Mittwoch, 8. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 16
Grammatik – Handwerk, Zählen
Grammatik – Handwerk, Zählen
ziegen, 09:49h
Grammatik
Grammatischer Gram --- Schauspieler Siegfried Lowitz, für viele Der Alte aus einer bekannten Fernseh-Krimi-Serie, habe »mehrfach mit Heinz Rühmann vor der Kamera« gestanden, erfahren wir bei Wikipedia. Stand er also eines Tages nicht nur als Doppelagent, sondern gleich in drei- oder fünffacher Ausfertigung neben dem bekannten Star, der eigentlich noch eitler als Lowitz selber war?
~~~ Leider ist Das Mehrfachen zum postmodernen Volks- und Pressesport geworden. Erstaunlicherweise nimmt schon mein eher altmodischer Duden (von 1983) keine deutliche Unterscheidung zwischen dinglicher/zeitlicher Wiederholung vor. Er kennt sowohl eine mehrfache Ausfertigung wie einen mehrfachen deutschen Meister oder einen mehrfach vorbestraften Einbrecher.
~~~ Eine ziemlich erschöpfende (und vernichtende) Kritik der Verwischung des Unterschieds zwischen »mehrfach« und »mehrmals« nimmt beispielsweise 2009 Ulrich Werner aus München auf seiner Webseite vor, siehe https://www.sprache-werner.info/mehrfach-mehrmals.9730.html. Allerdings führt er, soweit ich sehe, keine frühen maßgeblichen Quellen an. Er baut auf das Augenscheinliche: mehrfach gehört der Reihe »einfach, zweifach, vielfach« an, mehrmals dagegen der Reihe »einmal, zweimal, oftmals«. Das Mehrmalige hat nie Gleichzeitigkeit, betont Werner. Dagegen kann ein Kniegelenk mehrfach belastet sein, nämlich gleichzeitig durch verschiedene Kräfte, die auf es wirken.
~~~ Ob mir einer einen bestimmten Liebesbrief mehrfach (in Kopien) schickt oder ob er ihn mehrmals (an verschiedenen Tagen) auf die Post gibt, damit mich die Botschaft auch wirklich erreicht, ist ja in der Tat ein beträchtlicher Unterschied. Die zweite Maßnahme zeugt sicherlich stärker von Zuneigung. Noch schmerzhafter wird es im Falle eines Beinbruchs. Der mehrfache Beinbruch läßt sich vielleicht durch nur eine Operation beheben. Breche ich mir dagegen dasselbe Bein in vier oder fünf Jahren mehrmals, kann ich es eigentlich nur noch wegschmeißen. Sporttreiben geht dann allenfalls mit Prothese, was freilich den Beifall gewisser HerstellerInnen findet. Gewiß kann ein Leichtathlet mehrfacher deutscher Meister sein, nämlich in verschiedenen Sparten einer bestimmten deutschen Leichtathletik-Meisterschaft. In der Regel ist jedoch gemeint, er sei bereits, etwa im Hochsprung, mehrmaliger deutscher Meister, errang also den Titel wiederholt in verschiedenen Jahren. Der Unterschied liegt auf der Hand.
~~~ Sicherlich gibt es auch Grenzfälle. Sie fallen mir im Moment nicht ein. Ich vermute aber in der Hauptsache, wenn heutzutage grammatische Verwischungen so beliebt sind, entspricht es denen in der postmodernen Wirklichkeit. Hier liegt die Vernebelungstaktik vor, die zwischen Krieg und Frieden oder Krankheit und Gesundheit nicht mehr deutlich unterscheiden will. Dadurch werden auch die einträglichen Geschäftsfelder größer. Leider muß ich sagen, in seiner lehrreichen, dickleibigen Kulturgeschichte der Neuzeit, erschienen um 1930, ist auch Egon Friedell bereits ein falscher Mehrfacher gewesen.
~~~ Eine ähnliche Verwischung hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig im Falle des gegensätzlichen Paares anscheinend — scheinbar. Darauf habe ich schon früher hingewiesen.
~~~ Beim »Daßdaßdaß« handelt es sich um ein Virus, das seinen Wirt dazu nötigt, ein schlichtes Bindewort namens daß in jedem Text bis zum Erbrechen zu gebrauchen. Leider befällt Die daß-Pandemie nicht nur Zeitungsredaktionen und Bestsellerautoren wie Stephen King (siehe On Writing, 2000), sondern auch gediegene Schriftsteller wie Adorno, Erwin Chargaff, F. G. Jünger und selbst Walter Porzig (Das Wunder der Sprache, 1950). Sobald Sie einmal darauf achten, werden Sie betrübt feststellen, die Anzahl der gesunden SchriftstellerInnen ist verschwindend gering.
~~~ Heißer Anwärter auf einen Platz im Guiness Buch der Rekorde ist Manès Sperber, der daß auf den beiden Seiten 118/19 seiner Romantrilogie Wie eine Träne im Ozean (dtv-Ausgabe 2003) 16 mal einsetzt. Für diese Anzahl benötigt der französische Soziologe Roger Caillois in seinem Buch Die Spiele und die Menschen (deutsche Erstausgabe Stuttgart 1960, Seite 150 bis 161) 12 Seiten. Allerdings bringt er die beliebte Konjunktion dabei mehrmals doppelt, einmal sogar dreifach im selben Satz, das gelingt dem erwähnten F. G. Jünger – der ebenfalls über die Spiele schrieb – selten. Oder sollte »dreimal im selben Satz« richtiger sein? Hier hätten wir womöglich den vermißten Grenzfall.
~~~ Jedenfalls liegt die Wahrheit auch in dieser Virusfrage für viele im Verborgenen. »Hinter der Maske«, lesen wir (1960!) bei Caillois, »nimmt das verzerrte Antlitz des Besessenen ungestraft jeden wüsten, gemarterten Ausdruck an, während der Beamte darauf achten muß, daß man seinem bloßen Gesicht nicht entnehmen kann, daß er etwas anderes ist als ein vernünftiges, kaltblütiges Wesen, dessen einzige Aufgabe darin besteht, das Gesetz anzuwenden.« Hier böte sich unter anderem die Alternative an: … während das unverhüllte Gesicht des Beamten wohlweislich den Eindruck zu verhindern hat, er sei etwas anderes als ein vernünftiges, kaltblütiges Wesen, dessen einzige Aufgabe darin bestehe, das Gesetz anzuwenden. Einige Tricks, die die Maske zu meiden oder das Gesetz zu umgehen wissen, sind rasch auf den Begriff gebracht: Substantivierung; indirekte Rede oder Konjunktiv; den fraglichen Satz mit »wie« einleiten (Wie Untersuchungen ergeben haben, ist die Rate stilistischer Schwerverbrechen besonders in …) oder im Nebensatz einen Infinitiv mit zu verwenden. In diesem Fall hätte sich Ambrose Bierce in Des Teufels Wörterbuch (zum Stichwort Jakobsleiter) den folgenden Doppeldecker verkniffen. »Man kann nicht umhin festzuhalten, daß es reichlich viel vom armen Jakob verlangt ist, daß er mit logischem Realismus träume.« Vielmehr hätte man geschrieben Allerdings wäre es wohl zu viel vom armen Jakob verlangt, mit logischem Realismus zu träumen. Diese Version spart auch kostbaren Lexikonplatz.
~~~ Letzter Trick: auf eine Satzverbindung mittels Komma verzichten. In diesem Fall ersetzt man das Komma durch einen Doppelpunkt oder bildet gleich einen neuen eigenständigen Satz. Für die eleganteste Lösung halte ich freilich nicht den Verzicht auf das Komma, sondern lediglich auf die offensichtliche Bindung. Statt zu schreiben Man munkelt, daß er aus den Leihbüchern der Stadtbibliothek jedes daß mit der Rasierklinge herausschneidet, zöge ich also vor: Man munkelt, aus den Leihbüchern der Stadtbibliothek schneide er jedes daß mit der Rasierklinge heraus. Ja, in manchen Fällen gewinnt die Eleganz sogar, wenn wir auch die indirekte Rede noch erdrosseln: Man munkelt, er konnte nicht anders …
~~~ In dieser Hinsicht ist eine Bemerkung des sogenannten Sprachwissenschaftlers Dr. Ernst Wasserzieher erwähnenswert, der uns 1920 mit einem schmalen, nicht gerade meisterhaft gebauten und geschriebenen Buch beglückte, das er Schlechtes Deutsch nannte. Ich besitze es in der „fünften, verbesserten Auflage, nach des Verfassers Tode besorgt von Prof. Dr. Paul Herthum“, Verlag Ferd. Dümmler, Berlin und Bonn 1930. Darin findet sich auf Seite 26 die Behauptung, ursprünglich seien die Wörter das und daß eins gewesen; sie hätten sich erst im 16. Jahrhundert geschieden. »Ich weiß, daß er kommt lautet eigentlich: Ich weiß das, er kommt; durch Verschiebung der Satzpause haben sich allmählich das und daß voneinander getrennt und sind nun im Sprachbewußtsein zwei verschiedene Wörter.« Das gießt natürlich deftig Wasser auf meine Mühlen, heißt es doch, die Konjunktion daß sei noch vor wenigen Jahrhunderten so überflüssig wie entbehrlich gewesen. Das hinderte unseren Doktor aus Halberstadt gleichwohl nicht daran, sie in seinem sendungsbewußten Werk über Gebühr einzusetzen. Seite 51: »Daß wir diese italienischen Fremdwörter [Kommando, Solo, Kolli] haben, ist bedauerlich, und ich hoffe, daß sich noch einmal Ersatz findet. Viel verlangt ist aber, daß Deutsche die Mehrzahl von Solo (Soli) kennen sollen, anstatt einfach Solos (wie Kommandos) zu gestatten.«
~~~ Spätestens jetzt drängt sich allerdings die Frage auf, was denn am scharfen daß so Böses sei, daß wir es dem Literaturfreund nicht doppelt oder auf 12 Seiten 16 mal zumuten dürften?
~~~ Ein klarer Fall von Suggestivfrage. In der Tat rät uns die Schärfe dieses Bindewortes an, es ungleich sparsamer zu verwenden als etwa und oder oder. Im übrigen hält sich der gute Stilist an einige Regeln, die in allen Fragen der Wortwahl und des Satzbaus gelten. So ist Wiederholung fast immer schlecht. Er benutzt sie allenfalls, sofern sie einer Unterstreichung, Verfremdung oder Verhöhnung dient. Unser Sprachschatz ist ja nicht umsonst reich genug, um sogar WörterbuchverlegerInnen und RechtschreibreformerInnen miternähren zu können. Er will Abwechslung, Vielfalt, Verblüffung, Trefflichkeit, persönlichen Ausdruck. Was uns zuerst einfällt, ist immer das Naheliegendste, nämlich der Sprachmüll, der auf der Straße beziehungsweise hinter den Bildschirmen liegt. Also seibern wir von der Spitze des Eisberges, beteuern jedoch, daß sie kein Pfahl in unserem Fleische sei. Zwei Verdoppelungen auf einen Streich! Denn sofern ein langes Ding wirklich unverzichtbar sein sollte, genügt ja wohl die Feststellung, es sei kein Pfahl in unserem Fleische. Aber die lieben Kollegen sind stockblind und grausam, Robert Merle vielleicht ausgenommen. Daß hinzuschreiben, ist stets der kürzeste und brutalste Weg.
~~~ Im folgenden lautet die Frage Wer tut oder erleidet was? In Walter Scotts Ritterroman Ivenhoe, angeblich ein Werk der Weltliteratur und somit auch folgsam von Ostberlin übersetzt und (1972 schon in 3. Auflage) nachgedruckt, heißt es auf Seite 91: »Außerdem schmückte die schöne Jüdin eine Straußenfeder, die mit einer brillantenbesetzten Agraffe am Turban befestigt war.«
~~~ Schmückte die holde Rebecca also eine Straußenfeder, indem sie diese mit Lametta umwand? Oder klammerte sie sich eigenhändig selber an die Straußenfeder, um dieser als Zierde zu dienen? Wohl beides kaum. Deshalb kommt man in solchen Fällen, die einem leider öfter begegnen, als Klarheit liebender Autor nicht umhin, den Passiv zu bemühen, obwohl er zurecht einen schlechten Ruf genießt. Man brächte also zu Papier: »… wurde die schöne Jüdin außerdem von einer Straußenfeder geschmückt …«
~~~ Täusche ich mich nicht, zählt das Schmuckproblem zu den grammatischen Beziehungsfragen. In dieser Hinsicht bieten Scott – oder seine Übersetzerin Christine Hoeppener – noch durchaus mehr. Ich habe mir 10 Stellen angekreuzt, beschränke mich aber auf die Vorstellung von dreien, um nicht genau jener entsetzlichen, quälenden Langatmigkeit bezichtigt zu werden, die der schottische Weltliterat an den Tag legt.
