Dienstag, 7. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 15
Geschlechter, Zäunemann – Graf Emma + OM

Verbiete ich mir, die thüringische Lyrikerin Sidonia Hedwig Zäunemann (1711–40), im Gegensatz zu Brockhaus, zu übergehen, habe ich sicherlich schon wieder ein paar Pluspunkte aus dem feministischen und dem landsmännischen Lager eingefahren. Die Tochter eines Erfurter Juristen lebte bis zuletzt in ihrem Elternhaus. Sie blieb unverheiratet. Sie las viel, lernte Fremdsprachen und schmiedete deutsche Verse, angeblich auch gegen den Kerker der Ehe. Ob sie sich überhaupt etwas aus Männern machte, verrät keiner. Die Unterstellung einer erstaunlich frühen »feministischen« Haltung scheint aber nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein. Obwohl sich Zäunemann in ihren Dichtungen manchen zeitüblichen »Schwulst«, viel Moralisieren und einige Weitschweifigkeit geleistet habe, kam sie bereits dem Historiker Woldemar Lippert (ADB 44 von 1898) »fast als Vorläuferin der modernen Frauenbewegung« vor. Andererseits war sie unverhohlen fromm und zollte sowohl Gott wie dem Adel Respekt. Für viele jüngere Quellen leuchtet Zäunemanns Frühfeminismus hauptsächlich daraus hervor, daß sie ein Ilmenauer Silber-Bergwerk besichtigte (und prompt bedichtete) und daß sie öfter ritt – dies »natürlich« in Männerkleidung. Beides war ja damals für Frauen in der Tat unüblich. Ich nehme an, Zäunemanns Pferden blieb die bittere Last eines gar zu wogenden Busens erspart, was der Tarnung nur entgegenkam. Den Besuch untertage hatte ihr Schwager Gottfried Polycarp Kunad ermöglicht, »Bergamtsphysikus« in Ilmenau, einer Stadt am Nordfuß des Thüringer Waldes. Vielleicht war auch schon ein gewisser Herr Goethe aus Weimar im Spiel, der damals die Bergbau-Kommission des Herzogtums leitete. Ohne dessen Wohlwollen hätte die »Zäunemännin«, so der zeitgenössische Spottname für sie, jedenfalls als Lyrikerin nicht so bald Anerkennung gefunden – oder nie, bedenkt man den frühen Tod der 29jährigen.
~~~ Nüchtern festgestellt, wurde die Zäunemännin von den Wogen der Zahmen Gera verschlungen. So heißt der Erfurter Hausfluß in der Gegend bei Angelroda. Die Zäunemännin war am betreffenden Wintertag per Pferde zu ihrer verheirateten Schwester in Ilmenau unterwegs. Das waren immerhin rund 30 Kilometer gen Süden. Nun schritt sie bei Angelroda daran, eine vom Hochwasser beschädigte Brücke zu nehmen, was sie wahrscheinlich übersah. Dabei stürzte sie in die kalten Fluten. FemBio meint zu wissen, auch das Pferd sei durch diesen Absturz ertrunken. Zäunemann hatte es ja gesagt: »Der Ehstand ist ein schwarzes Meer, worein viel trübe Wasser fließen; / Er ist ein herb- und bittrer Kohl. Kan ihn ein beißend Salz versüßen?«
~~~ Christoph Schmitz-Scholemann behauptet allerdings, sowohl die genauen Unfallumstände wie der Zustand der betreffenden Brücke seien gar nicht überliefert.* Man habe die Leiche erst am Abend gefunden – wo genau, verrät aber auch er nicht. Und das Pferd übergeht er sowieso. Dafür taucht es bei Jürgen M. Paasch auf. Für den war die Brücke ein »Holzsteg«, der unter dem Paar aus Erfurt nachgegeben habe. »Ross und Reiterin werden vom Fluss weggerissen …« Zäunemanns Leichnam sei erst anderntags, am 12. Dezember, entdeckt worden, und zwar »an den Ufern der Zahmen Gera am Fuß des Neusisser Berges«. Genauer gehts vielleicht gar nicht. Dafür hielt es Paasch für überflüssig, den Verbleib de Pferdeleiche mitzuteilen und seinen Artikel mit einem Datum versehen zu lassen.** Vermutlich entstand er nach 2000.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
* Christoph Schmitz-Scholemann, https://www.deutschlandfunkkultur.de/dichterin-sidonia-hedwig-zaeunemann-eine-der-mutigsten.932.de.html?dram%3Aarticle_id=339460, 11. Dezember 2015
** Jürgen M. Paasch, http://www.literaturland-thueringen.de/artikel/sidonia-hedwig-zaeunemann-in-thueringen/, o.J.

Siehe auch → Angst, Weininger (Philosoph) → Automobilisierung, Fischer (Poltikerin) → Atria (Mafia) → Chaoui (Pilotin) → Degenhardt Zündschnüre → Erziehung, Schweinsblaseninsel → Kapp Gottfried + Luise → Kreuder Irene + Kreudertee → Němcová Božena → Rechtschreibung, Ihr tut mir Leid / Schuläden (Grammatik) → Scheele Meta (Krieg) → Schwarberg (Hillary Clinton) → Snooker, Shot to nothing (männlicher Zug) → Stifter Adalbert (+ Juliane) → Welskopf (DDR) → Band 4 Bott Gardon (Gudrun) + Egge Kap. 6–8 (Mütter, Klüfte, S. Zweig) → Band 4 Düster, Frisch gestrichen, Kap. 6 (Vergewaltigung)




Gesundheit

Wie ich schon wiederholt angedeutet habe, geht mir der beliebte Glaube an »Willensfreiheit« seit langem ab. Mit den völlig undurchsichtigen Umständen unserer Geburt wählen wir nämlich auch unser Gehirn und unseren Willen nicht, sei er stark oder schwach oder elastisch wie ein Autoreifen. Auch die angeblichen »Spielräume«, die er uns gewährt, sind somit aufgezwungen. Wer diese Absage widerlegen kann, den möchte ich einmal sehen. Allerdings wäre sie in ihren praktischen Folgen recht problematisch, vielleicht sogar verhängnisvoll. Zunächst läuft sie ja offenkundig sowohl in moralischer wie in juristischer Hinsicht darauf hinaus, niemanden mehr wirklich zu verurteilen. Denn »er kann ja nichts dazu«. Ich glaube beinahe, einen solchen Verzicht könnte die Gesellschaft als Gewinn verbuchen. Gewiß muß sie sich vor Gewalttaten schützen – aber sie muß die sogenannten TäterInnen keineswegs strafen. Weder Verbote noch Strafen haben jemals die Welt verbessert, ganz im Gegenteil. Sperrt man in einem Dorf der anarchistisch verfaßten Mollowina randalierende Jugendliche in einen Weingutskeller, dann nur aus den erwähnten Schutzgründen. Solche Gesellschaften sind »trocken« – ohne Rachedurst. Zeigen die festgesetzten Jugendlichen keine Einsicht in ihre Verfehlung und verweigern auch jede Wiedergutmachung, kann man sie nur zum Teufel jagen. Schickt sie nach Deutschland.
~~~ In einer gespaltenen und »flächendeckend« verdummten Gesellschaft wäre mit meiner Absage an »Willensfreiheit« zahlreichen Bösewichten, Faulpelzen und Windbeuteln in der Tat ein Freibrief ausgestellt. Sie könnten sich bei allen Schandtaten oder auch nur Fahrlässigkeiten darauf zurückziehen, sie seien lediglich ihrem Naturell gefolgt. Ich beschränke mich jetzt auf die Fahrlässigkeit. Kfz-Mechaniker-Lehrling Christian Kandlbauer (1987–2010) aus der Steiermark fühlte sich 2005 zu einer »Mutprobe« gedrängt, erklomm einen Strommasten und verbrannte sich in luftiger Höhe beide Arme. In der Folge versah ihn die Gesundheitsindustrie unter beträchtlichem volkswirtschaftlichem Aufwand mit zwei Armprothesen. Die eine Prothese war per Muskelkraft durch den Armstummel steuerbar, die andere wurde, über Nervenbahnen, unmittelbar von Kandlbauers Gehirn gesteuert. Der Passiv ist hier keineswegs unangebracht; schließlich hatte sich auch Kandlbauer schon sein Gehirn nicht ausgesucht. Er war bereits eine halbe Maschine gewesen – und jetzt war er fast eine ganze. Durch die Kunstarme konnte er als Lagerist arbeiten und sich auch einer anderen weltweit beliebten Prothese wieder bedienen, nämlich mit dem eigenen Auto zur Arbeit fahren. Nur glücklich war er offenbar nicht. 2010 fuhr sich der knapp 23jährige bei Leitersdorf (Bezirk Hartberg) mit seinem Subaro an einem Landstraßenbaum tot.* ZynikerInnen hielten Kandlbauers Gehirn den Verzicht darauf zugute, den Subaro in einen anderen Wagen oder in ein Benzinlager zu steuern. Oder hatte womöglich schon jemand oder etwas von außerhalb die Befehle gegeben?
~~~ Mit meiner Wende zur Technik dürfte sich die Ah-nung erhärten, Verantwortungslosigkeit zeichne durchaus nicht anarchistische, vielmehr gerade kapitalistische Gesellschaften aus. Bekanntlich arbeitet unsere neuartige »Bewußtseinsindustrie« schon sehr zielstrebig und selbstverständlich auch sehr gewinnbringend an der Überwindung der berüchtigten »Schnittstelle« zwischen Mensch und Computer. Das Schlachtvieh in den USA wird längst geklont. In Berlin oder Frankfurt am Main dürften bereits Dutzende von Zweibeinern mit soundso vielen unsichtbaren, nämlich implantierten, sende- wie empfangsfähigen Geistesarbeiterwerkzeugen durch die Gegend laufen, von ihren Kunststoffkniescheiben und ihrer Spenderniere einmal abgesehen. Es wird bald schwierig werden, für einen lügenden oder amoklaufenden Bundestagsabgeordneten irgend jemanden haftbar zu machen. Jeder wird sich darauf zurückziehen können, er sei lediglich eine Marionette gewesen – aber niemand wird mehr sagen können, von dem und dem. Die Menschheit trägt zunächst Gott zu Grabe, hebt dann das Gehirn aufs Schild – und vollendet sich in der »vernetzten« Verantwortungslosigkeit.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.derstandard.at/story/1291454997204/ermittlungen-eingestellt-prothesen-traeger-kandlbauer-alles-deutet-auf-selbstmord-hin, 13. Dezember 2010



