Dienstag, 7. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 14
Garcia Lorca – Geschlechter, Pin-up-Girl
Garcia Lorca – Geschlechter, Pin-up-Girl
ziegen, 14:25h
Zum Todesdatum des berühmten spanischen, republika-nisch gesinnten Schriftstellers Federico García Lorca (1898–1936) merkt Brockhaus in Klammern an: kurz nach Beginn des Bürgerkrieges von Falangisten erschossen. Das ist mir zu verwaschen. Mancher könnte glauben, Lorca sei im Gefecht gefallen – dabei wurde er, nach zahlreichen anderen Quellen, eindeutig ermordet. Nur die Gründe für diesen Mord sind weniger klar.
~~~ In der Tat hatte im Sommer 1936 soeben der Spanische Bürgerkrieg zwischen den Anhängern der jungen Republik und den Franco-Putschisten begonnen. Der 38jährige Lorca, Akademiker aus wohlhabender Familie, vor allem als Dramatiker und Lyriker gefeiert, auch begabter Musiker, hatte sich leichtfertigerweise vom republikanischen Madrid aus in seine Heimatstadt Granada, Südspanien, begeben, die gerade von den Falangisten besetzt worden war. Er suchte nun Schutz bei Freunden aus dem rechten Lager, der Familie Rosales, wurde aber verraten, wahrscheinlich durch den »stadtbekannten Spitzel« (Berger) Ramón Ruiz Alonso. Lorcas Sympathie für LandarbeiterInnen, seine republikanische Gesinnung, sein »Zigeunerblut« in den Adern waren Francos Falange nicht weniger ein Dorn im Auge als seine Homosexualität. Zudem sannen die »mariquitas« (Marienkäfer) auf Rache – jene »Clique der Parasiten« (Spiegel 1956), über die Lorca wiederholt seine Verachtung ausgegossen hatte. Möglicherweise war auch Eifersucht im Spiel. Mord war es so oder so. Zum außerhalb der Stadt gelegenen Behelfsgefängnis »La Colonia« verschleppt, wurde Lorca ebendort im Morgengrauen des 19. Augusts des Jahres in einem nahen Olivenhain durch Soldaten der Guardia Civil erschossen. Michael Berger* nennt als Verantwortliche den Major José Valdés Guzmán und dessen Vorgesetzten General Queipo de Llano, damals militärischer Machthaber in Sevilla und Granada. 1940 vermerkte das Standesamt von Granada, Lorca sei »im August des Jahres 1936 infolge kriegsbedingter Verletzungen« verstorben. So kann man es ausdrücken, wenn man den Bürgerkrieg gewonnen hat.
~~~ Makaberer letzter Trost für Lorca: mit ihm glitten an jenem Morgen, laut Berger, noch drei andere durchlöchert an den Stämmen der Olivenbäume hinab: »Der Lehrer Dióscoro Galindo González, zum Tode verurteilt, weil er 'linken Ideen anhing', sowie die Stierkämpfer Joaquín Arcollas Cabezas und Francisco Galadí Mergal, Vertreter der anarchistischen Bewegung aus Granada – sie hatten gegen die Übernahme der Stadt durch die Putschisten bewaffneten Widerstand geleistet.« Über diese drei Los »paseados« con Lorca soll 2007 ein Buch von Francisco Vigueras Roldán erschienen sein. Ihre Alter sind mir nicht bekannt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 14, März 2024
* Michael Berger, http://www.neues-deutschland.de/artikel/204843.in-granada-geschah-der-mord-in-seinem-granada.html, 20. August 2011
Geld
Der japanischer Kaufmannssohn und Berufs-Go-Spieler Hon'inbō Shūsaku (1829–62) wurde mit 33 Opfer einer Cholera-Epidemie. Er hatte früh als Wunderkind in dem Brettspiel für zwei Personen gegolten, das zwar ähnlich wie Schach weiße und schwarze Steine hat, aber ungleich komplexer sein soll.* Später zählte Shūsaku zu den zeitgenössischen Spitzenspielern und stand einer Go-Schule vor. Ohne die Epidemie wäre er sicherlich steinreich geworden. Gegenwärtig leistet sich Japan rund 500 Profis, die von Preisgeldern, Unterrichtshonoraren und vermutlich, wie überall, Werbeeinnahmen leben.
~~~ Denkt man einmal unhonoriert darüber nach, hat dieser Planet einen Zweibeiner hervorgebracht, der seit der Einläutung von Zivilisation und Geldwirtschaft unter 1.000 möglichen Betätigungen garantiert 990 findet, in denen er es zu ungeahnter Vervollkommnung und Vermarktung bringen kann. Die Betätigung mag aberwitzig sein wie sie will, Hauptsache optimierungsfähig und einträglich. Ob Geigenbogen, Marderhaarpinsel oder Billardstöcke im Spiel sind oder einer lediglich in 30 Sekunden des Kopfrechnens sämtliche ungeraden Hausnummern des Erfurter Juri-Gagarin-Rings zusammenzählt – der Rubel rollt. So wird Unterhaltungswert zum Unterhalt, artistisches Vermögen zu statistischem Vermögen. Man wende nicht ein, auf meiner Schweinsblaseninsel, die keine Warenproduktion kennt, freue man sich doch auch, wenn eine aufgrund ihrer Geschicklichkeit bei einem Jagdausflug mit Pfeil und Bogen statt zwei drei Hasen erlege oder wenn die Kartoffeln im Acker einmal besonders dick geraten seien. Die Steigerung führt dort nicht zu mehr Verdienst. Wachsen die Kartoffeln nur mäßig, ist die Insel groß genug, um einen zweiten Acker anzulegen. Gewiß dauert dann die Ernte länger – aber eins hat man dort im Übermaß: Zeit. Allerdings pflegt man diese kaum für ausgesprochen fruchtlose Vervollkommnungen zu verplempern. Man ist sich dort darüber im Klaren: weder Gosteine noch Billardstöcke lassen sich notfalls essen.