~~~ Seite 137: »Entsprechend diesem Befehl wurde Gurth eiligst vorwärtsgestoßen, roh über die linke Böschung geschleift und sah sich bald in einem weitläufigen Gehölz …« Hier ist eigentlich Gurth der Erleidende, aber dann, im selben Atemzug, sieht er plötzlich etwas – nur Scott/Hoeppener entging der unzulässige Perspektivwechsel. 271: »So wißt denn, Lady, daß dieser Nebenbuhler in meiner Macht ist und daß es nur bei mir steht, das Geheimnis seiner Anwesenheit im Schloß Front-de-Boeufs zu verraten, dessen Eifersucht verhängnisvoller sein wird als meine.« Sollte De Bracy hier die Eifersucht des Schlosses oder auch die Eifersucht des Geheimnisses im Auge gehabt haben? Vom Doppel-daß will ich großzügig schweigen. Daneben deutet sich hier Scotts Leidenschaft für den Schachtelsatz an. 573: Ein Grüppchen aus mehreren Männern schwafelt, da ertönt Geläut von der Kirche Sankt Michael her. »Die düsteren Klänge drangen in so großen Abständen ans Ohr, daß für jeden genug Zeit blieb, in einem fernen Echo dahinzusterben, ehe ein neuer Ton mit seinem ehernen Klang das Ohr erfüllte.« Die Gunst dieser ausreichenden Frist zum Dahinsterben kann nicht die Klänge betreffen, weil sie im Plural stehen. Somit wird sie einem jeden Mann aus dem Grüppchen der Schwafelnden gewährt – und zwar zum Aufatmen von Lesern wie mir.
~~~ Im Grunde stellt das 600 Seiten starke, um 1820 entstandene Werk im ganzen den größten Fehler dar. Viel weitschweifiger, unkritischer und seichter, auch im Humor, kann man nicht mehr schreiben. Scott überfrachtet seine Schachtelsätze mit Eigenschaftsworten; dafür gibt er die Personen selber, soweit ihnen die Eigenschaften zugeschrieben werden, nur als Sprechtüten. Sie sind austauschbar. Scott läßt vor allem reden; schildert er aber einmal etwas, ob Landschaft oder Schloß, gerät es so blaß, daß (!) man nichts sieht. Jeder moderne Heftchenroman atmet mehr Poesie. Dies alles kann jedoch nicht an der rund 20 Meter hohen Säule vorm Glasgower Rathaus rütteln, die ein Scott verkörperndes Standbild trägt. Denkmäler für Gedankenlose, damit ist dieser Planet gespickt. Durch diese bedenkliche Formulierung schlägt man gleich zwei Fliegen mit einer Klappe. Der Künstler bekommt sein Denkmal – und für alle, die ihn anzubeten wünschen, ist es ebenfalls gut.
~~~ Das Standbild, das Scott zeigt, verweist noch auf eine weitere beliebte Verwischung. Meist wird geschrieben: »Säule, die ein Standbild von Scott zeigt.« Glücklicherweise hat sich aber der gelernte Advokat nicht auch noch als Bildender Künstler versucht, soweit ich weiß. Das Standbild stammt also nicht von Scott; es zeigt ihn. Im Artikel der deutschen Wikipedia über den Bildhauer Eugen Drippe erfahren wir: »Sein Mitstudent Pagels schuf eine 41 cm hohe Porträtbüste Drippes …« Somit war dieser Drippe ein Schlawiner; in Wirklichkeit haute Pagels die angeblichen Werke Drippes aus dem Sandstein. Dieser Fehler begegnet einem auch oft Fotos betreffend.
~~~ Nebenbei, man darf sich auch selber nicht schonen. Wer ist denn bitteschön der Räuber und wer das Opfer, wenn eine Geschichte »Der Raub der Warzenschweinchen« (oder auch: der Sabinerinnen) heißt? Die Warzen-Geschichte steht im fünften Band meiner AZ. Hier leitet sie prompt zur letzten Klage über.
~~~ Stellt Schulbuchautor Hans Jürgen Heringer (Grammatik und Stil, Ffm 1989) am Beginn seines Abschnittes über Wortbildung fest, für sie gebe es »besondere Regeln und besondere Zeichen«, erweckt er zumindest beim blutigen Laien die Hoffnung, nun könne man beim Verstehen oder Bilden neuer Wörter nicht mehr fehlgehen. Aber das ist ein Trugschluß. Hering teilt zunächst in die beiden Wortbildungs-Grundarten Zusammensetzung und Ableitung ein – nach welchen eben beispielsweise Wörter wie Wortbildungs-Grundart und Trugschluß, blutig und fehlgehen entstehen. Und dann teilt er diese Grundarten wiederum unter und unter und unter. Nur die unfehlbar wirkenden Rezepte rückt er nicht heraus. Er betont im Gegenteil wiederholt, bei der Wortbildung sei fast alles erlaubt, und wer nicht aufpasse, erfahre die Grammatik leicht als Glatteis. Das stammt freilich von mir. Etwa zu wissen, »eis« sei das Grundwort, »glatt« das Bestimmungswort, ist eher Glücksache, und die bekannte Methode der Analogie, oft sehr fruchtbar, führt in jedem zweiten Fall in die Falle. So weist Heringer zurecht daraufhin, ein Hinterhaus sei das Haus hinter einem anderen Haus, wogegen eine Hintertür keineswegs eine Tür hinter einer anderen Tür sei. Beide Häuser, Vorder- wie Hinterhaus, könnten eine Hintertür haben. Das Thermometer steige bei Erwärmung; es sinke aber nicht automatisch, wenn der Thermometer-Besitzer an einer Erkältung leide. Es erkältet sich also nie. Für die interessante Zusammensetzung »Schuhdackel« führt Heringer allein vier mögliche Deutungen an, die sich erst durch den jeweiligen Text-Zusammenhang klären ließen: Dackel mit Schuhen / Dackel, der einem die Schuhe bringt / Dackel, der für die Schuhwerbung erfunden wurde / jemand, der wie verrückt mit der Schuhmode geht.
~~~ Mein nur wenig älterer Duden (1983) kennt keine Schuhdackel. Dagegen kennt das Internet keine Schuhdackel in den von Heringer genannten vier Bedeutungen, wohl aber eine fünfte Bedeutung. Danach gibt es gelegentlich vor Haustüren Schuhkratzer in Gestalt eines mit einer Art Rückenflosse ausgestatten Dackels. Der Schuhkratzer hat es allerdings auch in sich. Ich selber bin kürzlich über die vermeintliche Analogie Hochwildjäger — Sportfischer gestolpert. Wäre es eine, müßte der Fischer darauf erpicht sein, einen schönen Sport an die Angel zu bekommen, keinen Hecht. Der Niedersachse Philipp Heinrich Ast (1848–1921) wird zuweilen abgekürzt als Schäfer und »Kräuterheiler« ausgegeben – was wohl nicht zu dem Schluß verführen darf, analog »Automechaniker« habe der Gute insbesondere Kräuter behandelt. Eine große Verwirrung richten oft »Zugführer« oder »Zugführerin« an. Laut Duden handelt es sich um die Person, die in einem Zug die Aufsicht führt, Chef oder Chefin des Zuges also, nicht dagegen um den Lokführer oder »Triebfahrzeugführer«, wie die Bahnleute inzwischen dazu sagen. Bei denen war wiederum der Trieb zu mammutiver Wortbildung am wirken.
~~~ Kurz, bei der Wortbildung im Deutschen wird ein Wildwuchs zugelassen, der von jedem Schriftsteller neu gezähmt werden muß. Heraus kommt dann persönlicher Zahmwuchs.
~~~ Vielleicht sind mir noch ein paar Bemerkungen zur Grammatik überhaupt gestattet. Nach meinem Brockhaus behandelt die Grammatik den Bestand, die Gestalt und die Leistung sprachlicher Formen. Zwar gibt es auch universale grammatische Züge, aber ansonsten hat jede Sprache ihre eigene Grammatik. Die der deutschen ist besonders aberwitzig, weil sie jede Regel mit einer Flut von Ausnahmen und Zweifelsfällen überschwemmt. Da das noch nicht ausreicht, macht uns Brockhaus auch noch mit der Einteilung des wissenschaftlichen Fachs Grammatik in Spezialgebiete bekannt. Er kennt um die 40. Das geht von der »deskreptiven« über die »stratifikationale« bis zur »konfrontativen« Grammatik. Nimmt man das mit der Anzahl deutscher Hochschulen mal (rund 400) und hängt dann noch zwei Nullen dran (wegen der freiberuflich tätigen ForscherInnen oder Autoren, Fachjournalisten eingeschlossen), weiß man ungefähr, wieviele Leute allein in Deutschland von der Grammatik ernährt werden: 1,6 Millionen.
~~~ Warum wir diese 1,6 Millionen und die Grammatik überhaupt benötigen, verrät Brockhaus nicht. Ich vermute freilich stark: wollte jeder Deutsche die Sprachformen so eigensinnig oder willkürlich bilden wie (nicht als!) einerseits der Südbayer, andererseits der Nordfriese, trüge das Verständnis in diesem Lande rasch babylonische Ausmaße. Um solche Verwirrung zu verhindern, ist man neuerdings allerdings nicht mehr auf Grammatik angewiesen. Globallisierung genügt. Man benutzt einfach die gängigen angelsächsischen Worte oder erklärte alles und jedes für (französ.) »sensibel« oder »interessant«. Damit werden die Lehrbücher verschiedener »Plan- oder Kunstsprachen«, etwa Esperanto oder Interlingua, für das nachhaltige (= einträgliche) Papier-Recyling frei.
~~~ Würde sich ein ernsthaft schriftstellernder Mensch an grammatischen – ähnlich wie bei orthografischen – Klippen blaue Flecken zuziehen, sähe mich, nach rund 25 Jahren, in Nacktstrandbädern vor wolkenlosem Sommerhimmel kein Mensch mehr. Ich hoffe, jetzt ist mein Sommerhimmel korrekt. Ich habe mich nämlich noch einmal bei Heringer in die Frage der schwachen / starken / parallelen Deklination (Beugung) von Eigenschaftswörtern vertieft, weil ich fürchte, in ihr wuchert in meinen Blog-Texten einiger schwankender Wildwuchs, der sich vermeiden ließe. Das gilt wohl besonders für den Dativ. Im Beispiel kann man ja fragen: unsichtbar vor wem oder was? Eben »vor wolkenlosem Sommerhimmel«. Habe ich Kapazität Heringer nicht mißverstanden, müßte »wolkenlos« dagegen schwach gebeugt werden, wenn vorher bereits ein Artikelwort den Dativ anzeigte. In diesem Fall stünde da etwa »vor einem wolkenlosen Sommerhimmel«.
~~~ Gleichwohl bin ich außerstande, die Frage zu verscheuchen, ob dieser eher geringe, wohl kaum für die Aussage des Satzes prägende Unterschied zwischen n- und m-Endung so wichtig ist, daß man ganze Doktorarbeiten darüber schreibt. Sie werden vielleicht einwenden: wird hier nicht einheitlich verfahren, wird der Lesefluß behindert. Die LeserInnen stolperten über mein falsches m wie über mein falsches ß. Während sie über »sensibel« und »interessant« nicht stolpern, höhne ich. Sie sollen sich nicht fragen, ob es so etwas wie sensible Daten überhaupt geben könne. Oder ob eine Frage nicht, statt interessant, eher reizvoll, spannend, aufwühlend sei. Ältere Nachschlagewerke kennen für interessant ungefähr 40 Synonyme, die jeweils in bestimmtem (!) Zusammenhang besonders treffend sind. Wir sollen uns aber nicht besonders treffend ausdrücken; wir sollen funktionieren.
∞ Verfaßt 2022
Die deutsche Grammatik hat tausend Pferdefüße. Der Pferdefuß stellt zum Beispiel eine Zusammensetzung (ein Kompositum) dar. Dieser Weg ist im Deutschen nicht nur erlaubt, sondern sogar beliebt. Oft verhilft er zu genauen, mindestens jedoch verknappenden Bezeichnungen. Eine gewisse Hauptregel für solche Wortbildungen scheint es immerhin zu geben. Das Grundwort ist meist Zweitglied. Es sagt, um welche Sache es sich handelt. Das Bestimmungswort dagegen (Erstglied) beschreibt diese Sache näher. Folglich handelt es sich bei meinem Auftaktwort 1. um Füße, 2. um die Füße von Pferden.
