Mittwoch, 8. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 18
Holunder – Inseln

Ich belästige Sie mit dem sächsischen Mediziner Martin Blochwitz (1602–29), weil er ein großer Holunderfreund war. Er kam aus wohlhabender Familie in Großenhain, machte seinen Doktor der Medizin in Basel und ließ sich 1628 in Oschatz, damals 3.500 EinwohnerInnen stark, als »Stadtphysikus« nieder, also gleichsam als Amtsarzt. Das Städtchen an der Döllnitz liegt auf halbem Wege zwischen Leipzig und Dresden. Nach Krüger-Mlaouhia war Blochwitz auf der Hohen Straße mit einem »Geschirr von fünf Pferden und drei Knechten« aus dem damaligen Hayn eingetroffen. Doch schon ein Jahr darauf sei er, 27jährig, gestorben, möglicherweise an der damals in Sachsen wütenden Pest, man weiß es nicht genau. Jedenfalls habe ihm da auch der geliebte, von ihm hochgepriesene Holunder nicht mehr geholfen.*
~~~ Blochwitz‘ Arbeit Anatomia Sambuci, zwei Jahre nach seinem Tod von seinem Bruder Johann herausgegeben, gilt noch heute als wichtiges, erstaunlich gründliches Standardwerk über den Holunder. Es behandelt Botanik, Zubereitungsarten und Heilanwen-dungen des bekannten Busches, der bei uns Ende Juni an jeder Straßenecke blüht, weshalb man bequem seine Nase in ihn stecken kann, weil die weißen Doldenblüten recht lieblich duften. Mein Großvater Heinrich setzte aus den getrockneten Blüten Jahr für Jahr unermüdlich eine Art Limonade an, die wir »Holundersprutz« nannten, wobei er es zur Freude der Bettenhäuser Zahnärzte nicht an Zucker fehlen ließ. Blochwitz‘ Heilempfehlungen sollen, Wikipedia zufolge, auf so gut wie alles abzielen: Brust- und Gebärmuttererkrankungen, Erfrierungen, Geschwulst-leiden, Infektionskrankheiten, Lungen-, Magen-, Darm-, Milz- und Gallenerkrankungen, psychische Erkrankungen, Schlaganfall und Lähmungen, Steinleiden, Schwindsucht, unklares Fieber und Schmerzen, Vergiftungen, Verletzungen, Wurmbefall – und ja, sogar Zahnschmerzen.
~~~ Vor ungefähr 30 Jahren beging ich in einem Herbst beim Wandern aus Durst den Fehler, die kleinen, blauschwarzen Beeren des Holunders in mich hineinzustopfen. Das ließ ich rasch sein, weil mir auf der Stelle schlecht wurde. Jetzt weiß ich, man sollte die Beeren nie roh essen, weil sie ein Gift enthalten. Davor warnt selbst Brockhaus, den ich damals allerdings noch nicht besaß. Dafür kannte ich Olbas bereits, aber ich hatte das Fläschchen dummerweise nicht dabei. Sonst wäre meine Leidenszeit von zwei Stunden auf zwei Minuten verkürzt worden. Ein paar Tropfen dieses Destillats aus Pfefferminz-, Cajeput- und Eukalyptusöl wirken fast immer Wunder – gerade so, wie Blochwitz zufolge der Holunder. Sie glauben es nicht? Ja, wenn Sie ungläubig sind, hilft ihnen überhaupt kein Medikament. Und noch weniger hilft Ihnen eine Atemschutzmaske – wie neuerdings sogar prominente Leute einräumen, die mit ihrem Coronawahn gewisse MahnerInnen noch 2021/22 in die Isolation und die Verzweiflung zu treiben wünschten.
~~~ Nebenbei soll Bruder Johann Blochwitz, Physikus in Großenhain, gleichfalls schon frühzeitig heimberufen worden sein: 1634 mit 29. Auch in seinem Fall wird die Pest verdächtigt. Die neue Pest waren just die CoronagesundheitswächterInnen. Darauf komme ich noch zurück.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* Kathrin Krüger-Mlaouhia, https://www.saechsische.de/plus/warum-ein-neuer-holunder-blochwitz-heisst-2626673.html, (Dresden) 26. Juli 2013




Hopffgarten, Georg Friedrich von (?), Junker. Ich will nicht behaupten, zu einem echten »Goldenen Oktober« gehöre ein kleiner Radausflug nach Laucha, aber ich will es auch nicht abstreiten. Es gibt schlimmere Dörfer. Dieses hier liegt nördlich von Waltershausen an dem gleichnamigen Flüßchen Laucha, das jenseits des Dorfes in die Hörsel mündet. Meine ersten Schritte gelten (2022) den letzten Dorfgewaltigen. Die von einem stilsicher angebrachten Jägerzaun eingefriedete Familiengrabstätte derer Von Hopffgarten liegt am Südrand des früheren Schloßparkes. Sie wird von mächtigen Linden und Eichen beschirmt, die ihre gelben Blätter auf ein paar noch vorhandene Gedenksteine aus schwarzem Marmor trudeln lassen, die sich mit »Großherzögl. Kammerherren« und »Schlosshaupt-männern« nebst deren Gattinnen brüsten. Die letzte Leiche wurde hier 1924 in die erlauchte Erde Lauchas gesenkt. Die Ära der Herzogtümer neigte sich dem Ende zu. Das Herzogtum Sachsen-Coburg und Gotha bestand 1826–1918. Es hatte gleich zwei Residenzstädte, damit man doppelt soviele Kammerherren und Schloßhaupt-männer besolden konnte. Coburgs Stadtwappen zeigt übrigens eine Rarität, nämlich den Kopf eines schwarzen Mannes mit kräftigen Lippen und riesigen Ohrringen. Um das geächtete Wort »Neger« zu vermeiden: Es ist also ein Mohr, genauer der Heilige Mauritius. Das war ein gallischer christlicher Feldherr, von dem allerdings kein Schwanz weiß, wie er aussah. Jedoch, er starb einen Märtyrertod. Coburg machte ihn später freisinnig zu seinem Schutzheiligen. Unter Hitler mußte der Mohr vorübergehend weichen. Daran wollen nun wieder gewisse Sauberleute anknüpfen, wie ich einem SZ-Artikel von 2020 entnehme.*
~~~ Ich schiebe mein Fahrrad um den von vielen alten Bäumen gesäumten sogenannten Weiher. Hier sah ich schon einmal ein nicht offiziell geadeltes Prunkstück auf einem übers Wasser ragenden Zweig hocken: den knallbunten Eisvogel. Die Laucha selber, die den Teich speist, hat hier und dort auch Wasseramseln zu bieten. Sie kommt aus dem Thüringer Wald. Das Dorf Laucha sah sich 1714 entschieden aufgewertet, denn die Herren von Teutleben verkauften es just an Georg Friedrich von Hopffgarten. Sie verkauften ihm als0 nicht etwa nur eine Hundehütte oder eine Scheune, vielmehr das ganz Dorf. Vermutlich schloß das auch beträchtliche Ländereien ein. Der Kaufpreis wird nirgends genannt. Bei den Hopffgartens handelte es sich um ein altes, verzweigtes thüringisches Adelsgeschlecht, Stammsitz wohl bei Weimar. Ihr neuerworbenes Lauchaer Schloß (früher Wasserburg) erhob sich unweit des erwähnten Teiches an der Stelle der heutigen Park-Gaststätte. Daher wurde es von allen Weiherschloß genannt. 1947/48 wurde es auf sowjetischen Befehl hin abgerissen. Das warf immerhin Steine für andere Bauvorhaben ab. Übrig blieb lediglich ein großes Wirtschaftsgebäude (Fachwerk), das der neue Eigentümer des ganzen Geländes umbauen ließ. Wie man liest**, war das »Schloß« genannte klobige Herrenhaus vor dem Abriß schon ziemlich heruntergekommen, hatte es doch bereits seit 1870 leergestanden. Wegen ihrer hohen Ämter weilten die Gutsherren ohnehin meist auswärts. In den Residenzen hatten sie es auch viel näher zu den Banken.
~~~ Was die Landschaft um Laucha angeht, kann der Tourist nicht klagen, falls er Windräder schätzt. Im Süden sieht er den Thüringer Wald, im Westen die bei Eisenach gelegenen Hörselberge – und im Norden die Windräder. Sie spicken den ganzen vom Hainberg gekrönten dortigen Höhenzug. Angenommen, der Tourist wünscht eine »historische« Pferdekutsche zu besteigen, damit sie ihn über nur drei Kilometer, wie schon ab 1847 die Adelssprößlinge, zum Bahnhof Mechterstädt befördere. Allerdings ist der Tourist zeitgemäß per hochbeiniger und breitmäuliger Geländelimousine angereist. Biegt er bei Waltershausen von der Autobahn ab, kommt er direkt aus dem Krieg. Der so gut wie nie abreißende Schlachtenlärm ist für empfindliche Ohren ungeheuerlich. Vom südlichen Dorfrand, Schloßpark und Familiengrabstätte eingeschlossen, hat man 300 bis 500 Meter »Distanz« zur A 4, die unter Hitler entstand. Wenn die Leute in Laucha nicht schon zu 70 Prozent taub sind, fresse ich eine Angelrute. Aber sie stöhnen eher unter den Ratenzahlungen für ihr schönes neues Eigenheim und haben sich deshalb flugs ein dickes Fell zugelegt.
~~~ Am Weiher, der in diesem Herbst eine neue Uferverschalung erhält, komme ich mit einem Angler ins Gespräch. Er klopft gerade einen Pfahl ein. Der Mann ist zufrieden. Der Privateigentümer des Schloßparks habe dem Anglerverein den Weiher günstig verpachtet und geize auch sonst nicht mit Unterstützung. Im kommenden Sommer wird der Angler wieder in seinem Campingstuhl thronen. Er läßt sich von der Sonne kitzeln und dünkt sich jedesmal König, wenn er einen Karpfen aus dem Weiher zieht. Schließlich gehen wir miesen Zeiten entgegen. Die rasend entwerteten Euroscheine, die der Geldautomat in Gotha für den Angler ausspuckt, kann er nicht essen. Er kann sie höchstens an seine Angelschnur hängen, als Köder. Oder sollte er in seiner größten Not sogar seine mit Schmalz getränkten Ohrstöpsel, die sowieso nichts nützen, als Köder auf den Haken spießen?

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.sueddeutsche.de/bayern/coburg-stadtwappen-mohr-rassismus-nationalsozialismus-1.4951079, 3. Juli 2020
** https://parkgaststaette-laucha.de/geschichte/wasserschloss-laucha/




Horten oder abstoßen?