~~~ 1988 gewann der gebürtige Bremer Hans Pietsch (1968–2003) die deutschen Go-Meisterschaften. Zwei Jahre darauf brach er sein Sinologiestudium ab und ging nach Japan, um sich unter Shūsakus NachfolgerInnen einzureihen. Er brachte es zum einzigen deutschen Mitglied des japanischen Go-Berufsverbandes, wurde freilich nur ein Jahr älter als der Altmeister. Anfang 2003 auf »Promotion«-Tour in Mittelamerika unterwegs, tauchten auf einem Parkplatz am Amatitlán-See bei Guatemala-City zwei bewaffnete Räuber auf. Offenbar erschossen sie den 34jährigen, obwohl er keinen Widerstand geleistet hatte, wie zwei Kameraden berichteten, die bei dem Raubüberfall nur ihr Geld und andere Wertsachen verloren.**
~~~ Nach Krautscheid ist Go kein Kriegsspiel. Man trachte nach einem (siegreichen) Übergewicht, ohne dabei den Gegner zu vernichten und das grundsätzliche Gleichgewicht der Kräfte zu zerstören. Go trainiere Tugenden wie Geduld, Fairneß, Vorstellungsvermögen und Scharfsinn. Für die Räuber kam wahrscheinlich nur das letzte in Betracht. Ob sie gefaßt wurden, kann ich nicht feststellen.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Christiane Krautscheid, https://www.berliner-zeitung.de/go-ist-nicht-einfach-ein-spiel-es-ist-eine-uralte-asiatische-kulturtechnik-doch-es-droht-eine-beschaeftigung-der-alten-maenner-zu-werden-das-gleichgewicht-der-kraefte-li.22911, 1. April 2000
** »Hans Pietsch«, Sensei's Library, Stand Januar 2023: https://senseis.xmp.net/?HansPietsch
Ein dickes Buch mit dem Titel Philosophie des Geldes, erstmals veröffentlicht 1900, trug dem Berliner Soziologen Georg Simmel (1858–1918) ungleich mehr Ruhm als Geld ein. Davon hatte er sowieso genug: Vater Ewald war Gründer und Mitinhaber der Schokoladenfabrik Felix & Sarotti. Aber gerade diesen Umstand – beim Forschen, Lehren und Schreiben nicht auf Honorar angewiesen zu sein – beklagt der betuchte Sprößling, bleibe ihm dadurch doch ein wichtiger Gradmesser für seine schöpferische Leistung vorenthalten. Ihm fehle, heißt es auf Seite 332 des Wälzers, »jene wohltätige Ableitung und Tröstung durch den Gedanken, wenigstens im wirtschaftlichen Sinne das Seinige getan und die Anerkennung dafür empfangen zu haben; er sieht sich vor ein: Alles oder Nichts – gestellt und muß über sich selbst nach einem Gesetzbuch richten, das keine mildernden Umstände kennt.«
~~~ Schweigen wir von Schund, der Anerkennung in fünf- oder siebenstelliger Höhe bringt, weil der Bedarf für ihn da ist. Auch dann sind Milde und Strenge noch immer ähnlich relativ wie das Geld. Zwar sehen wir uns alle demselben Mehrwertsteuersatz unterworfen, aber wir sind nicht alle Milliardäre. Im Oktober 2009 sind es (offiziell) nur 99 von uns Deutschen. In der »Volksrepublik« China dagegen schon 130, wobei die Dunkelziffer recht hoch sein soll. Mit anderen Worten: wie die Mehrwertsteuer, trifft mich auch Simmels furchtbare Prosa empfindlicher als sie den üblichen Doktoranden treffen dürfte. Da hat Simmel beim Richten seiner selbst viel Nachsicht geübt. Ausgefuchste LeserInnen werden sich allerdings den Löwenanteil seiner hölzernen und zudem langatmigen Untersuchung ersparen, weil einem der Wurm, der in ihr sitzt, schon auf den ersten Seiten begegnet, wenn mich nicht alles täuscht. »Wert« sei so wenig erklärbar wie »Sein«, verkündet Simmel da. Er stellt sie als gleichrangige, unhinterfragbare Grundtatsachen des Lebens hin.
~~~ In Wahrheit ist die Bewertung der Versuch der Orientierung im Sein. Die Bewertung soll uns dazu dienen, das Sein zu ermöglichen oder zu verbessern. Ich möchte herausfinden und entscheiden, was mir zu-, was mir abträglich ist. Somit hat Bewertung von vornherein subjektiven Charakter. Simmel dagegen erhebt »den Wert« zur natürlichen oder gottgewollten Grundkategorie. Nur auf dieser Basis läßt er subjektive Unterschiede in der Wertung gelten. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, wenn er von Anbeginn unbeirrt auf den Tausch zusteuert; er setzt ihn immer schon voraus. Als »die Wirtschaft« setzt er übrigens auch den Kapitalismus schon immer voraus. Das ganze quantitative Denken der Moderne wird von ihm um keinen Deut in Frage gestellt.
~~~ Selbstverständlich kann »Wert« nur durch Vergleich ermittelt werden. Es sind aber nicht nur (subjektiv) unterschiedliche, sondern auch andere Orientierungsversuche im Sein denkbar, als mit Hilfe von Vergleich und Tausch. So kann ich mich beispielsweise in einer Horde von Neandertalern oder in einer postmodernen anarchistischen Kommune anerkannt und wohl genug fühlen, um dieser Krücken, die sich früher oder später unweigerlich gegen den anderen erheben, nicht zu bedürfen. Die Krücken pochen auf die Ermittlung, wer oder was mehr Wert habe; sie heißen Aufrechnung, Wettbewerb, Krieg. In friedlichen Gemeinschaften haben die Dinge und Personen aus sich selber heraus Wert. Entsprechend werden sie geachtet.
~~~ Ansonsten reitet Simmel 600 Seiten lang auf seiner Grundformel von der Absolutheit der Relativität auf Erden herum, wie man abkürzend spötteln könnte. Das Geld steht an der Spitze. Als »reine Form der Tauschbarkeit« ist es absolutes Mittel und absoluter Zweck zugleich.* Diese Sonne steht natürlich auch über der Eigentums-, Klassen-, Machtfrage, die deshalb unter den Tisch fallen kann. Simmel mag seinem Zentralgestirn ein paar soziologische und psychologische Beobachtungen abgewinnen, die inzwischen zum Gemeingut geworden sind, etwa hinsichtlich der entwertenden, zynischen Auswirkung der Geldwirtschaft auf den menschlichen Verkehr im allgemeinen. Doch ein guter Schriftsteller hätte diese Beobachtungen in einem Bruchteil des Wälzers gegeben. Um ein Korn von seiner Krawatte aufzupicken, holt Simmel bis an die stuckverzierte Zimmerdecke seiner großzügigen Wohnung im Berliner Westend aus. Prompt wird dann das Korn von der wuchernden Darlegung erstickt.