Der frühe Tod des linken Bildenden Künstlers Franz Wilhelm Seiwert (1894–1933) geht auf ein noch früheres Unglück zurück, das den Sohn eines Kölner Postbeamten ebendort mit sieben Jahren traf. Damals wurde er Opfer einer unsachgemäßen, wenn nicht sogar grob fahrlässigen Röntgenbestrahlung, die ihm schwere Verbrennungen am Kopf eintrug. Auch eine hartnäckig eiternde Wunde blieb an seinem Kopf zurück. Im Sommer 1933 erlag er, noch keine 40, den Folgen. Immerhin blieb ihm dadurch die Verfolgung als »entarteter« und linksradikaler Künstler erspart, hatte er sich doch im Laufe des Ersten Weltkrieges, zu dem er aufgrund jener Schädelwunde nicht eingezogen worden war, dem »Expressionismus«, um 1920 dann dem »Konstruktivismus« und zugleich dem Kommunismus oder Anarchismus verschrieben. Er war, bevor dieser untertauchte, mit Ret Marut befreundet, der im allgemeinen hinter dem bekannten (amerikanischen) Schriftsteller-Pseudonym B. Traven vermutet wird. Seiwert lieferte unter anderem sowohl Grafiken wie Texte für die Berliner Zeitschrift Aktion. Ende der 20er Jahre wurde er durch einige Ausstellungen und Ankäufe durch Museen sogar im Ausland bekannt. Seine »gebauten« Gemälde erinnern an zumeist bunte Glasfenster oder Holzschnitte. Und obwohl die dargestellten klobigen Arbeiter, Bürger, Polizisten als einfache, auch flache Automaten erscheinen, wirken diese Gemälde keineswegs Grusel erregend, eher belustigend oder jedenfalls gefällig. Dieser Kontrast zur eigenen Leidensgeschichte ist schon seltsam. Seiwert starb (1933) nach neuerlichen, vergeblichen Heilversuchen im Kölner Israelitischen Krankenhaus.* Ein postmodernes Auktionshaus wäre ihm vermutlich lieber gewesen. Lempertz in Köln hat unlängst einige noch verfügbare Seiwert-Gemälde für Preise zwischen rund 30.000 und 330.000 Euro losgeschlagen, pro Stück.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Seiwerts Fall illustriert erschreckende Befunde, die Gerd Reuther in seinem Buch von 2021 Heilung Nebensache auf S. 245 streift. Vor 1935 seien »Tausende von Ärzten, Forschern und Patienten« Todesopfer des kritiklosen Umgangs mit den 1895 entdeckten Röntgenstrahlen geworden, von Verbrennungen, Haarausfall und Augenproblemen zu schweigen.