Wer irgendwann unbedingt als »guter« Schriftsteller eingestuft werden möchte, sollte sich nicht zu viel erzählen lassen – beherrscht er die Kunst des Weglassens, hat er bereits halb gewonnen. Allerdings ist der Feind unglaublich hartnäckig. Ich sclber schreibe seit nunmehr rund 25 Jahren auf Anhieb in der Regel immer noch zu ausufernd und entsprechend langatmig. Man hält alles, was einem auf der Zunge liegt oder was schon länger im Gehirnfach Einfälle schmort, für viel zu wichtig. Warum? Weil man in sich selbst, in die »eigenen« Geschichten und Interessen, vor allem jedoch Potenzen verliebt ist. Dämmert dem Autor im Zuge des Schreibens deshalb der Verdacht, dies und jenes habe er wohl besser zu opfern, sieht er bereits die Hexe den Dolch schärfen, mit dem sie ihm das Gemächte abzuschneiden gedenkt.
~~~ Die Herkunft des bekannten Wahlspruchs less is more (weniger sei mehr) liegt anscheinend im Nebel. An seiner Genialität dürfte freilich kaum zu rütteln sein. Er stimmt fast immer. Achten Sie einmal darauf, wie sich etwa die vielen Beispiele und Vorfälle in schlechten Abhandlungen oder Erzählungen gegenseitig entkräften und den ganzen Text mit der Blässe und Saftlosigkeit eben von Nebel oder von Käse überziehen. Das gilt selbst für einzelne Worte. Bringen Sie ein eher selten benutztes Wort wie rütteln in einem kurzen Essay oder gar in einem Absatz mehrmals, wird es notwendig stumpf und damit entwertet. Es rüttelt dann an einer anderen wichtigen Säule guter Texte, dem möglichst anschaulichen, treffenden und persönlichen Ausdruck. Durch die zügellose Wiederholung geht Ihr Zauberwort sozusagen den Bach hinunter. Wenden Sie nicht ein, so arm sei der Wortschatz der deutschen Sprache ja nun auch wieder nicht, daß sich nicht immer noch ein erfrischendes Wörtchen fände! Dreimal nichts – aber jede Regel hat ihre Ausnahmen. Der reiche Wortschatz ist nur dazu da, Ihnen die beste Auswahl zu ermöglichen. Mag es auch für rütteln oder gar zermürben je 20 Synonyme oder ähnliche Worte geben – in jedem neuen Zusammenhang gibt es lediglich ein Wort, das nun angebracht ist und somit, wie Rüpel sagen, »reinhaut« und hinfort im Glanz aller nur gedachten Bezugspunkte erstrahlt.
~~~ Selbstverständlich schmerzt opfern. Es tut besonders Leuten wie mir weh, die zeitweise unter der Fuchtel ihres Großvaters aufgewachsen sind. Der Werklehrer und Wandersmann Heinrich V. aus Kassel-Bettenhausen trennte sich gleichermaßen ungern von Dingen wie Leuten. Deshalb nahm er ja auch seine Tochter Hannelore und deren Knirpse bei sich auf, nachdem sie sich ihrerseits von ihrem Gatten getrennt hatte. Heinrich war eben anhänglich, treu, pflichtbewußt – leider auch als Frontsoldat im Zweiten Weltkrieg. Zu Hause, in der engen Mietwohnung, kam so schnell nichts bei ihm um. Die Seiten der Tageszeitung zum Beispiel – mehrmals gefaltet und dann aufgeschlitzt – verwandelte er in Klopapier. Die Blätter wurden in einem offenen Holzkästchen gestapelt, das an der Klowand hing. Im vorderen Brettchen ein V-Ausschnitt, damit die Blätter mühelos zu entnehmen waren. Durch beharrliches Knautschen ließ sich der Lesestoff, der stets für Kurzweil sorgte, halbwegs geschmeidig machen. Eine härtere Phase stand bevor, wenn das Kursbuch der Bundesbahn abgelaufen war. Die gelbgetönten Seiten knisterten wie lackiert und impften einem gnadenlos das Wesen der Zahlen ein.
~~~ Den Weg zur Bettenhäuser Volksschule (in Kassel-Ost), wo mein Großvater unterrichtete, legte er durch Jahrzehnte auf seinem sorgfältig gepflegten schwarzen Drahtesel zurück. Erspähte er einen Bindfaden, der sich in der Weißdornhecke am Uferweg der Losse verfangen hatte, hielt er an und ließ ihn in seine Knickerbocker wandern. Seine Baskenmütze war ebenfalls schwarz. Regnete es, schützte ihn sein Kleppermantel, der grau und aus Gummi war wie die Fahrradschläuche. Von diesen trennte er sich, wenn sie ihm keine Lücke mehr für einen Flicken boten. Hatte ihm eine Reißzwecke einen Platten eingebracht, fand sie meine Großmutter Helene beim Auspacken der Satteltaschen wieder, vielleicht ins Komißbrot gepinnt, das er am Bettenhäuser Dorfplatz im Konsum kaufte. Bei aller Strenge, Spaß muß sein. Da sich auf diese sparsame Weise auch eine Menge verkrümmter, rostiger Nägel ansammelte, hieß es auf dem Amboß im Keller ein Viertelpfund geradeklopfen, wenn ich etwas ausgefressen hatte. Unangenehmer war nur Unkraut jäten. Er hatte einen Schrebergarten. Zu Reichtum kam er auf diese Art nie, aber ich glaube, der interessierte ihn auch nicht. Für ihn bargen die Dinge kein Machtpotential, sondern Verwendbarkeit. Verwendungsfähiges durfte man nicht verschwenden.
~~~ Man könnte nun vermuten, als Schriftsteller sollte ich doch eigentlich Heinrichs Sammeltrieb geerbt haben. Aber es kam, wie schon eingangs angedeutet, anders. Ich wurde Minimalist. Sobald ich den Eindruck haben kann, etwas nie mehr zu benötigen, lasse ich es über Bord gehen. Nicht ganz so skrupellos verfahre ich mit Personen. Besitz belastet mich nur. Gewiß habe ich wegen meiner Wegwerfwut hin und wieder bittere Reue zu erleiden. Vor Jahren warf ich sogar meinen Zeichenblock aus der Gesellenzeit (um 1995) in einen Papiercontainer. Er enthielt einige packende freie Zeichnungen, wie ich glaube, etwa von einem abgeschlagenen Sessel, aus dessen Gurtung einem die nicht mehr verschnürten Sprungfedern beinahe wie entfesselte Zauberlehrlinge oder wie Faustschläge aufs Auge fuhren. Ausgediente Töpfe, Koffer, Beschläge, Werkzeuge und dergleichen hebe ich nie auf, owohl ich sie gelegentlich händeringend vermisse. Der Minimalist will Sauberkeit, Übersicht, reinen Tisch. Er will mit möglichst wenigem auskommen, auch in Texten. Manche Bücher, meistens schlechte, benutze ich nur als unumgängliche Quellen, etwa für meine Nasen. Dann gönne ich sie nicht etwa der Recyling-Industrie oder verderbe nachfolgende LeserInnen durch sie; vielmehr zerlege ich sie und entfache über Wochen hinweg mit Hilfe einiger zerknüllter Buchseiten meinen Zimmerofen. Für die Thüringer Allgemeine oder die Süddeutsche Zeitung empfehle ich, dasselbe Verfahren schon vor ihrer Lektüre anzuwenden.
~~~ Von sämtlichen Büchern, die ich gelesen habe, bewahre ich kleine Notizzettel auf, die ich in einer Art Karteikasten einordne. Sie können notfalls auch als Belege dienen. Der Kasten ist nicht größer als jenes von meinem Großvater bevorzugte Komißbrot. Beim Wandern brachte Heinrich uns Enkeln einmal an einem Baggersee das Ditschen bei. Man läßt einen flachgeschliffenen Kieselstein so geschickt aus dem Handgelenk knapp über das Wasser flutschen, daß er möglichst oft aufditscht; er soll viele Hopser machen. Das ist nun eher eine Art der Vervielfältigung, nicht wahr? Nach manchen Quellen versuchten sich in dieser Gymnastik bereits Homers Helden Herkules und Jason, wenn sie auch, statt Steinen, ihre Schilde dazu benutzt haben sollen. Per Sidenius, Hauptfigur des Pontoppidan-Romanes Hans im Glück, lenkt sich am Strand des Sundes mit dem Ditschen von der drohenden Aussicht ab, seine hochfliegenden Hafenbaupläne ins Ostseewasser fallen zu sehen. Er war Ingenieur. Pontoppidans großangelegtes Werk erschien, auf dänisch, um 1900.
~~~ Während jene Quellen auf erforderliche Bedingungen wie einer Rotation der abgeschnellten Scheibe oder Mangel an Gegen- und Seitenwind hinweisen, scheint es für Heinrich Mann (1905) eher auf Zahlungskraft anzukommen. Professor Unrat, mit der Künstlerin Fröhlich an der Ostsee in der Sommerfrische, »zuckte die Achseln über den Brasilianer, der anstatt flache Kiesel über das glatte Wasser springen zu lassen, Markstücke dazu nahm …« Das wäre meinem Großvater nicht so schnell eingefallen, schon mangels Geld. Dies alles habe ich nur bereit, weil es in meinem Komißbrot steht.

∞ Verfaßt 2023

Siehe auch → Sprache, Vokabelheft



Für Carl Zuckmayer war der österreichische Schriftsteller Ödön von Horváth (1901–38), nach Brecht, »die stärkste dramatische Begabung« seiner Zeit. Die Zeit selber geizte auch nicht mit Dramatik. Die sozialkritischen »Volksstücke« des in Berlin lebenden jungen Österreichers mit dem ungarischen Namen, etwa Geschichten aus dem Wiener Wald, waren zunächst umstritten, dann kamen sie kaum noch zur Aufführung, weil sich das faschistisch verwaltete deutsche Kapital anschickte, alle Bühnen der Welt zu beherrschen. Horváth hielt sich nun vorwiegend in Österreich oder der Schweiz auf, dabei nicht selten bei den Zuckmayers in Henndorf bei Salzburg oder Chardonne am Genfer See. Horváth war ein hübscher, dunkelhaariger, etwas tapsig wirkender Mann. »Wenige Menschen waren so geliebt, von Frauen, Freunden, Kindern, kaum einer hatte so wenig persönliche Feinde«, schreibt Zuckmayer in seinen 1966 veröffentlichten Erinnerungen.*
~~~ Am 1. Juni 1938 steigt der erfolgreiche Dramatiker aus Rheinhessen mit seinem Töchterchen Winnetou – es trug wirklich diesen verfehlten Namen – auf den Chardonner Mont Pèlerin, um auf den dortigen Waldwiesen Narzissen zu pflücken, »auch für Ödöns Zimmer«. Plötzlich braust schwarzes Gewölk heran, das sie unter den nächsten Heustadel scheucht, wo sie vor Kälte und Angst zittern. »Dies war der gleiche Sturm, der vom Atlantik her über ganz Frankreich hingegangen war und etwa eine Stunde oder eine halbe Stunde vorher Paris heimgesucht hatte.« Kaum ins Hotel zurückgekehrt, muß Zuckmayer durch den Telefonanruf eines gemeinsamen Freundes erfahren, Ödön von Horváth sei soeben bei dem Unwetter mitten in Paris auf der Straße verunglückt. Im Brockhaus wird dies alles in dem Wort »Unfall« zusammen gezogen.
~~~ Später, beim Begräbnis in Paris, erfuhr Zuckmayer Näheres. Dem Freund war ein herabstürzender schwerer Ulmenast zum Verhängnis geworden – erschlagen. Man weihte Zuckmayer auch in die merkwürdige Vorgeschichte dieses Unfalls ein. Gewährsmann aller Informanten dürfte Fritz H. Landshoff, damals Exil-Verleger in den Niederlanden, gewesen sein. Horváth hatte ursprünglich vorgehabt, von Amsterdam aus, wo er mit dem Querido-Verlag über einen neuen Roman verhandelt hatte, geradewegs zum Genfer See zu fahren. Doch dann habe der 36jährige, für alles »Skurrile und Absonderliche« stets besonders aufgeschlossen, einen vielberedeten Hellseher aufgesucht, berichtet Zuckmayer. Offenbar stützte sich jener bei seinen Weissagungen gern auf irgendein Geschenk, das der Klient von einem Freund oder einer Freundin erhalten und nun dem Hellseher vorzulegen hatte. Allein aufgrund dessen habe der Hellseher festgestellt, Horváth müsse sofort nach Paris fahren, weil ihn dort »das entscheidende Ereignis Ihres Lebens« erwarte. Das deckt sich weitgehend mit den Angaben in Landshoffs Erinnerungen, die 25 Jahre nach denen Zuckmayers erschienen.** Der Verleger sagt, er habe Horváth auf den Hellseher aufmerksam gemacht und ihn auch bei der Konsultation begleitet. Die folgenschwere Weissagung zitiert er mit den Worten: »Sie stehen am Vorabend einer Reise, auf der Sie das größte Erlebnis Ihres Lebens haben werden.« Offenbar nahm nun Horváth an, der gute Mann beziehe sich auf den gerade in Paris wirkenden, späteren Hollywood-Regisseur Robert Siodmak, der brieflich Interesse an einer Verfilmung von Horváths jüngster Erzählung Jugend ohne Gott bekundet hatte. Nebenbei handelt es sich dabei um ein meisterhaft geschriebenes eindringliches Prosastück, das möglicherweise sowenig einer Verfilmung bedarf wie ein Klavier einen Heustadel benötigt.
~~~ Tatsächlich fuhr Horváth anderntags nach Paris und traf für den Nachmittag des 1. Juni eine Verabredung mit Siodmak und dessen Frau Bertha in einem Kino. Doch dann sei Horváth, so wieder Zuckmayer, schon vom Regen des aufziehenden Sturmes durchnäßt, aufgeregt am Kassenhäuschen erschienen – nur um Entschuldigung zu erheischen: man möge seine Karte bitte zurückgeben, er habe etwas Dringendes vor. Damit sei er wieder im »peitschenden Regen« verschwunden. Die »halb entwurzelte« Ulme*** am Round Point, unter der Horváth Minuten später möglicherweise Schutz gesucht hatte, konnte Zuckmayer am Begräbnistag noch besichtigen. Die Begleitumstände dagegen empfand nicht nur Zuckmayer als ziemlich rätselhaft. Horváth hatte am Unglückstag mehrere Pariser Freunde aufgesucht, denen seine »unerklärliche Unruhe« aufgefallen war. Man hatte Zuckmayer auch bestätigt, Horváth habe seit jeher an einer »Phobie« vor herabfallenden Gegenständen gelitten. »In den Städten schlug er große Bögen um jeden Neubau. Er hatte öfter geäußert, er werde einmal von einem Dachziegel erschlagen werden. Was an alledem zufällig, was ursächlich ist, entzieht sich menschlicher Beurteilung.« Landshoff spricht von einer »makabren Geschichte«, die der erschlagene Autor »hätte selbst erfunden haben können«, und betont im übrigen, was ihn selber angehe, sei er aller Hellseherei stets »mit tiefem Mißtrauen« begegnet.
~~~ Klar ist nur eins: Siodmak ließ sein Vorhaben fallen. Dafür drehte er (1943) Draculas Sohn.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 19, Mai 2024
* Carl Zuckmayer, Als wärs ein Stück von mir, hier Sonderausgabe Ffm 2006, S. 127 ff
** Fritz H. Landshoff, Amsterdam, Keizersgracht 333, Berlin 1991, S. 110
*** Die von mir aufgesuchten Internet-Quellen wimmeln von Baumsorten: Kastanie, Platane und dergleichen mehr. Ich halte mich an Zuckmayer.