~~~ Aber in manchen Fällen nützt einem die Hauptregel wenig. Beim französischen Filmregisseur Alain Resnais, geboren 1922, könnten Sie beispielsweise schon ins Schleudern kommen. Brockhaus verkündet, er habe »als Dokumentarfilmer mit Kunstfilmen« begonnen, etwa über Van Gogh und Gauguin. Demnach machte der Mann 1. Filme, 2. aus Kunst. Sie tippen sich vielleicht an die Stirn? Dann verraten Sie mir doch einmal, ob Kunsthonig ein Honig über Kunst sei. Denn das wäre die Analogie, und die soll ja in Zweifelsfällen oft weiterhelfen. Er ist es natürlich nicht. Er ist ein Honig aus Kunst, also etwa aus Weizenstreu, Pattex-Kleber und Mäusekot.
~~~ Eigentlich hätte ich gedacht, zu Resnais‘ Zeiten seien Filme stets aus Kunst gewesen, also etwa aus Zelluloid. Aber so meint es Brockhaus natürlich nicht. Er meint Filme über Kunst oder KünstlerInnen. Entsprechend wäre er verpflichtet, »Ersatzkaffee« als einen Kaffee über Ersatzstoffe zu bestimmen – doch dieses schöne Kompositum sucht man in Band 6 vergeblich.
~~~ In Hederichs Zierenberger Stadtgeschichte führte der Zusammensetzungswahn (1962) zu folgender Bildunterschrift: »Kirchturmblick«. Das ist, für mein Empfinden, schlechtes, unklares Deutsch. Zeigt die Abbildung den Turm der evangelischen Stadtkirche oder blicken wir vom Turm aus auf die Stadt? Hederichs Rettung ist freilich die Abbildung, die den Turm zeigt. Besser, man hätte »Blick auf den Stadtkirchturm von der X-Gasse aus« unter sie geschrieben, denn ein Straßenschild ist nicht im Bild.
~~~ Somit scheint der Teufel bei dieser grammatischen Frage im Detail zu stecken. Und warum sagen wir nicht: in der Einzelheit? Weil wir es nicht mehr gewohnt sind. Es klingt unbeholfen, weil uns viele tausend Fremdworte längst eingehämmert worden sind. Brockhaus etwa erklärt uns gleich nach Resnais, Resonanz, aus dem Lateinischen und Französischen geborgt, bedeute im Deutschen: Widerhall, Wirkung, Anklang. Wer aber würde diese schönen Worte heute noch verwenden?
~~~ Die deutsche Sprache verarmt. Dafür dürfen wir sie aber durch ganz geile Komposita aufblasen, etwa Aftershavelotion.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 31, August 2024
Siehe auch → Rechtschreibung, bes. Schuläden und Schuhlbücher
Grenzen
Der Mensch ist das abgrenzende Tier. Es gibt kaum ein irdisches Phänomen, vor dem seine Abgrenzungssucht Halt machte. Gegen ihn sind Goldammern oder Girlitze, die durch erbitterte Gesänge ihre Reviere bezeichnen und verteidigen, harmlose Regenwürmer. Habe ich kürzlich die unablässigen Grenzstreitigkeiten in mittelalterlichen Städten gestreift, die das Blut der Bürger über Jahrhunderte am Kochen hielten, hatte ich sicherlich zunächst den Gral des Privateigentums oder, überlokal, des eigenen Vaterlands im Auge, um den der ganze Ärger kreiste. In Südengland hat sich ein Anarchist des 20. Jahrhundertes, der gelernter Statistiker war, einmal den Spaß gemacht, alle Grenzbefestigung seines Städtchens zusammen zu zählen, also Mauern, Zäune, Hecken und dergleichen mehr. Er kam auf eine gewaltige, absurde Strecke und Geldsumme, sehen Sie bei Interesse Pingos, Band 4. Ich erinnere auch an meine verstreuten Bemerkungen über Behälter. Mit ihnen verlassen wir allerdings den Bezirk des Handfesten bereits, und das scheint mir auch dringend geboten.
~~~ Schon die Vaterländer sind ja zu einem gute Teil »bloß« Behälter im Geiste. Sie sind Ideologie, so wie fast jede Religion, Kommunismus eingeschlossen. Zu Montaignes Zeiten, um 1580, waren sie hochexplosiv. Gestalteten sich die Religionskämpfe in Frankreich besonders anhaltend und dazu grausam, dann wohl deshalb, weil weder die Katholischen noch die Reformierten auch nur im Traume daran dachten, die jeweiligen, heute gern so genannten »roten Linien« der anderen Seite zu achten. Man war unduldsamer als Ziegenböcke; man wollte alles – und alles bestimmen. In der Schweiz, so Montaigne im Bericht von seiner großen Romreise, stand es diesbezüglich weniger schlimm. Lang, lang ist‘s her.
~~~ Das Abgrenzen im Nichthandfesten, etwa der Moral, dürfte zugleich schwieriger und wirkmächtiger als das Zäuneziehen sein. Das schließt natürlich auch die Toleranz ein, also gerade umgekehrt die Rücksichtnahme auf jene roten Linien und den Verzicht darauf, sich in jeder Richtung und Hinsicht mit Wällen zu umgeben. Aber gerade dafür hat Brockhaus in seinem Eintrag zur Grenze noch nicht einmal ein Hühnerauge. Er suhlt sich lieber in den grotesken Bestimmungen über Streitfälle unter Nachbarn über Hauswände oder Bäume, die einer Grundstücksgrenze zu nahe kommen. Freilich nennt er sie nicht grotesk. Für ihn ist das alles normal.
~~~ Zur Moral sollte sich vielleicht noch die Psychologie gesellen. Ich streifte ja die Vögel. Selbst Tauben, Schwalben oder Stare aus Schwärmen sind stets darauf erpicht, von den lieben Genossen nicht zu sehr bedrängt zu werden. Sie hocken auf Drähten oder aufstehenden Scheunentoren und rücken sofort ein paar Zentimeter zur Seite, wenn einer zu aufdringlich wird. Sie achten auf Abstand. Im schlimmsten Fall fliegen sie weg oder kratzen dem Frechdachs die Augen aus. Mein Bekannter Ludwig kann ihnen das sicherlich gut nachempfinden. Verwickeln wir uns auf seinem Hof in ein spannendes Streitgespräch, messen wir fast den ganzen Hof aus, weil Ludwig immer sofort zwei oder drei Schritte zurückweicht, wenn ich zu heftig, zu körpernah auf ihn einrede. Oft hebt er sogar abwehrend einen Arm. Er braucht Abstand. Das schleppe er schon seit der Kinderstube mit sich herum, sagt er, bitte Nachsicht. Na gut. Sein Alter war ein Arschloch. Nur ist er selber auch eins. Kaum ist er nämlich einmal in meinem Häuschen zu Besuch, durchlöchert er die ganze Stubenluft mit neugierigen oder verstörten Blicken, starrt in meinen Wandkalender, befingert einen auf dem Tisch liegenden Brief, schlägt das oberste Exemplar meines Bücherstapels auf und fragt mir zu all diesen Dingen ein Loch in den Bauch. Was ihm völlig abgeht, nannte mein Großvater Heinrich Taktgefühl. Es steht freilich noch viel schlimmer, denn Ludwig scheint auch keinen Schimmer davon zu haben, was Doppelmoral ist.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
Siehe auch → Erziehung, Jungschar → Fotografie, Kino (Distanz) → Lyrik, Weißer Rappe (Abschnitt Schwarzer Rappe) → Band 4 Mollowina, Pingos Kap. 6 (Mauern in Torquay)
Mit einem 40. Todestag anhebend, erinnere ich, in zeitlich absteigender Folge, an vier Fußballer, die durchweg verflucht früh vom Rasen gefegt worden sind. Flügelstürmer Werner Greth (1951–82), ursprünglich technischer Zeichner, hatte bis 1978 über rund 10 Jahre hinweg vorwiegend für verschiedene Zweitliga-Vereine gespielt, darunter auch im Ruhrgebiet. Anschließend arbeitete er in der Duisburg-Homberger Chemiefabrik der Firma Sachtleben – als was, bleibt unklar. Ebendort erlitt er Ende Oktober 1982 laut einem kurzen Zeitungsbericht* einen Arbeitsunfall, der noch dem heutigen Leser den Atem raubt. In der Sandstrahlhalle des Unternehmens stürzte Greth gegen Mitternacht, also wohl auf Nachtschicht, in einen anscheinend größeren Behälter, der mit (vermutlich flüssigem) Stickstoff gefüllt war. »Bei einer Minus-Temperatur von 195,8 Grad« sei der 31 Jahre alte »Arbeiter« und »Junggeselle« auf der Stelle tot gewesen. Zwei ältere Kollegen, die Greth retten wollten, wurden schwer verletzt. Man barg seine Leiche schließlich mit Hilfe von Isolierhandschuhen. Welcher Art die am Bottich ausgeführten Arbeiten gewesen seien und wer die Verantwortung für das Unglück trage, werde noch untersucht. Stickstoff, meist ein Gas, dient unter anderem bei der Herstellung von Düngemitteln; flüssiger Stickstoff als Kühl- und Vereisungsmittel oder als Quelle für später erwünschtes Gas. Von einem Mord- oder Selbstmordverdacht ist nirgends die Rede.
~~~ Der oftmalige jugoslawische Fußball-Nationalspieler Vladimir Durković (1938–72) bezahlte den Besuch eines »Kabaretts«, vielleicht auch nur Nachtclubs, in der schweizer Stadt Sion, Kanton Wallis, mit seinem Leben. Er war verheiratet, Vater zweier Kinder und neuerdings »Stopper« beim örtlichen Club FC Sion, den alle Eingeweihten als schweizer Rekord-Pokalsieger kennen. Vorher hatte Durković schon streckenweise in der westdeutschen Bundesliga, dann für den französischen Club AS Saint-Étienne gespielt. Am frühen Morgen des 21. Juni 1972, einem Mittwoch, kam es vor besagter Vergnügungsstätte zu einem Streit zwischen dem 33 Jahre alten Durković und einem gleichfalls jugoslawisch-stämmigen Berufskollegen einerseits und einem jungen Gendarmen andererseits, wie ich einem damaligen österreichischen Zeitungsbericht entnehme.** Danach befand sich der Beamte auf Urlaub und in Zivil, führte aber offensichtlich seine Dienstwaffe mit sich. Der Streit endete mit einem Bauchschuß für Durković. Der Fußballverteidiger brach zusammen. Immerhin habe ihn der Schütze umgehend eigenhändig ins Krankhaus gebracht – wo Durković anderntags starb. Dem Untersuchungsrichter Louis de Riedmatten soll der Gendarm erklärt haben: »Ich war betrunken, ich habe jemanden sinnlos getötet.« Riedmatten ließ ihn festnehmen. Möglicherweise waren auch die Fußballer nicht mehr gerade stocknüchtern gewesen. Gleichwohl bekam Schütze Bernard C. neun Jahre Gefängnis, wie (2022) zum 50. Todestag Durkovićs auf Gladbach Live zu lesen ist.
~~~ John White (1937–64) fiel auf einem Golfplatz. Das bedeutet, der schottische Berufsfußballer beging den entscheidenden Fehler seiner Laufbahn nicht auf dem Rasen des Stadions White Hart Lane im nördlichen London, wo sein renommierter Club Tottenham Hotspur zu Hause war, sondern nahebei auf dem Golfplatz in Crews Hill. Als ihn dort (am 21. Juli 1964) ein Gewitter überraschte, suchte er unter einem vermutlich freistehenden Baum Schutz – und wurde vom Blitz erschlagen.*** Der torgefährliche und trickreiche Halbstürmer hinterließ Gattin Sandra und zwei Kinder. Fans oder Journalisten hatten ihm aufgrund seiner Fähigkeit, jäh wie aus der Erde gewachsen im gegnerischen Strafraum aufzutauchen, den Spitznamen »The Ghost« verpaßt, Geist oder Gespenst also. Auf dem Golfplatz verzog sich das Gespenst für immer, obwohl es erst 27 war.
