eindruck erwecken, inflationäre Phänomene kämen schon seit der Altsteinzeit unberechenbar und letztlich unvermeidbar wie Regen und Schnee im April über uns. Zweig erwähnt immerhin den »Großverdiener« Hugo Stinnes. Es war ja keineswegs nur der Staat, der sich (um 1922) gesundstieß. Es war vor allem das von ihm gehätschelte Monpolkapital. Schließlich konnten die Fabrikanten auf ihre »Hardware« und ihr »Know-How« bauen, die Erwerbslosen und Kleinbürger dagegen nicht. Sie verloren ihre Ersparnisse, während die Kapitalisten erfreut ihre Schulden schrumpfen sahen, Spekulationsgewinne einstrichen und »die Reallöhne senkten«, wie lange nicht mehr. Für Marxisten wie Hans Mottek** sind Inflationen ein teils mit Absicht ergriffenes, teils zumindest höchst willkommenes Mittel, Kriegsverluste und kapitalistische Krisenfolgen auf die werktätigen Massen abzuwälzen. Ich glaube, darin haben sie recht. Somit können wir uns bereits auf die Zeit nach dem rotgelbgrünen Krieg gegen Rußland freuen. Falls wir ihn überleben.
~~~ An der Postmoderne fällt allerdings der grundsätzliche Hang zur Aufblähung auf. Der Computer erlöst uns nicht etwa von der Bürokratie, er vergrößert sie. Die Häuser werden nicht etwa weniger, vielmehr höher und großkotziger. Das Versprechen von Wundern wird zu einer alltäglichen, klassenlosen Gepflogenheit, der sich niemand mehr entziehen kann. Das entwertet selbstverständlich die Wunder; sie platzen gerade so wie die Spekulationsblasen am laufenden Meter. Daran kann man sich gewöhnen. Gleichwohl sind die GewinnerInnen der ganzen abgeschmackten Veranstaltung die immerselben Superleute, denn die haben das Kapital und den Durchblick. Kürzlich meldeten die Medien, der Bau des Bahn-Wahn-Projektes Stuttgart 21 werde um ungefähr 1,7 Milliarden teurer als nach der vorausgegangenen Fehleinschätzung angenommen. Damit käme er auf rund 11 Milliarden. Dabei hat sich die Bahn auch noch einen »Risikopuffer« von 500 Millionen, also einer halben Milliarde, vorbehalten. Ursprünglich (1995) hatte man mit 2,5 Milliarden Gesamtkosten gerechnet.*** Das wären bereits deftige Steigerungsraten, wenn man nur mit Tausendern in DM zu rechnen hätte. Aber Milliarden? Versuchen Sie einmal, sich eine Milliarde Euro vorzustellen, und möglichst mit allen Konsequenzen. Ein langwieriges und mühsames Geschäft. Bis Sie das bewerkstelligt haben, hat die Panzerknacker Betonbau AG schon wieder ein paar Millionen abgesahnt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 19, Mai 2024
* Stefan Zweig, Die Welt von gestern, 1944, hier Fischer-TB 1989, S. 357–61
** Hans Mottek, Wirtschaftsgeschichte Band III, 3. Auflage Ostberlin 1977, bes. S. 236, 243, 245
*** https://www.swr.de/swraktuell/baden-wuerttemberg/stuttgart/stuttgart-21-soll-ueber-11-milliarden-kosten-100.html, 20. Dezember 2023



Der Nähmaschine widmet Brockhaus (mit Abbildungen) anderthalb Spalten. Um 1850 auf den Markt gekommen, wanderte die Nähmaschine vorzüglich in die neuen städtischen Schneiderwerkstätten und Konfektionsfa-briken, die bald wie Pilze aus dem Boden sprossen. Das steht bei Mottek. Selbst so mancher Bauer vom Dorf habe sich damals verleiten lassen, seine Kleider nicht mehr eigenhändig zu nähen: er kaufte sie. Zeit ist Geld. Wünschte er seine Fenstervorhänge zu erneuern oder zu ändern, gab er sie weg: in eine Schneiderwerkstatt, die eben schon eine Nähmaschine besaß. Allerdings mußte er das Geld erst einmal verdienen. Just dazu benötigte er eben mehr Zeit.
~~~ Als die Nähmaschinen, dank der »Rationalisierung«, preiswerter wurden, zogen sie hier und dort auch in die Haushalte des Kleinen Mannes ein. Meine Großmutter, eine Lehrersgattin, besaß eine Singer, die am Schwungrad angeworfen und mit dem Fußtrittbrett in Gang gehalten werden mußte. Helene säumte ihre Gardinen sozusagen eigenhändig und eigenfüßig. Die Beliebtheit der Nähmaschine in DDR-Haushalten streifte ich bereits unter Gugelot.