~~~ Wenn Adorno in seiner Minima Moralia (1951) befindet, Simmels Schriften krankten allesamt »an der Unvereinbarkeit ihrer aparten Gegenstände mit der peinlich luziden Behandlung«, kann ich ihm nur bedingt zustimmen. Simmels »Durchsichtigkeit« hat mit Klarheit nichts zu tun. Unanschaulichkeit, wo man bei ihm hinguckt. Die Begriffe so abstrakt wie möglich. Aber um Gottes willen keine Korinthe übersehen, die auf den Parkettfußboden gefallen ist! Was er betreibt, ist nervtötende Pfennigfuchserei, nicht Philosophie. Und wer hätte es gedacht: sein Schmäher Adorno ist ihm erstaunlich verwandt. Auch Adorno drückt sich so abstrakt wie möglich aus, erschlägt uns mit Begriffen und Fremdworten, befleißigt der gestelzten Wendungen sich und dreht die Dinge oder Beziehungen um und um, bis er uns eine »Entdeckung« präsentieren kann – die natürlich umwerfend sein soll …
~~~ Wie sich versteht, hätte ich den Verdacht, in der Minima Moralia betreibe einer in hochgestochenster Weise Haarspalterei oder Spiegelfechterei, vor 20 Jahren kaum auszusprechen gewagt. Gewiß bin ich in nahezu sämtlichen moralischen/sozialpolitischen Fragen Adornos Meinung – aber wie viel einfacher und umstandsloser ließe sich die sagen! Im Vergleich zu seinem Aufbauschen ist Adornos Ertrag dürftig. Warum macht der elitäre Geißler aller Herrschaft das? Wen will er mit seiner Prosa einschüchtern? Alle SchülerInnen, die ihm dereinst den Thron des tiefsten und damit größten kritischen Denkers streitig machen könnten? Eine Herkulesarbeit! Stößt er doch in seiner Minima Moralia schon zum Auftakt** ins gleiche Klagehorn wie der gescholtene Simmel: die sozial privilegierten Groß- oder Tiefdenker hätten es besonders schwer. Sie müssen einen Sturm um ihre Einsichten entfesseln, wo erdverbundenen schlichten Menschen ein kräftiges Pusten reicht.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* bes. S. 100, 241, 242, Ausgabe (unveränderter Nachdruck der 6. Auflage von 1958) Berlin 1977
** Im Stück »Für Marcel Proust«, in der Suhrkamp-Ausgabe von 1983 auf Seite 15
Schlechte Gutscheine --- Die meisten Alternativentwürfe zum kapitalistischen Wirtschaften scheuen Radikalität und Konsequenz wie die italienischen »Kommunisten« Hammer & Sichel. So entpuppen sich diese »Alternativen« bei näherem Hinsehen als Varianten kapitalistischen Wirtschaftens. Allin Cottrell, laut Junge Welt (5. Juli 2008) Professor für »Makroökonomie und Ökonometrie« in Wake Forest/USA, will die allgemeinen Prioritäten – in welche Bereiche investieren wir wieviel? – durch Volksabstimmungen festgelegt wissen. Das klingt zunächst nicht übel. Die näheren Wünsche ergäben sich aus den Entscheidungen des Verbrauchers – die allerdings nicht mehr Kaufentscheidungen heißen dürfen. So schiebt der Verbraucher, Frauen eingeschlossen, im Laden »Arbeitsgutscheine« auf den Tisch. Als Arbeiter erhält er für jede Arbeitsstunde einen Schein – aber vielleicht hat er seine Scheine auch gefunden, geerbt oder geraubt. »In jeder Periode wird der Plan angeglichen, um mehr von den Gütern, die relativ zur Nachfrage knapp sind, und weniger von jenen zu produzieren, die nicht so beliebt sind. So haben wir eine Art 'Markt', aber ohne Geld und nicht vom Profit getrieben, sondern von der Bereitschaft der Menschen, Stunden ihrer eigenen Zeit für den Erwerb verschiedener Güter herzugeben.«
~~~ Auf diese Art hätten wir in der Tat den Markt beibehalten – und das Geld selbstverständlich auch. Was anderes sollte das Zahlungsmittel »Arbeitsgutschein« darstellen? Mit der Arbeitszeit beruht es sogar auf demselben Maßstab wie unser herkömmliches Geld. Es dient dem reibungslosen Tausch wie Euro oder Dollar ihm dienen. Wer den Kapitalismus überwinden will, muß jedoch den Tausch zugunsten des Teilens und Verteilens ächten. In den Fußstapfen unserer wildbeuterischen Vorfahren beweisen Dutzende von anarchistischen Kommunen seit Jahrzehnten, das Teilen – das nie »ökonometrisch« ist – läßt sich selbst unter ungünstigen Startbedingungen pflegen. Behauptet Cottrell, seine Gutscheinwirtschaft sei nicht mehr vom Profitstreben getrieben, sitzt er reinem Wunschdenken – und eben dem quantitativen Denken auf. Tausch/Vergleich/Konkurrenz kreisen um das Mehr oder Weniger. Sie impfen uns das unablässige Bewerten ein, ob wir wollen oder nicht. Um eine gängige Metapher zu bemühen, fahren quantitatives Denken, Profitstreben und Fortschrittswahn auf derselben Schiene.
~~~ Die Alternative erfordert Umkehr. Sie verlangt den Absprung in ein Denken, das vielleicht rythmisch genannt werden könnte. Stellt Cottrell fest, das grundlegende Kriterium für die Auswahl zwischen alternativen Produktionsmethoden sei die Minimierung der erforderlichen Arbeitszeit, verkündet er Kapitalismus pur. In unseren Kommunen kommt es nicht auf die Dauer sondern auf den Charakter einer Arbeit an. Ist sie sinnvoll? Macht sie Freude? Cottrell scheint echt leninistisch von einer computergesteuerten Megamaschine zu träumen, die alle erwünschten Güter ohne unser Zutun auswirft. Daß sie extrem anfällig wäre und zum Machtmißbrauch geradezu einlüde, interessiert ihn nicht. Und daß sich die freigesetzten BürgerInnen dann zu Tode langweilten, findet er anscheinend prima. Was sollen sie tun? Nach Florida fliegen? Am Strand Hautkrebs züchten? Den Milliarden Scharlatanenstücken, die heutzutage als Kunstwerke ausgegeben werden, noch eine Milliarde hinzufügen?
~~~ Nein, was weg muß, sind alle Trennungen. Ich nenne nur Arbeit/Freizeit, Arbeit/Urlaub, Erwerbsleben/Ruhestand, Produktionsarbeit/Sozialarbeit, Hand- und Kopfarbeit. Die Abgetrenntheit von jener Megamaschine, Staat eingeschlossen, gehört natürlich auch in diese Reihe. Cottrell setzt für seine »neue« Planwirtschaft offenbar das übliche Staats- oder Kommunaleigentum voraus. Schon den darin Tätigen billigt er aber nur »eine gewisse demokratische Kontrolle« über ihre Arbeitsbedingungen zu. Zur Krönung hält er »große Änderungen in unserer Art der materiellen Produktion« für unumgänglich, wenn wir auf diesem Planeten das gegebene Jahrhundert überleben wollten – ohne über diese Änderungen auch nur ein Tönchen verlauten zu lassen. Entweder hat er keinen blassen Schimmer von ihnen, oder aber, er hütet sich vor ihnen, weil die Forderung grundlegenden Umdenkens gar zu radikal wäre und die Leute vor den Kopf stieße. Wäre sie auch zu irreal?