~~~ Der Fußballspieler der Oberliga West Werner Göbel (1924–55, ursprünglich Goebel geschrieben) war 1953 deutscher Pokalsieger, 1955 zusätzlich (auf der Krankenbank) deutscher Meister mit Rot-Weiß Essen geworden. Zuletzt spielte er als Mittelläufer beim Zweitligisten Spielvereinigung Herten. Offenbar noch kein Vollprofi, war der mittelgroße, knochige Abwehrspieler außerdem Betriebssportlehrer bei der Hertener Zeche Ewald. Eingeweihte könnten ihn als unmittelbaren Vorläufer des 1956 gestorbenen ägyptischen Gewichthebers Khadr Sayed El Touni auffassen, denn beide kamen (angeblich) durch häuslichen Stromschlag um. Göbels Ende ist durch Sterbeurkunde und die Lokalpresse gut belegt. Danach kam der knapp 31jährige Sportlehrer am späten Nachmittag des 11. August in einem neuerrichteten Wintergarten seiner Hertener Wohnung am Wetterschacht beim Bohren, wohl aufgrund eines Defektes seiner elektrisch betriebenen Handbohrmaschine, mit dem Stromkreis in Berührung und fiel von einer behelfsmäßigen Bühne tot zu Boden. Die Bühne hatte aus Tisch und Stuhl bestanden. Göbel war seit vier Jahren mit Hannelore geb. Kübler verheiratet. Sie hatten ein zweijähriges Söhnchen, Volker. Bei der Beerdigung schätzte die Polizei 2.500 Trauergäste, die, laut Hertener Allgemeine, Göbels »große Beliebtheit« bezeugten. Ich nehme an, den Löwenanteil stellten HeimwerkerInnen, das kam damals gerade auf.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Im Stickstoff umgekommen«, WAZ vom 27. Oktober 1982
** »Stopper Durković wurde erschossen«, Volkszeitung (Klagenfurt), 23. Juni 1972, S. 12
*** Marcel Grün, https://abseits.at/fusball-international/england/der-verlorene-weltklassespieler-25-john-white/, (Wien) 28. April 2017
Größe
Von dem Wiener Schlawiner Udo Proksch (1934–2001) haben Sie nie gehört ..? Was soll man da erst zu den sechs Unfallopfern sagen, die er auf dem Gewissen hat. Sofern sie überhaupt berücksichtigt werden, beläuft sich ihre Erwähnung zumeist auf die Formel »Dabei kamen auch sechs Seeleute um«. Wikipedia führt bemerkenswerter-weise immerhin ihre Namen an.* Danach handelte es sich um den Ersten Ingenieur Caspar Borbely, dessen Verlobte Beatrix van der Hoeven und die Matrosen Carlos Medina, Vito Marcos Fortes, Andrew Davis und Silvester Roberts. Da sich nähere Angaben nicht finden, ist es vielleicht gestattet, wenn ich mich notgedrungen an den Täter halte. Er hatte noch einen Spießgesellen, Hans Peter Daimler, den ich hier vernachlässigen möchte.
~~~ Die genannten sechs Seeleute waren 1977 im Indischen Ozean die Opfer einer Explosion ihres Frachters Lucona geworden. Das Schiff ging unter. Angeblich versank dabei auch eine komplette Wasch- und Aufbereitungsanlage für Uranerz in den Fluten. Jener Udo Proksch hatte dieses Phantom für sehr geeignet gehalten, knapp 30 Millionen DM Versicherungsgelder auszuspucken. Deshalb hatte er eine Attrappe verladen lassen und für die Explosion gesorgt. Dabei hatte er die Möglichkeit von doppelt sovielen Toten in Kauf genommen, bestand die Schiffsbesatzung doch im ganzen aus 12 Personen. Im Zuge argwöhnischer Enthüllungen, die geradezu das Ausmaß einer österreichischen Staatsaffäre annahmen und zu mehreren Rücktritten hoher Politiker und einem toten Verteidigungsminister führten, sah sich der kleinwüchsige Tausendsassa allerdings selber gezwungen unterzutauchen. Er floh durch die halbe Welt. Schließlich wurde Proksch trotz einer Gesichtsoperation, die in Manila vorgenommen worden war, Ende 1989 aufgespürt und 1991 vom Wiener Landgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt. Damit war er endlich berühmt. Der Fall brachte bereits mehrere Bücher hervor.
~~~ Mit Prokschs »Stehsärgen« hatte es nicht so recht geklappt, obwohl sie eigentlich einen bemerkenswerten Beitrag zum »Emporismus« darstellten, wie ich den Größen- und Fortschrittskult zuweilen nenne. Gewiß hatten wir schon immer Denkmale, die die Vertikale betonen. Man denke nur an die Pyramiden und die gallischen Hinkelsteine, all die Tempelsäulen, Kirchtürme und Wolkenkratzer, Michelangelos David, Constantin Brancusis Endlose Säule und die in die Länge gezerrten, gleichsam ins Verschwinden gedehnten Menschenbildnisse Alberto Giacomettis. Doch unsere Leichname selber waren bestenfalls aufgebahrt; sonst hockten, saßen oder lagen sie. Der 1934 geborene Proksch, ursprünglich Designer, später Chef der Wiener Hofzuckerbäckerei Demel und mit aller Wiener Prominenz per Du, löste das Problem nachhaltiger Standhaftigkeit um 1975 durch Plastikröhren, die er im Rahmen seines Vereins zur Förderung der Senkrechtbestattung als »Stehsärge« ausgab. Allerdings scheint der Absatz nicht floriert zu haben. Der Nebeneffekt der »Stehsärge«, analog New Yorker Wolkenkratzer auf dem Friedhof Grundstückspreis zu sparen, wurde nicht honoriert. Dem Wiener Journalisten Michael Frank zufolge, damals Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, diente das »schmähführende merkwürdige Konstrukt«, das sich nirgends näher beschrieben geschweige denn vorgestellt finde, vordringlich dazu, Proksch mit dem österreichischen Bundesheer in Verbindung zu bringen. Der Zuckerbäcker liebäugelte nämlich mit 100 Kilogramm Sprengstoff, die er auch bekam. Angeblich verpulverte er sie restlos auf einem tiroler Truppenübungsplatz um Werbefilme herzustellen, mit denen er seine »Stehsarg«-Plastikröhren als Feldunterstände für Soldaten zu verkaufen gedachte – ohne Zweifel eine köstliche Umwidmung. In Wirklichkeit war aber nur ein Bruchteil des Sprengstoffs gezündet worden, wie später die Sichtung des Filmmaterials ergab. Mit dem Rest beförderte Proksch die Lucona in die Luft.
~~~ 1996 besuchte ihn Zeit-Autor Helmut Schödel im Grazer Gefängnis Karlau.** Nach dem Zustand seines Gewissens befragte Schödel den Häftling offenbar nicht. Dafür gab Proksch, der in jungen Jahren mit der Burgschauspielerin Erika Pluhar verheiratet war, Erstaunliches zum Krieg zu Protokoll. Er entspringe den Männern, weil sich diese nicht ins Blut schauen könnten. »Die Frau sieht das jeden Monat; wir Männer müssen uns erst den Bauch aufreißen.« Proksch starb im Juni 2001.
~~~ Man könnte sich bei dieser Gelegenheit fragen, warum eigentlich Armand Hammer nie im Knast saß? Der stein- und einflußreiche US-Industrielle war bis zu seinem Tod (1990) seit Jahrzehnten Eigentümer und oberster Chef der Occidental Petroleum, die unter anderem in der Nordsee die mit rund 225 Männern besetzte Öl- und Gas-Bohrinsel Piper Alpha betrieb. Am 6. Juli 1988 flog sie in die Luft beziehungsweise rann sie, zerschmolzen, ins Meer. Ein Feuer war ausgebrochen. Das schwere Unglück, für das bis heute niemand strafrechtlich belangt worden ist, forderte 167 Todesopfer, von den Verletzten und den gewaltigen ökologischen Schäden einmal abgesehen. Die meisten Quellen betonen die groben Fahrlässigkeiten, die sich verschiedene Verantwortliche geleistet hatten. Winfried Dolderer zitiert*** sogar den Boß selber, Hammer, der den leitenden Angestellten bei einem vorausgehenden Besuch auf der Plattform eingeschärft haben soll: »Das ganze Geld, das zur Küste gepumpt wird, geht verloren, wenn ihr diese Plattform abschaltet. Das lassen wir nicht geschehen.« Dagegen zeigt sich kaum einer vom Grundsätzlichen erschrocken, nämlich dem Erfinden, Bauen und Betreiben von Öl- und Gas-Bohrinseln, Flugzeugträgern, Kernkraftwerken und dergleichen mehr. Dieses wird nicht als fahrlässig und kriminell erachtet, vielmehr als fortschrittlich.
~~~ 1995 wurde die bislang größte Bohrinsel der Welt in Betrieb genommen – ebenfalls in der Nordsee. Nachdem sie vor Ort geschleppt und dann, vier Betonbeine voran, auf den Grund (Meerestiefe 300 Meter) abgesenkt worden war, sackte sie erst einmal neun Meter ein. Sie wiegt, ohne Ballast und je nach Quelle, um 670.000 Tonnen. Das entspricht ungefähr dem Gewicht von 10.000 Diesellokomotiven. Man taufte die künstliche Insel auf einen ähnlich lustigen Namen wie schon Hammer ihn trug: Sea Troll.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://de.wikipedia.org/wiki/Lucona
** Helmut Schödel in der Zeit: »Ein Besuch bei Udo Proksch, Österreichs prominentestem Häftling«, 26. April 1996
*** Winfried Dolderer, https://www.deutschlandfunk.de/das-bisher-schwerste-unglueck-auf-einer-oelplattform.871.de.html?dram:article_id=250961, 6. Juli 2013
Merkwürdigerweise hob ich Türme einst in meiner kleinen Betrachtung über »Emporismus« nicht eigens hervor. Ich erwähne da lediglich Dome. Vielleicht lagen die Türme für mein Empfinden zu offensichtlich auf der bekannten vertikalen Linie vom Aufrechten Gang zur Nummer Eins. Macht und Überleben – für Elias Canetti der zentrale Herrschaftsakt – stehen und fallen mit der Senkrechten. Je mächtiger ich bin, desto eher bekomme ich recht. Bin ich die Eins, unterliegen alle anderen Zahlen meinem
Einfluß …
~~~ Früh übt sich, wer hoch hinaus will. Schon der Dreikäsehoch verzehrt sich nach Türmen. Mag die Versteifung seines eigenen, leibhaftigen Wassertürmchens noch zu wünschen lassen, kann er doch Burgen bauen, wobei ihm wiederum Baukräne behilflich sind. An Segelschiffen liebt er vor allem die Mastkörbe. Bei Wanderungen erklimmt er jeden Hochsitz. Es gefällt ihm, sich der Welt überlegen fühlen zu können; er hält sich für den Prinzen Eisenherz oder besser noch den Riesen Gulliver. Türme verleihen Größe, Weitblick, Übersicht – Macht.
~~~ Freilich, das ist nur die eine Seite. Als Thüringer könnte ich vielleicht stolz darauf sein, in dem Städtchen Bad Frankenhausen am Kyffhäuser den berühmten Oberkirchturm zu wissen – er ist freilich nur berühmt, weil sich seine Spitze derzeit (2013) bereits um 4 ½ Meter außerhalb des Lots befindet. Damit ist er angeblich schon schiefer als der Turm von Pisa. Ich könnte mir vorstellen, es ist nicht besonders witzig, in seinem Schatten oder gar in ihm selber zu wohnen. Der höchste Turm der Welt, Burj Khalifa genannt, steht seit rund 12 Jahren (Einweihung Januar 2010) im Immobilienbläser-Emirat Dubai am Persischen Golf. Neben Büros und Hotels hat er rund 1.000 Wohnungen zu bieten, die allerdings, aufgrund der üblichen Verspekulationen, überwiegend leer zu stehen scheinen. Dieser blitzende Wolkenkratzer – er verjüngt sich unregelmäßig abgestuft nach oben, bis er spitz ausläuft – hat mindestens anderthalb Milliarden Dollar gekostet. Mit 828 Metern ist er so hoch, daß er aus dem Stadtgebiet heraus kaum fotografiert werden kann. Dafür könnte er sogar von einem Vollidioten auf Anhieb mit einem entführten Passagierflugzeug getroffen werden. Ob er daraufhin auch umfiele, dürfte jedoch so mancher, nach 9/11, bezweifeln.
~~~ Türme verleihen uns also nicht nur eine besondere Machtstellung; sie machen uns auch besonders angreifbar. Das Herausgehobene verliert an Verankerung; es übernimmt sich; es provoziert. Der Berg ruft. Übrigens ruft er nicht nur angebliche Terroristen: als im Januar 2007 der Orkan Kyrill durch Europa zog, mähte er etliche Baukräne um. Daran hatte der Dreikäsehoch nicht gedacht.