~~~ Laut Brockhaus war das erste Haushaltsgerät, das elektrifiziert wurde, die Nähmaschine. Wie sich versteht, liefen auch die Nähmaschinen, die ich als Polsterer zu benutzen hatte, mit Strom. Aber ich haßte sie. Der Vorschub klemmte, die Nadel brach, die Fadenspule verwandelte sich in Sekunden in einen Dschungel, in dem Tarzan vor lauter Lianen steckengeblieben und erdrosselt worden wäre. Zum Glück hatte mein letzter Chef, ein vielbegabter Raumausstatter, eine eigene Nähstube mit zwei Kolleginnen, die mir mehrmals wöchentlich aus der Patsche halfen.
~~~ Ich nähte immer am liebsten mit der Hand. Das muß der Polsterer ja an seinem Werkstück ohnehin oft tun. Hat meine Hose heute einen daumenlangen Riß, schließe ich auch diesen, notfalls durch Aufsetzen eines Flicken, mit der Hand. Das geht natürlich nicht in Windeseile. Aber wenn ich eins im Überfluß habe, dann Zeit.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 27, Juli 2024


Der nächste angebräunte Kandidat wird von Brockhaus lediglich in der Quandt-Gruppe gestreift. Er war die Frucht eines verschlagenen Industriellen und »Wehrwirtschafts-führers« sowie der späteren Frau Goebbels und hieß Harald Quandt (1921–67). In der Demokratie stand ihm eigentlich nur ein italienischer Berg im Wege, gegen den er, bei einem Nachtflug, in kaum 1.000 Meter Höhe geprallt sein soll. Er starb mit 45. Einen »crash« auf dem Züricher Flughafen hatte Quandt zwei Jahre früher noch überlebt, wie man in einer lesenswerten Darstellung des stern-Autors Stefan Schmitz erfährt.* Dieses Mal, am 22. September 1967, findet Quandt im Verein mit seiner aktuellen Geliebten und vier weiteren Menschen an Bord einer privaten Beechcraft A90 King Air seinen Tod in der Natur. Die Gruppe wollte nach Nizza, wo eine Berliner Freundin, so der Spiegel (41/1967), eine Bademodenschau vorbereitet hatte. Der Berg stand unweit der Côte d'Azur bei Cuneo, Norditalien. Das Wrack und die sechs Leichen seien von einem Schäfer gefunden worden, schreibt Schmitz und wechselt das Thema. Nach anderen Quellen gilt der Unfall als ungeklärt. Möglicherweise war die gesamte Bordelektronik ausgefallen, damit auch das Funkgerät.
~~~ Vor jenem Züricher Unfall hatte Quandt auch schon den von seinem Erzeuger kräftig geförderten Zweiten Weltkrieg überlebt. Blond wie Mutter Magda, dazu groß und germanisch, war der Junge zur Luftwaffe der Wehrmacht gegangen und als Fallschirmjäger auf Kreta und in Afrika gelandet. Glücklich dem feindlichen Feuer und der Gefangenschaft entronnen, mausert er sich in der Demokratie vom Oberleutnant und Maschinenbauinge-nieur zu einem Rüstungsindustriellen und Playboy, den fast jedes Kind kennt. Der Berliner Boxer Bubi Scholz und Frankfurts bekannte »Edelhure« Rosemarie Nitribitt kennen ihn auch. Der Krieg hat Quandt »die Jugend gestohlen«, da hat er Nachholbedarf. Mit Gattin Inge (1928–78) und Kindern bewohnt er in Bad Homburg (am Taunus) eine Villa, in deren Keller allein Quandts Modelleisenbahn 80 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Zur Betreuung dieser Anlage hat er einen bezahlten Fachmann. Die Villa weist 52 Telefonapparate auf, »über die sich auch die Musikbox steuern lässt«, so Schmitz. Als er Nizza verfehlt, sitzt Quandt in rund 25 Aufsichtsräten und Vorständen. Schmitz weiter: »Das breit gestreute Vermögen der fünf Töchter Harald Quandts schätzte das Manager Magazin im März 2002 auf 2,5 Milliarden Euro. Herberts Witwe Johanna [die vom Bruder], die in den fünfziger Jahren als Sekretärin bei der Afa anfing, wäre Deutschlands reichste Frau – besäße ihre Tochter Susanne Klatten nicht noch mehr. Allein fast acht Milliarden Euro sind die BMW-Anteile wert, die sie gemeinsam mit Bruder Stefan hält.«