Toschke, André Michael (1972–2011), deutscher Mediziner, zuletzt Professor in München. Der Nachruf* der International Biometric Society (IBS) nennt ihn schlicht Arzt und Epidemiologe. Im April 2010 sei der für vieles aufgeschlossene Mann, der bei seinen Studenten oft Begeisterung für die Epidemiologie erweckt habe, »plötzlich und schwer erkrankt«. Woran, verrät das Fachblatt nicht. Der Nachruf im ganzen läßt freilich Schlimmes ahnen – wenn nicht für Toschke selber, dann für künftige Generationen. Forscher Toschke hatte sich »drängenden Gesundheitsfragen« gewidmet. Das Methodische seiner Aufmerksamkeit übergehe ich, weil es, im Nachruf, von einschüchterndem Fachchinesisch wimmelt. Thematisch hätten seine Arbeiten um Kindliche Adipositas (krankhaftes Übergewicht) und Schlaganfall gekreist. »Er initiierte mit klinischen Partnern große Projekte zur Kinder- und Jugendgesundheit, die durch die Deutsche Krebshilfe … gefördert wurden …«
~~~ Also, woran ist der 38jährige denn nun gestorben? Nach seinem Kollegen Reuther sind die inzwischen häufigsten Todesarten Arterienverschlüsse und Krebs. Diese Erkrankungen würden »auch durch Medikamente« verursacht, behauptet Reuther. Zu Krebserkrankungen stellt er außerdem unumwunden fest, ihre deutliche Zunahme seit Beginn der Industrialisierung gehe »maßgeblich« aufs Konto von Umweltgiften, also beispielsweise Giften in Düngemitteln oder Baustoffen.** Oder sollte es in Toschkes Fall ein Schlaganfall gewesen sein, dem er noch nicht ausreichend zuvorgekommen war? An einer anderen Stelle widmet sich Reuther dem allerjüngsten Geschäftsmodell des Medizinisch-Industriellen Komplexes, das mal »Früherkennung«, mal »Vorsorge«, mal »Prävention« heißt. Die Verhütung von Krankheiten, die man gar nicht bekommen hätte, stelle einen Mißbrauch riesigen Ausmaßes dar. Durch Fahndungen, Medikamente, Impfungen, sogar Operationen gebe man vor, beispielsweise, neben Krebs, auch Herzinfarkte und Schlaganfälle zu verhindern. Wenn sich die Unwirksamkeit oder Schädlichkeit der Maßnahme herausstelle, habe sich ihr Profiteur »längst aus dem Staub gemacht«.
~~~ Nun will ich nicht ausschließen, der fahnenflüchtige Forscher Toschke habe auch durch harmlose Programme versucht, sich einen Namen zu machen. Zum Beispiel war er 2009 Mitautor des Pedriatics-Artikels »Promotion and Provision of Drinking Water in Schools for Overweight Prevention«, April 2009. Ob er eher das Wasser aus der Quelle X oder das aus der Quelle Y empfahl, kann ich nicht sagen. Möglicherweise kommt es nur darauf an, sie sprudelt.
~~~ Im Grunde ist Toschkes frühes Ableben (mit knapp 39) natürlich ein Jammer, weil er dadurch die Ausrufung der Bill-Gates-Angela-Merkel-Pandemie nicht mehr erleben und mitgestalten durfte. In meiner Stammbuchhandlung geht seit geraumer Zeit ein, sagen wir, vollbärtiger Mann einer Halbtagsbeschäftigung nach, der wie ich zu den Pionieren der hiesigen, mehr oder weniger anarchistisch orientierten Puppenfabrikkommune zählt. In dieser wohnt er nach wie vor. Als ich den Buchladen im vergangenen Sommer (2020) einmal ohne Maske betrat, weil ich ihn ja gar nicht auszurauben gedachte, verbarg er seine Befremdung mit dem Scherz, an »Maskenmuffel« dürfe er eigentlich nichts verkaufen. Also kramte ich meine Maske aus der Arschkippe und setzte sie folgsam auf. Die Krönung erlebte ich aber erst dieser Tage, als ich »schon wieder« ein pandemiekritisches Werk abholen wollte, das mir seine Kollegin bestellt hatte. Ich bezahlte und wandte mich zur Tür. Plötzlich meinte mein Ex-Genosse mit teils gequälter, teils strafender Miene: »Eine solche Lektüre kann ich natürlich nicht gutheißen, mein lieber Henner …« Dazu nickte ich nur.
~~~ Just in meiner Puppenfabrikzeit, um 2005, war ich öfter mit Texten in dem Monatsblatt für Selbstorganisation Contraste vertreten. Ich war für dieses Forum dankbar, zumal es keineswegs stümperhaft gemacht war. Aber nach 2010 ging mir zunehmend die Einreihung des Blattes in die ausgesprochen breite Querfront der KämpferInnen fürs Klima gegen den Strich. Das Faß lief im Juni 2020 über, als ich eine durchaus geschickt geschriebene Kolumne des Stammautors U. F. las. Unter dem Titel in Gänsefüßchen »Das blöde Robert-Koch-Institut« bekennt er da »viel Verständnis für die [Corona-]Maßnahmen des Staates«, pocht auf die »hohe Zustimmung« für diesselben, wie es AnbeterInnen der Mehrheit = Stärke immer tun, und schlägt den Lesern des alternativen Blattes vor, »einfach nur mitzumachen, wenn der Staat versucht, ein mehr oder weniger gelungenes Krisenmanagement zu fahren«. Nach dieser peinlichen volksgemeinschaftlichen Wegweisung hatte mich das Blatt auch als Leser verloren.
~~~ Gewiß war ich, als ziemlich konsequenter Antiautoritärer oder Anarchist, schon immer Außenseiter. Aber dann kam noch der Wahn mit dem »Klimawandel« hinzu – und neuerdings setzt der Impfwahn allem die Krone auf. Ich wüßte keine fünf Leute in meinem Bekanntenkreis, die nicht davon angesteckt wären. Man ist nahezu absolut isoliert. Die Volksgemeinschaft setzt jetzt nicht mehr die von Symptomen befallenen kranken Mitbürger in Quarantäne; sie macht es mit den kerngesunden Außenseitern. Ob ich inzwischen noch, per Eisenbahn, zu einer Gothaer oder Eisenacher Buchhandlung ausweichen könnte, wage ich zu bezweifeln: Reisekontrollen. Und die Tage, wo ich noch Brot und Käse einkaufen darf – handy- und impfpaßlos, wie ich bin, dafür ein Bargeldtrottel – sind auch schon gezählt.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Rundschreiben der deutschen IBS-Sektion, Heft 1, Juni 2011, S. 28/29: https://www.biometrische-gesellschaft.de/fileadmin/AG_Daten/Publikationen/PDFs/RS2011-1.pdf ** Gerd Reuther, Heilung Nebensache, S. 323 + 335 + 303/4



Erfreulicherweise stellt Brockhaus unsere einheimischen Dachse vor. Als Gudensberger Dreikäsehoch bewunderte ich sie, obwohl ich sie nie traf. Sie sollen vorwiegend nachts unterwegs sein. Wir wohnten am nördlichen Rand des Städtchens auf einem Bauernhof zur Miete. Liefen wir mit unserer Mutter Hannelore über die Landstraße die rund vier Kilometer bis zum Haus Rübezahl auf dem Wartberg, kam gleich vorne erst einmal der Nenkel, ein hübsches, von Menschen unbewohntes bewaldetes Köpfchen, das heute unter Naturschutz steht. Am Südhang, gen Gudensberg, wohnte der Dachs. Das wußten wir von dem Förster, bei dem wir im Herbst Kastanien ablieferten – ich glaube, es gab zwei Mark für einen vollen Sack. Bis er voll war, hatte man Rückenschmerzen und eine Stinkwut auf die Rehe und Hirsche, die die Kastanien sozusagen hinterhergeschmissen bekamen.
~~~ Der Dachs fraß alles, Himbeeren, Maiskolben, Laubfrösche, Maikäfer, Wachteleier und so weiter. Der Förster meinte, mit seiner langen, zugespitzten Schnauze bräche der Schlawiner sogar zusammengerollte Igel auf. Mit den Krallen grub er. Seine weitläufigen Baue hätten unglaublich viele Ein- und Ausgänge, versicherte uns der Förster. Der Dickwanst flöhe lieber statt sich zu schlagen. Menschen, und seien es Knirpse, griffe er eigentlich niemals an. Das war ja tröstlich – nur, was hatten wir davon, wenn wir ihn nie trafen? Dagegen sei wenig zu machen, sagte der Förster, weil der Bursche eben »menschenscheu« und »nachtaktiv« sei und im Winter sowieso meistens penne. Vielleicht könnten wir uns aber in der Stadtbücherei Der Wind in den Weiden ausleihen, das wäre auch schon was.
~~~ In Kenneth Grahames berühmtem Kinderbuch von 1908 ist der Dachs der würdevolle, philosophisch gestimmte, zuweilen etwas griesgrämige Eigenbrötler. Fast alle anderen (sprechenden) Tiere, voran Maulwurf, Wasserratte, Fischotter, verehren ihn und suchen gern seinen Rat. Diese Verehrung habe sogar eine lange Wurzel, deutet Brockhaus an. Entsprechend hätten Fett und Fell des Dachses in der Volksmedizin über Jahrhunderte hinweg als Allheilmittel gegolten. Man kann natürlich nur hoffen, daß er selber nicht fettsüchtig war. Die Sucht ist ohnehin ein ähnlich reizvolles Thema. Für E. G. Seeliger ist sie kein Problem; er kennt sie nicht. Dafür nennt er den Rausch (in seinem Handbuch des Schwindels) nicht unzutreffend Gedankengrundsperre. Bei Abgeordneten oder Ministern dauert diese Sperre zunächst eine Legislaturperiode; dann muß sie verlängert werden, damit die Rente stimmt.
~~~ Durch die Umschiffung der Suchtklippe entzog sich Seeliger (1922) nicht nur einem Entziehungs-, sondern auch dem nächsten Grenzziehungsproblem, das Lexikografen schon genug plagt. Zum deutschen Fernsehkonsum versichern ForscherInnen, je weniger einer zu verzehren habe, desto höher sei jener. Bei unter 1.000 Euro Monatseinkommen lag der Fernsehkonsum bereits bei über fünf Stunden täglich. Trotzdem sind Fernsehsüchtige noch von Nahrungszufuhr abhängig, wie Pizzataxiunternehmen erfreut festgestellt haben. Säuglinge berauschen sich ausschließlich durch Milch.
~~~ SuchtfahnderInnen argumentieren, nur Abhängigkeiten von Surrogaten seien verdammenswert. Der Kröterich – in Kenneth Grahams Buch der Prahlhans – ersetzt Wiesel durch Pferde, Pferde durch Rennboote, diese durch Automobile. Er ist geschwindigkeitssüchtig. Da er wie alle Süchtigen weder vor Rausch noch Raub zurückschreckt, bringt ihn ein dreister Autodiebstahl in den Knast. Dramen der Reue und des Selbstmitleids lassen die Tochter des Schließers zur Fluchthelferin werden. Am Bahnhof liest ihn ein gutmütiger Lokführer auf. Prompt müssen sie wie die Wilden Kohlen in den Kessel schaufeln, weil ihnen die Häscher folgen – in einer anderen, noch schnelleren Lok.
~~~ Die SuchtfahnderInnen triumphieren: er flüchtet vor der Realität! Sie haben Eigentlichkeitskunde studiert und den Sinn des Lebens mit der Konfirmandenuhr empfangen. Im Zeichen der »Realitätstüchtigkeit« stechen auch ihre folgenden zwei Trümpfe. Zum einen liege nur dann Sucht vor, wenn wir von deren Gegenstand nicht mehr lassen könnten. Laufbegierige lassen sich deshalb morgens ans Bett fesseln; Schlafsüchtige herauspeitschen. Zum anderen müsse die echte Sucht die Gesundheit schädigen. Holla, ich sage euch: was ich mir schon durch meine Atemsucht an Bazillen und Unbill eingefangen habe, geht auf keine Kuhhaut! Nur die Corona-Viren machten stets einen Bogen um mich, um sich nicht etwa mit Melancholie anzustecken. Sogar Lachen ist nicht immer gesund. Im Prozeß gegen die sogenannte (linke) militante gruppe (mg) zitierte Richter Josef Hoch im Oktober 2008 zwei Zuschauerinnen nach vorn, um ihnen 1.000 Euro Ordnungsgeld, ersatzweise eine Woche Haft anzudrohen. »Ich werfe Ihnen vor, gelacht zu haben, und das ist verboten.«
~~~ Hoch soll er leben! Autoren wie Barlach, Cibulka, Hölderlin, Nietzsche, Schiller, Georg Simmel, Steiner, Wiechert haben sich das Laster des Spotts aus freien Stücken verkniffen. Auch Friedrich Georg Jünger verleitet uns so gut wie nie zum Lachen oder Schmunzeln. Guntram Vesper hat etwas Humor. Immerhin bekennt er sich klar zu unserem Grundlaster, wenn er 1998 ein Buch mit dem Titel Die Krankheit zu schreiben versieht. Hauptfallen bei dieser Krankheit sind Selbstüberschätzung und Rechthaberei. Man muß sich hüten, die Nase so hoch zu tragen wie Grahames Dachs, der ja auf den Hinterpfoten geht, aufrecht. Im Nebeneffekt bietet das den Vorteil, sich den Freunden oder Ratsuchenden im gegürteten, geblümten Schlafrock zeigen zu können.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024


Die einleitende Brockhaus-Behauptung, der bekannte Fliegenpilz mit dem meist weißgesprenkelten roten Hut sei »sehr giftig«, muß ich unerschrocken zurückweisen. Hier wirkt traditionsreiche Panikmache gegen Drogen nach. Damit will ich keineswegs die Giftigkeit des lustigen Pilzes leugnen. Aber Brockhaus selber ringt sich noch zu dem Hinweis durch, diese Waldfrucht zähle zu den »ältesten Halluzinogenen des Menschen«. Es kommt also auf die Dosierung an, wie so oft. Der hessische (Naturschutz-)BUND gibt beinahe eine Entwarnung aus, wenn er auf seiner Webseite* verkündet: »Im Gegensatz beispielsweise zum Knollenblätterpilz, der schon in geringer Dosis zu tödlicher Vergiftung führt, ist der Fliegenpilz eher harmlos. Ein gesunder erwachsener Mensch müsste schon eine Mahlzeit zu sich nehmen, die aus mindestens einem Kilogramm Frischpilzen bereitet wurde, um in Lebensgefahr zu geraten.« Was die »antörnende« Wirkung des Fliegenpilzes angeht, wird sie recht hübsch, wie ich hoffe, durch einen Titel unserer Platte Leon besungen. Forschen Sie ruhig einmal nach. Die Platte dürfte in deutschen Wäldern und Haushalten sogar ungleich seltener sein als der Pilz.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 12, März 2024
* https://www.bund-hessen.de/arten-entdecken/fliegenpilz/



Die Krankheit Lepra, durch ein Bakterium verursacht, auch »Aussatz« genannt, war über Jahrhunderte hinweg die entstellende Seuche und das entsprechende Schreckbild. Sie galt noch zu Zeiten der US-Chemikerin Alice Ball (1892–1916), an die ich hier kurzerhand erinnern will, als unheilbar. Es gab lediglich ziemlich untaugliche Versuche zur Linderung mit Hilfe des pflanzlichen, aus Asien stammenden Chaulmoogra-Öls. Ball, die blutjunge dunkelhäutige, anscheinend auch bildhübsche Forscherin afroamerikanischer Herkunft, die von Seattle, Washington, ans College auf Hawaii gewechselt war, fand buchstäblich die Lösung. Es gelang ihr, das Öl so zu verflüssigen, daß es gefahrlos injiziert werden konnte. Auf Hawaii gab es eine ganze »Lepra-Kolonie«; stellte man nämlich eine Erkrankung an Lepra fest, wurde der Befallene kurzerhand verhaftet und auf die Hawaii-Insel Molokai verbannt. Ob sich Ball dort öfter aufhielt, habe ich nicht herausgefunden.
~~~ Nebenbei war Alice Ball, Tochter von Fotografen, die erste Frau, die am College, der späteren University of Hawaii, einen naturwissenschaftlichen »master« machte. Sie wurde außerdem umgehend zur Forschung und Lehre herangezogen.* Die durch Ball in kürzester Zeit entschieden verbesserte Heilmethode mit dem Baumsamenöl blieb noch für rund 30 Jahre, bis zur Entdeckung der Antibiotika, das einzige halbwegs wirksame Mittel gegen Lepra. Aber sie konnte kein Lob mehr einheimsen. Sie erkrankte im Jahr nach ihrer Entdeckung, fuhr zu ihren Angehörigen in Seattle zurück – und nach wenigen Monaten, Ende Dezember 1916, war sie mausetot, 24 Jahre jung. Nun heftete sich ein Vorgesetzter – vermutlich ein Weißer – ihre Erkenntnisse ans Revers und benannte Balls Methode dreist nach sich selbst. Das wurde 1922 in einer Fachzeitschrift aufgedeckt. Gleichwohl erhob man Ball erst um 2000 ihrerseits zum Forschungsgegenstand, wodurch sie auch erstmals zu nennenswerter Aufmerksamkeit und Anerkennung von Seiten akademischer und staatlicher Stellen kam.
~~~ Bis ins Persönliche scheint diese Forschung allerdings nach wie vor nicht vorgedrungen zu sein. Balls Temperament? Ihre Meinungen, Ängste, Sehnsüchte? Ging sie gelegentlich Vergnügungen nach? Von alledem ist zumindest im Internet kein Komma zu lesen. Wie es aussieht, bleibt selbst ihr früher Tod im Dunkeln. Eine Beschreibung der Krankheit, die sie nach Hause trieb, ist im Internet nicht zu haben. Immerhin erwähnt* das UNMC einen Zeitungsartikel aus Honolulu, wonach wahrscheinlich eine Vergiftung durch Chlor vorlag. Offenbar hatte Ball (aus Weltkriegsgründen) im Unterricht demonstriert, wie eine Gasmaske zu bedienen sei, und dabei Chlor eingeatmet. Das College dementierte. Entsprechend gibt der amtliche Totenschein »Tuberkulose« an – und nicht etwa Lepra. Laut Brockhaus ähnelt die Lepra, was den Erreger angeht, der Tuberkulose sogar. Das wird im Artikel der Mediziner aus Nebraska bestätigt.
~~~ Der Brockhaus-Eintrag (von 1990) betont überdies, die Ansteckungsgefahr bei Lepra sei wesentlich geringer, als in früheren Zeiten vermutet, weshalb sich eine strenge Isolierung der Erkrankten erübrige. Früher hatte man panische Angst vor »Aussätzigen« – und setzte sie deshalb unerbittlich aus. Daher der Name »Aussatz«. Neuerdings hatte man Corona. Man verdonnerte bereits die ABC-Schützen zum Tragen irrwitziger, mitunter lebensgefährlicher »Atemschutzmasken« und verordnete den hochbetagten Sterbenden Besuchssperren. Man könnte glauben, es sei noch Krieg – und genau das ist auch der Fall. Die Menschen kämpfen seit Jahrtausenden gegen ihre Angst. Und einige Menschen gegen den Verlust ihrer Macht. Hatte der »Aussätzige« des Mittelalters Ausgang, mußte er jeden Bürger, dem er sich nahte, mit der Lazarusklapper warnen. Geht heute einer, der kein erklärter Russenfeind ist, an einer Bundeswehr-Kaserne vorbei, hat er nach neuster Verordnung die Arme abzuspreizen, damit er nicht etwa eine Handgranate aus dem Ärmel zieht.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
* University of Nebraska Medical Center, https://www.unmc.edu/healthsecurity/transmission/2023/04/11/overlooked-no-more-alice-ball-chemist-who-created-a-treatment-for-leprosy/