Hunde

Über die Kunst des Winselns um Gnade --- Ich habe mein Stück Hunde wollt ihr … bei einem Wettbewerb eingereicht. Man wird vielleicht sagen: na prima – und warum erzählen Sie uns das? Weil ein Wunder geschah: meine Bewerbung wurde mir anderntags vom Sekretariat der Jury schriftlich bestätigt. Das hat Seltenheitswert. Es ist schon viel, wenn man nach fünf oder sieben Monaten auf eine entsprechende Nachfrage zu hören bekommt: »Der Preis konnte leider nicht an Sie vergeben werden. Aber hätten sie das nicht schon den Medien entnehmen können?« Schreibe ich dann zurück, ich besäße weder Zeitungsabonnement noch Fernsehgerät und sei von meinem Hausarzt auch vor dem Internet gewarnt worden, wissen diese Leute wenigstens, daß sie ihren Preis einem Kranken verweigert haben.
~~~ Nicht-Literaten ist es vielleicht nicht klar: diese Preisgremien, die über das Schicksal von Kunstwerken und Künstlern entscheiden, sind ganz überwiegend zu ihrem Amt gekommen wie die Amis und die Israelis zu ihren Atombomben: durch Selbstermächtigung. Sie hatten zufällig das Stiftungskapital, weil ein wackerer Verwandter das Dynamit erfunden hatte, oder doch wenigstens das Geld dafür, sich die Mehrheit in den zuständigen Parlamentsgremien oder sogenannten öffentlich-rechtlichen Anstalten zu verschaffen. Einmal am Hebel, haben sie es natürlich auch nicht nötig, ihre unerforschlichen Rat- beziehungsweise Ausschlüsse mit mehr als Phrasen beziehungsweise Schweigen zu begründen. Sie haben es noch nicht einmal nötig, Ausreden wie die sogenannten »Sachzwänge« zu bemühen. Sie kosten beim Überfliegen und Verwerfen der 300 bis 1.000 eingereichten Manuskripte ihre Macht aus, und dabei möchten sie nicht gestört werden, zumal sie noch den Hund Gassi führen müssen. Ich wäre nicht verblüfft, wenn 9 von 10 Mitgliedern unserer Literaturpreisgerichte HundehalterInnen wären. Trifft diese Vermutung zu, erklärt sich auch mein überwältigender Erfolg bei ihnen. »Sie pinkeln ja in jedem dritten Text die Hunde an!« hielt mir einmal bei einer Lesung eine ältere Dame vor. Ich stellte richtig: »Wenn schon, dann die HalterInnen der Hunde, bitte schön!« Es half nichts. Sie fuhr verzweifelt fort: »Was haben Sie denn gegen Hunde? Hatten Sie in ihrer Kindheit traumatische Erlebnisse mit ihnen? Dann hülfe vielleicht eine moderne Verhaltenstherapie. Wissen Sie, der Therapeut führt Sie ganz allmählich an den Hund heran, vom Dackel bis zum Dobermann, und früher oder später werden Sie freudestrahlend erkennen: Der tut mir ja gar nichts, der ist ganz lieb!«
~~~ Ich bin mit Hunden aufgewachsen und kann mich von daher nicht über sie beklagen. Im nordhessischen Städtchen Gudensberg, wo wir am Ortsrand wohnten, lag die schwarze Schäferhündin Anka nachts in ihrem Zwinger, um meine dreikäsehohen Träume zu bewachen. Tagsüber tollten wir oft durch die Felder. Mein Argwohn gegen Hundehaltung wurde erst geweckt, als ich mich um 40 mit Philosophie und um 50 mit anarchistischen Kommunen befaßte. Mir dämmerte, hier stimmt etwas nicht. Meine Mitkommunarden ekelten sich vor Befehlshabern und Hierarchien, aber ihren Köter maßregelten und züchtigten sie wie andere Leute ihr Kind. Das war ja bei uns verboten, das Kinderzüchtigen. Also boten sich die Hunde an. Und sie hätschelten ihren Köter auch wie andere Leute ihr Kind. Sie befleißigten sich also der Methode Zuckerbrot & Peitsche, die nach allem, was ich gehört und gelesen hatte, in libertär gestimmten Kreisen verpönt, ja sogar verachtet wird. Hier war es plötzlich hoffähig, daß ein Mitwesen in einem fort entweder um Befehle oder aber um Liebe bettelte. Hier nahm man plötzlich an Sklavenhaltung keinen Anstoß. Hier durften plötzlich vierbeinige Verkörperungen der Unterwürfigkeit Tisch und Bett der anarchistischen Kommune teilen. Freilich kann ich es inzwischen, nach 15 Jahren der rotgrünen Restauration, irgendwo auch wieder verstehen. Die Kommunen kämpfen ums Überleben; sie haben wenig Zulauf; man sollte ihnen nicht auch noch die Hunde wegnehmen.
~~~ Um das Machtgefühl zu studieren, das aus Hundehaltung erwächst, genügt es eigentlich, die Gesichtszüge eines Amtsgerichtsdieners oder einer Supermarktverkäuferin zu beobachten, deren dänische Dogge gerade das Hinterbein hebt. Sie dürfen ungestraft jeden Laternenpfahl anpinkeln, den Staat! Sie dürfen ungestraft die Haustür anpinkeln, des Nachbarn! Sie dürfen das deutsche Reinheitsgebot unterlaufen und hinscheißen, wo sie wollen! Sie dürfen das Grundgesetz aushebeln, denn wo ein Rottweiler auf einem Feldweg steht, hat die Freizügigkeit ihre Grenzen. Dafür werden sie selber vom Erwerb eines Waffenscheins befreit. Übrigens hat die Freizügigkeit schon dort ihre Grenzen, wo sich der Wächter des Hauses mit einem Gebell an den Maschendraht wirft, das jedem herzschwachen Rentner drei Tage Lebenserwartung raubt.
~~~ Der Lieblingseinwand der HundehalterInnen ist bekannt: Ich will ja nicht sagen, Sie hätten das alles an den Haaren herbeigezogen, aber für meinen Langhaardackel gilt das nicht! Grundsätze, die für alle Mitglieder einer Gemeinschaft gelten, sind den HundehalterInnen scheißegal. Ein Grundsatz ist es zum Beispiel, niemanden zu bedrohen. Was sollen wir aber von einem Menschen halten, der uns mit einem Messer in der Hand entgegen kommt? Sollen wir uns da mit dem Gedanken trösten, vielleicht will er nur Kartoffeln schälen oder Spargel stechen? Nein – ich habe in jedem Falle Angst. Denn jeder öffnungsfähige Hunderachen ist ein Messer. Und das Angstmachen ist der beliebteste Volkssport auf Erden. Macht man nicht mit Hunden Angst, dann vor der Hundegrippe. Ein Mensch, der mit seinem Köter umherstolziert, ob angeleint oder nicht, steht jenen Preisgremien in der Selbstermächtigung um keinen Deut nach. Mir bleibt nur übrig, zu reagieren, ob mit Schweißausbruch, Umweg oder Beschimpfung.
~~~ Ich verlasse das schlüpfrige Pflaster der Psychologie und betrete die Volkswirtschaft. Man überschlage einmal, wieviele Indiokinder von dem Geld, das wir Zivilisierten für Hundehaltung ausgeben, 10 Jahre lang ernährt und auf eine höhere Schule geschickt werden könnten. Freilich, den Indiokindern könnte der Futtermulti Mars Incorporated nicht so leicht »Pedigree Pal« verkaufen, noch nicht. Für diesen ist es einträglicher, eine sogenannte Expertin zu kaufen, die in einer auflagestarken Haustierzeitschrift verkündet, diese und jene Hundesorte sei besonders kinderlieb. Die uns alle Vierteljahre erfreuenden Meldungen, Hund Soundso hätte Kleinkind Soundso totgebissen, seien nur Zeitungsenten. Und was ist denn von jenen Menschenversuchen zu halten, die an palästinensischen oder afghanischen Kindern angestellt werden, indem sie vor den Augen ihrer Eltern von den Befreiern ihres Landes erschossen werden? Man sperrt diese Kinder zu diesem Zwecke noch nicht einmal in Tierheime oder Labore ein, das wäre viel zu teuer.
~~~ Man wird vielleicht einwenden, wer Hundefutterfabriken boykottiere, mache Tausende von armen Menschen arbeitslos. Das Argument wiegt allerdings schwer, gibt es doch in Deutschland seit jenem unseligen Nachkriegstag, da wir die KZs schließen mußten, nichts Verwerflicheres als die Vernichtung von Arbeitsplätzen. Deshalb macht sich auch die sogenannte »Linkspartei« für fünf Meter breite Offroader und geschickt lackierte Schützenpanzer von Volkswagen stark. Am liebsten würde sie ihre ehemalige Landsmännin Angela Merkel bitten, das nächste milliardenschwere Rettungspaket ins Ozonloch zu werfen. Dadurch würde das Ozonloch endlich deutlich größer, und dem Aufschwung in unseren Hautkrebskliniken stünde nichts mehr im Wege.
~~~ Am meisten fürchte ich freilich den Einwand, ich möge gefälligst etwas weniger bissig schreiben, dann machte ich mir auch nicht so viele Feinde, wogegen meine Aussichten, jemals einen Literaturpreis zu erringen, sicherlich sprunghaft anstiegen. Ich fürchte diesen Einwand, weil er kaum zu entkräften ist. Denn die Sache ist, wie sie der Schriftsteller Hans Henny Jahnn einmal vor der Literaturklasse der Mainzer Akademie beschrieb: Niemand könne plötzlich beschließen, wie Hedwig Courths-Mahler zu schreiben. Denn jeder sei auf sein Naturell festgenagelt, so wie der Hund auf sein Fell.

∞ Verfaßt 2012


Als der junge Betriebswirtschaftsstudent Peter Pompetzki am 31. Juli 1991 in der im Keller gelegenen Schwimmhalle seines Goddelsheimer Elternhauses nachsieht, liegen zwei nackte Leichen am Beckenrand. Es sind seine Eltern Annemarie (54) und Walter (55). Angeblich hatte er seit Tagen vergeblich versucht, sie von seinem Studienort Marburg aus telefonisch zu erreichen. Der Vater war ein wohlhabender Architekt und Bauunternehmer, zudem leidenschaftlicher Jäger. Allerdings war er im Begriff gewesen, seine Baufirma aufzugeben. Beide Opfer wurden – wahrscheinlich mit der 635er-Handfeuerwaffe des Vaters – von hinten erschossen. Da in der Villa einige wertvolle Dinge fehlten, darunter Schmuck und Teppiche, sah die Sache zunächst nach Raubmord aus.