~~~ Man sollte die Türme aber nicht nur schlecht machen. Zeitgenossen des Taschencomputers verschwenden in der Regel keinen Gedanken daran, daß sich die Benachrichtigung oder Verständigung über größere Entfernungen hinweg lange Zeit recht beschränkt und mühselig gestaltete, etwa durch Rufe, Trommeln oder Glocken, Rauchzeichen, Flaggen, rennende oder reitende Boten. Hier kamen bald Türme ins Spiel. An den jeweiligen Grenzen des Römischen Reiches, so auch am Limes diesseits der Alpen, standen oft Wach- oder Signaltürme dicht beieinander, zwischen 500 und 5.000 Meter, um im Alarmfall Fackel-, Rauch- oder Hornsignale an die Kastelle weitergeben zu können. In der hessischen Wetterau beispielsweise, zwischen Taunus und Vogelsberg, sind über 70 Limes-Turm-Standorte bekannt. Die Türme waren aus Stein oder Holz erbaut, teils aus beidem. Auf italienischen Mittelmeerinseln sollen noch viele rein aus Stein errichtete Sarazenentürme zu besichtigen sein, die auch der Piratenabwehr dienten. Um 1800 nutzten die Franzosen (Napoleon) Ketten aus Signaltürmen, teils unter Einbeziehung von Kirchen, die bereits der Telegrafie nahekamen, trugen die Kronen oder Dachstühle dieser Bauwerke doch armartige Hebel oder Flügel, deren Aufsätze ihrerseits noch einmal mehrfach verstellbar waren. Dadurch waren Nachrichten aus bis zu 196 Kombinationen von Buchstaben, Zahlen oder ähnlichen Zeichen möglich.
~~~ Die Briten stützten sich an den Küsten ihres Großkönigreichs auf kaum andere Türme, um wiederum den Truppen und Schiffen Napoleons auf die Schliche zu kommen. Die auf der südirischen Insel Dursey überdauerte Ruine eines solchen Turmes wird in meinem Porträt des Malers Werner Motz gestreift. Aber niemand nimmt es zur Kenntnis. Er erfährt einfach nichts von der Existenz eines Werner Motz, da es dessen Biografem an ein paar bereitwilligen, »Relevanz« spendenden Signaltürmen mangelt. Das lenkt auf das Grundproblem, dem ich nicht mehr nachgehen werde, was nämlich von den vielen Millionen Botschaften, die auf diesem Planeten Tag für Tag ausgetauscht werden, zu halten sei. Ich schätze einmal, von 1.000 dieser Botschaften sind 333 schädlich, 333 überflüssig und 333 beides.
∞ Verfaßt 2022
Hölderlin mit Hut --- Im kommenden März hat er 180. Todestag. Was wird das erst 20 Jahre später geben! Die Stadt Tübingen wird ihren berühmten Hölderlin-Turm großzügigerweise für die Dauer des Festjahres (2043) auf die Zugspitze versetzen (knapp 3.000 Meter), damit er höher als der Moskauer Fernsehturm sei. Denn was ist ein Aleksander Puschkin gegen einen Friedrich Hölderlin! Ein wangenknochiger, kraushaariger Stümper.
~~~ Zugegeben, um 30 konnte ich mich noch durchaus für das eine oder andere Gedicht des schwäbischen Bürgersohnes erwärmen. »Täglich geh ich heraus, und such ein Anderes immer, / Habe längst sie befragt, alle die Pfade des Lands …« Das schien sich doch gut mit der Verzweiflung und Unschlüssigkeit zu decken, die ich von mir selber kannte. Auch die seltene Mischung aus Einfalt, Schlitzohrigkeit und Hochmut im Tonfall imponierte mir. Aber in Hölderlins Fall stimmt es übrigens nicht. Er hat nie etwas »anderes« gesucht. Vielmehr suchte er »immer« nur sich selbst. Er war bis ins Mark eigensüchtig. Deshalb hat er mir auch als Charakter, soweit ich davon wußte, nie imponiert. Geldnot kannte er zeitlebens nicht. Bauern oder Handwerker, selbst die engen Bundesgenossen auf dem Stift, interessierten ihn lediglich, sofern sie lyrisch ausschlachtbar waren. Menschliche Nähe fürchtete er wie der Teufel das Weihwasser; zu Weibern natürlich erst recht. Die konnten von ihm aus alle »klanglos schlummern«, wie es in Menons Klagen weiter heißt. Sein einziges Trachten ging dahin, für seine wehleidigen Verse bewundert und mit Lorbeerkränzen überschüttet zu werden. Daß so einer, der es im Grund von Kind auf war, verrückt wird und in Türmen oder auf Zugspitzen endet, ist wohl kaum verblüffend.
~~~ Womöglich wenden Sie ein: da kann er ja nichts dazu – für seine Erbanlagen, seine Kinderstube (mit zwei verflucht früh verstorbenen Vätern und einer erdrückenden Mutter) und seine penetrante Schwärmerei. Das ist goldrichtig. Aber ich habe die Unfreiheit auf Erden oder gar im gesamten Kosmos nicht erfunden. Das waren die griechischen Götter, die Hölderlin so gern im Munde führte. Die Mutter hatte ihn unbedingt auf eine Pfarrstelle hieven wollen. Dagegen wehrte er sich zäh und sogar erfolgreich. Gleichwohl frömmelte er in seinen Versen auch ohne Kanzel hartnäckig weiter. Möglicherweise hatte er seine Buchstabengläubigkeit unmittelbar von Martin Luther geerbt. Das Gesetz, die Schrift, die Form gehen erbarmungslos über alles. Sein Gedicht Mein Eigentum hebt mit folgenden vier Versen an. »In seiner Fülle ruhet der Herbsttag nun, / Geläutert ist die Traub und der Hain ist rot / Vom Obst, wenn schon der holden Blüten / Manche der Erde zum Danke fielen.« Viel geschraubter und umständlicher geht es nicht mehr. Warum schreibt er nicht einfach: »Der Herbsttag ruht in seiner Fülle. Die Trauben sind geläutert, die Haine leuchten vom roten Obst. Die ersten Blütenblätter fallen.« Er schreibt es nicht, weil es das Versmaß und seine Eitelkeit verletzen würde.
~~~ Vielleicht sollte ich mich lieber mit Hüten statt noch länger mit Hölderlin befassen. Der Grund wird Ihnen spätestens am Schluß dieses Beitrages einleuchten. Jedenfalls ist es ein dankbares Thema, sind doch alle die Kopfbedeckungen, die an Türme, Blumenbeete, Hütten, Lorbeerkränze oder Zugspitzen erinnern, kaum noch zu zählen. Hier scheint der niederländische Maler Dieric Bouts mit seinem um 1465 geschaffenen Abendmahlsaltar wohltuend heraus zu fallen. Er hat sich in diesem personalreichen Gemälde selbst verewigt, wie KennerInnen versichern. Obwohl bescheiden am Rande der heiligen Tafel versteckt, läßt sich der offenbar hagere Künstler kaum übersehen, trägt er doch eine leuchtend rote Mütze. Allerdings wirkt sie recht hoch, sodaß sie seinen erstaunlich langen Schädel fast bis zur Saaldecke streckt. Wahrscheinlich enthält sie zur Hälfte nur Luft, wenn nicht das viele Geld, von dem Bouts vermutlich träumte.
~~~ Einer der vielen brutalen Psychopathen auf dem preußischen Thron war Friedrich Wilhelm I., Regierungszeit 1713–40. Er soll ungefähr die Gestalt einer Dampfwalze besessen haben. Statt nun elegante Kopfbedeckungen zu sammeln und damit ein ganzes königliches Museum zu füllen, verfiel er auf die Idee, mindestens sechs Rheinische Fuß große Soldaten zu sammeln. Das entsprach knapp 1 Meter 90, für damals riesig. Am Ende umfaßte sein berüchtigtes Leibregiment der Langen Kerls gut 3.000 Personen, die man ihm in ganz Europa und sogar Übersee mit List und Gewalt und viel Geld zusammengeraubt hatte. Auf ihren Beruf oder ihre Verstandeskraft kam es dabei nicht an – Hauptsache lang. In diesem Sinne wissen heute auch alle Karikaturisten, wem der weiße Nordamerikaner seine herausragende Stellung verdankt: seinem schwarzen Zylinder. Der Mensch ist nicht von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt, vielmehr verlängerbar. In dieser Achse liegt sein ganzer Stolz. Unten tun es hohe Schuhabsätze oder notfalls Schuheinlagen, wie Schauspieler Heinz Rühmann (1,65) am Beginn seiner Laufbahn wußte; oben eben Hüte oder gar in »Pickeln« (Dornen) auslaufende Helme.
~~~ Die Krönung der Kopfbedeckung stellte freilich schon bei den alten Ägyptern die Krone dar. Die Leute, die dem steilhäuptigen Pharao die Füße zu küssen hatten, durften allenfalls Mützen tragen. Zwar wurde oft betont, mit der Kopfbedeckung ziehe sich der Inbegriff von Amts- oder Manneswürde, zuweilen auch Rebellion, durch die Geschichte, doch die Frage der Länge kommt meist zu kurz. Hölderlins Halbgott Friedrich Schiller sah in dieser Hinsicht sonnenklar. Sein Tell weigert sich, jener von einem Hut bekrönten Stange, die für den kaiserlichen Landvogt Hermann Gessler steht, mit entblößtem Haupt seine Referenz zu erweisen, weil er sich nicht geringer vorkommt als ein Vogt. Er kann sich somit, den Hut ziehend, nicht kleiner machen. Zur Strafe verhöhnt ihn Gessler durch das Ansinnen, Tell habe seinem eigenen Sprößling ausgerechnet einen jede Wette hölderlinroten Apfel von der Birne zu schießen! Doch wir wissen es: Tells Armbrust zitterte nicht, er bewahrte ruhig Blut.
~~~ Dagegen zeigt uns Peter Härtling mit seinem Hölderlin* einen in Tübingen studierenden dünkelhaften Heißsporn. Damals hatten Hilfslehrer vor den Stipendiaten ihren Hut zu ziehen. Einem gewissen Majer mißfiel dies jedoch, sodaß ihm der junge Hölderlin eines schlechten Tages mitten auf der Münzgasse den Hut vom Kopf schlug. Majer wäre eben verkleinerungspflichtig gewesen. Einmal in die Senkrechte verlegt, kommt die Freiheit für Diener oder Knechte einer Senkpflicht gleich. Sollte die Kunst der Übertreibung im Infamen gipfeln, wurde sie übrigens von den Maoisten besser beherrscht als von den Karikaturisten. In der chinesischen »Kulturrevolution« zwangen die Roten Garden die gestürzten und geächteten Größen zum Tragen armlanger, spitzer Tüten, die »Schandhüte« hießen. Das hatte Bouts vorausgeahnt.
∞ Verfaßt 2023
* Roman von 1976, hier dtv-Ausgabe München 1993, S. 142
Was den bekannten und beliebten Gartenzwerg angeht, will Brockhaus mir mit der Eröffnung schmeicheln, er sei um 18oo in Thüringen aufgekommen. Das könnte sogar stimmen. Keine 20 Kilometer südlich meines Wohnorts Waltershausen, also mitten im Thüringer Wald, liegt Trusetal, das mit Deutschlands einzigem Zwergenpark glänzen kann. Neben rund 2.500 Gartenzwergen und einer Bimmelbahn bietet diese »Erlebnisanlage« in der Zwergenschänke Bier und im Thüringer Gartenzwergmuseum Bildung an. Alles dreht sich um die niedlichen Wichte mit den roten Zipfelmützen, die einst ihre Vorbilder in fürstlichen Barockgärten hatten. Selbst in Goethes Werk sollen sie eingedrungen sein.
~~~ So witzig ist die Sache allerdings nicht. Zumal der positiv gestimmte Teilnehmer am Marktgeschehen unterschätzt oft, wie sehr einem Menschen allein eine ungünstige leibliche Mitgift das vom Positivisten verherrlichte Leben zur Hölle machen kann. Dazu zählt selbstverständlich auch die Kleinwüchsigkeit. Um die Paradebeispiele Lichtenberg, Leopardi und Napoleon zu meiden, führe ich dessen Zeitgenossen Johann Gottfried Seume an, einen später vor allem wegen seiner Reiseschilderungen weithin geschätzten Schriftsteller aus Kursachsen, der Napoleon im Juli 1802 sogar leibhaftig in Paris erblickte. Jene Reiseschilderungen kann ich nicht beurteilen. Dafür beging ich neulich den Fehler, Seumes »autobiografischen Bericht« Mein Leben zu lesen. Obwohl der Sohn eines verarmten, früh verstorbenen Land- und Gastwirtes lediglich 1,55 oder noch weniger maß, wurde er in mehrere Armeen gepreßt, was ihn sogar nach Nordamerika führte. Die Zwangsaushebung hinderte ihn freilich nicht daran, sich nach dem Offiziersrang und einem Adelstitel zu verzehren und zeitlebens sein Vergnügen am Schmieden militärischer Pläne zu finden. Seume ist leicht kränkbar, sucht stets Ersatzväter, darunter den russischen General Otto Heinrich von Igelström, dem er 1794, als Leutnant, in Polen bei der Aufstandsniederschlagung unter die Arme greifen darf. Auch das literarische Lob aus dem Munde des »großen Wielands« aus Weimar erhebt Seume, wie übrigens schon Kleist. Dafür brachte er in Liebesdingen kein Bein auf den Boden; als vergeblich Verehrte werden Wilhelmine Röder und Johanna Loth genannt.