~~~ Man ist versucht, sich einen afghanischen oder palästinensischen Jungen vorzustellen, dessen Eltern mit Hilfe deutsch-schwäbischer Feuerwaffen erschossen wurden, dem aber noch das halbeingestürzte Lehmhäuschen geblieben ist. Vielleicht würde er sich freuen, wenn ihm jemand Haralds verwaiste Modelleisen-bahnanlage schenkte – aber wo wollte er dieses Ungetüm aufstellen? Er müßte mit Nachbarskindern ein Gemeinschaftshaus errichten, kein schlechter Anfang.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024
* Stefan Schmitz, https://www.stern.de/wirtschaft/news/familiengeschichte-die-quandts-3900624.html, 19. August 2002



Ich persönlich bin immer erleichtert, wenn mir ein Antiquariat bedauernd mitteilt: Schutzumschlag fehlt. Brockhaus läßt in dieser Hinsicht mit dem abschließenden Hinweis aufhorchen, der sogenannte Schutzumschlag sei um 1904 durch den findigen Verlegerkopf Langewiesche aufgekommen. Die Bücher kamen also (bei Gutenberg) nicht auf Anhieb mit dem ausklappbaren Tummelfeld für Jugendstil-ÜberredungskünstlerInnen aller Art, darunter manche echte Klappendichter, auf die Welt. Erst im Jugendstil waren massenhafte Arbeitsplatzbeschaffungs- und Ehrgeizbefriedigungsmaßnahmen erforderlich. Eine Tarnung dieser Maßnahmen war schnell zur Hand: die Langewiesches erinnerten inbrünstig an das bewährte Sprichwort »Doppelt hält besser« und wiesen außerdem auf die gewachsenen Sicherheitsbedürfnisse der Massen hin. Deshalb hatten die Massen ja in Afrika oder Fernost deutsche »Schutzgebiete« eingerichtet. Nebenbei beanspruchten sie jetzt ebenfalls solche aparten »Schonbezüge« für ihre Sofas und Sessel, die sich bis dahin nur Gräfinnen und Fabrikantengattinnen leisten konnten. Als Polsterer schnitt ich einst selber welche für die Villen an der Hessischen Bergstraße zu. Sie waren nicht selten noch kostbarer als die Polstermöbel, die sie schützen oder auf die sie schlitzohrig neugierig machen sollten. Wahrscheinlich gehören hier auch schon die biedermeierlichen Krinolinen (Reifröcke) hin. Für schlichte Gemüter ist die umfassende Tendenz zur Anhäufung von Überflüssigkeiten und zur Aufblähung ganzer Volks- und Weltwirtschaften im Zuge der allgemeinen Kapitalisierung jedenfalls unverkennbar. Auf Pingos haben die Bücher keine Schutzumschläge, weil sie ohne solche griffiger sind. Druck- und Dunkelstellen hält man für normal. Nennenswerte Verschleißerscheinungen kommen nicht vor, weil man für die Einbände ausschließlich beste Leinwände oder Lederhäute nimmt. Einmal bestellte ein Kommunarde im Ausland ein sogenanntes Paperback. Als er es auspackte, fehlte der übliche Schutzumschlag. Dafür war es, wie man später in Erfahrung brachte, »in Klarsichtfolie eingeschweißt«. Da machte die ganze Kommune große Augen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 34, September 2024

Siehe auch → Adenauer (Versicherungen) → Anarchismus, Tugan (Arbeiterklasse) → DDR, Gugelot (Warendesign) → Fortschritt, Dampfmaschine („Industrialisierung“) → Voelkner (Landwirtschaft) → Band 4 Bott 3-1 (Koestler, Krise)




Kapp, Gottfried (1897–1938) und Luise. Vermutlich sagt Ihnen der Name Luise Kapp, geborene Windmüller, so wenig wie der von Gottfried Kapp. Die beiden heirateten 1927. Neuerdings lese ich seit Wochen in einem Band mit Briefen Gottfrieds an Luise, veröffentlicht 1963 in Dülmen. Ich kannte bis dahin lediglich Gottfried Kapps Roman Das Loch im Wasser von 1929. Ein reizvoller Titel, wie ich finde, aber das Buch konnte mich nicht so richtig packen. Kapp, geboren 1897, stammte aus einer Mönchenglad-bacher Arbeiterfamilie, wurde jedoch Literat. Er neigte zu der Schwärmerei, die man von Legionen romantisch, mystisch, »spirituell« veranlagter Menschen her kennt beziehungsweise nicht kennt. Denn was diese Leute eigentlich wollen, bleibt stets nebulös. Insofern endet Kapps junger Romanheld angemessen: er geht ins Meer. Er schwimmt in die Nordsee hinaus; er wird immer kleiner – bis man ihn nicht mehr sieht. Vielleicht hat er jenes Loch im Wasser gefunden.