~~~ Goddelsheim liegt unweit der nordhessischen Kreisstadt Korbach. In dieser hatte Peter Pompetzki sein Abitur als Jahrgangsbester der angesehenen Alten Landesschule gemacht. Er galt als sehr intelligenter Musterschüler und in sich gekehrter, wenn auch ehrgeiziger Einzelgänger. Offenbar hielt er in der Freien Marktwirtschaft schon als Student mit hohen Einsätzen mit, hatte er doch, wie die Kripo feststellte, kurz vor der Bluttat beim Handel mit Optionsscheinen rund 26.000 DM verloren. Zudem gab der Kripo die unterkühlte Art zu denken, mit der Pompetzki das grausige Geschehen um seine Eltern aufnahm. So verwundert es nicht, wenn sie auf die Theorie verfiel, er habe den angeblichen Einbruchsdiebstahl lediglich vorgetäuscht, um von seiner eigenen Täterschaft abzulenken. Das Motiv vermutete sie in der winkenden Erbschaft, allgemeiner ausgedrückt in Habgier also, einem klassischen Mordmotiv.
~~~ Der in Untersuchungshaft sitzende Sohn beteuerte seine Unschuld. In Briefen an Bekannte verwies er auf das stets enge und gute Verhältnis zu seinen Eltern. Die in der Villa verschwundenen Wertsachen einschließlich der mutmaßlichen Tatwaffe tauchten nicht auf. Der Prozeß vorm Kasseler Landgericht (Vorsitz Wolfgang Löffler) begann im Herbst 1992. Die Verteidigung nannte das angebliche Motiv dünn und pochte darauf, am Tatort hätten sich nicht die geringsten Spuren gefunden, die auf ihren Klienten gedeutet hätten. Dagegen sprach die Staatsanwaltschaft von den plump gelegten, offensichtlichen »Trugspuren« im Haus und hielt dem Angeklagten widersprüchliche Aussagen vor. So habe er nach seiner Darstellung nur für fünf Sekunden durch die Kellertür ins Schwimmbad geblickt, den Unfall jedoch der Polizei gegenüber mit den Worten gemeldet, seine Eltern lägen »erschossen« im Keller. Das hätte er, bei den lediglich erbsengroßen Einschußstellen im Rücken des Vaters, in der geringen Zeit unmöglich von der Tür aus erkennen können. Auch sein Alibi fand die Staatsanwaltschaft wenig überzeugend, zumal eine Goddelsheimer Einwohnerin beschworen hatte, ihn am 29. Juli und damit einen Tag nach der Bluttat in Ortsnähe am Steuer seines Wagens gesehen zu haben – während er nach eigener Aussage in Marburg gewesen sein wollte.
~~~ Am 17. Mai 1993, nach 38 Verhandlungstagen, wurde Peter Pompetzki ausschließlich aufgrund von Indizien schuldig gesprochen und zu Lebenslänglich verurteilt. Seine Verteidiger kündigten sofort Revision an. Aber das hatte sich zwei Tage darauf erübrigt, als man den inzwischen 23jährigen Untersuchungshäftling am Gitter seiner Zelle erhängt vorfand. Er hatte zu seinem Selbstmord eine Spiegelscherbe zum Aufschneiden der Unterarme und das Kabel seines Fernsehgerätes benutzt. In einem Abschiedsbrief beteuerte er erneut seine Unschuld.
~~~ Sein Testament hatte er bereits zwei Tage vor der Urteilsverkündung niedergelegt. Danach war das Sozialempfinden des Unternehmersohnes vorherrschend auf bestimmte Vierbeiner gerichtet. Zwecks Versorgung seines Chow-Chows Askan vermachte er dem Korbacher Tierheim zunächst ein monatliches Unterhaltsgeld von 5.000 DM – über den Rest seines (elterlichen) Vermögens, etwa 4,8 Millionen DM brutto, könne das Tierheim nach Gutdünken verfügen. Hund Askan starb 1996. Außerdem hatte Pompetzki sein Testament benutzt, um Schwarzgeldkonten seines Vaters zu verraten, die in der Schweiz und in Österreich lagen. Nebenbei waren die FahnderInnen bald nach dem Tod der Eltern in einem blinden Lüftungsschacht der Villa auf einen Tresor gestoßen, der Wertpapiere und Bargeld im Wert von 800.000 DM enthielt.
~~~ Ein im Auftrag des HR gedrehter Dokumentarfilm des Kasseler Regisseurs Klaus Stern von 2000 legt den Verdacht nahe, die Polizei habe dilettantisch gearbeit und das Gericht habe sich ein Fehlurteil erlaubt. Doch gehe es Stern keineswegs um eine »lärmende Justizschelte«, so der Spiegel am 18. Februar 2001, »sondern um den präzisen Blick in die Abgründe eines äußerlich harmonisch erscheinenden Familienlebens«. Der Waldeckischen Landeszeitung zufolge* hatte Pompetzkis Mutter Annemarie unter einer Abtreibung und häufigen Depressionen gelitten. Eben deshalb habe sich Walter Pompetzki zur Aufgabe seines Baugeschäftes entschlossen, um seine Zeit »ganz und gar« seiner Frau widmen zu können. Das glaube, wer Baulöwen liebt. Den Sohn hatte der Unternehmer womöglich noch nie auf der Rechnung. Wie Richter Löffler in seiner Urteilsbegründung behauptet hatte, war es schon in der Schulzeit Peter Pompetzkis »ganzes Bestreben, möglichst schnell zu möglichst viel Geld zu kommen«. Andere Lebensfreuden habe er nicht gekannt. Ein Freund der Familie hatte vor Gericht ausgesagt, in den Auseinandersetzungen um die Zukunft der Baufirma habe Pompetzki seinen Eltern schon einmal versichert, wenn sie das Geschäft aufgäben, brächte er sie um. Ob diesem in diesem Detail einzigen Zeugen zu trauen ist, weiß natürlich keiner.
~~~ In einem deutlich jüngeren Artikel** kommt die erwähnte Waldeckische Landeszeitung anläßlich der Pensionierung der Leiterin des Korbacher Tierheims auf den Fall Pompetzki zurück. Im Nachhinein bewerte Hella Klempert-Wilke die Erbschaft »als Fluch und Segen zugleich«. Zwar sei es dadurch möglich gewesen, »das Heim auf hohem Standard zu erweitern«, doch gleichzeitig sei auch die Spendenbereitschaft der Bevölkerung zurückgegangen. »Dabei hatten wir durch das vergrößerte Heim auch mehr laufende Kosten«, stellte die Tierschützerin klar. Moralische Fragen werden in dem Artikel nicht gestreift. Wäre es nach mir gegangen, hätten wir TierschützerInnen damals den Korbacher Conti-Gummiwerken ihr am Hauptbahnhof gelegenes säulenbewehrtes, traditionsreiches und geräumiges Verwaltungsgebäude*** abgekauft, um es in ein ganz neues, geradezu fürstliches Tierhotel zu verwandeln, während das schäbige und kleine alte Tierheim im Korbacher Industriegebiet sicherlich noch für eine Flüchtlingsherberge gut gewesen wäre.

∞ Verfaßt 2023 (30. Todestag)
* »Peter Pompetzki zu lebenslanger Haft verurteilt«, WLZ 18. Mai 1993
** http://www.wlz-online.de/waldeck/korbach/spektakulaere-sachen-gemacht-5391674.html, 28. Januar 2010
*** Conti unterm Hakenkreuz (Foto): http://www.gedenkportal-korbach.de/images/verwaltungsgebaeude_image004.jpg und http://regiowiki.hna.de/H%C3%A4user_in_Korbach:_Conti-Verwaltungsgeb%C3%A4ude



Die anderthalb Spalten über Hunde und insbesondere Haushunde sind zum Weglaufen mangelhaft. Von einer Fragwürdigkeit der Hundehaltung haben die Brockhaus-Redakteure noch nie auch nur ein kurzes Winseln vernommen. Vermutlich halten sie selber alle einen Hund. Sie verkünden, man schätze rund 400 Haushundrassen auf diesem Planeten, kommen aber nicht im Traum auf die Idee, das könnten ungefähr 400 zuviel sein. Wer mich jetzt noch leiden kann, schlage bitte Näheres in meinem Blog-Register nach.
~~~ Ich will Sie nicht ohne eine lustige Hundegeschichte entlassen. Der US-Komponist John Barnes Chance (1932–72) wurde Opfer sowohl seiner Hundeliebe wie seiner Rücksichtnahme auf denkbare Opfer seiner Hunde. Er bewohnte ein Haus mit Hinterhof oder Garten in Lexington, der größten Stadt Kentuckys, wo er seit 1966 Hochschullehrer war. Chance selber hatte Musik in seinem Heimatstaat Texas studiert, hatte Erfahrungen als Orchesterpauker und als Arrangeur für Orchester der US-Army gesammelt. Offenbar machte er sich dabei auch für Völkerverständigung stark: »While serving in Seoul, South Korea, as a member of the Eighth U.S. Army Band, Chance came across a pentatonic Korean folk song that served as the inspiration for his 1965 composition Variations on a Korean Folk Song, which became his best-known work.«* Demnach hatte der einheimische Folksong den Besuch überseeischer Soldaten im sogenannten Koreakrieg überstanden. Chances Schöpfung wurde ein Jahr darauf mit einem Preis bedacht. Sechs Jahre später, inzwischen 39, stand Chance gewiß im Begriff, sich unter die namhaftesten Komponisten sinfonischer Blasmusik einzureihen. Da entschloß er sich Mitte August 1972, in seinem Hinterhof (»backyard«) oder Garten ein Zelt zu errichten.** Vielleicht stand die übliche Geburtstagsfeier (mit Blasmusik) an, oder Chances Buben wünschten ferienhalber die UreinwohnerInnen des Landes zu spielen, falls er Buben hatte. Bei diesem Geschäft berührte der Komponist mit einer Zeltstange aus Metall versehentlich den Elektrozaun, mit dem er seine Hunde in die Schranken gewiesen hatte. Da der Zaun in Betrieb war, erlitt Chance einen tödlichen elektrischen Schlag.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 19, Mai 2024
* William Pugatch im Handbook of Texas, Stand 2024: https://www.tshaonline.org/handbook/entries/chance-john-barnes-barney
** Nach 2015 von mir aufgestöberten Angaben der Ridgewood Concert Band aus New Jersey. Leider sind diese Angaben im Internet nicht mehr greifbar. Offenbar heißt das Orchester inzwischen The New Jersey Wind Symphony [https://njwindsymphony.org/]. Fast alle übrigen Quellen zu Chance sprechen unter rücksichtsvoller Ausklammerung der Hunde von einem Elektrounfall. Ausnahme: https://www.classiccat.net/chance_jb/biography.php, Stand 2023. Betreiber Wim Roffel aus dem niederländischen Leiden erwähnt auch Gattin Linda und zwei Kinder.