~~~ Jedenfalls halte ich es für illusorisch, den Kapitalismus in unseren aufgeblähten und zentralisierten Organisationsformen überwinden zu wollen. Legionen von roten oder grünen Politikern – auch in der DDR – haben längst bewiesen, wie automatisch sie sich von uns entfernen, während sie uns angeblich dienen. Übrigens haben sie sich auch von dem in den 80er Jahren beliebten Slogan small is beautiful rasend entfernt. In Hochgeschwindigkeitszügen oder 140-PS-Geländewagen. Ich gebe also zu, daß ich mir eine Überwindung des Kapitalismus im Rahmen des derzeitigen Deutschlands nicht vorstellen kann – vom Moloch Europa ganz zu schweigen. Da ich jedoch auf der anderen Seite kein Pygmäe und auch kein Mönch bin, werde ich Mittel und Wege finden müssen, wie ich hin und wieder aus meiner überschaubaren Räterepublik Hörselgau nach Kassel oder Brüssel komme. Das Pferd war über Tausende von Jahren hinweg ein hinreichendes Transport- und Arbeitsmittel. Unfälle a lá Eschede mit über 100 Toten kannte es nicht. Bedienen wir uns aber trotzdem der Schienen, weil sie nun schon einmal liegen: wer verwaltet, wartet – und beherrscht das Schienennetz, wenn es in ganz Europa nur Zwergrepubliken gibt?
~~~ Vielleicht sollte ich doch lieber zu Hause bleiben. Eigentlich läßt es sich in Hörselgau schon ziemlich gut leben. Einfuhren benötigen wir kaum. Wir machen alles selber – nur umfaßt dieses Alles nicht sonderlich viel. Zum Beispiel hegt in unserer Räterepublik kein Mensch den Wunsch, in seiner Hand oder auf dem Balkon des Nachbarn eine Videokamera zu wissen. Für die Computer in unseren 23 Internetcafes haben wir sogar eine eigene kleine Fabrik. Zu verspeisen pflegen wir nicht das, was uns über Satellitenfernsehen das Wasser im Munde zusammen laufen lassen soll, sondern nur das, was unsere Wälder, Gärten und Ställe je nach Saison gerade so hergeben. Wir brauchen keine Kiwis, die in Wahrheit nur aufgeblasene Stachelbeeren sind. Unsere Räte werden in direkter Wahl bestimmt. SchädigerInnen des Gemeinschaftslebens kommen vor ein Schiedsgericht, dessen Mitglieder zumindest teilweise ausgelost werden – eine Anregung, die ich Cottrell verdanke.
~~~ Machen wir uns nichts vor: Eine Nichttauschgesellschaft setzte neben beträchtlicher Vertrauens- und anderer Bildung Überschaubarkeit voraus. Jene »Überlebensfrage« nach Änderung unserer Produktionsweisen schlösse also auch diese ein: Wie könnte uns die unumgängliche Verkleinerung der gesellschaftlichen Organisationsformen auf diesem Planeten gelingen? Sollte das Wunder geschehen, Frau Merkel, Herr Obama und Konzernriesen wie Bunge, Siemens, Monsanto, Exxon Mobil ermuntern uns dazu? Sollten sie bereit sein, das Rad der Geschichte auf handhabbare Ausmaße zurückzudrehen – obgleich sie gerade daran verdienen, daß es uns Arschlöcher der Welt überrollt?
~~~ Schlimmer noch, ich halte es sogar für nicht ausgeschlossen, eine Nichttauschgesellschaft wäre nirgends machbar, weil das Tauschwertprinzip (2 Eier = 70 Cent) verdächtig an das Identitätsprinzip (A = A) erinnert. Das hieße, wir wären auf Vergleiche angewiesen, um die Dinge und uns selber überhaupt erkennen zu können. Schon erwächst daraus die Konkurrenz.
∞ Verfaßt 2008
Tauschland --- 99 von 100 Menschen, die Sinn oder Unsinn des Geldes erörtern, setzen den Tausch bereits voraus. Für den Tausch ist das Geld sicherlich nützlich, wenn nicht sogar unverzichtbar. Doch für den Tausch selber gilt dies keineswegs. In den frühen Familien, Horden, Stämmen unserer Gattung wurde mit Sicherheit nicht getauscht. In Pueblos, Klöstern, Kibbuzim finden wir statt Tausch Verteilung. Gestehen wir ihnen Autarkie zu, läßt sich das auch an heutigen anarchistischen Landkommunen oder deren regionalen Verbänden leicht zeigen. Warum sollten die Leute tauschen? Schließlich ist alles da – vom Radieschen über Ziegen und Gehölze bis zum neuen ovalen Eßtisch. Es muß nur bearbeitet, bewegt, bereitgestellt werden. Was täglich oder saisonal benötigt wird, ist bekannt oder wird vereinbart. In einer solchen gemeinschaftlichen und geschlossenen Ökonomie wäre Tausch beinahe lächerlich.
~~~ Ich bemerke nur am Rande, daß die kapitalistische Not des Tauschens und Verkaufens ungeheuerliche Kosten verursacht, die volkswirtschaftlich betrachtet einen Riesenverlust darstellen: Handel, Banken, Buchführung, Geldautomatenbau und dann noch die sogenannte Werbung für den ersten sich selbst fütternden Geldautomaten. Hier können wir auch gleich die hochgelobte Konkurrenz ansiedeln, die jeden Landstrich beispielsweise in ein Materialschlachtfeld von 17 miteinander verfeindeten Paketzustelldiensten verwandelt. Konkurrenz züchtet neben Vergeudung und Betrug jeder Art den Krieg.
~~~ Der wesentliche Nachteil des marktwirtschaftlichen Verfahrens liegt im Tausch selber, der ein Vergleich ist. Denn dieses Vergleichen hat verheerende Folgen. Wollen wir voneinander verschiedene Güter oder Leistungen miteinander vergleichen, kommen wir ja nicht umhin, sie auf etwas zu reduzieren, das ihnen vielleicht doch – ihrer Verschiedenheit zum Trotz! – gemeinsam ist. Wie uns Ricardo, Marx und Georg Simmel erläutern, kann diese Gemeinsamkeit von etwa Eßtisch, Ziege, Text nicht in Eigenschaften wie nützlich, angenehm, schön, lebendig, dinghaft und dergleichen liegen. Denn das läßt sich nicht messen. Die Warenproduktion, die vom Tausch lebt, bedarf eines Zollstocks. Sie muß die Tische, Ziegen, Texte über einen Kamm scheren. Hier bietet sich lediglich der Umstand an, daß sie alle hergestellt, besorgt oder zugerichtet worden sind: durch »Arbeit«. Allerdings handelt es sich eigentlich um völlig verschiedene Arbeiten, weshalb auch sie noch einmal reduziert werden müssen, nämlich auf »Zeit«, also auf die berüchtigte Arbeitszeit. Im Gegensatz zu Ahornholz/Futterklee/Papier lassen sich allein diese in Eßtisch/Ziege/Text investierten Zeitquanten miteinander vergleichen. Der Zollstock heißt Stoppuhr.