Die Lehrerin und Schriftstellerin Amalie Struve (1824–62) war überdies Gattin eines merkwürdigen Vogels. Brockhaus stellt den Rechtsanwalt und Politiker Gustav Struve allerdings als völlig normal hin. Struve war im »Vormärz« ein bekannter Radikaldemokrat und mauserte sich 1848/49, neben Friedrich Hecker, zum Führer der badischen Aufstände und designiertem Ministerpräsi-denten der Badischen Republik, die man zu gründen gedachte. Das zerschlug sich leider. Die »revolutionären« Truppen wurden aufgerieben; Struve und Gattin gingen ins Exil. Brockhaus jedoch übergeht mit der Schrägheit Struves auch gleich die Gattin. Sie kommt in dem Lexikon nicht vor. Die Schrägheit Struves wird dafür in den Erinnerungen des Schriftstellers und Verlegers Alexander Herzen hervorgehoben, der Struve zeitweilig in Genf erlebte.* Danach war der verhinderte Staatsmann ein verschrobener Priester und Schöndünster, der seine Rechthaberei mit salbungsvollem Auftreten zu verbrämen suchte. Er hielt streng auf Zeremonien bei Verhandlungen, vegetarische Ernährung, tägliche Abhärtung im kaltem Gebirgsfluß Arve, mied dagegen Wein. Möglicherweise hatte er seine enorme Stirnglatze von den vielen Hechtsprüngen ins läuternde Wasser bezogen. Sein Vollbart blieb stets dran. Auf den bekannten Bildnissen wirkt er auch knopfäugig, aber nicht unbedingt lustig.
~~~ Diesen Kuren und einem solchen, eher Schüttelfrost erregenden Geliebten mußte sich also auch Amalie unterziehen. Das tat sie aber angeblich gern. Sie war die Stieftochter des Mannheimer Sprachlehrers Düsar. Neben der »unehelichen« Herkunft setzte ihr Armut zu. Düsar ermöglichte ihr immerhin eine gewisse Bildung, sodaß sie Lehrerin werden konnte. Ihren Gatten soll sie 1845 in Mannheim bei der Stellensuche getroffen und noch im selben Jahr geheiratet haben. Der Mann war fast 2o Jahre älter als sie. Von ihm ins revolutionäre Fahrwasser gezogen, habe sie sich bis zum Ausbruch der Revolution 1848 »mit der Rolle einer passiven Beobachterin begnügen« müssen, weil Frauen die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen und die Mitgliedschaft in Vereinen weitgehend verboten war, schreibt Marion Freund.** Dann jedoch habe sie sich in die Breschen geworfen. »Sie nahm an allen drei Erhebungen 1848/49 im Großherzogtum Baden teil, und dokumentierte diese eindrucksvoll in ihren Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen (1850), bis heute eine ihrer am stärksten rezipierten Schriften.« Über die Jahreswende 1848/49 verbrachte die junge Amalie Struve sogar knapp sieben Monate im Gefängnisturm am Freiburger Holzmarkt in Einzelhaft. Im April entlassen, warf sie sich sofort in die sogenannte Reichsverfassungskampagne. Als preußische Truppen anrückten, schreckte der Chef der Revolutions-regierung Lorenz Brentano vor der Volksbewaffnung zurück, sodaß sich Gustav Struve und andere Radikale gezwungen sahen, ihn abzusetzen. Es nützte freilich nichts. Gegen das kriegserfahrene preußische Militär hatten die badischen Revolutionshaufen keine Chance. Die letzten Revolutionäre wurden in der Festung Rastatt festgenagelt, wo sie sich am 23. Juli 1849 ergaben. Es folgten zahlreiche Hinrichtungen oder Verurteilungen zu Haftstrafen. Den Struves gelang es jedoch, in die Schweiz und dann nach England zu entkommen. Dort verfaßte die inzwischen 25jährige das erwähnte Buch.
~~~ Dem Schreiben blieb sie auch treu, nachdem sich das Paar 1852 in den USA niedergelassen hatte, Staat New York. Dabei kreisten ihre Artikel und Schriften oft um Frauenfragen. Sie soll auch noch Romane geschrieben haben, deren Qualität ich nicht beurteilen kann. Aber sie diente ihrem gleichfalls publizistisch wirkenden Gatten weiterhin als Sekretärin und blieb auch der Mutterrolle treu. Das erste Kind starb allerdings (1859) bereits nach sechs Wochen. 1862, mit 37 Jahren, erwischte es die Mutter selber nach der Geburt ihres dritten Kindes. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Für ihren Zeitgenossen Wilhelm Liebknecht war sie »heiter und lebenslustig« gewesen, »das war ihr gutes Recht; sie war aber auch muthig, wie wenige Männer, und aufopferungsvoll, wie wenige Frauen, und eine treue Gattin.«
~~~ Nebenbei prangert Gerd Reuther auf den Seiten 82 und 308 seiner Medizingeschichte Heilung Nebensache den fadenscheinigen Stempel »Kindbettfieber« an, der bis ins 20. Jahrhundert hinein, parallel zur Verlagerung der Geburten in Kliniken, zahlreichen Frauenleichen verpaßt wurde, um den Zusammenhang geburtlicher Wundinfek-tionen mit mangelhafter Hygiene und ärztlichen Eingriffen zu vertuschen. »Allein in Preußen starben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 365.000 Mütter nach der Geburt ..(..).. Nicht einmal heute [2021] spricht man wahrheitsgetreu von einer behandlungsbedingten Sepsis der Mütter.« Meine Herren! »Geburtshilfe« als Geschäftsmodell – da stehen der Leserin hoffentlich die Haare zu Berge. Im übrigen streifte ich dieses Thema kürzlich bei Ignaz Semmelweis.
~~~ Gustav Struve ging bald darauf nach Europa zurück, zumal er inzwischen amnestiert worden war. Wo blieben die beiden Töchter? Nach Monica Marcello-Müller (Herbolzheim 2002) hatte Struve sie in den Staaten zunächst »deutschen Pflegeeltern« anvertraut, nahm sie dann aber anscheinend mit. Er ging noch eine zweite Ehe ein, die ihn nach Wien führte, wo er 1870 mit 64 und trotz vegetarischer Vorsichtsmaßnahmen wahrscheinlich einer Blutvergiftung erlag. In Rastatt, wo Amalie Struve noch im Mai 1849 erheblich zu einer Soldatenmeuterei beigetragen hatte, ist eine »Kinderschule« nach ihr benannt. Damals war sie mit anderen Revolutionären anschließend nach Bruchsal gezogen, um den dortigen Gefängnisturm zu stürmen. Sie befreiten unter anderem Gustav Struve. Tags darauf floh Großherzog Leopold aus seiner Residenzstadt Karlsruhe und Brentano und Struve riefen die Republik aus – für ein paar Tage. Amalie Struve seufzte später***: »Das deutsche Volk war damals noch in tiefem Schlafe befangen. Es nahm wohl Theil an den Kämpfen der Männer [!], welche den großen und kleinen Tyrannen entgegentraten, allein nur in der Weise des Publicums, welches im Theater einem Schauspiele zusieht und, nachdem der Vorhang gefallen, ruhig nach Hause geht, ohne sich weiter um die Schauspieler zu kümmern, welche die edlen und unedlen Rollen dargestellt hatten.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 36, September 2024
* Alexander Herzen, Mein Leben, Ostberliner Ausgabe 1963, Band II, S. 71–77
** NDB Band 25 von 2013
*** A. Struve auf S. 4 ihres Buches von 1850, gedruckt in Hamburg bei Hoffmann & Campe

Siehe auch → Bolotin Jacob (Augen) → Chargaff (Gentechnik) → Corona (Virus) → Holunder → Impfen → Sauerbruch (Chirurg) → Band 5 Edmund (Greis) + Krankenbesuch + Absturz eines Orthopäden