Siehe auch → Coleen (Opfer) → Band 4 Bott, Axt im Haus Kap. 2 (LL‘s Dobermann) → Band 5 Kolkraben (Opfer) + Most (dito)




Im Brockhaus wird die Gattin des hochdekorierten Chemikers und Militaristen Fritz Haber übergangen: Clara Immerwahr (1870–1915). Sie war zu unwichtig. Dabei war auch Immerwahr Chemikerin und als solche mit 30 erster weiblicher Doktor der Universität Breslau gewesen. Der verhängnisvolle Fehler, die Gattin Fritz Habers zu werden, den sie in einer Tanzschule kennengelernt hatte, unterlief ihr bereits ein Jahr darauf, 1901.
~~~ Damals war Haber Professor in Karlsruhe. Ab 1911 stand er sogar, als »Geheimrat«, dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Physikalische Chemie in Berlin-Dahlem vor. Damit war die Forschungstätigkeit der Professoren- und Geheimratsgattin, die 1902 unter Mühen einen kränklichen Sohn geboren hatte, endgültig beendet. Als solche hatte sie freilich nicht mehr lange zu leben. Dem Witwer schanzte man 1918/19 den Nobelpreis zu: offiziell für die Erfindung des Kunstdüngers. Das hätte Clara vielleicht noch geschluckt, weil ihr Erzeuger, ein schlesischer Gutsherr, ebenfalls schon erfolgreich mit Kunstdünger experimentiert hatte. Aber zum einen kam Habers Herstellung künstlichen Ammoniaks nicht nur landwirtschaftlichen sondern auch militärischen Gelüsten entgegen (Sprengstoff); zum anderen war er daneben federführend an der Entwicklung des Giftgases beteiligt gewesen, das die Deutschen mit der erwünschten verheerenden Wirkung im zurückliegenden Weltkrieg eingesetzt hatten, dabei oft mit Wissenschaftler, Beobachter und Einsatzleiter Fritz Haber an vorderster Front. Seiner Gattin kommt das (1915) bereits bei Probevorführungen mit Haustieren als »Perversion der Wissenschaft« vor. Von ihren Einsprüchen läßt sich Haber jedoch nicht beirren. Dagegen ist die Chemieindustrie begeistert, sind doch die Exportmärkte für Chlorgas über Nacht »weggebrochen«, weil sie nun in Feindesland liegen. Am 22. April 1915 findet der erste große tödliche Giftgaseinsatz statt: mit 150 Tonnen Chlorgas nach dem Haberschen Blasverfahren an der Westfront bei Ypern. Nach dem Gelingen dieses Einsatzes endlich zum »Hauptmann der Reserve« befördert, lädt Haber für den 1. Mai in seine Dahlemer Villa zum Festgelage ein. Am nächsten Morgen, während Haber noch seinen Triumph ausschläft, entwendet Immerwahr seine Dienstpistole und versetzt sich unter den Parkbäumen der Villa, nach einem Probeschuß in die Luft, einen Schuß ins Herz. Nach spätestens zwei Stunden ist die 44jährige tot.
~~~ Ein antimilitaristisch-moralischer Untergrund ihrer Selbsttötung ist wahrscheinlich, nur leider nicht belegbar, weil verschiedene entsprechende Dokumente, darunter vom Hauspersonal bezeugte Abschiedsbriefe, teils durch den Krieg, vor allem jedoch durch vorsorgliche Eingriffe familiärer Hände verloren gingen. Die Weste des Giftgasfürsten sollte kein Fleckchen Blut aufweisen. Zudem läßt sich aber denken, daß es Immerdar angesichts ihres kahlköpfigen, dafür schnurrbärtigen Gatten, sofern er einmal zu Hause war, inzwischen vor Enttäuschung und Ekel schüttelte. Autoritär, ehrgeizig, leicht reizbar, dürfte er für die sanftmütige Clara geradezu erdrückend gewesen sein. Wie sich versteht, war er, obwohl oder weil Jude (wie sie), ein glühender Vaterlandsverehrer. Nach ihren Einwänden gegen seine militärische Dienstbarkeit verpaßt er ihr jede Wette einen Maulkorb für öffentliche Äußerungen. Viel auf Reisen oder eben im Felde, gestattete er sich natürlich auch einige sexuelle Seitensprünge. Schon 1909 hatte Clara in einem Brief geklagt, Habers »mensch-liche Qualitäten« seien »nahe am Einschrumpfen«.* Noch am Selbstmordtag rückt Haber plangemäß und vermutlich erleichtert an die Ostfront aus, neuen Giftgaseinsätzen entgegen. Heute gehört die Villa, in deren Garten sich Immerwahr erschoß, zum Hort der Freien Forschung Fritz-Haber-Institut. Um einen deutlichen Hinweis auf Immerwahrs Pistolenschüsse wird scheints noch gerungen.**

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 16, April 2024
* Nach Jörn Heher: https://wissenschaft-und-frieden.de/artikel/clara-immerwahr-und-fritz-haber/, 1992
** https://www.berliner-woche.de/dahlem/c-kultur/bezirksverordnetenversammlung-fordert-gedenkstele-fuer-chemikerin-und-frauenrechtlerin_a195571, 8. Januar 2019




Imperialismus

Die 16 Marianen-Inseln im westlichen Pazifischen Ozean wurden nach ihrer »Entdeckung« zunächst von den Spaniern einkassiert; später gingen sie an Deutschland und Japan, zuletzt (1947) an die USA. Der bekannte Seefahrer und Schurke Ferdinand Magellan hatte sie (1521) ursprünglich Diebsinseln genannt, sodaß sie, als solche, auch noch einen Verweis in Brockhaus Band 5 haben. Angeblich hatten die InsulanerInnen damals sofort ein paar verlockende Dinge mitgehen lassen, als sie von den weißen Besuchern an Bord gebeten worden waren. Sogar ein ganzes Beiboot sollen sie dem armen Magellan gestohlen haben. Das ist natürlich ein dickes Ding – mit den gut 1.000 Quadratkilometern Landfläche verglichen, die sich die Kolonial- beziehungsweise Schutzmächte in dieser Pazifikgegend unter den Nagel reißen sollten.
~~~ Die BewohnerInnen der Inseln, vor der »Entdeckung« und der etwas gewaltsamen Bekehrung zum Christentum vielleicht 100.000, waren den Imperialisten weniger wichtig als das Land. Nach dem langwierigen Krieg gegen die spanischen Eroberer gab es nur noch rund 5.000 von ihnen. Später sorgten auch eingeschleppte Krankheiten und zwei fette Weltkriege für Verheerungen. Noch heute glichen die Inseln einem »militärischen Trümmerfeld«, heißt es (2023) auf der deutschen Webseite von Amnesty International.
~~~ Die südlichste Insel der Marianen, Guam, beherbergt einen wichtigen Luftwaffenstützpunkt unserer nordamerikanischen Freunde. Sobald Sahra Wagenknecht ins Bundeskanzleramt eingezogen ist, wird sie Washington bitten, das hiesige US-Drohnen-Steuerzentrum in Ramstein (bei Kaiserslautern) ebenfalls nach Guam zu verlegen, weil sie in dem dann verwaisten, wenn auch immer noch eingezäunten Gelände ein Biotop für seltene, vom Aussterben bedrohte Lurche, darunter verstockte Randfiguren wie mich, anzulegen gedenkt. Das hat mir ein Maulwurf verraten, den ich im Autorenkreis der NachDenkSeiten habe, die neuerding schon wie die Besessenen für Wagenknecht und ihre angeblichen riesigen Umfragwerte trommeln.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024