~~~ Beethoven und Dvorak legten allerdings wenig Wert auf die Feststellung, wer seine 5. Sinfonie schneller geschrieben habe. Und manche Versschmiede behaupten, »die Zeit« sei die größte Worthülse aller Zeiten. Sie ist abstrakt, beliebig dehn- oder anwendbar, sinnlos. Im Grunde handelt es sich nur um ein Hirngespinst. Jedes Gut, jede Leistung, jeder Mensch haben ihre eigene Zeit. Sie sind unvergleichlich. Sie haben auch alle ihren eigenen Wert. Sie entfalten sich gemäß ihres inneren, einmaligen, kaum nachvollziehbaren Gesetzes. Sobald ihnen Tauschwert zugemessen wird, stecken sie in einer Zwangsjacke. Dann dürsten sie nur nach Geld. Von sich aus gelten sie ja nichts; nur meßbare Anerkennung zählt. Der rennen sie hinterher – getreu dem sattsam bekannten Motto, Zeit sei Geld. Allein diese Begierde nach Geld oder dieses Angewiesensein auf Geld läßt die Menschen im Kapitalismus zueinander in Beziehung treten. Damit wird »Gesellschaftlichkeit« maßgeblich durch völlig abstrakte und letztlich lebensfeindliche Dinge oder Zwecke vermittelt.
~~~ Anders ausgedrückt, haben wir mit der kapitalistischen Warenproduktion eine Züchterin quantitativen Denkens am Hals. Das kostet mich mindestens eine halbe Stunde Arbeit … Wenn du das wegwirfst, sind 50 Euro im Eimer … Woanders bekäme ich viel mehr dafür … Dieses Mehr-Denken steckt, nebenbei bemerkt, auch im »Mehrheitsprinzip«, dem ja so gut wie alle Vereine und Ideologien huldigen, vom Imkerverein bis zum Zentralkomitee der Kommunistischen Partei. Selbst mancher »gewaltfreie« Anarchist besäße gern einen Colt, um dessen Griff mit den Kerben seiner sexuellen Eroberungen verzieren zu können. Eine andere, gleichsam »natürliche« Wurzel des quantitativen Denkens dürfte freilich in der Kindheit liegen: Kleinheit als Makel, sozusagen als Unzulänglichkeit. Rennt Lieschen schneller als Mäxchen zum Hoftor der Landkommune, wo das Postauto hupt, hat sie sich schon ein Schokoladenbonbon verdient. Was ist der sehnlichste Wunsch von Pavle aus Kurt Helds Jugendbuch Die rote Zora, das in keinem linken Buchladen fehlt? Er möchte zunächst Lehrbub des dicken Bäckers Curcin, dann jedoch »der stärkste Mann von Senj« werden. Mäxchen dagegen hat den Lokomotivführer angepeilt. Entsprechend spielt er leidenschaftlich gern Eisenbahnquartett, und zwar in der Form des Schlagabtausches zwischen zwei Leuten. Dabei kommt es ausschließlich auf das Mehr an – wer hat mehr PS, Meter, Tonnen, Wert oder sonstwas aufzubieten. Warum die Lokomotive fährt, wohin sie fährt – was dies alles soll und mit sich bringt, wird um keinen Deut erwogen. Diese Lokomotiven transportieren allein den Fetisch »Wachstum«. Sie wollen groß sein. Sie suchen Erfolg, meßbaren Erfolg, um jeden Preis.
~~~ Die Charakterstärke hat in unserer Tauschwertgemeinschaft so schlechte Karten, weil sie nicht meßbar ist. Nur ein quantitatives Denken kann »Geschwindigkeit« zu einer Tugend erheben, von der noch die größten Idiotien geadelt werden. Auch Computer, Internetanschluß, Suchmaschinen – durch hohen Energieverbrauch, ständige Modernisierung, häufige Pannen wahrscheinlich kostspieliger als Handarbeit – gewähren uns »schnellen Zugriff« auf dies oder das. Wir spüren nicht mehr, daß dabei die Zusammenhänge reißen. Diese »Zeit«, die dem Kapitalismus seinen unbestechlichen Gradmesser gibt, bewirkt geradezu das Gegenteil von »Wachstum«, nämlich Schrumpfung. Sie macht dumm und gemein. Rücksicht auf Tomaten, Kinder, Texte, die sich behutsam entfalten möchten, kennt sie nicht. Und auch nicht auf etwas, das ich einmal kurz und klassisch Lektüre nenne. Möglicherweise ist die Lektüre inzwischen das einzige, das nicht für Geld zu haben ist.
∞ Verfaßt 2007
Für Brockhaus war der Geldautomat noch eine Neuheit: Band 7 von 1989. Am liebsten hätte er sich vor ihm niedergekniet und ihm die Füße geküßt. Dieser Roboter machte ihn nämlich »unabhängig von den Banköffnungszeiten«. Von den Banken, wäre vielleicht zuviel verlangt gewesen. Diesen wiederum bringen die Geldautomaten »Kosteneinsparungen, sofern sie in ausreichendem Umfang genutzt werden«. Ja, die Banken waren so klug. Selbst die einzige Waltershäuser Filiale der regional tätigen BAW (Bank für auszunehmende Weihnachtsgänse) muß sich seit Jahren weder mit Kaufleuten noch mit einem Pförtner belasten. Streikt der Roboter namens Bankautomat ungefähr alle zwei Wochen, nähern sich aber im Laufe des Tages zwei Spezialisten des Subunternehmens Panzerknacker AG, die ihm mit Karateschlägen vielleicht wieder auf die Sprünge verhelfen. Ich stehe unterdessen draußen, klettere wieder aufs Fahrrad und überschlage bei der Rückfahrt die Stunden meiner Fahr- und meiner Wartezeit. Ich würde sie ja der Bank gerne in Rechnung stellen, doch die beiden Panzerknacker behaupten, sowas dürften sie nicht annehmen. Ja, wer denn sonst? Die Zentrale sitzt in Mühlhausen, das sind Luftlinie 35 Kilometer. Luftlinie mit dem Fahrrad, wunderbar!
~~~ Wie sich versteht, kann Brockhaus die »Kosteneinsparung« der Bank nicht einfach »Profit« nennen, obwohl es viel kürzer wäre. Es müssen unglaubliche Gewinne sein, die die Banken durch die »Digitalisierung« genannte »Entpersonalisierung« erzielen. Das ganze »Online-Banking« kommt ja hinzu. Tausende von einstigen durch automatisch lächelnde Personen erbrachte »Service-Leistungen« werden von den Bankmanagern eiskalt auf die Kunden abgewälzt, ohne diese jemals schüchtern zu fragen, ob sie womöglich andere Wunschvorstellungen hätten. Hauen Querköpfe auf den Bildschirm-Tisch, etwa per Email, zuckt der Oberroboter in Mühlhausen hörbar die Achseln: »Sie können uns gerne den Rücken kehren, Herr R., falls Ihnen dies alles nicht paßt.« Ja, prima: wohin denn? Zur nächsten Bank? Die sowieso schon demselben Bankenverbund angehört? Oder doch in die letzte Wüstung des Hörselgaus, wo man keinen Zahlungsverkehr mehr benötigt, weil man da das einzige Arschloch ist?