Gewalt

Die VerbrecherInnen sind mitten über uns --- Die Losung »Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen« ist in der sogenannten Linken bekannt und beliebt. Man findet sie auf unzähligen Webseiten und sogar bei der Sozialdemokratie. Sie wurde vor rund 25 Jahren vom damaligen Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA Klaus Harbart für einen Aufkleber des Verbandes vorgeschlagen und trat dergestalt sogleich ihren Siegeszug an. Ob Harbart sie irgendwo entlehnte, läßt sich wohl nicht mehr ermitteln, weil er bereits tot ist. Nach manchen Gerüchten stammt die Losung eigentlich von Bertolt Brecht, doch dafür fanden KennerInnen bislang keine Belege. Und selbst wenn es so wäre, verlöre sie dadurch ihre Verfehltheit nicht.
~~~ Nach dieser Losung gehört nur das »Kriminelle« geächtet, verboten, bestraft. Das Kriminelle ist das besonders Böse. Alles übrige Böse – dessen Existenz wahrscheinlich sogar Harbart nicht abgestritten hätte – ist normal, ist tragbar. Die Losung greift die äußerst fragwürdige bürgerliche Unterscheidung zwischen der Normalität und dem Verbrechen auf. Diese Unterscheidung hat den Vorteil, zahlreiche wichtige Dinge zu adeln, die nicht minder kriminell als ein Bankeinbruch, aber eben »normal« sind. Zum Beispiel der Besitz einer Bank, um an Brecht zu erinnern. Oder die Verbreitung von Medikamenten und Behandlungsverfahren, die zwar nachweislich wirkungslos / gesundheitsschädigend / tödlich, aufgrund ihres Heilsversprechens aber sehr gut verkäuflich sind. Oder die Terrorisierung des eigenen Sprößlings über Jahre hinweg, einerlei mit welchen Mitteln. Ich bevormunde ihn, erpresse ihn, mache ihm Schuldgefühle, bis er sich nach einigen Jahren aufhängt. Wo wäre der Unterschied zu dem Fall, ich hätte ihn gleich im zarten Knabenalter erschossen? Er liegt in der Qual, die mein Opfer vor seinem »Selbstmord« noch genießen durfte.
~~~ Lassen sich Verbrechen und das Leid ihrer jeweiligen Opfer überhaupt messen? Und dadurch – über den Vergleich – vom Nichtverbrechen und Nichtleiden an einer bestimmten Stelle (des Zollstocks oder des Thermometers) abgrenzen? Ich sage: nein. Aber das Gegenteil geschieht. Die geschundenen Häftlinge und die Millionen Ermordeten des deutschen Faschismus sind wunderbar zählbar. Die Leichen liegen alle auf einem Haufen, ein wahrer Berg, das macht etwas her. Welches Schattendasein müssen dagegen die Sklaven führen, die sich der »normale« Imperialismus zwischen 1500 und 1850 allein in Afrika besorgte und die er, wenn nicht schon auf den Schiffen, auf den Plantagen unbedenklich verrecken ließ! Es waren übrigens mindestens 100 Millionen verschleppte Menschen, dabei oft die gesündesten und arbeitsfähigsten, schätzt Gert von Paczensky in seinem ursprünglich Die Weißen kommen betitelten Buch, das erstmals 1970 erschien. Doch es handelt sich eben nur um eine Schätzung. Niemand führte Buch, und der Raub und das Verrecken zahlreicher Sklaven verteilten sich so günstig über etliche Jahrhunderte und Empfängerstaaten, daß sie kaum auffielen und nur wenig Anstoß erregten. »Raten merkt man nicht so«, weiß diesbezüglich jeder Kleine Mann, der sich verschuldet hat. Durch die Tilgung in Raten wird seine Gesamtschuld zwar nicht geringer (im Gegenteil), jedoch erträglicher.
~~~ Ich denke auch an das Riesenschweiß- und Blutbad, das der britische Imperialismus allein zwischen den beiden Weltkriegen allein in Asien anrichtete. Diese Fremdherrschaft schloß die Aufstachelung der Völker oder Religionen gegeneinander genauso ein wie die gnadenlose Ausbeutung, das Totprügeln oder Auspeitschen Ungehorsamer und die Demütigung von Eingeborenen, die man noch nicht erschlagenen oder ausgepeitscht hatte. Hat die zivile Öffentlichkeit damals gezetert, die höflichen, stets mit Schirm, Charme und Melone angetanen NordseeinselbewohnerInnen seien »herzlose Mörder, Plünderer und Verschwörer, wie sie die Welt ihresgleichen noch nicht gesehen« habe? Nein, diese Worte richtete Hartley Shawcross, britischer Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, an die Adresse der bösen Nazis. Und alles, was zwecks besserer Abstützung von Hut, Stahlhelm und Doppelmoral zwei Ohren mitbekommen hatte, nickte beflissen. Der schweizer Politiker und UN-Diplomat Jean Ziegler erlaubte sich unlängst die Unhöflichkeit, die Wahrheit auszusprechen. Er bemerkte in einem Gespräch mit der Jungen Welt (16. November 2012): »Laut ECOSOC-Statistik sind vergangenes Jahr 52 Millionen Menschen Epidemien, verseuchtem Wasser, Hunger und Mangelkrankheiten zum Opfer gefallen. Der deutsche Faschismus brauchte sechs Kriegsjahre, um 56 Millionen Menschen umzubringen – die neoliberale Wirtschaftsordnung schafft das locker in wenig mehr als einem Jahr.«
~~~ Gegenwärtig überschlagen sich unsere ZentralbankerInnen mit den immerselben, jedoch immer wahnsinnigeren Stützversuchen zur Rettung eben dieses kriminellen Weltwirtschaftssystems. Sein zu erwartender Zusammenbruch wird nach Einschätzung vieler kritischer BeobachterInnen den bekannten historischen »Schwarzen Freitag« in den Schatten stellen. Dann werden die verantwortlichen Herrschaften zusätzlich zu den von Ziegler angeführten Opfern für weitere Hunderttausende von Toten und Millionen von Verzweifelten und Verelendeten gesorgt haben. Das wissen sie auch ganz genau, doch da sie verrückt sind, ist es ihnen egal.
~~~ Von Paczensky verwahrt sich in seinem Buch wiederholt* gegen die seit Jahrzehnten, bis heute beliebte »Vereinzigartigung« der faschistischen Verbrechen. Der Ausdruck stammt von mir. Dadurch wolle man nur von den eigenen Schandtaten ablenken. Diese würden sich lediglich durch eine andere Technik von denen des »Dritten Reiches« unterscheiden. »Und durch die Opfer natürlich: Farbige. / Ausrottung en gros, Mord en detail ist das Geschäft der weißen Kolonialmächte durch die Jahrhunderte hindurch – und noch lange, nachdem die Nazis verschwunden sind.« Ob Schwarze, Gelbe, Rothäute, Muslime, Terroristen aller Art – ihr gemeinsamer Zug, der sie zu Freiwild macht, ist der Mangel an der weißen Weste der sogenannten Marktwirtschaft. Man denke nur an jenen »Mord en detail«, den sich Obama und seine Geheimdienstchefs Tag für Tag mit Hilfe ihrer Drohnenpiloten gestatten. Da erfolgt der Todesstoß gleichsam aus heiterem Himmel. Will mir wirklich einer weismachen, einen Juden mit dem Gewehrkolben auf die Wache, dann ins KZ zu stoßen, sei ungleich heimtückischer gewesen? Man denke überdies an die Atombomben, die die Yankees unter scheinheiligen Rechtfertigungsversuchen auf Japan warfen – und an die Atomkraftwerke, die sich die Japaner dann später idiotischerweise selber auf ihre Inseln stellten. An diesen tödlichen Versorgungsein-richtungen hielten sie auch nach »Tschernobyl« fest, weil sie selber einmal ein paar Kernschmelzen hervorbringen wollten. Vor fünf Jahren, im März 2011, war es soweit: Fukushima. Wieder wurde ein ganzer Landstrich verseucht. Wieder wurde mit allen Mitteln abgewiegelt und beschönigt. Neben den bekannten hauseigenen hatte man auch die bekannten Gefahren durch Erd- und Seebeben in Kauf genommen. Das einzige, wovon die dortigen Verantwortlichen bis heute nichts wissen, ist der Zustand im Inneren der betroffenen Reaktoren. Außen jedoch leiten sie unbekümmert radioaktives Wasser in den Pazifik, auf daß die Rate der Krebskranken weltweit tüchtig ansteige. Und so etwas soll kein Schwerverbrechen sein?
~~~ Nun drohe ich allerdings, wie mir gerade aufgeht, selber in die Falle des Messens und Verrechnens zu tappen. Der landläufige Einwand gegen mein Beispiel mit dem ins KZ verschleppten Juden lautet schließlich, es habe sich keineswegs nur um einen, vielmehr um sechs Millionen Juden gehandelt. Es ist die Falle des Quantitativen Denkens. Danach soll das von sechs Millionen Verfolgten und Ermordeten angehäufte Leid ungleich entsetzlicher als das Leid des einen Menschen sein, der gerade in einem türkischen Folterkeller oder unter einem VW Touareg stöhnt. Aber diese Sichtweise ist falsch. Sie ist zutiefst unmenschlich, wie jeder spürt, der ein Herz hat. Ein Seitenstück dieser Sichtweise ist die besonders unter halbherzigen »Systemgegnern« beliebte Theorie des Kleineren Übels. Bin nur ich gefoltert oder plattgefahren worden, handelt es sich lediglich um ein Übelchen. Richtig schlimm wird es erst ab 1.000 oder ab einer Million.
~~~ Was ich nach alledem von den immer wieder aufgewärmten Bemühungen halte, die NPD, wohl bald auch die AfD zu verbieten, liegt auf der Hand. Verbote haben nicht den geringsten erzieherischen Wert, ja schlimmer noch, sie bewirken bekanntlich oft genug das Gegenteil dessen, was sie, angeblich wohlmeinend, beabsichtigen. Was allein Abhilfe schüfe, wäre die Trockenlegung des ökonomischen und ideologischen Nährbodens, auf dem rohes Gedankengut gedeiht. Aber das ist leicht gesagt; schon bei uns ist er immerhin knapp 360.000 Quadratkilometer groß. Zerrt also bitte nicht den einen oder anderen braunen Sündenbock, vielmehr das gesamte verlogene, sich in einem fort tarnende Staats- und Parteiengebilde namens »Deutschland« vor Gericht. Das gäbe den ersten schönen Mammutprozeß der Weltgeschichte.
~~~ Im Ernst: man sollte Deutschland endlich verbieten. Nur stünden wir dann vor dem Riesenproblem der Verkleinerung aller menschlichen Einrichtungen und Zusammenschlüsse. Ich fürchte fast, es dürfte unlösbar sein.

∞ Verfaßt 2016
* Gert von Paczensky: Etwa S. 125, 159, 240 des Fischer-TBs Weiße Herrschaft, 1982



Laut jüngster Primatenforschung entstanden die Keulenworte in dem Augenblick, als die ersten Menschenhorden in ihren öffentlichen Diskursen an die natürlichen Grenzen der Faustkeilgröße stießen. Sie machten den naheliegendsten Gemeinplatz gängig – und eilten von Sieg zu Sieg. Bei seiner enormen Bandbreite bot das Keulenwort – etwa Berührungsängste, Sozialneid, Verschwörungstheorie – den riesigen Vorteil, auf die unterschiedlichsten Köpfe zugleich zu passen. Es rüttelt auch nicht an seinem Wesen, wenn es mal von links, mal von rechts geschwungen wird. Als wahrer Renner entpuppte sich Populismus; um ein Haar wäre ihm die gesamte Bevölkerung des Neandertals zum Opfer gefallen, als afghanische Horden dort eindrangen.
~~~ Allerdings nutzen sich selbst die Keulenworte aus Eiche mit der Zeit ab. Kulturbolschewist etwa schwand vor rund 20 Jahren (nach der rotgrünen Machtergreifung) zu Kulturpessimist. Außerdem sinnt der Gegner sofort auf ein noch schrecklicheres Keulenwort. So wechselt das Kriegsglück und die Kämpfe toben. Eine von Dieter Hundt und Gerhard Schröders Katze geführte Horde ging eine Zeitlang sehr wirksam mit Besitzstandswahrung vor. Reihenweise fielen die gebrandmarkten BesitzstandswahrerInnen auf die Kniee und rutschten im ausgedehnten Flur ihrer »Arbeitsagentur« bis zur Tür Hartz IV. Die verheerende Antwort der Schölzel-Wagenknecht-Horde lautete: Arbeitsplatzvernichtung! Dieser Vorwurf traf selbst hartgesottene Fabrikanten von Rattengulaschkonserven so sehr ins Mark, daß sie nicht ein Fließband mehr stillzulegen wagten. Hainich, Kaufunger und Thüringer Wald wurden kräftig durchschneist für die in Eisenach gefertigten VW-Geländewagen.
~~~ Kaum im Amt, sägte Kanzlerin Sahra Wagenknecht sogar Frau Marianne Birthler ab, die so dumm gewesen war, eine Verschlankung ihrer in Stasilin ansässigen Volksbeglückungsbehörde vorzuschlagen, weil sie beim allgemeinen Sparen nicht hintanstehen wollte. Mit Wagenknechts Ankurbelung des Ozonlochs nahm auch die Zahl der Arbeitsplätze in Sternwarten und Hautkrebskliniken kräftig zu. Das Keulenwort Reformisten wurde verboten.