Hören Sie Furchterregendes von den Furchenwalen. Laut Brockhaus zählt man mit dem Blauwal sogar das schwerste und längste Tier unseres Planeten zu ihnen: bis 130 Tonnen und bis 39 Meter. Frischgeborene Säuglinge sind bereits mindestens sieben Meter lang – eine flotte Segeljacht. Den Gattungsnamen verdanken all diese schwimmenden Festungen Furchen an Kehle und Brust, die eine »starke Erweiterung der Mundhöhle« ermöglichen – also gut fürs Verschlingen riesiger Wasserschwälle, die reichlich Krebse, Fische und dergleichen Meeresfrüchte in den Walmagen spülen. Übrigens sind Blauwale auch bis zu 50 Stundenkilometer schnell, was leider ihre Beinahe-Ausrottung durch den Zweibeiner nicht verhindern konnte.
~~~ Um es ehrlich zu sagen: für mein Empfinden haben wir mit dem Imperialismus, heute »globalisierte Weltwirtschaft« genannt, mit Abstand das übelste Ungeheuer auf Erden. Bei ihm dienen die verbergbaren Furchen dazu, uns vorzugaukeln, es pflüge die Meere »nur für den Weltfrieden« um. Der Berliner Zauberkünstler, Schriftsteller und Ex-Hochschullehrer Michael Schneider, inzwischen über 80, hat sich gerade an einen kurzen Rundschlag gegen dieses verschlagene Ungeheuer gewagt.* Sollten Sie Mühe haben, den ungefähr 95 Prozent Ihrer Bekannten, die Sie wegen Ihrer »kompromißlosen« Ablehnung des Ungeheuers für einen Kindskopf / Verschwörungstheoretiker / Gefährder halten, Paroli zu bieten, brauchen Sie lediglich Schneiders beleg- und aufschlußreichen, gut aufgebauten Text aufzurufen. Das sollen die erst mal widerlegen! Das stärkste Zauberkunststück zeigte Schneider übrigens mit seinem Ausscheren aus dem großen Umfallen der Linken während der ersten rotgrünen Jahre des wiedervereinigten Deutschlands. Fast alle, seinen Bruder Peter Schneider eingeschlossen, duckten sich und stammelten Realpolitisches.
~~~ Die jüngste Weltpolitik stand zunächst im Zeichen des Kampfes gegen ein grotesk aufgeblasenes Killervirus (Corona) – falls Sie sich noch erinnern. Die erheblichen Schäden dieses Kampfes, etwa durch Einübung von Kadavergehorsam und Einspritzung ungeprüfter, wahrscheinlich höchstgefährlicher Impfstoffe, werden inzwischen möglichst beschwiegen, sonst verharmlost. Dabei hilft das nächste, das Killervirus ersetzende Monster: der zähnefletschende russische Bär, der nach der Ukraine auch unser Deutschland fressen will. Tatsächlich sind es freilich die Massen, die sämtliche Propaganda brav aus ihren Satellitenschüsseln schlecken. Als Hauptantriebe dieser Weltpolitik stellt Schneider die Motive Verblödung der Völker (Umwertung) und Finanzkrise 2019 heraus. Dahinter steckt natürlich das Bemühen unserer Eliten, sich die Futtertröge zu erhalten. Schneider meint belegen zu können, der Kapitalismus habe bereits 2019 kurz vorm Zusammenbruch gestanden.
~~~ Erfreulicherweise merkt Schneider ausdrücklich an, ein blendendes Zauberwort der (Post-)Moderne sei »wissenschaftlich«. Er kann sich dabei auf Hanna Arendt und Erwin Chargaff berufen. Er selber pocht freilich ebenfalls auf Wissenschaft: »Grundlage der Durchsetzung von nie dagewesenen Einschnitten in Bürger- und Grundrechte waren nicht etwa sorgfältige wissenschaft-liche Untersuchungen …« Nebenbei benutzt er zu oft Fremdworte und verbeugt sich, wie fast jeder, vor Akademikern: »Psychologie-Professor Klaus Jürgen-Bruder« / »Fabio Vighi, Professor für Kritische Theorie« und so weiter.
~~~ Meiner Ansicht nach sollte man »das Wissenschaft-liche« völlig vermeiden. Das ist doch nur noch ein von jeglichem Sinn entleertes Hüllwort für ein unlauteres Vorgehen, das mit dem herkömmlichen Ethos nichts mehr zu tun hat: kritisch sein, wahrheitsliebend, treffend sein, sorgfältig, überprüfbar, im ganzen stets redlich. Übrigens wäre ich nicht verblüfft, wenn die Entleerung dieses Begriffs bereits begann, als Marx und Engels die Ärmel aufkrempelten, um der Arbeiterklasse den »wissenschaftlichen Sozialismus« zu schenken. Was für ein Schmarren! Und in welcher Jauche endete er!
~~~ Am Schluß seines Beitrages kann sich Schneider nicht verkneifen, mit dem (nicht nur bei ihm) üblichen zweckoptimistischen Stummelschwanz zu winken: möglicherweise käme, bei allen trüben Aussichten, eine neue (»multipolare«) Epoche auf uns zu. Ich könnte mir denken, er hat bestenfalls verschwommene Vorstellungen, wie ein verschwindend kleines Häuflein Aufrechter dem Epochenumbruch unter die Arme greifen oder Einhalt gebieten könnte. Entsprechend wird in seinem Text, sofern ich nicht irre, der früher von Linken oft beschworene Gesichtspunkt der »Massen« und der »Massenbasis« wohlweislich ausgespart. All diese Milliarden Smartphone-Süchtigen, die wir bereits haben – sie kommen bei ihm kurzerhand nicht vor. Auch das gewaltige Problem der Mammutgestalt oder auch Blauwaligkeit der postmo-dernen Welt übergeht er. Aber das macht ja nahezu jeder.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* Michael Schneider, https://www.manova.news/artikel/die-umwertung-aller-werte, 10. Februar 2024



Vom kurzzeitigen Ministerpräsidenten Patrice Lumumba (1925–61) räumt Brockhaus ein, er sei ermordet worden. Er sagt nur nicht deutlich, von wem. Vielleicht wäre das aber, für das Erscheinungsjahr 1990, auch zuviel verlangt gewesen. Denn im ganzen mußten vier Jahrzehnte vergehen, bis Licht in diesen Akt des Staatsterrorismus kam, dem der 35jährige schwarze Afrikaner 1961 zum Opfer gefallen war. Im Jahr zuvor hatten ihn seine Landsleute zum ersten Ministerpräsidenten des rohstoffreichen, nun »freien« Kongo gewählt. Schon bei den Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit hatte es der hochgewachsene, hagere Mann gewagt, sich nicht nur jede zukünftige ausländische Bevormundung zu verbitten, sondern auch dem anwesenden belgischen König Baudouin alle Schandtaten der Kolonialmacht vorzuhalten, die dieser befohlen oder gedeckt hatte. Das gefiel weder dem König noch dem belgischen und nordamerikanischen Kapital, das den Kongo auch weiterhin auszuschlachten gedachte. Nach dem üblichen Rezept säten sie Zwietracht, worauf sich die Provinz Katanga abspaltete und Lumumba von ehemaligen Mitstreitern für abgesetzt erklärt wurde. Er kam in Haft, konnte aber mindestens einmal entkommen. Im Januar 1961 erneut ergriffen, wurde er mit seinen Gefolgsleuten Maurice Mpolo und Joseph Okito per Flugzeug nach Elisabethville (Lubumbashi), der Hauptstadt Katangas, gebracht und außerhalb der Stadt, vielleicht nach Folterungen und Demütigungen, von katangischen Soldaten unter belgischem Kommando am Rande einer Grube aufgestellt, die man wohl eigens in der Savanne ausgehoben hatte. Sie wurden erschossen und verscharrt.*
~~~ Bahnbrechend bei der Aufdeckung dieses Verbrechens wirkten um 2000 Bücher von Heribert Blondiau und Ludo de Witte. 2007 steuerte Tim Weiner in seiner umfangreichen CIA-Geschichte – wie er glaubt – Belege dafür bei, daß US-Präsident Eisenhower und dessen Geheimdienstchef Allen Dulles Lumumba unbedingt »beseitigen« lassen wollten. Es gab auch einen Vergiftungsplan; dann jedoch hätten sich die Yankees lieber Lumumbas Gegenspieler »Oberst« Joseph Mobutu ausgeguckt, der ihn kurzerhand verhaften und nach Katanga ausliefern ließ. In der Tat setzte sich Mobutu nach einigen Wirren durch und »führte« den Kongo für drei Jahrzehnte mit brutaler Hand. Laut Weiner stellte er in jener Zeit das wichtigste »antikommunistische« US-Werkzeug in Afrika überhaupt dar.**
~~~ Wie es aussieht, ist die Verwicklung der belgischen Regierung in die Ermordung Lumumbas inzwischen unwiderlegbar erwiesen. Was Wunder, wenn sich Brüssel bereits nach Ludo de Wittes Enthüllungen genötigt sah, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Als dieser 2001 seinen Abschlußbericht vorgelegt hatte, räumte die Regierung eine »moralische Verantwortung« für das Verbrechen ein, ergriff jedoch keine juristischen Maßnahmen, wobei es anscheinend bis heute blieb. Vermutlich will sie vor allem Entschädigungszahlungen an den Kongo vermeiden. Das wäre nur zu verständlich, weil es sich im Grunde um ein Faß ohne Boden handelt. Bezogen auf die Anfänge um 1890, stellt Gert von Paczensky in seiner schon wiederholt erwähnten Geschichte des Kolonialismus fest, »unter Führung ihres geldgierigen Königs Leopold II.« hätten auch die Belgier »große Fähigkeiten kolonialer Plünderei« entfaltet. Danach nahmen hier ebenfalls Konzessionsgesellschaften eine gigantische Enteignung vor, bemächtigten sich Dutzender von Millionen Hektar, zündeten die Dörfer an, jagten und verschleppten die Bevölkerung, zwangen sie mit vorgehaltenem Gewehr zur Plackerei auf den Plantagen oder in den Kupfergruben. Hier wurzelt unter anderem der Konzernriese Union Minière du Haut Katanga, der sich um 2000 in Umicore umtaufte – mit dem höhnischen Untertitel materials for a better life. Firmensitz ist Brüssel.
~~~ 2010 reichte Lumumbas Sohn Guy in Brüssel Klage gegen ein Dutzend noch lebende Tatverdächtige ein, anscheinend alles belgische Regierungsbeamte. Das Schicksal dieser Klage ist mir unklar geblieben. Aber die DrahtzieherInnen werden ja sowieso nie belangt. Im übrigen ist zu hören, auch die Familie Lumumba sei, wie schon eine staatliche belgische Lumumba-Stiftung, zerstritten und weitgehend handlungsunfähig. Hier ist der Hinweis angebracht, es wäre wohl auch verfehlt, den gequälten und getöteten Patrice Lumumba für einen Heiligen zu halten. Er wird ja gern verklärt. Als die Truppen des frischgebackenen kongolesischen Ministerpräsidenten die drohende Sezession zu unterbinden suchten, gingen sie freilich nicht eben zimperlich mit der Zivilbevölkerung um – vor allem mit Leuten aus der Volksgruppe der Luba. Sie selber, die Truppen, gehörten nämlich mehrheitlich der Volksgruppe der Tetela an – wie auch Lumumba, der Regierungschef. Schon bei den Wahlen ist es, laut Zeit-Bericht***, seitens seiner AnhängerInnen zu »regelrechten Pogromen« gegen die Minderheit gekommen. In dieser Hinsicht – der Eigensüchtigkeit – hat sich die Welt in sechs Jahrzehnten um keinen Deut geläutert.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
* Samuel Misteli / Fabian Urech, https://www.nzz.ch/international/mord-an-patrice-lumumba-vor-60-jahren-afrikanischer-maertyrer-ld.1596085, 17. Januar 2021
** Weiner CIA, deutsch 2008, S. 225–27 + 739–40
*** Andrea Böhm, »Lumumbas Märtyrium«, Zeit, 13. Januar 2011: http://www.zeit.de/2011/03/Kongo-Lumumba, inzwischen auf 4. Februar 2012 datiert und ähnlich stumm gemacht wie Lumumba

Siehe auch → Corona, Schauermärchen → Gewalt, VerbrecherInnen → Krieg → USA → Band 5 Folgen eines Skiunfalls




Impfen

Die 32jährige Psychologin Dana Ottmann war in einer Rehaklinik in Löhne (bei Herford) angestellt. Sie ließ sich gegen Corona impfen. Anschließend wurde sie wieder von starken Kopfschmerzen heimgesucht, die sie aber ihrer Neigung zu Migräne anlastete. Wenige Tage später, am 9. März 2021, fand ihre Mutter Petra sie tot im Badezimmer. Am Monatsende ging Petra Ottmann an die Öffentlichkeit. Ihr zufolge hatte die Klinik »einen gewissen Druck« auf das Personal ausgeübt. Dabei hätten doch »kaum Erfahrungen« mit dem Impfstoff vorgelegen. Die Tochter hatte ihre Neigung zu Migräne durchaus angegeben, doch diese ist nach einem Befund der Universität Greifswald nicht für ihren jähen Tod verantwortlich. Vielmehr habe eine »Immunreaktion« auf den Impfstoff stattgefunden, die zu einer Gerinnungsstörung mit Einblutung ins Gehirn geführt habe.*
~~~ Ich wiederhole: die Frau war 32 Jahre jung. Mal sehen, wann der erste Leichengeruch von 12jährigen an die Öffentlichkeit dringt. Nebenbei bemerkt, haben wir an den Schulen noch keine Impfpflicht – aber eine Schulpflicht. Und da Ungeimpfte eine furchtbare Gefahr für die MitschülerInnen darstellen würden – ja, was folgt wohl demnächst daraus ..? Eltern, zieht euch warm an, der Mai ist sowieso viel zu kalt. Jedenfalls dürften wir uns mit dem von oben geschürten Impfwahn mitten in einem selten heftigen Schwerverbrechen befinden. Susan Bonath weist im Zusammenhang mit dem Fall Ottmann gerade darauf hin, nach gut versteckten Angaben der Pharmamafia könnten von einer Million Menschen, die jeweils mit zwei Dosen geimpft worden sind, allein »20.000 bis 200.000 Menschen eine schwere Autoimmunerkrankung davontragen«. Ob und wie sich diese Erkrankungen verschlimmern und unter Umständen »noch nach Jahren« im Tod gipfeln, sei gar nicht abzusehen. Der ausführliche Artikel** ist erschreckend. »Gesichtslähmungen« sind noch das Harmloseste, das Ihnen droht. Die unglaublichen Profitraten der Pharmariesen sind da wahrscheinlich kein Trost für Sie. Schlagen Sie den Artikel lieber nicht nach.
~~~ Laut Gerd Reuther brach dem deutschen, nun von Merkels Mannen gedopten Impfwahn schon das Reichsimpfgesetz von 1874 Bahn. Sogenannte »Impfschäden« wurden in der Folge eisern in Abrede gestellt – »obwohl 1924 der Zusammenhang einer Hirnschädigung mit einer Pockenimpfung belegt« worden sei.*** Reuther führt die wichtigsten Irrtümer des militärischen Kampfes gegen Krankheit an. Peinliche Begleiterscheinungen zählen dazu. Man nennt sie allerdings schon seit Jahrzehnten verharmlosend Nebenwirkungen. Leider werden sie im Lauf der Jahrhunderte zur Hauptsache. Nach Reuther ist die Rate der behandlungsbedingten Krankheits- und Todesursachen riesig. Wer je ein »Klinikmonster« (S. 146) zu Urlaubszwecken aufsuchen mußte, glaubt es sofort. Schon der bloße Anblick der Monsterklinik schüchtert das uns nützliche Mikrobiom (Bakterien und Pilze) in unseren Gedärmen bis zur Kampfunfähigkeit ein. Für alle Strategien, die maßgeblich auf Selbstheilung setzen, sind die Monster also ungünstig. Aber für die Zentralisierung und das Geschäft diverser Architekten, Betonhersteller und Arzneizulieferer sind sie prima. Nicht zuletzt schaffen sie auch eine Menge Arbeitsplätze für Psychologen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/mutter-klagt-an-32-jaehrige-nach-astrazeneca-impfung-gestorben-viele-wollten-davon-nichts-wissen_id_13243167.html, 11. Mai 2021
** Susan Bonath, https://www.rubikon.news/artikel/repressionen-propaganda-profite, 14. Mai 2021
*** Gerd Reuther, Heilung Nebensache, München 2021, S. 103