~~~ Kürzlich streikte mein veralteter »Tan-Generator«, also das Bankkartenlesegerät fürs Online-Banking. Nachdem ich in der Telefon-Warteschleife nicht verdurstet war, empfahl mir die Mühlhausener Bankfachfrau oder Praktikantin, mir ein flottes neues Kartenlesegerät zuzulegen. Sie könne mir umgehend eins ins Haus schicken. Wie ich dann sah, prunkt sogar das Logo der BAW auf dem Gerät. Das Logo, eine entkernte Gans, erinnert entfernt an die Lufthansa. Das Gerät hat Tasten, eine Kamera, einen Display und alles, was man sonst von zeitgemäßer Hardware erwarten kann. Und das alles für nur knapp 20 Euro! Die buchte mir die Praktikantin gleich ab. Angenommen, meine Bank hat zwei Millionen Kunden, die im Laufe der Jahre ebenfalls so ein flottes Kartenlesegerät benötigen. Der Hersteller beliefert die Bank über nacht, wenn er nicht ohnehin schon der Bank gehört. An jedem an Kunden verschicktem Kartenlesegerät verdient die Bank, Porto und so weiter abgezogen, einen Euro, schätze ich einmal. Somit bringen ihr allein diese zwei Millionen Geräte zwei Millionen Euro ein. Dazu pflegen thüringische Landwirte zu sagen, auch Kleinvieh mache Mist.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 14, März 2024
Vater Vespian, nebenbei römischer Kaiser, hielt seinem Sprößling Titus eines Tages die ersten Einnahmen unter die Nase, die er der neuen Besteuerung der hauptstädtischen Bedürfnisanstalten verdankte, und sagte: »Schnupper mal! Na und ..? Geld non olet, mein Sohn!« Das hieß übersetzt, es stinke nicht. Von daher wird diese Redewendung bis heute in Fällen benutzt, wo einem Gegenüber bedeutet werden soll: »man merkt dem Geld nicht an, auf welche Weise es erworben wurde«, wie uns Brockhaus aufklärt.
~~~ Wenn wir schon einmal beim Geld sind: Nobelpreisträger Bob Dylan hat sich in seinem erst kürzlich* erschienenen Alterswerk The Philosophy of Modern Song ebenfalls zu diesem vertrackten Phänomen geäußert. »Der Arme in seiner billigen Rostlaube steht genauso wie der Reiche in seinem Luxusschlitten eine Stunde lang in demselben Verkehrsstau. Sicher, die Sitze sind vielleicht weicher, die Klimaanlage [läuft] besser, aber man steckt trotzdem fest auf der 405. Das Einzige, was man nicht kaufen kann, ist Zeit. Der Hillbilly-Songwriter Bob Miller hat einen Song über die Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich geschrieben, sich aber damit getröstet, dass beide gleich tot sind, wenn sie ihre letzte Fahrt antreten.«
~~~ Unten auf derselben Seite, wenn auch mit anderem Bezug, findet sich noch der erfrischende Kommentar: »Im aufklärerischen Sinne ist das ziemlich schmale Kost.« Dylan liebt das Ausgedehnte und Überladene, denkt aber zuweilen etwas zu kurz. Selbstverständlich kann ich mir Zeit kaufen, sofern ich, wie der Meistersänger, im Schnitt geschätzt 80.000 Dollar täglich einnehme.** Dafür benötigen normal ausgebeutete Leute in der Regel mehrere Jahre. Ich halte mir einfach einige Bedienstete und DienstleisterInnen, die mir soundsoviele Arbeiten abnehmen, damit ich Angeln gehen oder ein Philosophiebuch schreiben kann. Das ist echter Gewinn an Zeit. Dafür unterschlägt Dylan jedoch ein paar wichtige Dinge, die in der Tat nicht kaufbar sind, auch nicht mit einem geschätzten Gesamtvermögen von mindestens 180 Millionen Dollar: Echte Zuneigung etwa; natürliche (medizinische) Abwehrkraft; eine persönliche Lektüre über Jahrzehnte hinweg und die entsprechenden Einsichten in das Getriebe der Welt.
~~~ Einen kleinen Scherz aus der Buchvertriebsbranche steuert passend die englische Wikipedia bei. Es geht um das von mir zitierte Werk. »900 limited edition hand-signed autograph versions of the book were offered for sale online through Simon & Schuster for a price of $599 in the U.S. but it was soon discovered that they were not actually hand-signed by Dylan. The books in question appeared to be machine signed by an autopen or signing device, using at least 17 different signature variations. The publisher apologized in a tweet and provided refunds.«
~~~ Beachten Sie auch: 599. Darüber hat Rio Reiser mal einen Song geschrieben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 27, Juli 2024
* Bob Dylan: New York und München 2022, deutscher Titel »Die Philosophie des modernen Songs«, Übersetzung Conny Lösch, S. 49
** https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146129.bob-dylan-verwertung-bis-zum-letzten-ton.html, 22. Dezember 2020
Siehe auch → Bratt Alfred → Utopien (bes. Band 4 Mollowina, Sturz des Herkules) → Band 5 Zora packt aus, Kap. 9
Geschlechter, Emanzipation, Liebe
Im Jahr 1597 war der Astronom Johannes Kepler noch jung (25) und unberühmt. Rund drei Jahre früher hatte er einen Posten als Hochschullehrer für Mathematik in Graz, Steiermark, ergattert. Nun schritt er daran, eine Familie zu gründen. Seine Braut Barbara (geb. Müller) besitze hier »Güter, Freunde und einen reichen Vater; ich dürfte, allem Anschein nach, in einigen Jahren kein Gehalt mehr brauchen«, teilt er seinem Tübinger Förderer und Freund Michael Mästlin brieflich mit. Koestler versichert*, über die Person der Braut oder über Keplers Gefühle für dieselbe finde sich in dem Brief kein Wort. Immerhin erspart uns Kepler dadurch Heuchelei.
~~~ Wahrscheinlich kommt seine Gefährtin auch sonst, in der Quellenlage überhaupt, äußerst dürr weg – obwohl sie doch so »einfältig und fett an Gestalt« war, wie der Astronom irgendwo anders festgestellt haben soll. Volker Bialas (2004) streift sie nur flüchtig und erwähnt ihren Tod lediglich indirekt. Aber auf ihres Gatten Charakter gibt er viel. Auch von Mechthild Lemckes Rowohlt-Monografie (1995) über den Gatten heißt es, die Autorin gehe kaum auf sein Privatleben ein. Sind Männer wie Kepler Sonnen, erzielen ihre Gefährtinnen bestenfalls die Aufmerksamkeit von Möndchen entfernter, nur aus »Rotverschiebung« ermittelter Planeten. Im Fall Kepler kommt noch der Mißstand hinzu, daß wir in den spärlichen, leider ziemlich ungünstigen Aussagen des ehrgeizigen und rhetorisch beschlagenen Gatten anscheinend auch schon die einzige nennenswerte Quelle zum Wesen der jungen Hauseselin haben, mit der er 14 Jahre lang verheiratet war und fünf Kinder zeugte.** Daran rüttelt vermutlich auch Gadi Algazis erstaunlich gründliche Betrachtung des Keplerschen Haushaltes von 2012 nicht***, die im Internet leider nur bruchstückhaft einsehbar ist. Algazi stützt sich hauptsächlich auf einen langen, wohl 1612 entstandenen Briefentwurf des Astronomen.