~~~ Seume stirbt 1810, anderthalb Jahre vor dem berühmten Selbstmordpaar Kleist/Vogel, mit 47 an einem schweren Blasen- und Nierenleiden. Zudem hatte ihn die Gicht ereilt. Es heißt, als junger Mann sei er nie krank gewesen, aber ich habe den Verdacht, mit der »stoischen« Prosa seines Lebensberichtes suchte er seine große Verletztlichkeit zu verbrämen. Für mein Empfinden zeigt der Text einen seltsamen, krampfhaften, aufgesetzt wirkenden »trockenen« Humor. Besser gefällt mir Seumes langer Brief an Wieland vom Januar 1810, der schon fast nach Thoreau klingt. Darin gestattet sich Seume auch eine für jene Zeit erstaunliche Sprunghaftigkeit. Thoreaus Tiefgang erreicht er allerdings nicht.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 14, März 2024
Brockhaus kennt physikalische und Kleidergrößen. Er kennt auch noch den Roman »Der große Gatsby«, die sogenannte Große Kreisstadt und sogar den krankhaften »Größenwahn« (vier Zeilen) – aber die Größe als ganz gewöhnliche weltumspannende Meßlatte für die unterschiedlichsten soziologischen und psychologischen Phänomene scheint ein paar Nummern zu groß für ihn zu sein.
~~~ Kürzlich habe ich von der Abgrenzungssucht des zweibeinigen Tieres mit dem aufgeblähten Schädel gesprochen. Seine Wut, alles nach »kleiner als« und »größer als« zu sortieren und dabei ab- oder aufzuwerten, hängt sicherlich damit zusammen. Aber die Größenwut, wie man glatt sagen könnte, offenbart eine auffallende Begeisterung für den quantitativen Unterschied. Vermutlich war diese Begeisterung einst besonders durch das allgemeine Sichaufrichten angestachelt worden: plötzlich fand sich der Mensch auf zwei Beinen gehend und stehend wieder, wodurch er in der Lage war, jedem Köter, jedem wilden Eber und selbst noch jedem Schimpansen kurzerhand auf den Kopf zu spucken. Und kaum war er »seßhaft« geworden, fing das Wetteifern unter Nachbarn an, wer die größten Gladiolen, die längsten Salatgurken und die dicksten Kürbisse vorzuweisen habe.
~~~ In meiner Tanzstundenzeit, um 1965, hatte ich das Pech, bei dem Gerenne um die jeweilige feste »Tanzstundendame« über meine spitzen schwarzen Schuhe zu stolpern und nur noch eine zu ergattern, die mich um fast eine Handbreit überragte. Das trug mir Gram, Scham und schlaflose Nächte ohne Ende ein. Schließlich war es aber nicht mehr länger aufschiebbar, sich auch mal einen richtigen Kuß zu geben, nicht nur Komplimente. Zu diesem Zwecke wußte ich es immerhin beim Spaziergang durch die Karlsaue so einzurichten, daß wir zufällig hart neben einem Baumstumpf verzückt innehielten und unser sittsames Händchenhalten unterbrachen. Schon hatte ich den Baumstumpf erklommen und zog die Braut mehr vor Angst als vor Begierde zitternd an mich. Ihr Name fällt mir, ehrlich gesagt, beim besten Willen nicht mehr ein. Erfreulicherweise bestand sie später nicht darauf, mich nach dem Küssen auch noch zu heiraten.
~~~ Als ich mich gegen 2000 als Erzähler versuchte, litt ich eine Zeitlang daran, keinen Roman zustande zu bringen. Ohne Roman wird noch zur Stunde kaum ein Nachwuchsschriftsteller wirklich ernst genommen. Dabei kommt es freilich am wenigsten darauf an, was die Talente wie in ihrem Roman zu sagen haben. Der Umfang macht es. Der Markt will »Lesefutter«. Die LeserInnen erwarten für ihre 19,80 Euro einen Text, der sie mindestens 21 Abende lang noch für ein halbes Stündchen zwingt, die Augen offen zu halten. Zum Glück ist der Mensch mit Neugier und der Entschlossenheit geschlagen, nie die Hoffnung aufzugeben. So quält er sich durch den ganzen Wälzer und hofft noch auf der vorletzten Seite, jetzt käme endlich das, was ihm die Werbung versprochen hat.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 16, April 2024
Das Hochhaus ist ein vertikaler Zwitter, nur nicht so preiswert und ungefährlich wie das bekannte Mittagsmahl Himmel und Erde. Es gehört zugleich der Sphäre Bodenspekulation (Grundstückspreise!) und der Sphäre Größenwahn an. Von beiden Gesichtspunkten zeigt sich die Spalte im Brockhaus so gut wie unbeleckt. Immerhin erwähnt er die »repräsentativen« sogenannten Geschlechtertürme in Städten des italienischen Mittelalters und teilt außerdem mit, der Ausdruck »Skycraper« (Wolkenkratzer), für mich geradezu genial, sei um 1880 in den USA aufgekommen. Einige schnödere Probleme des Hochhausbaus opfert er der Platznot, wenn nicht seiner Kurzsichtigkeit. Sie werden beim »Experten« Dirk Meyhöfer (geb. 1950) angedeutet, obwohl er offensichtlich ein Fan von Hochhäusern ist.* Mit dem Architekten Werner Sobek weist er etwa auf die heiklen Fragen des Wasserdrucks in den Versorgungsleitungen, der Koordination der Aufzüge für Legionen von BewohnerInnen, allgemeiner auf den hohen Energieverbrauch, schließlich auf Windböen hin. Ein 800 Meter hohes Gebäude könne unter Umständen eine Auslenkung von einem Meter und mehr haben.
~~~ Natürlich bleibt auch nicht aus, daß der studierte Architekt und Stadtplaner Meyhöfer die WTC-Doppeltürme von New York City, damit die politische Sphäre streift. Sie seien 2001 »als Machtsymbole des kapitalistischen Westens von Terroristen mit entführten Flugzeugen zerstört« worden. Ich kenne einige andere Experten, möglicherweise etliche Tausend, die es für unmöglich halten, solche Wolkenkratzer durch Flugzeuge oder gar durch Bürobrände zum nahezu senkrechten Einsturz zu bringen. Den zeigen ja die vorhandenen Filme. Somit bleibt eigentlich nur die Sprengung. In der Tat stürzte damals auch der benachbarte Turm WTC 7 ein, obwohl er noch nicht einmal von einem blinden Geier getroffen worden war. Meyhöfer kann dem Vogel glatt die Hand reichen.
~~~ Mag in der Hochhausbranche auch um jeden Quadratzentimeter Grundstück gefeilscht werden – in der Höhe scheut man keine Kosten. Und die Kosten für solche kühnen, anfälligen Gebäude, die inwischen schon 400 bis 900 Meter messen, dürften, volkswirtschaftlich betrachtet, riesig sein. Aber das Volk findet es in Ordnung. Auch Meyhöfer verliert über diesen Gesichtspunkt so gut wie kein Wort. Dafür versichert er, rein theoretisch seien inzwischen sogar 2.000 Meter hohe Häuser kein Problem mehr. Nur müsse es vielleicht doch nicht unbedingt sein. Er nennt gemischte oder alternative Konzepte des Städtebaus – die Städte selber, als immer ausgedehntere, furchteinflößende Zusammenballungen, kratzt er mit keinem Komma an.
~~~ Mit den Flugzeugen drängt sich noch ein Gesichtspunkt auf, den ich neulich in meiner kleinen Betrachtung über Türme vernachlässigt habe. Allerdings steckt er in meinen Bemerkungen zur ungehemmten Verkleisterung von Hauswänden, Friedhofsmauern, Alleebäumen und so weiter, siehe bei Bedarf im Register unter »Raum, Öffentlicher«, so mein Stichwort. Nun geht es um die unbedenkliche Beschlagnahme des Luftraums. Meines Wissens gibt es keine eingetragene bundesdeutsche Partei, die in ihrem Programm davor warnte. Der Luftraum scheint den Bürgermeistern, den Staatsministern und selbstverständlich der Industrie zu gehören, die sich beispielsweise an Windrädern, Hochhäusern und am gesamten Luftverkehr eine goldene Nase verdient. Über meinem Häuschen kreuzt alle paar Wochen ein wohl aus Gotha kommender Hubschrauber auf, der anscheinend mit Nachwuchspiloten Nachtflug trainiert. Es ist jedesmal die Hölle, 20 bis 30 Minuten lang. Gegen Friedrichswerth (im Norden) bietet sich mir beim Radausflug eine langgestreckte Anhöhe dar, die mit Dutzenden Windrädern gespickt ist. Der ekelhafte Anblick weckt den Fluchtinstinkt, doch die BetreiberInnen versichern mir, wenn ich stets 150 Meter Abstand hielte, würde ich nicht vom Sattel geblasen. Hätte ich den routierenden Schatten eines solchen riesigen Masten in meinem Garten auszuhalten, würde ich mich mit verzweifelten Hechtsprüngen zu meinen Maulwürfen in die Erde eingraben. Aber der amtliche Irrsinn der Väter und Mütter unserer Unmengen an Energie verschlingenden Großstädte hat Methode. Sie ruhen erst, wenn die »Skyline« ihrer Städte keine Lücken mehr aufweist, also einem erdballumspannenden Nagelbrett für die fürs Sonnensystem zuständigen Fakire Gottes oder des Satans gleicht.
~~~ 15 Seiten weiter macht uns Brockhaus mit der südungarischen Zungenbrecher-Stadt Hódmezővásárhely bekannt, 5 ½ Zeilen. 1987 habe sie 54.000 EinwohnerInnen aufgewiesen. Dabei war sie im 18. Jahrhundert von den Türken zweimal zerstört worden! Vielleicht hätte man den Türken dafür einen Umweltschutzpreis verleihen sollen. Das wollten die Ungarn aber nicht – sie bauten die Stadt immer wieder auf. Allerdings gibt es noch Hoffnung. Laut englischer Wikipedia hat die Stadt inzwischen 44.000 EinwohnerInnen, folglich schon 10.000 weniger.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* Dirk Meyhöfer am 23. Oktober 2022: https://www.deutschlandfunk.de/hochhaeuser-megahaeuser-high-rises-zwischen-himmel-und-erde-100.html
Siehe auch → David & Goliath → Fortschritt, Di (Stufenleiter) → Mammutisierung → Ruhm → Türme → Band 5 Zora packt aus, Kap. 13 (Phallokratisches)
Gudensberg → Bartas → Clandenken, Werner III. → Kinder, Mattium → Band 4 Bott
Den finnischen Schriftsteller Pentti Haanpää (1905–55) streifte ich neulich andernorts wegen seiner Solidarität mit Mücken. Ich zitiere dort aus seinem eher frühen Roman Teufelskreis, der mich, um ehrlich zu sein, nicht gerade vom Hocker gerissen hat. Vielleicht lernte er ja dann noch dazu. Petri Liukkonen behauptet*, im Hinblick auf reichen Wortschatz und sprachliche Feinheiten habe Haanpää die meisten seiner finnisch schreibenden Zeitgenossen übertroffen. Jedenfalls sind an seinem vergleichweise frühen Ende nicht die Mücken schuld. Vielmehr soll er gleichfalls am Wasser gescheitert sein – und das liegt ähnlich wie in Otto Gutfreunds Fall im Nebel.
~~~ Auf Fotografien wirkt Haanpää eher kernig wie ein Holzfäller. In der Tat verlieh er den Arbeits- und Wandersleuten Stimme, die nur an Entbehrungen reich waren. Immerhin verkniff er sich bei dieser Fürsprache die gröbsten Fanfarenstöße, warb dafür mit spröder Poesie. Im Grunde hätte Haanpää auf Thoreaus Waldensee gehört. So aber blieb er, nur unter Zähneknirschen der weiten verstädterten Welt entsagend, zeitlebens der mittelfinnischen, mit Mooren, Sümpfen und Mücken gespickten Einöde treu, wo er nahe seines Geburtsortes Pulkkila im Dorf Piippola wohnte, das später eine Schule nach ihm benannte. Seit 2009 zählen beide Dörfer zu Siikalatva, wenn ich nicht irre. Haanpääs Falle wurde der ein Stück weiter südlich, bei Pyhäntä gelegene, recht ausgedehnte See Iso Lamujärvi. An einem Freitag Ende September 1955, zwei Wochen vor dem 50. Geburtstag des halbwegs anerkannten und folglich gelesenen Erzählers, unternahm man, offenbar zu mehreren, eine Angelpartie auf dem See. Sie geriet schon insofern feucht, als man eifrig diversen Schnäpsen zugesprochen haben soll. Dann kam Sturm auf – und warf den mutmaßlichen Gastgeber, Haanpää, ins Wasser, wo er ertrank. Falls er nicht eigenmächtig gesprungen war oder gar einen versteckten Tritt von hinten abbekommen hatte.