Den frühen Tod des Baseler Malers Kurt Wiemken (1907–40), Sohn eines selbstständigen Lithographen, übergeht das Lexikon. Dafür bildet es ein Gemälde ab. Wie ich einigen Internet-Quellen entnehme, war Wiemken unter anderem von der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Ereignisse verunsichert, etwa dem Luftsprung eines ausgelassenen Kindes auf der einen Seite einer Hofmauer und dem tödlichen Sturz eines Kindes auf der anderen Seite – und sei es in Übersee. Sein wichtigster Lehrer war Fritz Baumann. Später beeinflußten ihn Grosz und Picasso. 1933 zählte er zu den Mitgründern der sowohl avantgardistisch wie antifaschistisch orientierten schweizer Gruppe 33. Obwohl schon als Säugling an »Kinderlähmung« erkrankt und deshalb zeitlebens behindert, wanderte Wiemken gern, meistens im Mendrisiotto, Kanton Tessin. Ende Dezember 1940 – inzwischen war der Zweite Weltkrieg »ausgebrochen«, der ihn stark mitnahm* – warteten seine Angehörigen vergeblich auf seine Rückkehr. Sein zerschmetterter Leichnam wurde erst Wochen später, am 23. Januar 1941, am Grund der Breggia-Schlucht bei Castel San Pietro gefunden. Vermutlich war der 33jährige Maler entweder abgestürzt oder gesprungen.
~~~ Gerd Reuther widmet sich auf den Seiten 300/301 von Heilung Nebensache (2021) eigens der Kriminalgeschichte des Poliovirus‘, das für »Kinderlähmung« und tausend andere Erscheinungen verantwortlich gemacht wurde und wird. Bis ca. 1800 habe das Virus wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden in unseren Gedärmen gehaust, ohne für belegte Fälle von Polio-Lähmungen zu sorgen. Die Wende kam mit auf Arsenbasis gebrauten Insektiziden, etwa auf Zuckerohrplantagen. Hier half auch das berüchtigte DDT, wie einige Studien nachgewiesen hätten. Den Vogel schossen dann die Impfungen gegen Polio ab, wobei die Schäden selbstverständlich unter den Teppich gekehrt wurden. In Übersee ist Polio nach wie vor verbreitet. Reuther behauptet, für 2018 sei anzunehmen, daß ungefähr 70 Prozent der weltweiten Poliofälle auf Impfungen zurückgehen. »Impfstoffe brachten mehr Kinder um als die Krankheiten, vor denen sie schützen sollten.« Dann kam das schreckliche Corona-Virus.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 39, Oktober 2024
* Rudolf Hanhart in sikart, 2012: http://www.sikart.ch/KuenstlerInnen.aspx?id=4000363

Siehe auch → Automobilisierung, Statistiken (Schäden) → Corona, Impfpistole → Gesundheit, Toschke (Mediziner)




IndianerInnen

Der sozialistisch gestimmte schweizer Bürstenbinder Andreas Dietsch (1807–45) war die treibende Kraft des Versuchs, mit zukünftigen Kommunarden in die USA auszuwandern, um dort die Siedlung New Helvetia / New Aarau zu gründen. Die Auswanderung gelang, und zwar im Jahr 1844 mit 43 Teilnehmern. Die »Kommune« dagegen löste sich schon im folgenden Jahr endgültig auf, nachdem sie, durch Blauäugigkeit, Erschöpfung, Krankheit, Geldmangel, Wintereinbruch und den üblichen Streit unaufhaltsam zerbröckelt und ihr vielfach gebeutelter Anführer (wohl Anfang 1845) gestorben war.
~~~ Man hatte am Osage River in Missouri, westlich von St.Louis, Land gekauft, das freilich nur noch von sieben Erwachsenen und elf Kindern erreicht worden war. Der 37jährige Bürstenbinder und Chef-Organisator war vermutlich völlig ausgelaugt, vielleicht auch, wie manche andere, durch Fieber geschwächt, und wahrscheinlich verbittert. Halder/Limmat schreiben, man wisse nichts von den näheren Todesumständen Dietschs, und dabei werde es wohl auch immer bleiben. Das ist das eine Erschreckende: diese Schlampigkeit oder Gleichgültigkeit vieler Beteiligter, Nold Halder und den Limmat-Verlag eingeschlossen, der ja immerhin eine Literaturliste gibt und Wilhelm Weitlings Besuch in Iowa (1851) erwähnt. Dietsch war mit dem kommunistischen Agitator bekannt gewesen. In Iowa hatten ein paar Schiffbrüchige vom Osage River erneut eine Kolonie gegründet, Communia. Auch sie hielt nicht lange. Übrigens hatte Dietsch zwei kleine Töchter mit auf die Auswanderung genommen. In seinem Tagebuch werden sie gelegentlich erwähnt; von ihrem weiteren Schicksal erfährt man jedoch auch von Halder oder den Verlagsleuten nichts.* Irre ich mich nicht, wissen wir von der älteren Tochter noch nicht einmal den Namen. Sie soll bereits, wie ihr Vater, wenige Monate nach der Ankunft in Missouri gestorben sein** – ein böses Erwachen im Märchenland USA.
~~~ Immerhin: drei Jahre vor den Neujahrsblättern von 2017 bot bereits eine schweizer Zeitung*** einen Schimmer von Recherche an. »In alten Grundbüchern ist der Landkauf von Andreas Dietsch und anderen Mitgliedern der Auswanderungsgruppe bestätigt. Ebenso aktenkundig ist, dass die jüngere Tochter von Dietsch namens Rosetta, die nach dem raschen Ende von Neu Aarau nach Iowa weitergewandert war, das väterliche Land am Osage River 1859 verkaufte.« Vielleicht hatte sich Rosetta der erwähnten Communia im Clayton County angeschlossen, die allerdings, wie eben angedeutet, im Lauf der 1850er Jahre zerfiel. Für 1859 gibt Mary Lou Schulte**** als Aufenthaltsort Rosettas das Madison County in Illinois an. Ansonsten werden die Mädchen von Schulte (2010) nicht erwähnt. Gleichwohl liegen damit wenigstens ein paar Anhaltspunkte für eine echte, sicherlich nicht ganz billige Spurensuche vor. Nebenbei: Rosettas Mutter, Susanna geb. Hagnauer, war bereits in Aarau gestorben, wohl 1843, mit 35, bei oder nach der Geburt des dritten Kindes.
~~~ Das andere Erschreckende ist die Ignoranz, die Dietsch und offensichtlich auch seine MitstreiterInnen der Indianer- und Sklavenfrage entgegenbringen. Die ist mit der Einfalt von Dietsch und anderen nicht zu entschuldigen. Allerdings lag sie leider ganz im kolonialen Trend jener Epoche, wenn ich mich nicht täusche. Auch die angeblich revolutionär gestimmten Geister unter den Auswanderern hatten keine Bedenken, ihre neuen Siedlungen und andere höchst demokratische Projekte, darunter Verlagshäuser, auf gestohlenem, mit Indianerblut getränktem Grund zu errichten. Sie wollten Freiheit – zunächst einmal für sich. Das Ergebnis sehen wir heute. Das ganze wiederholte sich übrigens knapp 100 Jahre nach Dietsch, als tausende von verfolgten Antifaschisten ihr Heil im angeblichen Hort der Demokratie suchten – ihr Heil. Dem eigenen Anspruch zuwider wirkten sie auf diese Weise sowohl an der Legitimierung wie an der Kräftigung des US-Imperialismus mit, ob als Geschäftsleute, KünstlerInnen, Professoren.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Dietschs schmales Tagebuch wurde 1978 unter dem Titel Die großartige Auswanderung des Andreas Dietsch und seiner Gesellschaft vom Züricher Limmat-Verlag herausgegeben. Darin findet sich auch Nold Halders Studie über Dietsch, die wohl zuerst in den Aarauer Neujahrsblättern 1960/61 erschienen war. Halder starb 1967. Leider kommen, soweit ich sehe, jüngere US-Publikationen nicht erheblich über das Limmat-Buch hinaus.
** Heidi Hess / Rudolf Iten, »Auf den Spuren von Andreas Dietsch«, Aarauer Neujahrsblätter, Band 91 (2017), S. 96–103: https://www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=anb-001:2017:91::183#93. Für Iten hieß die überlebende Tochter Rosina. Wer sich hier irrt, weiß der Himmel.
*** Heinrich Rauber, »Vor 150 Jahren wollte Aarauer eigenes Reich gründen – nun wird er geehrt«, Aargauer Zeitung, 30. Juni 2014
**** »New Helvetia: The dream that died«, im Newsletter der Osage County Historical Society, Linn, Missouri, USA, Januar 2010