∞ Verfaßt 2009


Jetzt wäre Lolita Brieger (1964–82) aus der Eifel 58 Jahre alt. David Klauberts ausführliche Darstellung* dieses erst nach 30 Jahren halbwegs aufgeklärten Mordfalles ist geradezu niederschmetternd. Der Fall ist zu gewöhnlich; die Beteiligten sind zu bedauernswert, zu beschränkt, zu gehässig; an diesen abgelegenen ländlichen Tatorten leben zu müssen, kommt bereits in der bloßen Vorstellung einer Verbannung nach Sibirien gleich. Man möchte am liebsten gar nicht mehr viel dazu sagen.
~~~ Als »Vertriebene« und »Evangelische« wurden die Briegers im Dorf geschnitten. Gleichwohl gelingt es Lolita, den Sohn eines reichen Bauern für sich zu interessieren. Man ahnt es bereits: Josef K. schwängert sie – und weder sein Alter noch er selber möchten sie und gar noch ein Plag im Hause haben. Aber auch im Häuschen der Briegers (fünf Kinder) herrscht kein Idyll. Lolita flieht vor ihrem rohen Vater und kommt in einem Nachbardorf als Näherin unter. Ihre Vermieterin bezeugt die wiederholten lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Lolita und ihrem Besucher Josef. Am 4. November 1982 zu einer Aussprache zum Hof K. unterwegs, verschwindet die 18jährige unvermutet und wird für 30 Jahre nicht mehr gesehen. Man darf darauf wetten, die Eifel lag an jenem Tag, wie so oft, unter bleiernem Nebel. Die DörflerInnen bevorzugen die Annahme, das Mensch habe sich umgebracht oder mit einer Abfindung von Bauer K. versehen in ein holländisches Freudenhaus aufgemacht. Dann, 2011, rollen ein Kriminalhauptkommissar und ein Staatsanwalt aus Trier die Sache wieder auf. Und auch das ist niederschmetternd: Lolitas in einem Plastiksack steckendes Skelett wird nahe am Dorf auf einer Müllkippe ausgebaggert. Ein Kumpel des Josef K., Michael, hatte endlich gesungen. Josef hatte sein Liebchen erwürgt. Jetzt schwieg der 51jährige eisern. Und da ihm das Gericht weder Heimtücke noch sonstige »niedere Beweggründe«, also keinen Mord nachweisen kann, verläßt er den Gerichtssaal im Juni 2012 aufgrund eines inzwischen verjährten Totschlags als freier Mann.
~~~ »Wenn das keine Schweinerei ist!« empört sich Lehrer X. vor seiner Klasse. »Darf man denn so einen laufen lassen?« Da meldet sich der Klassenletzte und erwidert seelenruhig: »Darf man durchaus, Herr X. Denken Sie einmal an all die Rüstungsbosse, Pharmaziemanager, Weizenspekulanten, AutomobilherstellerInnen und BerufspolitikerInnen in diesem Land. Die werden nie belangt, obwohl ihre Entscheidungen oder Unterlassungen jährlich weltweit für Millionen Tote sorgen, von vielen weiteren Schäden zu schweigen.« – »Aber das sind doch keine Lustmolche!« – »Sind sie doch, Herr X. Die Sucht, Macht über andere Menschen auszuüben und sie dabei möglichst auch noch zu demütigen, sei schlimmer als jede Krankheit, heißt es in Armin Müllers Tagebuch.** Aber davor versagten leider alle Gesetze der Welt, seufzte der Schriftsteller aus der DDR.«

∞ Verfaßt 2022
* https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/mordanklage-nach-30-jahren-lolita-und-josef-11764849.html, 27. Mai 2012
** Armin Müller, Ich sag dir den Sommer ins Ohr, Rudolstadt 1989, S. 316



Von Schlagworten und Milchglasscheiben --- In einem Artikel über die zunehmende Presseunfreiheit erwähnt der Autor eines sogenannten linken, meist recht gut redigierten Blattes Querdenker-Demonstrationen, an denen sich oft »gewaltbereite Neonazis« beteiligt hätten. Da brauche ich keine Bullen. Das Wort »gewaltbereit« trifft mich bereits wie ein Keulenschlag. Ich hätte es eher in der FAZ erwartet, die spätestens auf die »gewaltbereiten Linken« einhackt, wenn in der Main-Metropole wieder einmal Deutsche-Bank-Fensterscheiben eingeschmissen worden sind. Selbstverständlich ist das Wort »gewaltbereit« selber brutal. Verleumdet es nicht, dann lenkt es zumindest ab, und das ist viel. Zum Beispiel lenkt es von der tagtäglichen Gewaltbereitschaft und Gewaltausübung unserer Bankiers und unserer MinisterInnen ab. Gegen die sind ein paar einflußlose Neonazis mümmelnde Kaninchen. Unsere Bankiers und unsere MinisterInnen überschwemmen aber nicht nur »Entwicklungsländer« mit knebelnden Krediten oder die Ukraine mit Rheinmetall-Panzern, sie kennen und schätzen auch die feingewebten, gut vertuschbaren Formen der Gewalt. Und von denen lenkt das Wort ebenfalls ab. Gerichtsbeschlüsse, Behördenbescheide, Schlagzeilen, Gehirnwäsche und väterliche Seitenblicke haben schon mindestens soviel Unheil wie Waffen und Fäuste angerichtet. Nur gibt es für jene »sanfte« Gewalt keine Zollstöcke, während Gewehre, Einschußlöcher und durch brüllende Nazis verursachte Blaue Flecken wunderbar zählbar sind.
~~~ Freiheitlich und kritisch gestimmte Redaktionen hätten also Schlagworte wie gewaltbereit oder neuerdings Pandemie (ohne Gänsefüßchen) gnadenlos auszumerzen, ob es dem Autor nun gefällt oder nicht. Würden sie aber dadurch nicht genau jene vom zitierten Autor beklagte Presseunfreiheit mehren, nämlich indem sie zensieren? Für mein Empfinden nicht. Es entspräche nur ihrem Mandat. In den kleinen Freien Republiken meiner utopischen Erzählungen werden die Redaktionen der zentralen Blätter stets gewählt – wenn nicht unmittelbar von der Vollversammlung, dann halbjährlich auf der Landesdelegiertenkonferenz. Genau auf diesem Wege können Sie auch jederzeit abgewählt werden, falls man ihr Wirken als selbstherrlich oder stümperhaft erachtet. Ansonsten, in der täglichen Redaktionsarbeit, entscheiden sie nach bestem Wissen und Gewissen.
~~~ Allerdings scheint die Sache mit dem Mandat in unseren, nicht freien Breiten auf betrüblich dünnen und wackligen Füßen zu stehen. Im vergangen Sommer befragte ich das Internet einmal stippvisitenartig, wie es eigentlich um die offizielle Verfassung unserer (für mich) wichtigsten linken / alternativen / systemfeindlichen Blätter bestellt sei. Was ich da zu lesen bekam, auch in den Blättern selbst, war ganz überwiegend 1. verflucht wenig, 2. schön verwaschen. Eigentumsverhältnisse? Entscheidungsstrukturen? Regelmäßige Rechenschaftslegung? Offene Buchführung? So gut wie nichts. Die Blätter bevorzugen für ihre Redaktionsstuben Milchglasscheiben. Sie verweigern somit genau jene »Transparenz«, die sie unablässig, in den Artikeln, im Mund führen. Stattdessen Beteuerungen der Redaktionen, sie seien volksnah, zögen sets ihren pompösen »Beirat« zu Rate, hätten auch den Lesern gegenüber immer ein offenes Ohr für Kritik und was sie dergleichen noch an Senf zur Hand haben. Mit anderen Worten: sie lassen sich nur wirksam kritisieren und kontrollieren, sofern es ihnen gefällt. Dagegen nehmen sie die unablässig erbetenen Spenden gern rund um die Uhr entgegen.
~~~ Hier liegt der alternative Hase natürlich im kapitalistischen Pfeffer. All diese Redaktionen sind zu ihren Blättern oder Portalen gekommen, wie beispielsweise die Familie Carl Henschel um 1800 zu ihrer Kasseler Glocken- und Geschützgießerei: durch fürstlichen Segen oder gleich durch Selbstermächtigung. Zufällig hatten sie eben das Geld, die Schwungkraft und die Gewandtheit dazu. Und konnten sie sich einmal etablieren, haben sie sofort jene Macht, die bekanntlich gern zu Kopfe steigt, auch in den angeblich kritischen Schädeln. Versuchen Sie einmal, weil Ihnen zuviel gegen den Strich geht, ehrenwerte, nie von unlauteren Motiven angeleckte Kollegen wie Albrecht Müller, Roland Rottenfußer, Eckart Spoo abzusägen. Da brauchen Sie mindestens 50.000 oder 200.000 MitstreiterInnen und viel Geduld. Sie müssen also das systemübliche Recht des Stärkeren geltend und Umsturz machen. Genau das, die Revolution, wird aber, wie Brandt-Verehrer Müller zum Beispiel schon bestsellerartig erkannt hat, im Kapitalismus nicht gern gesehen.
~~~ Ob und wie die linken / alternativen / systemkritischen HerausgeberInnen und Redakteure entlohnt werden, scheint übrigens gleichfalls zur Privat- oder Intimsphäre zu zählen. Diesbezügliche Angaben sowie konkrete Zahlen meidet man ähnlich konsequent wie in gewissen rotgrün befehligten Instituten die Impftoten. Mir persönlich ist das egal, weil ich »professionelle« Schriftstellerei seit Jahrzehnten für einen sozialen Irrweg halte, den ich lieber meide. Folgen »systemfeindliche« Publikationen in der Regel der basisdemokratischen Gepflogenheit, keine Autorenhonorare zu zahlen, finde ich es eigentlich in Ordnung. Aber dann sollten sie sich vielleicht auch in ihren Eigentums- und Entscheidungsstrukturen und in ihrem Geschäftsgebaren als Basisdemokraten bewähren. Wenn nicht, wirkt die Annahme eines Artikels leicht als Gnadenerweis.