~~~ Hält man sich an die Briefe, könnte der niederrheinische, später südhessische Erzähler, der bis heute nicht sonderlich viel Anerkennung fand, ein humorvoller und überwiegend angenehmer Mensch gewesen sein. Er schreibt Briefe am laufenden Meter, klammert sogar Philosophisches und Politisches weitgehend aus, und dennoch sind sie nie langweilig. Was mir freilich mißfällt, ist die Rolle, die die Empfängerin dieser unterhaltsamen Briefe offensichtlich zu spielen hat. Diese Rolle ist weder neu noch witzig. Auch die 1898 geborene Luise scheint im wesentlichen die klassische Muse und Hauseselin gewesen zu sein. Sie kocht, bügelt, flickt, putzt, und tippen tut sie selbstverständlich ebenfalls. Nebenbei ist sie wohl auch als Buchbinderin tätig gewesen. Nach Kapps frühem Tod kümmert sie sich hingebungsvoll um sein Werk und schreibt außerdem ein ganzes Buch über ihn. Die Liebe zwischen den beiden muß groß gewesen sein. Kapp hat ein Füllhorn an Kosenamen für Luise. Allerdings auch eine streckenweise geradezu rüde Ironie. An Luises Stelle hätte mich diese Ironie ohne Zweifel gekränkt.
~~~ 2001 legte Doris Sessinghaus-Reisch eine überfällige Monografie über Luises Gatten vor. Sicherlich eine verdienstvolle Tat, wenn auch nach Schema und Stil einer typischen Diplomarbeit vollbracht. Meines Erachtens geht aus dem biografischen Abschnitt der Arbeit nicht klar hervor, warum der junge Niederrheiner Kapp um 1916, nach seiner Relegation vom Odenkirchener/Linnicher Lehrerseminar, dem Schicksal des Kanonenfutters, also dem Ersten Weltkrieg entging. Immerhin betont die Autorin jedoch, Kapp sei damals nicht der allgemeinen Kriegsbegeisterung und Vaterlandsliebe verfallen, daher Außenseiter gewesen (S. 54). Auf Wanderschaft in Bayern unterwegs, sei er zu einem Bayreuther Infanterie-Regiment eingezogen worden. Dort sei er aber »nicht lange« geblieben, sondern »zur Wiederherstellung der Gesundheit in ein Erholungsheim in Franken überwiesen« worden (56). Sein Leiden wird nicht benannt. Vermutlich war es just der Mangel an Kriegsbegeisterung und Vaterlandsliebe. Mit anderen Worten, ich nehme an, er verstand es, sich zu drücken.
~~~ Die nächste Enttäuschung: Über Kapps Gattin Luise, »Tochter aus einer großbürgerlichen jüdischen [Lippstädter] Familie«, ist von Sessinghaus-Reisch so gut wie nichts zu erfahren. Kapp hatte sich in Lippstadt dem kurzlebigen Versuch, das Abitur nachzumachen, dann aber lieber dem Schreiben sowie dem dortigen Fußballverein Borussia gewidmet, der ihm sogar eine Wohnung zur Verfügung gestellt habe. Mit diesem Club habe er am 1. Mai 1921 »die Meisterschaft der A-Klasse« errungen, vermutlich der westfälischen, denn die an diesem Spieltag mit 2:5 gegen Lippstadt unterlegene Mannschaft kam aus Ahlen (bei Warendorf, Münsterland). Mögen im übrigen Fußballexperten feststellen, wie hoch dieser Abstecher des abgebrochenen Lehrers und zukünftigen Schriftstellers (vor allem Erzähler) in den Leistungssport zu werten sei. Kapp soll sich damals sogar bemüht haben, aufgrund von Drähten nach Rumänien, Fußballtrainer auf dem Balkan zu werden (57). Somit kann er kein so schlapper Junge gewesen sein. Der Vater war Facharbeiter in einer Maschinenfabrik. Man wohnte, am Niederrhein, im eigenen Haus. Das einzige mir bekannte Bildnis – schmale Lippen, hohe Stirn, die Brillengläser rund – zeigt Fußballer Kapp mit eher weichen Zügen.
~~~ Nach der Heirat (1927) lebt das Ehepaar Kapp zunächst in Berlin, dann eine Zeitlang auf Capri, Italien. Kapp versucht sich bereits als Freier Schriftsteller über Wasser zu halten. Trotz der wohlhabenden Schwiegereltern scheint Kapp ums Brot zu kämpfen zu haben. 1934 kann er immerhin mit finanzieller Hilfe der Schwiegermutter im Städtchen Kronberg am Taunus, nahe der in Frankfurt lebenden Schwägerin, ein »kleines Haus« erbauen. Glanzstücke des Häuschens seien eine Bibliothek und ein Klavier gewesen, »an dem Kapp oft und gerne saß« (61). Möglicherweise ging Kapps Blick vom Klavierschemel aus ins Hessische Ried bis nach Darmstadt, wo Kollege Ernst Kreuder mit Gattin Irene in der ehemaligen Kaisermühle (angeblich) der berüchtigten »Inneren Emigration« nachging. An Kreuder, der nur einige Jahre jünger war, erinnert mich Kapps Leben und Wirken in mancherlei Hinsicht immer mal wieder. Daß sich die beiden einmal getroffen hätten, wüßte ich nicht, aber es ist keineswegs unwahrscheinlich.