~~~ Nach Robert Brantberg** hatte Haanpää seiner Frau Aili gegenüber Andeutungen gemacht, die zumindest einen Selbstmord nicht ausschließen, falls ich meinen Übersetzungsroboter richtig verstanden habe. Jedenfalls legt sich auch Brantberg nicht fest. Tochter Elsa, geboren 1945, kann man anscheinend nicht mehr befragen, soll sie doch (1997) ebenfalls jung, nämlich mit knapp 52, gestorben sein.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 16, April 2024
* Petri Liukkonen, http://authorscalendar.info/haanpaa.htm, Stand 2023
** http://brantberg.fi/Haanpaa%20Pentti.htm, 2009
Über die merkwürdige Person des havelländischen Malers Karl Hagemeister (1848–1933) verraten die neun Zeilen von Brockhaus keinen Hauch. Das Lexikon bildet nur ein wogendes Seestück von ihm ab. Das dürfte jedoch (1911) auf Rügen entstanden sein, während Hagemeister immer fest in der Gegend um Werder an der Havel verwurzelt blieb. Er war durch und durch Landschafter, dazu Jäger, Segler und Obstbauer. Eine kenntnisreiche Schilderung des schmächtigen Künstlers, der zum Eigenbröteln neigte, liefert der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler, der öfter zu Hagemeister aufs Land fuhr und der wohl auch an dessen spätem Ruhm mitgedreht hatte, in seinen Erinnerungen.* Die kann man überhaupt empfehlen, war Scheffler doch ein kluger Beobachter und ein ausgezeichneter Stilist.
~~~ Eine Zeitlang hatte Hagemeister mit dem geringfügig älteren Maler Carl Schuch einige Europareisen unternommen, dann auch in Werder sehr bescheiden in einem niedrigen Häuschen zusammengelebt. Der enge Freund starb aber bereits 1903. Schuch hatte noch geheiratet; bald darauf war er »gemütskrank« und in eine Heilanstalt gesteckt worden. Vielleicht deshalb: wegen der Heirat. Ob die Freundschaft mit Hagemeister vielleicht einen homosexuellen Zug hatte, verrät auch Scheffler nicht. Um 1912 nahm sogar der halbwüchsige Prinz Friedrich Leopold von Preußen bei Hagemeister Unterricht – und der soll durchaus homosexuell gestimmt gewesen sein. Aber das beweist natürlich wenig. Scheffler meint, Hagemeister habe sich in dieser vorübergehenden Lebensgemeinschaft eher in einer mütterlichen, dienenden Rolle gefallen. Er kochte, schoß Enten, besorgte Leinwand und Farben, griff in die Ruder – alles dem kränklichen und nervösen Freund Schuch zuliebe. Von Sex ist nicht die Rede, aber von Texten. Hagemeister in einem Brief an Scheffler: »Ich habe eine gute Gewohnheit, die darin besteht, schon zum Kaffee etwas Gutes und Schönes zu hören. Es stammt diese Gewohnheit aus der Zeit, wo ich mit Schuch zusammen war. Jeden Morgen hatten wir ein Gespräch, oder er übersetzte mir etwas, einen Brief von Millet oder anderes. So waren wir des morgens schon freudig zur Arbeit gestimmt … Es trifft sich oft, daß man kurze Abhandlungen, ein paar Seiten findet, die, zur Naturstimmung hinzukommend, einem den ganzen Tag zum frohen Schaffen werden lassen.«
~~~ Wie auch immer, scheint Hagemeister »nach Schuch« stets »Junggeselle« geblieben zu sein. Überdies, so versichert Scheffler, sei er auch dann, als Ruhm und Rubel an den Schwielowsee rollten, seiner anspruchslosen Lebensführung treu geblieben. Just um 1912 hatten sich plötzlich die Berliner KunsthändlerInnen um ihn gerissen. Zwar legte er den neuen Geldsegen gut an, doch die Inflation um 1922 fraß diese Beute trotzdem. Hagemeister klagte und verbitterte freilich nie. Er wurde stolze 85, obwohl ihn im Alter Krankheit heimsuchte. Immerhin konnte er sich mit Genugtuung sagen: Jetzt stehst du im Lexikon und die Dorfleute gehen nicht mehr an dir vorbei, als seist du eine Vogelscheuche. Sie sagten jetzt »Herr Professor« zu ihm, denn dazu hatten ihn die Berliner Kreise um Prinz Leopold, wie ich annehme, ernannt.
~~~ 1890 oder 91 war übrigens ein anderer junger Maler am Schwielowsee zu Schaden gekommen. Diese Episode streift Scheffler erstaunlich unsentimental. Leider nennt er keinen Vornamen. Es war im Winter, und »der junge Frohberg«, ein Lieblingsschüler des Berliner Kunstgewerbeschullehrers Max Koch, sei mit ein paar Freunden zum Eislaufen herausgekommen. Hagemeister, erfahrener Wetterfrosch, riet dringend ab. Sie hätten seine Warnung jedoch in den Wind geschlagen. Prompt brach Frohberg ein und ertrank.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 17, April 2024
* Karl Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre, Leipzig / München 1946, S. 106–18
Hände
In der aufschlußreichen Broschüre Puppen und andere Spielwaren aus Waltershausen von 1986 hat mich ein Foto aus der hiesigen größten Puppenfabrik besonders belustigt. In dieser aus rotem Backstein gemauerten Fabrik hausen seit 2003 Kommunarden. Damals jedoch liefen dort noch die berühmten biggi-Puppen vom angeblich volkseigenen Band. Eine gutgepolsterte, wuschelköpfige Dame im geblümten Kittel zieht ein Schmollmündchen, während sie aus ihren Kulleraugen den gleichfalls dunkelhaarigen Puppenkopf begutachtet, den sie in Händen hält. Ein Bewunderer textet: »Die Meisterin vom Montageband – sieht sie nicht wie ihre Puppen aus?«
~~~ Ja, das könnte bald unser aller Schicksal sein: zu Puppen zu mutieren. Aber ich will nicht gleich zu allgemein werden. Hoffentlich lebt die Meisterin nicht mehr, denn ich muß ihr zudem Wurstfinger bescheinigen. Dafür kann sie allerdings nichts. Zur Strafe hat der Zufall auch mich mit den falschen Händen ausgestattet. Das wäre also, nach der Singstimme, schon wieder ein körperlicher Makel an mir. Jedenfalls passen meine Polstererpranken nicht gut zu dem ganzen Rest. Für KlavierspielerInnen-hände würde ich meine Spanische Gitarre verkaufen. Aber sie sind selten. Bölls Hans Schnier – ein gitarrespielender Clown – bescheinigt Männerhänden allgemein die Beschaffenheit angeleimter Holzklötze. Zu allem Unglück sind Hände auch noch verteufelt schwer zu malen, wie sich bei jedem Rundgang in einer Gemäldegalerie überprüfen läßt. Das Wiener Kunsthistorische Museum hat zum Beispiel ein Porträt zu bieten, das der Niederländer Anthonis Mor 1549 anfertigte. Weit entfernt, Holzklötzen zu ähneln, hängen die Hände des dargestellten Herrn Antoine Perrenot de Granvelle an seinem schwarzen Rock herab wie plattgeklopfte Euter von Zwergziegen. Von solchen Witzfiguren mußten sich Mor und Kollegen aushalten lassen! Besonders bedauernswert sein spanischer Kollege Bartolomé Esteban Murillo, der sein hübsches Gemälde Buben beim Würfelspiel verdarb, indem er die Buben mit Krallen statt Händen ausstattete. Das um 1670 geschaffene Werk hängt in der Münchener Alten Pinakothek. Angesichts dieser Mißgeburten an den Ausläufern unserer Arme verfuhr Welskopf-Henrichs Rose des Indianerreservats Queenie King nur folgerichtig, wenn sie ihren zudringlichen angesoffenen Nachbarn Harold Booth mit dem Messer an ihre Hüttenwand nagelte: durch die Hand gestochen. Er hätte sie andernfalls vergewaltigt.
~~~ Um auch ein »positives« Beispiel, also eine gelungene Darstellung von Händen anzuführen, will ich ein Werk des schwedischen Malers und Kunstschriftstellers Sven Richard Bergh erwähnen, das mir in meinem Brockhaus (Band 3 von 1987, S. 120) aufgefallen ist. Das Gemälde von 1886 zeigt Die Frau des Künstlers – wohl Helena Maria Klemming (1863–89). Die Ärmste, so hübsch sie auch war, wäre also ebenfalls eine Kandidatin für mein inzwischen zurückgezogenes Lexikon der Frühverstorbenen gewesen. Auf dem Bild liegen ihre Hände, mit den Innenflächen nach oben, leicht gekreuzt auf ihrem Schoß, wohl im Rahmen einer Näharbeit. Ob ihr Bildner sie immer so gut behandelte, wie ihm ihre langfingrigen Hände gelangen, steht natürlich auf einem anderen Blatt.
~~~ Wichtiger als dieses eine Gemälde ist allerdings der Vorzug von Händen überhaupt. Denn daran wird neuerdings kräftig gerüttelt. Mit der Ausrufung der jüngsten sogenannten Pandemie war das bekannte – und vor allem in der ehemaligen DDR beliebte – Händeschütteln plötzlich tabu. Das muß man sich einmal klarmachen! Durch Jahrtausende hinweg waren Hände ein auszeichnendes Instrument oder Symbol menschlichen Vermögens und Sichverbindens. Der »Handschlag« besiegelte sogar Verträge. Das »Handauflegen« heilte; zuweilen be- oder verzauberte es auch. In der Puppenfabrikkommune war es selbstverständlich, sich bei feierlichen Anlässen, im Kreise, bei den Händen zu halten. Durch die Hände verströmt und vermischt sich das Leben. Jetzt sollen wir aber tot sein.
~~~ Der letzte Satz ist vielleicht zu verwaschen. Gewiß wünschen uns die großen DrahtzieherInnen leblos wie Puppen oder Marionetten, aber das dient gerade der Abschaffung des Todes. Als Puppen, Computermäuse oder Schaltkreise sind wir unsterblich. Damit spiele ich auf den Zusammenhang mit weiteren Abschaffungen an, denen wir seit einigen Jahrzehnten beizuwohnen haben. Meines Erachtens ist er offensichtlich. Abgeschafft werden: die Nähe, das Herzliche, das Körperliche, der Raum, die Gestalt und dergleichen mehr. Alles, was sich nicht zeitlich, nämlich digital, erfassen und steuern läßt, wird abgeschafft. Diese Warnung, »Zeit frißt Raum!«, predige ich seit Jahren. Mit der Gestalt wird übrigens auch die Melodie abgeschafft, wie ich gewissen Musikern beiläufig bestätigen möchte. Nämlich: von ihnen.
~~~ Ich führe zum Abschluß noch ein anderes bedauerliches Opfer der Abschaffung des Raumes an. Es ließ sich einstmals fast so gut wie ein gediegenes Buch zur Hand nehmen. Sie erraten es? In meiner Jugend brauchte man nur eine gut gemachte, nicht zu großformatige und noch nicht mit scheunentorgroßen Bildern überladene gedruckte Zeitung aufzuschlagen – schon war der Raum, ja das Universum eröffnet. Da konnte man seine Blicke schweifen lassen und sich genießerisch für das eine oder das andere entscheiden. Versuchen Sie das einmal am Bildschirm! Sie scrollen und klicken und hüpfen wie ein Affe im Zoo. Sie steigern das Tempo, weil Sie ja sowieso keine Zeit haben. Aber gerade die uhrenhafte, absolut gleichförmige, lineare »Zeit« war es, die den gedruckten Zeitungsraum zerstörte. Der dreieinige Gott des Computers heißt Abfolge–Reihung–Durchgang. Den Glauben, auch in einer Internetzeitung könnten Sie noch verweilen oder in Vergangenes tauchen, werden Ihnen spätestens die Laufzeilen und Schilder über das gerade »Neuste« rauben, die den Bildschirm und Ihre Stirn unablässig mit Zecken spicken. Durch seine hartnäckige ständige »Aktualisierung« wird Ihnen der Webmaster der Internetzeitung das Denkvermögen aus dem Hirn saugen und Ihnen dafür das Gefühl einimpfen, alles sei gleichermaßen wichtig wie belanglos. Das ist die ideale Grundlage für das Mitwirken der Schafsköpfe zu Hause an der Politischen Willensbildung und den Staatsgeschäften. Es beläuft sich aufs Glotzen.