∞ Verfaßt 2023

Siehe auch → Anarchismus, Kaplan + Sullivan (Bewaffnung) → Autorität, Katte → Demokratie, Gewaltmonopol des Staates → Merle (Insel-Kämpfe) → Mode (Bekleidung), Kratzende Hosen u.a. → Nobel (Alfred & Emil) → Ohrfeige → Warten (GfK) → Band 4 Düster 3 (Vergewaltigung) → Band 5 Lashermink Kap. 9 (Massen-Waffen-Frage) + Musikfreizeit (Sohn gegen Vater) + Ikone (gegen Chef) + Orthopäde (gegen Mediziner)




Der Berliner Gangsterboß Werner Gladow (1931–50), Sohn eines Fleischers, war mit Sicherheit kein Antikapitalist – nur zu kurz gekommen. Obwohl stämmig und eher untersetzt gebaut, fehlte es ihm nicht an Beweglichkeit. Zudem fand er in dem unübersichtlichen, auch zweigeteilten Berlin der Nachkriegszeit ein für räuberische Umtriebe durchaus günstiges Betätigungsfeld vor. Man überfiel im Westen ein Leihaus oder eine Bank, teilte die Beute im Osten; erleichterte dort eine Vopo-Streife um ihre Pistolen, schlupfte wieder zurück, um ein Schmuckgeschäft am Kurfürstendamm oder wenigstens einen Hehler in Zehlendorf aufzusuchen. Mit unliebsamen Zwischenfällen ist zu rechnen. Hier kracht ein als Leiter benutzter Stapel aus Tonnen zusammen, dort springt die Fahrradkette vom Fluchtfahrzeug ab. Beim Pläneschmieden in den einschlägigen Eckkneipen tritt der minderjährige Bandenboß, wegen einer Stippvisite auf einem Gymnasium Doktorchen genannt, gern im schwarzen Anzug mit weißer Krawatte auf. Da er seinem Vorbild Al Capone zunehmend auch im Schußwaffengebrauch nacheifert, häufen sich die Schwerverletzten – und dann gibt es zwei Tote, womit sich die Gladow-Bande viele Sympathien seitens der Gesamtberliner Bevölkerung verscherzt. Mit Hilfe eines »Singvogels« kommt die Ost-Kripo dem 18jährigen Bandenchef auf die Spur. Er hält sich in der elterlichen Wohnung in Friedrichshain auf. Nach ordnungsgemäßem Klingeln an der Wohnungstür und einem nachfolgenden einstündigen Feuergefecht – beides könnte erhebliche Zweifel an der Befähigung der FahnderInnen wecken – wird Gladow verhaftet und im März 1950 verurteilt. Wie Mitstreiter Sohni (11 Jahre Gefängnis) berichtet, kommentiert sein junger Boß das gegen ihn verhängte dreifache Todesurteil auf eine Art, die den Richter leichenblaß werden läßt.* »Wissen Sie, Herr Richter, hat Doktorchen gesagt, einmal laß ich mir das ja gefallen, die Birne abhauen, aber det andere beede Mal, würde ich sagen, det is Leichenschändung.«
~~~ Gladow starb mit 19. Sein Wirken wurde bis heute schon wiederholt verfilmt oder auf die Bühne gebracht. Freilich sind die wenigsten so hartgesotten, wie sie vor Gericht abgekocht werden. Nun, nach der Verurteilung, bleiben ja Doktorchen in seiner Gefängniszelle in Frankfurt an der Oder noch immerhin rund acht Monate Zeit, um sich seine bevorstehende Enthauptung auszumalen – während die beiden Menschen, die er auf dem Gewissen hat, bestenfalls für Sekunden ahnten, jetzt gehe es ihnen an den Kragen. Somit liegt im ersten Fall eindeutig Folter vor. Mit schönen Grüßen an China und die USA.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Jens Brüning, https://www.deutschlandfunkkultur.de/vom-metzgersoh-zum-gangsterboss.932.de.html?dram:article_id=128939, 8. April 2005




Go (Brettspiel) → Geld, Shūsaku



Gogh, Theo und Vincent van

Wahrscheinlich ist es unmöglich, die »Fußgängerzone« einer beliebigen deutschen Kleinstadt zu durchqueren, ohne von einem Dutzend Reproduktionen seiner Gemälde auf Plakaten, Kalendern und Postkarten behelligt zu werden. Was Wunder, Vincent van Gogh soll der bekannteste und beliebteste Maler aller Zeiten sein. Wahrscheinlich liebt man vor allem seinen unkonventionellen und mythenträchtigen Werdegang, Armut und weitgehende Verkennung eingeschlossen, sowie die Preise seiner Bilder, die bis heute, nachdem er einmal tot war (Juli 1890), ziemlich stetig in astronomische Höhen stiegen. Man nimmt zumeist an, der »verrückte« Maler aus Holland, der zeitweise in Belgien, später in einem südfranzösischen Irrenhaus lebte, habe sich mit 37 Jahren eigenhändig erschossen. Die Umstände seines Todes sind ähnlich umstritten wie die Frage, ob sich Van Gogh im Streit mit seinem Kollegen und kurzzeitigen Wohngenossen Paul Gauguin das ganze oder nur das halbe Ohr abgeschnitten habe, wobei gelegentlich sogar Gauguin als der Täter gehandelt wird. Auch darüber sind bereits etliche Aufsätze und einige Bücher geschrieben worden. War es eigentlich das linke oder das rechte Ohr? Man wird vielleicht erwidern, das sei relativ, je nach Standpunkt des Betrachters. Mit der »Bedeutung« eines Menschen oder Werkes verhält es sich ähnlich, nur haben die PrägerInnen des Kanons, wie ich vielleicht schon einmal bemerkte, meist die Kanonen auf ihrer Seite – in Gestalt von Rotationsmaschinen, Lehrstühlen, Fernsehkanälen beispielsweise. Vor diese Kanonen gebunden, wird sich übrigens auch jeder junge Mensch, der als »Senkrechtstarter« in den zeitgenössischen Literaturbetrieb einzugehen gedenkt, zweimal überlegen, ob er das sogenannte Hauptwerk des belgischen »Klassikers« Charles De Coster, der 1879 mit 51 Jahren aus mir unbekannten Gründen von uns ging, in die Nähe von Lamme Goedzaks Schmerbauch und Thyl Ulenspiegels Esel rückt.
~~~ Ich will meine Abneigung kurz begründen, wobei ich mich auf die dtv-Dünndruck-Ausgabe in der Übersetzung Walter Widmers beziehe. Danach verzapfte De Coster sein Epos über den flämischen Befreiungskampf gegen die Spanier Ulenspiegel (1867) zu allem Unglück in einem altertümelnden Französisch, dem es gelingt, die starke Tendenz des Werkes zur Langatmigkeit bis zur Aussichtslosigkeit zu steigern. Die Nähe zum Alten Testament liegt für den Kenner schon durch De Costers inflationären Gebrauch des Bindewörtchens und auf der Hand. Auch De Coster liebt die Wiederholung, sowohl in stilistischer wie in thematischer Hinsicht, und er liebt die Verherrlichung von Kraft und Gewalt. Von den meisten Leuten, für die die »Weltliteratur« gedacht ist, scheint Kernigkeit als ein maßgeblicher, revolutionärer, unverzichtbarer Zug der Volksseele erachtet und geachtet zu werden. Aber man steht jenen Kanonieren mit einem Korkenzieher gegenüber, der nichts ankratzt. Es verhält sich wie mit den nutzlosen Dementis gegen breit und wuchtig ausgestreute Falschmeldungen.
~~~ Zurück zum Ohrabschneider. Essayist Herbert Eulenberg behauptete in einem kleinen, gut gemalten Porträt*, Vincent van Gogh habe vielleicht unter Wahnsinn, nie jedoch an Ruhmessucht gelitten. Als Wanderprediger wie als Maler sei er einfach nur besessen von seinen Eindrücken gewesen. Er mußte sie also mitteilen – und wäre das Echo noch so gering gewesen. Es war auch gering. Doch was soll man da erst von seinem vier Jahre jüngeren Bruder Theo van Gogh sagen! Er überlebte seinen schaffenswütigen Bruder lediglich um ein halbes Jahr. Der gelernte Kunsthändler, zuletzt Filialleiter einer Brüsseler Kunsthandlung in Paris, hatte Vincents »Verrücktheit« in Kauf genommen, wenn nicht sogar geachtet und ihn über viele Jahre hinweg in jeder Hinsicht unterstützt – und zwar selbstlos, wenn mich meine Informanten nicht täuschen. Es wäre ein ermutigender Fall von Geschwisterliebe. Vincents Tod traf Theo hart. Aufgrund einer Syphiliserkrankung ohnehin bereits angeschlagen, zudem von seinem Einsatz für den Verstorbenen abgekämpft, erlitt er schon im Oktober 1890 einen Nervenzusammenbruch. Seine Familie ließ ihn in eine Utrechter Heilanstalt bringen, wo er im folgenden Januar im Alter von 33 Jahren starb.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Herbert Eulenberg, Ausgewählte Schattenbilder, Ostberlin 1951, S. 223–30




Golf (Sport)

Laut deutscher Wikipedia endete das Leben des US-Profigolfers und Playboys Tony Lema (1934–66) »jäh und tragisch«. Er war erst 32. Dabei hatte er als junger Marine-Soldat sogar den Korea-Krieg überlebt! Anschließend in der Heimat zunächst als Golflehrer erwerbstätig, stieg Lema ab 1962 nahezu raketenartig in die Weltspitze seines Betuchten-Sportes auf. Sein tragisches Schicksal schlug Ende Juli 1966 bei Chicago auf einem Golfplatz zu, der günstiger- und tückischerweise unweit des Lansing Municipal Airports lag. Auf dem Golfplatz sollte Lemas nächstes Turnier stattfinden. So hatte er am Ort seines vorausgegangenen Auftritts, in Akron, Ohio, eine kleine Privatmaschine angeheuert, doch leider ging dieser Beechcraft Bonanza just beim Begutachten der nahe des Flughafens gelegenen Wettkampfstätte der Treibstoff aus – Absturz und Feuersbrunst, und zwar am 17., dem vorletzten Loch des Platzes, wie der zuweilen gutinformierte Spiegel wußte.* Damit hatte sich Lemas Antritt beim gebuchten Turnier des Lansing Sportsman's Clubs erübrigt. Auch seine Gattin Betty (30) und zwei Piloten bissen bei dem »crash« ins Green. Das Wochenblatt verzichtete übrigens auf die von Wikipedia gesichtete Tragik und hielt seinen Lesern stattdessen die einträglichen Geschäfte der ProfigolferInnen vor Augen.
~~~ Fast möchte ich glauben, vom exzessiven, meist unbedenklichen Einsatz des Wortes »Tragik« in unseren Medien werde sogar »Verschwörungstheorie« übertrumpft. Achten Sie einmal darauf, es ist wunderbar widerlich. Mein alter Brockhaus (Band 22 von 1993) behauptet, »tragisch« bedeute 1. schicksalshaft. Demnach liegt in allen bislang angeführten »tragischen« (Un-)Fällen ein Verhängnis vor. Der Bergsteiger konnte nichts dazu. Er folgte dem schicksalshaften, unerforschlichen Ruf der Berge, als er seine Eisen in den Fels schlug und in einem Spalt desselben landete. Nach gleichem Schema werden die SpringreiterInnen auf die Pferderücken und die Senatorinnen hinter ihre Lenkräder gezwungen. Ein anderes, weniger antikes Wort für Schicksal wäre vielleicht Sachzwang, aber das wäre schon fast zu genau. Man könnte ins Nachdenken kommen. Der Zweck der Übung, so gut wie jedes »schlimme« oder »schreckliche« Ereignis dem erfolgreich globalisierten, gummihaften Bezirk der Tragik zu überantworten, liegt aber gerade darin, uns vom Nachdenken zu entlasten. Weder sollen wir argwöhnen, bei bestimmten häufigen Unfällen liege die Grundschuld bei geradezu irrsinnigen und gemeingefährlichen, wenn auch den Aktienkursen und dem »sozialen« Ansehen sehr zuträglichen Gepflogenheiten des Transportes, des Sportes oder des Wirtschaftens überhaupt; noch sollen wir zwischen unterschiedlichen, jedenfalls nicht gleichzeitig erfolgten Unfällen differenzieren.
~~~ Wie sich versteht, kann die gutgeschmierte Megamaschine keine Differenzen gebrauchen. Einzelheiten lenken nur ab. Sie lassen die Maustaste einfrieren, während es doch viel günstiger ist, wenn wir hübsch weiterspringen. Sollte mithin, Brockhaus zufolge, »tragisch« 2. erschütternd bedeuten, dann kommt es darauf an, durch erbarmungslose Gleichmacherei jede Erschütterung gerade zu vermeiden. »Ja, schrecklich«, gähnt der Online-Redakteur, klickt rechts weiter und schiebt sich mit Links das nächste Stück Pizza zwischen die Zähne. Die Pizza hat ihm ein maskierter Bote gebracht. Er selbst arbeitet maskenfrei. Seine Maske ist der mit Schlagworten und Gemeinplätzen gepanzerte Bildschirm.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.spiegel.de/sport/tod-am-17-gruen-a-a8399a30-0002-0001-0000-000046414036?context=issue, 21. August 1966



Der über knapp zwei Spalten ausgedehnte Platz, auf dem uns Brockhaus Golf vorstellt, ist von den bekannten Bedenken, etwa Vermögenslage und Ökologie betreffend, gleichsam leergefegt. Da zeigte sich schon 1966 sogar der Spiegel kritischer, wie ich neulich in meinem Nasen-Eintrag über den US-Profigolfer und Playboy Tony Lema erwähnt habe. Der 32jährige stürzte bei Chicago mit einem Privatflugzeug ab – über einem Golfplatz. Näheres zu den Bedenken läßt sich nebenbei meiner ersten Kommissar-Düster-Geschichte »Der Rollstuhl« entnehmen, Kapitel 14. Düster und seine neue Flamme Ilona Velberting suchen ausflugsweise Schloß Escheberg bei Zierenberg auf. Dem traditionsreichen Anwesen ist ein Golfplatz angeschlossen.
~~~ Sieht man sich ein bißchen im Internet um, scheint es auf Golfplätzen nach wie vor sowohl Golfbälle wie Unglücksfälle zu hageln. 2022 meldet just der Spiegel, durch einen mißglückten Abschlag habe (2019) in Utah, USA, ein Vater sein eigenes sechsjähriges Töchterchen getroffen, tödlich. Man liest auch von gefährlichen Wildtieren und tödlichen Blitzschlägen. Die Vielfalt übertrifft in dieser Hinsicht den erbärmlichen aufgepäppelten Golfplatzrasen bei weitem. Ein Gerichtsmediziner hat kürzlich ein ganzes Buch mit dergleichen gefüllt.
~~~ Wahrscheinlich ist Ihnen auch schon Agathe Christies 1923 veröffentlichter Krimi Der Mord auf dem Golfplatz untergekommen. Knapp 100 Jahre später, 2021, fanden sich auf einem Golfplatz in Georgia, USA, drei Leichen von Erschossenen, darunter Golfprofi Eugene »Gene« Siller, 41. Möglicherweise war er Zufallsopfer. Die Polizei nahm bald nach der Entdeckung an, Siller sei dem noch flüchtigen Täter bei einem Verbrechen oder der Verwischung von Spuren in die Quere gekommen. In dessen anscheinend in einem Sandfang festgefahrenen Pick-up lagen zwei Leichen.*
~~~ 2022 gab es Wirbel um die Bestattung der Ex-Gattin des Ex-US-Präsidenten Trump. Er hatte sich in den dicken Schädel gesetzt, Ivana (in New Jersey) auf einem Golfplatz zu verscharren, der ihm sowieso bereits gehörte. Böse Zungen warfen ihm vor, das mache er nur, um Steuern zu sparen.** Dabei ist das doch, neben der Eitelkeit, das Hauptmotiv, warum sich einer überhaupt den Mühen eines hohen politischen Amtes unterzieht: noch reicher zu werden, als er ohnehin schon ist.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* https://eu.cincinnati.com/story/news/2021/07/07/gene-siller-pro-golfer-shot-georgia-killed-because-he-came-upon-crime-police-say/7885946002/
** https://www.sueddeutsche.de/panorama/ivana-trump-golfplatz-steuern-grab-1.5632002, 1. August 2022