~~~ Den »gleichgeschalteten Kultur-Institutionen« der Nazis blieb Kapp, wie es aussieht, fern. Er habe deshalb auch alle Hoffnungen auf Broterwerb in Presse und Rundfunk begraben müssen, schreibt Sessinghaus-Reisch (61, 68). Ferner sei es der »Jüdin« Luise schon nicht mehr möglich gewesen, einkaufen zu gehen, »dies übernahm Gottfried«. Doch im September 1937 zerschlägt sich auch der Ausreisewunsch des Paares, weil Kapps Antrag auf Reisepaß abgewiesen wird. Das Paar wird zunehmend schikaniert. Am 10. November 1938 (»Reichskristall-nacht«!) setzte es zunächst Prügel und Zertrümmerung im Hause Kapp mit abschließender Verhaftung für mehrere Tage. Schon eine gute Woche nach diesem faschistischen Überfall werden die Eheleute erneut zu Hause belästigt und, nach Beschlagnahmung »verdächtiger«, nämlich »staatsfeindlicher« Texte Kapps, auch erneut verhaftet. Man sperrt sie getrennt im Frankfurter Gerichtsgefängnis ein. Am 21. November wird Gottfried Kapp im Haus der Gestapo dem Verhör unterzogen, das ihm, 41 Jahre alt, das Leben kosten sollte. In einer Zuschrift an die Frankfurter Neue Presse im Jahr 1963, die Sessinghaus-Reisch anführt, behauptet der ehemalige Gestapo-Beamte Heinrich Baab, auf dem Weg zu seinem Dienstzimmer habe er damals verfolgt, wie Kapp von Kriminal-Obersekretär Gabbusch und Kriminal-Sekretär Fengler prügelnd durch den Flur des Polizeigefängnisses getrieben und auf eine Bank unter einem Fenster geworfen worden sei, worauf sie den Häftling vorübergehend allein gelassen hätten. Nach wenigen Minuten habe Baab von seinem Dienstzimmer aus Aufregung vom Flur her vernommen. Man erklärte ihm wohl, Kapp sei aus dem Flurfenster gesprungen. Baab behauptet, er sei wie andere auf den Hof geeilt und habe dort noch den letzten Atemzug des Schriftstellers erlebt. Fengler sei die Angelegenheit sichtlich unangenehm gewesen. Gabbusch und Kriminal-Assistent Wildhirt hätten Späße gemacht, während sich Kriminal-Rat Grosse jeden Kommentar verkniffen habe (63 u. 212).
~~~ Die offizielle Version der Gestapo belief sich offenbar auf »Selbstmord im Polizeigefängnis« (213). Kapp war also selber schuld … Ob im Nachhinein jemand versuchte, den Vorfall aufzuklären und zum Beispiel die Genannten, falls noch am Leben, ihrerseits gezielt in Sachen Kapp verhören zu lassen, bleibt bei Sessinghaus-Reisch unklar. Leserbriefschreiber Heinrich Baab, geb. 1908, damals wohl Sekretär bei der Frankfurter Gestapo, später Chef des dortigen »Judenreferats«, war natürlich mehr als befangen. Nach verschiedenen Internetquellen hatte er zahlreiche Morde an Mitbürgern auf dem Gewissen und saß von 1947–73 im Gefängnis. Kriminalrat (ab 1940) und SS-»Sturmbannführer« Ernst Grosse kam, vor Einstellung der Ermittlungen 1952, wegen seines faschistischen Wirkens mit wenigen Jahren Haft davon. Kriminal-inspektor Hans Gabbusch wurde in der SBZ/DDR verurteilt und bis 1956 eingesperrt; ein Jahr darauf starb er in Westberlin. Kriminalsekretär Fengler hieß mit Vornamen wahrscheinlich Gotthold oder Gottlieb. Ein Kriminalassistent Wildhirt ist im Internet überhaupt nicht bekannt.