~~~ Erschreckender-, wenn auch üblicherweise hatte Barbara, Tochter eines wohlhabenden Müllers aus Gössendorf bei Graz, bereits zwei Ehemänner über sich ergehen lassen müssen, ehe sie, als junge Witwe, von dem schwäbischen »Sterngucker« umworben wurde. Erstmals zwangsverheiratet mit 16, war sie bei ihrer dritten Hochzeit im Jahr 1597 erst 23. Für Johannes entpuppte sie sich als seine Bürde. »In ihrem ganzen Tun ist sie wirr und unbeholfen. Sie gebärt auch schwer. Alles übrige ist gleicher Art.« Laut Koestler stellt Kepler sie als blöde, mürrisch, wehleidig, zänkisch, geizig hin. Ihre Liebe habe ausschließlich Kindern gegolten, aber damit hatte sie ja ebenfalls Pech. Nur zwei von den fünf Kepler-Sprößlingen überlebten ihre Kindheit. Zuletzt, in Prag, fiel Barbaras Liebling, der sechsjährige Friedrich, den vielleicht von Soldaten eingeschleppten Pocken zum Opfer. 1611 wurde das Unglück der Mutter von einem »Ungarischen Fieber« gekrönt, das epileptische Anfälle und Geistesstörungen mit sich brachte. 37 Jahre alt, sei Barbara Kepler »in geistiger Umnachtung« gestorben, schreibt Koestler.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Arthur Koestler: Die Nachtwandler, deutsche Fassung Bern 1959, Seite 271–74 und 387
** Zudem gab es wohl noch eine Tochter, die Barbara bereits in die Ehe mit Johannes eingebracht hatte.
*** Gadi Algazi, »Johannes Keplers Apologie«, in: Reich / Rexroth / Roick (Hrsg): Wissen, maßgeschneidert. Experten und Expertenkulturen im Europa der Vormoderne, München 2012, S. 214–48
Kristina Gräfin Pilati von Thassul zu Daxberg (* 1948). Die ächtungswürdige Formel von den Männern der Feder hat Zuwachs bekommen. Nun haben wir auch die Formel von den Männern in Uniform, also von denen an den Gewehren, zu meiden, dürfen sich doch unsere »Streitkräfte« seit Oktober 2000 ganz grundgesetzlich auch mit Soldatinnen stärken. Wie die interessante Webseite soldatenglück.de schon im Juli 2008 mit Hilfe einer Studie des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr (dem natürlich blind vertraut werden kann) zu verkünden weiß, werde durch die wachsende Zahl von Frauen als Soldatinnen in den Streitkräften »die Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft gefördert«. Ja, darin dürfte auch der Zweck der grundgesetzändernden Übung gelegen haben.
~~~ Allerdings scheint die Sache mit der Gleichberechtigung ein zweischneidiges Schwert zu sein, um in der Fachsprache zu bleiben. In den einen Fällen wird sie brutal eingeführt, in anderen dagegen nicht minder brutal verweigert. Moritz wäre neulich aufgrund eines solchen Boykotts um ein Haar um eine neue Uhr gebracht worden. Er betrat in dem Nest, in dem seine Kommune lebt, das einzige Schmuckgeschäft und erkundigte sich nach der billigsten nichtdigitalen Armbanduhr. Während die Inhaberin Moritz‘ gezielter Frage und seiner etwas schmucklosen Kleidung nachhing, suchte sie an einem Drehständer eine Herrenuhr für 18 Euro heraus. »Und was ist mit dieser da?« wies Moritz auf eine Uhr, an der nur 13 Euro stand. »Das ist eine Damenarmbanduhr«, erklärte ihm die Inhaberin wie einem Siebenschläfer, der kaum die Nacht vom Tag unterscheiden kann. »Macht nichts«, sagte Moritz, »die nehme ich!« – »Aber meinen Sie nicht, es wäre etwas unpassend?« – »Nein. Ich trage sie ohnehin nie am Arm. Am liebsten hätte ich eine unsichtbare Uhr.« – »Ah-ja«, erwiderte sie, »ganz wie Sie wünschen.«
~~~ Sie kassierte und ärgerte sich noch abends vorm Spiegel, als sie nach ihren Kontaktlinsen fischte, über die 5 Euro große Umsatzeinbuße. Hätte Moritz einen Regenschirm, ein Fahrrad oder Jeanshosen verlangt, wäre er wahrscheinlich nicht angeeckt. Da herrscht schon beinahe Freizügigkeit. In meiner Jugend (um 1960) kam es für einen Knaben nicht in Frage, sich auf einem Fahrrad »ohne Stange«, einem Damenrad also, blicken zu lassen. Es hätte Hohn und Schande gehagelt. In der Jugend des Waltershäuser Stadtchronisten Sigmar Löffler, vor dem Ersten Weltkrieg, wäre es nebenbei sogar peinlich gewesen, als Angehöriger des männlichen Geschlechts überhaupt eine Armbanduhr zu tragen – einerlei, ob eine dürre oder eine fette. Armbanduhren galten grundsätzlich als weibisch. Der wilhelminische Herr hatte auf seinem Bauch jene goldene Uhrkette vorzuweisen, an der in den Kolonien die farbigen Träger liefen. Er trug Taschenuhr.
~~~ Heute fährt vermutlich sogar ein hohes Tier wie Ex-Kriegsminister Rudolf Scharping ein stangenloses Kampffahrrad mit Teleskop-Federung und Autopilot für schlappe 2.000 Euro. Rechtzeitig vorgesorgt, wäre sein Urlaubssturz vom Rad, der vor einigen Jahren viel Staub aufwirbelte, sicherlich glimpflicher abgegangen. So aber taugte er nicht mehr zum Armeechef. Nun muß er sich von seiner zweiten Gattin (bis 2017) Kristina Gräfin Pilati von Thassul zu Daxberg, geb. Paul, tyrannisieren lassen und darf nur hin und wieder noch »Public Private Partnership« betreiben. Auch berät er das Beteiligungskapital-unternehmen Cerberus, das Firmen einkassiert, um mehr als 5 Euro Gewinn aus ihnen zu schlagen. Brockhaus meint, in der griechischen Mythologie sei Cerberus der Höllenhund. Er wedele jeden in die Unterwelt Eintretenden freundlich an, lasse aber niemanden mehr heraus gelangen. Er werde meist dreiköpfig und mit Schlangenschweif dargestellt. Der Zynismus unsrer Geschäftswelt und unsrer PolitikerInnen, die die Menschenrechte der albanischen Mafia verteidigen, ist zuweilen atemberaubend.