Graf, Emma und Oskar Maria

Emma (1889–1917) war lediglich die Schwester des bayerischen Schriftstellers Oskar Maria Graf, den Brockhaus selbstverständlich nicht übergeht. Das Internet weiß mit Mühe ihren schlichten Vornamen. Auch der berühmte Bruder verrät zumindest in seinen 1927 veröffentlichten Jugenderinnerungen* – die Brockhaus als ein »vielbeachtetes autobiografisches Zeitdokument« erwähnt – nicht eben viel von ihr. Sie hatte in München Damenschneiderei gelernt, half dann aber offenbar im Hause der elterlichen Landbäckerei mit: in Berg am Starnberger See. Ebendort war sie zuletzt fast zwei Jahre bettlägerig. Oskar benennt ihre Krankheit nicht. Ich tippe auf Tuberkulose oder die sogenannte Spanische Grippe, die damals umging. Die Schwarzhaarige sei heiter und hübsch gewesen, einst sogar Ballkönigin. Von einem Heiratswunsch wird nichts gesagt. Dem Tod, wohl Ende August, habe die 28jährige ziemlich gefaßt ins Auge gesehen, im Gegensatz zu ihm. Über seine Mutter soll er übrigens später ein ganzes Buch geschrieben haben.** Über Emma nicht.
~~~ Ein Jahr darauf ereilt es, in München, auch die Gefährtin von Grafs engem Freund »Schorsch« Georg Schrimpf, die 26jährige Bildende Künstlerin Maria Uhden. Die Tochter eines »herzoglichen Baurates« war zeitweise in der Residenzstadt Gotha aufgewachsen, Waltershäuser Straße 9. Sie galt als einfallsreich und hochbegabt. Jedes zweite Foto zeigt sie mit einer Katze im Arm. In ihrem Todesjahr war sie selber gerade Mutter geworden, »überglücklich«. Trotz aller Not habe sie sich ihre »echt frauliche Heiterkeit« bewahrt. »Plötzlich mußte sie sich hinlegen und starb nach wenigen Tagen infolge einer Gebärmutterinfektion.«
~~~ Ein Verdienst von Uhden kann ich zumindest versichern: Sie hält Oskar einmal (S. 374) eine ausgezeichnete Strafpredigt, die von ihrer Menschenkenntnis zeugt. Sie schimpft ihn einen Selbstbetrüger, der fast nur aus Angst und Illusionen bestehe; er prahle gern, sei jedoch der unglücklichste Mensch, der in München herumlaufe. In der Tat muß er ein selten törichter Taugenichts gewesen sein, zwischen Klein- und Übermut schwankend wie ein Schilfrohr am Starnberger See, 30 Mal jährlich zerknirscht und reuig, ohne sich in seiner ganzen Jugend jemals nennenswert zu bessern. Grabbe hätte ihn verstanden. Der bayerische Bruder im Naturell macht immer wieder die gleiche Scheiße, darunter der Schleichhandel und die Sauf- und Freßgelage. Das ist, auf die Dauer, selbst für den Leser peinlich, und wenn Graf es ohne Beschönigung eingesteht, wird es gleichwohl nicht sympathischer. Vielleicht liegt es nur daran, daß seine Schilderung tatsächlich echte, handwerklich unstatthafte Längen hat. Die Wiederholung der Scheiße hat keinen Erkenntniswert. Man findet sie irgendwann auch nicht mehr spannend; sie nervt. Das rüttelt nicht an dem hohen Wert der unmittelbaren Eindrücke, die Graf von der Münchener Revolution gibt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* Oskar Maria Graf, Wir sind Gefangene, 1927, hier dtv-Ausgabe München 1984, bes. S. 295–301, 374, 381
** Statt seinem Buch über die Mutter habe ich neulich Grafs spätes Werk über die glänzende Zukunft einer demokratisch globalisierten Welt gelesen – ein Fehler. Ich meine: sowohl meine Wahl wie Grafs Werk Die Erben des Untergangs, Neuausgabe 1959. Ich halte dieses Buch für rundum mißglückt, siehe → Spanienkrieg, Iberien.

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