~~~ Was die Darstellung durch Baab betrifft, den es von allen genannten Faschisten nach dem Krieg am härtesten traf, ist Anschwärzung und Rachsucht sicherlich nicht ganz auszuschließen. Im Grunde dürften die Einzelheiten und Tatanteile allerdings unerheblich sein. Kapp wurde wegen der Solidarität mit seiner jüdischen Frau und wegen seiner antimilitaristischen und antifaschistischen Haltung eindeutig verfolgt, gequält und in den Tod getrieben. Hier läge immerhin ein auffallender Unterschied zum Schicksal Ernst Kreuders oder gar Horst Langes vor. Allen gemeinsam ist dafür ein streckenweise schmerzhaftes Pathos der romantisch-mystischen, also der unbestimmten Art. Sie verbreiten Nebel über Bodenständigkeit, Seelengröße, sittsamen Lebenswandel und erhebende Kunstwerke. Dabei hat Kreuder Kapp einen gewissen antiautoritären Zug voraus; jener pflegte Amtspersonen und große UmgestalterInnen der Menschheit, Fabrikherren und pflügende Bauern eingeschlossen, nicht, wie dieser, mit Ehrfurcht zu bedecken. Kapp war ohne Zweifel »Einzelgänger«, wie Sessinghaus-Reisch schreibt; er war auch sicherlich ein mutiger, scherzhafter und hilfsbereiter Zeitgenosse; aber zum Anarchisten hätte er nicht getaugt. Er war ein etwas fruchtloser Grübelkopf.
~~~ In stilistischer und dramaturgischer Hinsicht stand er den genannten Kollegen keineswegs nach. Das bezeugt unter anderem sein meist als sein »Hauptwerk« gehandelter Roman Peter van Laac, den er 1931 vollenden, aber zu Lebzeiten nie (im ganzen) veröffentlichen konnte. Er ist stark autobiografisch gefärbt. Entsprechend spielt er hauptsächlich am Niederrhein. Aber auch in diesem Text ist Kapp der Frage nach Militärdienst und Kriegsteilnahme (der Hauptfigur Peter) ausgewichen, wenn mich mein Gedächtnis nicht im Stich läßt. Ferner zählt Kapps schon erwähnte Ämterliebe zum Fundament des Romans. Der unstete und grüblerisch veranlagte Peter wird nämlich »Sekretär«, will heißen rechte Hand und Wahlkampfhelfer des wohlhabenden Sozialreformers und zukünftigen Brüggendoncker Oberbürgermeisters Dr. Nieder. Zuletzt wird er sogar selber Stadtoberhaupt, wenn auch nur des von beiden Männern geschaffenen Brüggendoncker Vororts »Heidsee«. Man rät wohl nicht sehr daneben mit der Vermutung, Kapp habe diese Gartenstadt mit Fabriken, Siedlungshäusern und Heilstätten an das bekannte Reformprojekt Hellerau bei Dresden angelehnt. In Heidsee sind alle Einrichtungen zunächst Gemein-, dann Stadtbesitz. Bis zur Verknöcherung staatsbüro-kratischer Natur fehlte wahrscheinlich nicht mehr viel, aber vorher endet der Roman. Er endet, nach manchem Wälzen von Schuldgefühlen der Hauptfiguren, versöhnlich, zudem hoffnungsfroh. Das schließt »natürlich« Peters Ehebund mit Nieders Tochter Eugenie ein. Ein furchtbarerer weiblicher Vorname war Kapp nicht eingefallen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


Lieber KO, mein Neffe M. hat eine Meise. Er wollte schon immer »Dichter« werden, und nun hat ihm ein Jenaer Trödler einen völlig überteuerten, an sich schlichten, kleinen Tisch aus Tannenholz angedreht, an dem angeblich Goethes Schreiber John etliche berühmte Werke des Herrn diktierenden Geheimrates aufgezeichnet hat. Indem er jetzt nur noch an diesem lächerlichen Tisch* auf seinen Laptop einhackt, erhofft sich M. natürlich, in wenigen Jahren ebenfalls nur noch Werke von Goetheschem Kaliber hervorzubringen. Es handelt sich sozusagen um stark verkürzte Wilhelm Meisters Lehr-jahre. Muß ich meinen Neffen jetzt dem Psychiatrischen Dienst melden? Ergebenst Ihr Engelbert Schuch, Apolda.
~~~ Lieber Herr S., melden Sie lieber Goethe. Und alle seine professoralen SpeichelleckerInnen. Melden sie aber auch Gottfried Kapp, obwohl er mir eigentlich recht sympathisch ist. Der rheinländisch-südhessische Schriftsteller (1897–1938) rühmte Goethe und insbesondere dessen angeblichen Meister-Roman über den Klee, wie dem Band mit Briefen Kapps zu entnehmen ist. Dabei handelt es sich doch beim Wilhelm Meister ohne Zweifel um einen betulichen, schulmeisterlichen, »artigen« Schmarren, der mich jede Wette zu Tode gelangweilt hätte, wenn ich ihn damals, nachdem ich Kapps Empfehlung gefolgt war, nicht wütend und mutig nach ungefähr 100 Seiten Richtung Zimmerofen gefeuert hätte. Es wird mir immer rätselhaft bleiben, wie die jeweils einflußreichen und tonangebenden Sprachrohre des Geisteslebens es schaffen, breitesten Massen, wider alle Vernunft, Phänomene beziehungsweise Hirngespinste wie Goethe, Einstein, Urknall und Klimawandel als abküssenswerte Meilensteine unseres kulturellen Werdens zu verkaufen. Eine enge Freundin von mir behauptet allerdings, es sei keineswegs rätselhaft. Es habe vor allem etwas mit dem Mehrheitsdenken zu tun. Der Mensch unterwerfe sich gern, und je mächtiger das ihn beherrschende »Narrativ« sei, umso sicherer wähne er sich. Nebenbei sei Mitlaufen natürlich auch viel bequemer als Gegen-den-Strom-Schwimmen.