∞ Verfaßt 2022
Handschrift → Angst, Pulver Max
Handwerk
Der Klavierhimmel funktioniert --- Mein Chef sieht mich an und nickt zur Kaminecke. Dort haben wir in Kopfhöhe den Wickler des Schnurzugs gesetzt. Ich löse die Schnur. Unterdessen blicken mein Chef und die Dame des Hauses gebannt zur Salondecke, wo der bis dahin gebündelte Klavierhimmel schaukelt. Nun entfaltet er sich, während ich vorsichtig Schnur nachgebe, bis er in eleganter, leicht gewellter Ausladung über dem spiegelnd schwarzen Bösendorfer-Flügel zur Ruhe kommt. Der Klavierhimmel funktioniert.
~~~ Mein Chef ebenfalls, denn er läßt sich sein Aufatmen nicht anmerken. Aus »gecrashter« Seide genäht, scheint sich mit unserem Klavierhimmel die Haut eines Pfirsichs unter der beigen Salondecke zu kräuseln. Meinem Chef winkt ein Scheck über rund 700 Euro aus ihm. Die Dame des Hauses drückt ihr Entzücken durch einen geschmackvollen Aufschrei aus und ruft dann nach »Debbi«, um sie erneut auf den Klavierschemel zu komplimentieren. Für ihre 19jährige Magerkeit trägt Tochter Deborah die Nase erstaunlich hoch. Während sie hämmernde Kadenzen aus Liszts Faust-Sonate wiederholt, schlendern wir zu dritt durch die Zimmer und Geschosse der alten Jugendstilvilla, die sich zum Lobpreis der 450 Euro, die hier ein Quadratmeter Erde kostet, südlich von Darmstadt über der Bergstraße erhebt. Dabei halten mein Chef und seine Stammkundin immer wieder inne, um ihre Ohren zu spitzen. Jedesmal nicken sie sich einverständig zu: es klingt jetzt viel gedämpfter! Das nämlich war der Zweck der Erfindung.
~~~ Ich trotte hinter den beiden her, sage mir, Einbildung sei auch eine Bildung, und lasse meine Blicke über allerlei alte Bekannte schweifen: Sofas oder Sessel, die ich eigenhändig bezog. Allerdings sind sie mit sogenannten Hussen (Häusern) bekleidet. Es handelt sich um abnehmbare und der Reinigung fähige Schonbezüge, die recht schwierig zuzuschneiden und zu nähen und entsprechend teuer sind. Hier stehen sie den eigentlichen Bezügen der vielen erlesenen Polstermöbel an Kostbarkeit kaum nach. Und da doppelt mehr hermacht, ließ die Dame des Hauses auch die Hussen noch verdoppeln. Solange die mächtigen Bäume in ihrem Bergpark draußen noch kahl sind, weisen all die Sofas und Sessel die Hussen mit der winterlichen Ausstrahlung auf. Die anderen, die fürs Empfinden der Dame des Hauses den Sommer atmen, liegen frisch gereinigt in der Wäschekammer, um ihrer Wiederauferstehung an Ostern entgegen zu sehen.
~~~ »Laßt sie doch!« hatte sich der Chef die Hände gerieben, als er seinen Leuten den Hussen-Auftrag erläuterte. »Davon leben wir schließlich. Am besten, ich schlage ihr demnächst auch noch Hussen für gute und für schlechte Laune vor …«
~~~ Das war ohne Zweifel hübsch gescherzt. Jetzt finden wir uns wieder unter dem neuen Klavierhimmel ein, um unser Werkzeug zusammen zu räumen. Debbi hat sich bereits zurückgezogen. Der Deckel des Flügels steht schräg. Auf dem Couchtisch liegt das Darmstädter Echo. Zum Weihnachtsfest hatte das Blatt wie immer einen Spendenaufruf erlassen, um ein paar arme alte Leute mit warmen Socken und einer Dauerwurst erfreuen zu können. Ich wüßte sie unter einem schönen Klavierhimmel zu bewirten. Wenn sie mal müßten, könnten sie dies, mit den Beinen baumelnd, auf dem Rand eines echten Bösendorfers tun.
~~~ Die Anekdote deutet schon an: als Raumausstattermeister, Restaurator und Schmeichler ist mein Chef ein As. Entsprechend erfreut er sich eines zahlungskräftigen Kundenkreises. Die Bergstraße ist dafür das geeignete Pflaster. In jeder zweiten Villa sitzt ein hohes Tier. Als die 17jährige Tochter eines Merck-Managers (Pharmazie), die bei klarem Wetter die Türme des Wormser Doms hätte zählen können (sechs), vom Grufti-Ruf ereilt wurde, schwärzte sie eigenhändig ihre Zimmerwände, fand aber erst Ruhe, als wir auch die Heizkörper umlackierten und schwarze Innenjalousien anbrachten. Die Fensterscheiben zu streichen, wäre lohnkostengünstiger gewesen. Ein Dr. Soundso, der nach Feierabend bevorzugt in einem von mir restaurierten Napoleon-III-Armlehnstuhl aus Nußbaum sitzt, ist Vizepräsident der Frankfurter Bundeszentralbank, wohnt allerdings im Grünen. Da heißt es sich vorher stets kämmen, denn auch dort hängen Überwachungskameras.
~~~ Der Erfindungsreichtum meines Chefs erweist sich gleichermaßen verblüffend am Werkstück wie auf Kundenfang. Jetzt hat er mit Maler P. eine gemeinsame »Vernissage« auf dessen verwunschenem Mühlengrundstück ausgeheckt. So karren wir am gewählten Juniwochenende mit unseren Lieferwagen Antiquitäten und Dekorationen im Wert von rund 100.000 Euro in den Odenwald, um damit des Malers Bachufer, Kräutergarten, Hofpflaster, Scheune zu verzieren. Während sich ein zebraartig bezogenes »Hirschsofa« vom Bootssteg aus auf die gelben Teichrosen zu stürzen droht, schaukeln in den Eschen bunte Kissen und Tapetenbahnen wie Papageien. Unter der Hoflinde demonstriert Geselle R. die »Pikierung« eines Stuhlpolsters mit Roßhaar. Die an der Landstraße aufgefädelten Limousinen der steinreichen Kunden lassen gerade noch die Lokalpresse vorbei.
~~~ Der eher stümpernde Maler entpuppt sich als begnadeter Tenor, in dessen Atelier das Klavier nicht zufällig auf dem Podest steht. Es kommt sogar ohne Klavierhimmel aus. Nun zieht der Maler, von einem geschulten Gast begleitet, mit betörendem Silberklang die Müllerinnen oder Monde aus dem Schubert. Alle Rotkehlchen werden vor Neid ganz gelb. Unsere Chefin schlägt ihre Augen dankbar zum Abendhimmel, weil Gott an diesem Tag nicht eine Träne der Rührung vergoß. Er segnete ausgefallene Geschäftsideen schon immer.
∞ Verfaßt um 2000, stark gekürzt
Das Zählen ist der einzige irdische Bereich, in dem die Menschen immer und stets problemlos zu Übereinstimmung kommen. Hebe ich meine gespreizte Hand, zweifelt niemand daran, daß sie fünf Finger besitzt. Betreibe ich, wegen der Pelze, eine Siebenschläferfarm, werde ich mich selbst mit einem Inspektor des Landwirtschaftsministeriums (das mich subventioniert) darauf einigen können, ich hielte in meinen Käfigen derzeit 496 Tierchen, denen ich früher oder später das Fell über die Ohren zu ziehen gedächte.
~~~ Allerdings muß die Voraussetzung einer klaren Eingrenzung oder Definition der zu zählenden Objekte gegeben sein. Eine Zaunlatte ist eine Zaunlatte, das weiß jeder – somit zählen wir an Ihrem Garten 187 Latten. Auch bei dem Inspektor und mir dürfte gesichert sein, daß wir unter »Siebenschläfern« dieselbe Tierart verstehen. Heikel wird es mitunter bei Demonstrationen. Die AnmelderInnen und die Polizei kommen beim Zählen der TeilnehmerInnen oft zu unterschiedlichen Ergebnissen, weil AusländerInnen und Großmütter für die Polizei nicht unter die Demonstranten, vielmehr unter die Abschiebekandidaten der betreffenden Stadt fallen. In Stuttgart müssen besonders viele AusländerInnen und Großmütter leben, wie sich im Herbst 2010 bei den massenhaften Protesten gegen das Bahn- und Wahnprojekt S 21 zeigte: die Polizei zählte sie nie mit.
~~~ Eine Erklärung der Wurzeln des Zählens wie auch seiner Verläßlichkeit ist mir in noch keinem klugen Buch begegnet. Sollten sie als ähnlich selbstverständlich erachtet werden wie das Zählen selbst? Ich nehme an, sie stecken in unserem Körper, der sich vor einigen Hunderttausend Jahren zum Aufrechten Gang entschlossen hat. Die erste Eins sind wir. Betrüblicherweise können wir uns sogar einsam fühlen, wenn wir inmitten einer Horde leben. Die Horde besteht aus 25 oder aus knapp sieben Milliarden Einzigartigen, je nach dem. Damals, als es noch eher 25 waren, fing die Sache mit der Abgrenzung und dem Mehr an. Die Freunde mußten von den Feinden unterschieden werden; die Jagd vom Ackerbau; der Krieg vom Frieden. Zählen verliest: »die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen«, wie es in einem bekannten Märchen heißt. Was überwiegt? stand jetzt die Frage. Welche Seite ist stärker? Nicht nur Linsen, auch Tote und Nochwehrtüchtige können ja gezählt werden.
~~~ Wie Roger Caillois in seinem gut 50 Jahre alten Klassiker über Die Spiele und die Menschen andeutet, fielen die Zahlen nicht gleich so brutal vom Himmel oder von den Pyramiden, wie sie uns im Kapitalismus zusetzen. Die ersten Pythagoräer hätten beispielsweise noch konkrete Zahlen benutzt. Diese Zahlen besaßen Form und Gestalt, etwa von Dreiecken oder Achtecken. Außerdem hätten ihre Zahlen Sequenzen gebildet, »die durch die Beziehung der drei musikalischen Hauptakkorde beherrscht wurden. Schließlich waren sie mit unterschiedlichen Kräften begabt. Die 3 entsprach der Ehe, die 4 der Gerechtigkeit, die 7 der Gelegenheit …« Noch heute wittern die Siebenschläfer jede Chance, eine kostenlose Unterkunft bei einem Menschen zu finden, den sie terrorisieren dürfen. Was die Zahlen verschärft, ist ihr Abstraktionsgrad. Der Nato-Bomberpilot, der dem libyschen Volk die Freiheit bringt, bekommt die verbrannten oder fehlenden Gesichter der 27 Toten, die er auf dem Gewissen hat, nie zu sehen. Für ihn sind sie Statistik.
~~~ Die Unangefochtenheit des Zählens ist umso bedauerlicher, als das Zählen in einer nichtkapitalistischen Gesellschaft völlig überflüssig wäre. Wird nicht mit dem Ziel produziert, zu tauschen und aufgrund dieser Transaktion einen Gewinn zu erzielen – was sollte ich da noch zählen? In einer egalitären Gesellschaft (die kein Privateigentum an Produktionsmitteln kennt) wird geteilt statt getauscht. Der Gedanke des Äquivalents (für die drei Siebenschläferpelze erwarten wir sieben Pfund Kirschen) ist ausgestorben. Selbst für die Planwirtschaft, die DDR-BürgerInnen genossen oder verwünschten, hat die egalitäre Gesellschaft keinen Bedarf. In jener waren das Zählen und das Züchtigen selbstverständlich unverzichtbar. Wer die Pläne gestaltet und verwaltet, beherrscht die Menschen.
~~~ Die Menschen, wie sie sich unsereins erhofft, nehmen ihre Belange in die eigenen Hände und peilen »Bedarf« über den Daumen an. Sie sind bescheiden, umsichtig, großzügig, hilfsbereit. Mangelt es in einem Jahr an Kirschen, geben sie sich mit Kartoffeln zufrieden. Geht der benachbarten Lebensgemeinschaft der Traktor kaputt, kommen sie entweder mit ihrem eigenen Traktor oder in Kompaniestärke angerückt, um die Kartoffellese zu gewährleisten. An wessen Tisch in der Arbeitspause Streuselkuchen gegessen wird, und wer diesen Kuchen gebacken hat, ist unwesentlich, denn allen gehört alles. Das Zählen ordnet zu. Das Zählen spaltet. Es ist die furchtbare Waffe der Eigennützigen.
∞ Verfaßt 2011
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