Leugne ich die ungewöhnliche Lebensgefährlichkeit eines bestimmten Grippeerregers, werde ich sofort an den Schandpfahl gebunden. Dagegen gilt es als normal, jenen großangelegten Feldzug gegen die UreinwohnerInnen Amerikas, den Brockhaus in Band 10 (gut zwei Seiten) mit Bezeichnungen wie »Völkermord, Vertreibung, erzwungene Assimilation« belegt, ein ganzes Leben lang nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es sind nur wenige AußenseiterInnen, die gelegentlich daran erinnern, welchem haarsträubenden Unrecht große Länder wie Brasilien oder die USA ihre Existenz verdanken. Erstaunlicherweise gehört US-Bürger Bob Dylan zu ihnen. In seinem schon früher erwähnten jüngsten Buch* behandelt er das harte Los seines Künstlerkollegen John Trudell (1946–2015), ein Santee Dakota aus einem »Reservat« genannten Staatsgefängnis in Nebraska. Nach dem Wehrdienst wieder zu Hause, stellte Trudell fest, alle Verträge zwischen Weißen und Indianern waren gebrochen. Er ließ sich für den Rundfunk ausbilden und führte verschiedene Widerstandsmaßnahmen an, darunter (1969) die Besetzung der Gefängnisinsel Alcatraz. 10 Jahre darauf, eben von einer Rede und einer Flaggenverbren-nung vor dem FBI-Hauptquartier in Washington D.C. heimgekehrt, »fielen Bandbomben auf seinen Trailer [Wohnwagen] in Nevada im Duck-Valley-Reservat«. Trudell selbst war scheints gerade außer Haus. Nach Dylans Darstellung hatten die TäterInnen jedoch die Eingangstür von außen mit einem Vorhängeschloß verriegelt. Dadurch seien Johns schwangere Frau Tina und seine drei Kinder sowie seine Schwiegermutter Leah bei lebendigem Leib verbrannt. Die Brandstifter wurden nie gefaßt.
~~~ Dieser Schlag bewog Trudell, sich zunehmend nur noch als Poet zu betätigen. Meist trug er seine Gedichte zur Live-Musik einer, laut Dylan, vielseitigen und erstklassigen eigenen Band vor. Der Champion aus Kalifornien bescheinigt diesen unmodischen Stücken, sie seien streckenweise herzzerreißend. Trudell machte auch etliche Platten, doch in kommerzieller Hinsicht sei er, so Dylan, nie erfolgreich gewesen. 2015, knapp 70 Jahre alt, erlag er einer Krebserkrankung.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 38, September 2024
* Bob Dylan, Die Philosophie des modernen Songs, deutsche Ausgabe München 2022, S. 209–11

Siehe auch → Fortschritt, Sienkiewicz (Amerikareise) → Fotografie, Litton (Wildwest) → Welskopf-Henrich (Fachfrau aus der DDR) → Band 5 Reise nach Fort Lashermink




Über Inseln erfahren wir von Brockhaus, Kontinente seien keine. Ansonsten seien Inseln im Völkerrecht definiert. Dagegen scheint man in der Sozialpsychologie keinen Schimmer von ihnen zu haben. Dergestalt genau umrissen, stelle Grönland, mit 2.130.800 Quadratkilometern, die größte Insel unseres Planeten dar. Erstaunlich genug: Großbritannien hat, mit 216.777 Quadratkilometern, gerade mal 10 Prozent dieser Größe. Dabei haben doch die Angelsachsen, und nicht etwa die GrönländerInnen, während einiger Jahrhunderte ungefähr die halbe Welt unterjocht! Man denke nur an das riesige Indien und die Besiedelung Nordamerikas. Offenbar kommt es beim Kampf um die Weltherrschaft nicht nur auf Quantitäten an. Man muß vielmehr ganze Rudel solcher Charakterruinen haben, wie sie Tim Weiner (2007) in seinem überragenden Werk über die CIA vorführt.
~~~ Das Spektrum der Inseln reicht also von Grönland bis zu den Schollen, auf denen in den bekannten Witzen stets ein Schiffbrüchiger mit zerfetzten Hosen und einer Flagge zum Winken Platz hat. Der Sozialpsychologe weiß jedoch, nicht wenige Menschen verzehren sich geradezu nach der eigenen, kleinen Insel. Palisaden oder Elektrozäune gegen Feinde erübrigen sich, weil die Wogen des Meeres oder des Baikalsees die Einmauerung bereits kostenlos liefern. Oft fürchten oder hassen diese EigenbrötlerInnen auch Freunde, nämlich sogenannte Nachbarn. Die stellen in einem fort Ansinnen, die der mönchische Mensch für Schwachsinn hält. Lärm machen sie obendrein, und wenn sich der Mönch mal ein Bein brechen sollte, schicken sie ihm gleich eine Flotte heulender Krankenwagen auf den Hals. Der Held der 50seitigen Erzählung Der Mann, der Inseln liebte flüchtet von einer Insel zur anderen, wobei sie immer kleiner und unzugänglicher werden. »Bald war er fast erschrocken, wenn er den Dampfer am nahen Horizont erblickte, und sein Herz zog sich zusammen vor Angst, er würde halten und ihn stören ..(..).. Er wollte nicht, daß man ihm nahe kam. Er wollte keine Stimmen hören. Er war über den Klang seiner eigenen Stimme erschrocken, wenn er versehentlich mit seiner Katze sprach.«
~~~ Die Erzählung stammt vom Briten D. H. Lawrence, der 1930 bereits mit 44 der Tuberkulose erlag. Für diese kurze Lebensspanne verfaßte er eine Unmenge an Romanen (11), Reisebüchern (4), Erzählungen, Essays, Dramen, Gedichten. Davon kenne ich lediglich einige längere Erzählungen, die mir auch wirklich gut gefallen. An der Lektüre des Restes hat mich glücklicherweise Lawrences Landsmann Anthony Burgess gehindert, der 1990 eine Art Biografie über ihn vorlegte. Burgess verehrt den Bergmannssohn aus Nottinghamshire und bringt am laufenden Meter ausführliche Zitate aus dessen Werken. Daraus gewann ich den Eindruck, Lawrence habe überwiegend Mist auf den Markt geworfen. Burgess besitzt die Kunstfertigkeit, in einem Atemzug kritische Anmerkungen zu machen und die kritisierten Mängel zu verharmlosen, weshalb sein Gegenstand im großen und ganzen beachtlich dasteht. Im Schlußkapitel behauptet er: »Lawrence schrieb, um Geld zu verdienen, da er keine andere Wahl hatte.« Beispielsweise habe er nicht wie E. M. Forster von einer Erbschaft oder wie Joyce von einer Mäzenin zehren können. Aber zum Bergmann, Zeitungszusteller oder Zuhälter hätte es doch vielleicht gereicht? Wie ich schon wiederholt bemerkte, wird kein Mensch gezwungen öffentlich zu schreiben, ob für Geld oder nicht. Tut er es trotzdem, hat er das Zeug, das er von sich gibt, auch zu verantworten. Da die erwähnten, zum Teil meisterhaften Novellen beweisen, daß es Lawrence nicht an Begabung und Handwerkszeug fehlte, dürften die vielen Schwächen in seinen übrigen Werken vor allem auf Flüchtigkeit zurückgehen. Die Oberflächlichkeit feiert Triumphe, weil der Rubel rollen soll.
~~~ Auch Burgess ist nicht der Mensch, der sich Marktzwängen entzöge. Er findet sie normal. Den Satz »Der Berufstätige tut seine Arbeit, um Geld zu verdienen« stellt er als unbezweifelbare Binsenweisheit hin. Aber nichts daran ist normal. Künstlerisches Schaffen von den schnöden Marktzwängen auszunehmen, wäre freilich nur reformistischer Quark. Vielmehr muß der Markt weg. Denn keine unserer Lebensäußerungen – beispielsweise auch Kochen, Putzen, Schreinern, Züge abfertigen – hat das grausame Schicksal verdient, den Warencharakter übergestülpt zu bekommen und dadurch erstickt zu werden. Man lebt nicht der Erwerbsarbeit und dem Geld, vielmehr sich selber und seinen Mitmenschen zuliebe. Deshalb stellt man Nahrungsmittel, Schuhe oder auch sogenannte „erzählende Sachbücher“ her. Was mich angeht, war es übrigens nie die Absicht meines Schreibens gewesen, vielleicht einmal davon leben oder gar steinreich wie Aichinger, Canetti oder Walser werden zu können. Sondern?
~~~ Leider habe ich mir den Hauptgrund in der letzten Zeit zu wenig vergegenwärtigt. Ohne dieses Versäumnis wäre ich besänftigter und stolzer gewesen. Der Hauptgrund lag immer darin, mich möglichst verbindlich und möglichst vollständig zu erklären. Das betrifft sowohl Politisches wie Psychologisches. Ich leide von Kind auf unter dem Schwarze-Schaf-Syndrom. Man belächelte, schnitt oder beschimpfte mich, weil ich diese radikalen Ansichten, unnormalen Vorlieben, krankhaften Abneigungen und so weiter besaß. Ihre Rechtfertigung liegt nun in meinen gesammelten, womöglich sogar wohlgeordneten Texten vor. Das soll nicht unbedingt heißen, ich hätte immer oder auch nur meistens recht. Es heißt vielmehr, für diese Auffassungen und dieses Verhalten gute Gründe zu haben. Es heißt weiter, daß sie nichts kurzerhand und leichtfertig Angenommenes sind. Selbst das Geschäft, meine Erklärung möglichst klar und dann auch noch unterhaltsam vorzubringen, ist nicht einfach. Für Geld hätte ich mir diese ganze Mühe nicht gemacht.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 19, Mai 2024, leicht gekürzt


Den britischen Schriftsteller D. H. Lawrence (1885–1930), im Brockhaus mit einer halben Spalte plus Paßfoto vertreten, habe ich schon kürzlich unter Inseln behandelt. Zu diesem Thema, den Inseln, möchte ich aber noch ein paar Überlegungen ergänzen. Warum sich einer in Inseln vernarrt und verbeißt, bis er schließlich auf seiner dritten, kleinsten und letzten Insel von Schneestürmen und Fieberanfällen ereilt wird und vermutlich seinen vernagelten Geist aufgibt, verrät uns Lawrence in seiner Erzählung Der Mann, der Inseln liebte bestenfalls nebelhaft. Dieser Mann wollte seine eigene Welt gestalten, sein eigener Herr sein, Frieden finden. Na, das gilt ja wohl nicht nur für ein paar von Hause aus meerumrauschte Engländer. Irre ich mich nicht, können Inselnarren im Grunde nur zwei Motive haben. Entweder Angst – oder Hochmut. Wobei ich allerdings annehme, oft mischen sich beide Motive auf je eigene Art. Man ist den Stürmen und Ansinnen gesellschaftlichen Lebens nicht oder nicht mehr gewachsen; man verachtet sie freilich auch. Auf seiner dritten Insel findet Lawrences Held ein paar Schafe vor: ihr Blöken geht ihm rasch auf die Nerven, ihr Glotzen macht ihn wütend – er gibt sie fort. Nicht anders haßt er die gewöhnlichen, dummen, lästigen Gesellschafts-menschen. Jetzt hat er nur noch eine Katze, aber die verwildert bald. Jetzt ist er wirklich etwas ganz Besonderes, nämlich völlig allein.
~~~ Möglicherweise werden die Inselnarren nicht gleich mit ihrem Syndrom geboren. Eine bedeutende Rolle dürfte oft die Kinderstube spielen. Doch auch davon verrät uns Lawrence nicht ein Wort. Sein Mann ist 35 – und anscheinend vom Himmel gefallen. Wir erfahren lediglich, daß er »zufällig« zu einer Stange Geld gekommen ist. Deshalb kann er Inseln pachten oder gar kaufen und sich als der Müßiggänger, der er gern wäre, mit Botanik und Literatur beschäftigen. Auf der zweiten Insel erleidet er sogar einen Anfall von geschlechtlicher Begierde, aber die betreffende Verehrerin ödet ihn ebenfalls rasch an. Vielleicht war der Anfall ein Rückfall – wir wissen es nicht. Seine Ängste und sein Hochmut, falls vorhanden, sind also kaum einzukreisen. Dazu bedürfte es zumindest einer kurzen Biografie.
~~~ Somit fällt auch die trügerische Hoffnung aus, ein Psychotherapeut könnte ihn vom Inselsyndrom befreien und wieder der Menschheit zuführen. Nach meinen Erfahrungen sind die Naturelle erwachsener Personen ohnehin nur äußerst selten nennenswert veränderbar. Der eine wird immer Aufschneider bleiben; der andere läuft zeitlebens in Sack und Asche herum. Ein Dritter verliert sich in vermeintlichen Liebesdiensten; der Vierte wird alle Kandidaten für Freundschaft immer wieder vor den Kopf stoßen, bis sich seine Eigensinnigkeit und seine Unverträglichkeit so weit herumgesprochen hat, daß sowieso keiner mehr etwas mit ihm zu tun haben will. Dann hat er endlich seine Einsamkeit – und tüchtig was zu leiden.
~~~ Kürzlich hatte ein Nachbar Besuch von einer auswärtigen Nichte. Ich sah sie zunächst gar nicht, weil wir beide, der Nachbar und ich, hinter Wällen aus Gebüschen wohnen. Aber ich hörte sie, denn sie sang. Sie hatte beim Hantieren auf dem Nachbargrundstück kaum eine Minute mit ihrer hellen, wohlklingenden Stimme vor sich hingeträllert, da war ich bereits wie verzaubert. Meine von weißen Blüten übersäten Jasminsträucher schienen unverhofft pure Daseinsfreude oder die so gern zitierte „grundlose Heiterkeit“ zu verströmen. Wie sich erfreulicherweise herausstellte, war die Besucherin keineswegs so kurzatmig wie ich selber. So lauschte ich für zwei Tage wie ein Luchs auf sie, denn sie sang nicht nur betörend, sondern offensichtlich auch gern. Natürlich blieb es nicht aus, daß sie derart auch alle schon verrostet geglaubten Saiten der Geschlechterliebe in mir anrührte. Ich war bereits nahe daran, einmal meinen Kopf aus den Büschen zu stecken und eine charmante Bemerkung von mir zu geben. Da fiel mir freilich noch rechtzeitig ein, wer ich eigentlich war: ein 74jähriger Greis, ein Sätze drechselnder und Särge zimmernder Mönch. Diese Einsicht zerriß den Zauber. In meiner Ernüchterung, die mich recht traurig stimmte, hütete ich mich sogar, das Fenster zum Nachbarn auch nur zu kippen, bis die Trällernde wieder abgereist war. Meine Trauer blieb noch für einige Tage.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
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