∞ Verfaßt 2023, für die Blog-Rubrik Kummerkastenonkel
* https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Johann_Joseph_Schmeller_-_Goethe_seinem_Schreiber_John_diktierend,_1831.jpg




Kassel

Der Weinberg, der sich unweit des Rathauses über der Karlsaue erhebt, ist beste Kasseler Wohnlage. Umgeben von einem hübschen Park, standen hier vor dem Zweiten Weltkrieg zwei prachtvolle Villen des heimischen Henschel-Clans. Das heißt, die jüngere Villa ließ Oskar Henschel bereits 1932 abreißen, weil sie, kaum verkäuflich, dafür seiner Ansicht nach zu hoch besteuert, leerstand.* Schließlich konnte er die ehemalige Residenz seiner Stiefmutter nicht zur Suppenküche für die Leute erniedrigen, die er jüngst im Rahmen des bedauerlichen kapitalistischen Krisenzyklus‘ in seiner Fabrik hatte entlassen müssen. Die andere Villa dagegen machte wenig später Bekanntschaft mit britischen Bomben. Ja, so ein böser Schicksalsschlag!
~~~ Es war am 22. Oktober 1943 gewesen. Damals flogen britische Jäger einen massiven Angriff, der Kassel zu fast 80 Prozent in Schutt und Asche legte. 418.000 Bomben gingen auf die Stadt nieder. Wie Zeitzeuge Willi Belz in seinen Erinnerungen erwähnt, stand selbst der Asphalt der Straßen in Flammen, sodaß etliche Schutzsuchende in Fackeln verwandelt wurden. Im Ergebnis waren knapp 10.000 EinwohnerInnen tot, gut 10.000 verwundet, rund 150.000 (von 230.000) obdachlos. Die Stadt glich einer Steinwüste. Auf einem zeitgenössischen Foto unternimmt ein offener Pkw eine Besichtigungsfahrt durch die Ruinen. Neben dem Höheren SS- und Polizeiführer Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, der im nahen Barockstädtchen Arolsen noch heute ein hohes Ansehen genießt, ist Herr Dr. Joseph Goebbels, Reichsminister für »Volksaufklä-rung«, zu sehen. Doch aufgeklärt hatten eher die Briten. Seit Monaten war durch Noten an die Hitlerregierung und durch abgeworfene Flugblätter bekannt gewesen, welche Städte von den Briten als zum Kampfgebiet gehörig betrachtet wurden.
~~~ Wenn auch Kassel Haß und Bomber auf sich zog, war die Familie Henschel nicht gerade unbeteiligt daran. Neben einem Militärflugplatz in Rothwesten und den Waldauer Fieseler-Werken, die mit über 5.000 Beschäftigten Flugzeuge bauten, barg Kassel das traditionsreiche Unternehmen Henschel & Sohn. 1777 von Georg Henschel als Geschütz- und Glockengießerei gegründet, mauserte sich das Unternehmen bis zum Oktober 1943 zu einer großangelegten Panzerschmiede mit rund 3.000 Beschäftigten. 1976 war es noch wertvoll genug, um vom Thyssen-Konzern geschluckt zu werden. Diese Übernahme erwähnt Brockhaus noch mit Mühe und Not – von den Kriegen und Rüstungsgewinnen dagegen ist keine Rede.
~~~ In Moskau wurden soeben ein paar nagelneue Maschinenpistolen getestet. Vier Attentäter drangen am Freitagabend (22. März) in eine Konzerthalle ein, um auf die nichtsahnenden BesucherInnen das Feuer zu eröffnen. Zurück blieben 137 Tote, darunter auch Kinder, und rund 180 Verletzte. Jetzt suchen die Behörden die Attentäter, nicht etwa die Waffenproduzenten.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 17, April 2024
* https://www.hna.de/kassel/abriss-henschel-villa-krise-795050.html, 7. Juni 2010



Der fette Brockhaus-Eintrag über Panzer verströmt (1991) ungefähr soviel Zweifel an seinem Gegenstand, wie der gegenwärtige »Bundesverteidigungsminister« Boris Pistorius an sich selber: null. Nach einem kurzen Vorspann über Schilde, Ritterrüstungen, Kettenhemden und dergleichen Antiquitäten geht es flott zu den stählernen Ungetümen moderner Kriegsführung, also den eigent-lichen Panzern, von denen jetzt wieder jeder deutsche Knabe, aber auch jedes deutsche Mädel träumen soll. Eine vergleichsweise riesige Abbildung zeigt den Kampfpanzer Leopard 2 in einer sogenannten Phantomzeichnung. Der wohlwollende Kritiker könnte die Farbgebung immerhin für einen Versuch der Abschreckung halten: Hauptsächlich ekelhafte braun-grüne Tarnfarben, ansonsten ein ekelhaftes Rotbraun, das bereits das geronnene Blut vorwegnimmt.
~~~ Erfreulicherweise belehrt mich Brockhaus, die bekanntesten Kampfpanzer des Zweiten Weltkrieges seien voran die Panther und Tiger gewesen. Dazu entnehme ich dem Internet: beide wurden zufällig in der Stadt meiner antiautoritären Jugend gebaut, nämlich bei Henschel in Kassel. Die Welt geht ins Einzelne.* Der »stärkste deutsche Kampfpanzer im Zweiten Weltkrieg« sei Tiger 2 gewesen. Im Herbst 1943 führt Henschel sein Muster für Tiger 2 (auch »Königstiger« genannt) dem Führer vor – Henschel bekommt den Auftrag (gegen Konkurrent Porsche). Es baut auch Tiger 1 weiter. Von Tiger 2 wurden allerdings lediglich knapp 500 gebaut, weil das Vieh zu schwer war.
~~~ Tja, der Luftangriff der Alliierten auf Kassel im Oktober 1943 war gleichfalls ziemlich schwer, wie es in vielen Quellen heißt. »Kaum ein Stein blieb auf dem anderen«, schreibt die Hessenschau dazu kürzlich gedichtreif.** »10.000 Tote und 12.000 Verletzte lautet die traurige Bilanz der Nacht. 444 britische Bomber radierten mit hunderttausenden Brandbomben die Innenstadt nahezu aus. Sie zerstörten 80 Prozent der Gebäude im ganzen Stadtgebiet.« Meine Großmutter Helene war zu Verwandten nach Kleinalmerode im Kaufunger Wald geflohen; mein Großvater Heinrich bemühte sich als Hauptmann einer Brückenbaukolonne auf dem Balkan um einen halbwegs ehrenvollen Rückzug, falls ich Familiennachrichten trauen darf. Ihr ältester Sohn Gerhold »fiel« im nächsten Jahr in Italien – ins Soldatengrab. Er war noch keine 20.
~~~ 1964 ging Henschel an Rheinstahl beziehungsweise Thyssen über. Man hatte sich auch um den von Brockhaus abgebildeten Leopard 2 beworben, doch dieser Auftrag landete (1978) bei Krauss-Maffei. Inzwischen scheint alles eine Banane beziehungsweise Granate zu sein, nämlich Rheinmetall. Diese Firma gilt zur Stunde als größter deutscher Rüstungskonzern. Aber deutsch ist daran nicht mehr so viel. Zwei Drittel der Aktien gehören »institutionellen Anlegern«, voran aus den USA. BlackRock ist selbstverständlich ebenfalls dabei. Ja, es hat sogar dieser Tage gerade wieder zugeschlagen.***
~~~ Es wird Zeit, daß im Berliner Bundeskanzleramt endlich das BSW ans Ruder kommt. Es wird unverzüglich die Umtaufe der deutschen Kampfpanzer durchsetzen, damit die vom Aussterben bedrohten Raubkatzen dieses Planeten nicht länger verleumdet werden. Die Panzer werden unter Wagenknecht nach Fischen benannt, etwa Kabeljau, Hering, Heilbutt und dergleichen Meer.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article129869643/Der-riesige-deutsche-Koenigstiger-war-ein-Irrweg.html, 7. Juli 2014
** https://www.hessenschau.de/panorama/bombenangriff-1943-eine-nacht-die-kassel-veraendert-hat-v1,erinnerung-kasseler-bombennacht-100.html, 22. Oktober 2023
*** https://www.kettner-edelmetalle.de/news/zufalle-gibts-blackrock-erhoht-rheinmetall-anteile-dann-kommt-grossauftrag-21-06-2024, 21. Juni 2024

Siehe auch → Bildende Kunst, Lyncker (Documenta u.a.) → Fähre (Fulda) → Faschismus, Fieseler (Werkschef) → Spitznamen (Ephesus & Kupille) → Xylothek → Band 4, Mollowina, Der Sturz des Herkules (in Kassel)

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