~~~ Das Geschlecht des Höllenhundes läßt die Abbildung im Brockhaus offen. Dagegen scheint mir bei der Geschlechtszuweisung an die Waren in der postmodernen Marken-Mythologie reichlich viel Willkür zu herrschen. Die Damenuhr muß niedlicher als die Herrenuhr sein, obwohl wir mit der ersten Kanzlerin der germanischen Regierungsgeschichte Angela Merkel eine Dame am Ruder haben, die auf sämtlichen Weltmeeren nicht mehr lange fackelt, sobald sich im Nebel eine Bedrohung unserer Heimat abzeichnet. Auch der Damenschuh darf sich um Himmels willen nicht allein durch seine Größe von einem Herrenschuh unterscheiden, denn in diesem Falle könnten die betreffenden Schuhfabriken zusammengelegt werden, wodurch auf einen Schlag viele Tausend bequeme Arbeitsplätze vernichtet wären.
~~~ Gott sei Dank liegen die Dinge im Autoverkehr gerechter. Ob Dame oder Herr, ein Porsche ist immer gleichgroß und gleichteuer – und der Mensch am Steuer immer gleich tot.
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Verstreute Bemerkungen machten mich auf John Henry Mackays (1864–1933) Buch Die Anarchisten von 1891 neugierig. Welches böse Erwachen, als ich an Weihnachten die ersten Seiten las! Dieses furchtbar geschriebene Buch gibt sich als Roman, wird aber von seinem Autor als Kulturgemälde bezeichnet. In Wahrheit geht ihm alles Bildhafte ab. Es ist ein drittklassiger Meinungsmarkt. In endlosen Gesprächen oder Vorträgen seiner angeblichen Protagonisten versucht Mackay, den von ihm bevorzugten »individualistischen« vom »kommunistischen« Anarchismus abzugrenzen. Die Weitschweifigkeit dieser Unternehmung fördert er nach Kräften durch viel zu lange und verschachtelte Sätze. Dramaturgische Fertigkeiten wurden dem Gymnasiasten, Verlagsbuchhändler, Philosophiestudenten Mackay noch nicht einmal ansatzweise mitgegeben. So bringt er die Biografien seiner beiden Hauptfiguren Auban und Trupp, statt sie zu streuen, auf der Hälfte des Werkes in zwei Blöcken, die wie ein typisch deutscher Dezember auf unser Gemüt drücken. Anflüge von Komik sind seltener als Hornissen in der Antarktis. Bei einer Demonstration durch London, bei der die Erwerbslosen mehr gegähnt als geschrien haben dürften, schwingt sich Mackay zu einem kleinen, krampfhaften Scherz auf: durch einen Faustschlag von hinten her wird einem stutzerhaften Schmäher der Zylinder über Augen und Ohren getrieben. Das Gefühlsleben seiner Helden beläuft sich auf sozialpolitische Leidenschaften. Die Liebe kommt bestenfalls als Fußnote vor. So wird eine kurzzeitige Ehe Aubans mit einer Frau erwähnt, die ihm wegstarb. Laut Auskunft der Lexika soll Mackay allerdings pädophile Neigungen besessen und darüber später auch noch kämpferisch geschrieben haben. Sein Vater starb bereits ein Jahr nach Mackays Geburt. Man darf vermuten, der Sohn war recht gebeutelt. In den Gemütszustand der Verlage, die sich durch einen Nachdruck von Mackays Werk empfahlen, versetze ich mich lieber nicht. Es waren schon mehrere, zuletzt der Forum Verlag Leipzig.
~~~ Wir erleben Mackays Helden im Alter zwischen 20 und 30. Wie kann er da die Liebe aussparen? In dieser Lebensphase stellte für mich ein jeder Tag ohne Geliebte einen verlorenen Tag dar. Hätte ich es nicht gerade hingeschrieben, würde ich es selber nicht glauben. Wie kann man so fanatisch um das andere Geschlecht kreisen (falls man nicht schwul ist)? Jetzt [wohl 2011] sitze ich schon seit über 10 Jahren auf dem Trockenen und habe mich immer noch nicht umgebracht. Noch einmal 10 Jahre, und meine Haut ist trockener als das Papier, auf dem meine Bücher gedruckt werden. In der sinnlichen Berührung liege ein Trost, bemerkt F. G. Jünger in seinem nachgelassenen Roman Heinrich March fast erschöpfend. Die besten Bücher und Sätze können ihn nicht bieten. Vor rund fünf Jahren mußte ich aus diskursiven Gründen auf eine bestimmte Frau verzichten, die mich sehr anzog: eine begnadete Sängerin, aber leider auch eine überzeugte Anthroposophin. Kürzlich durfte ich mich noch einmal geschmeichelt fühlen, als ich spürte, daß eine neue Kommunardin aus der Puppenfabrik ein Auge auf mich geworfen hatte. Über das Wesen dieser Frau Mitte 30 könnte ich mich nur rühmend äußern – nur bringt sie mich leider nicht in Wallung. Als ich mir das eingestand, war ich zerknirscht und beschimpfte mich und verfluchte den uralten Dualismus Leib/Seele.
~~~ Was muß das in einem Menschen anrichten, wenn er schon über 10 Jahre lang keinen körperlichen Kontakt mehr zu seinen Mitmenschen hat, Kinder eingeschlossen? Muß er nicht verhärten? Gut – man hat das Kissen, das auch mein Bekannter Roland bei seinem Herzanfall knüllte; man fährt mit der Hand über ein gehobeltes Kiefernbrett; schreitet tüchtig aus; formt mit Zwerchfell und Lippen den Querflötenton; trinkt Sonne oder Schnee mit manchen Poren … Ergo lebt man keineswegs rein geistig. Aber die entscheidende Strahlung fehlt. Sollte es die altmodische Herzenswärme sein? Die Nacktscanner, die sie jetzt an den Flughäfen aufstellen wollen, werden es uns nicht verraten. Stückpreis 150.000 Dollar. Nichts ist zu teuer, wenn es den Prozeß unserer Entwürdigung und Entrechtung sicherer zu machen gilt. Die Herzenswärme findet sich dann auf Seiten der HerstellerInnen wieder. Die ansteigende rote Kurve ihrer Gewinnerwartung durchblutet ihr Herz gut wie nie.
~~~ Allein die Tatsache, daß man als heterosexueller Mann gemeinhin nicht von anderen Männern angezogen wird, ist ein Grund, die Welt als verfehlte Einrichtung abzulehnen. Was dadurch an potentiellen Strahlungsquellen wegfällt! Mit der Vernunft ist es gar nicht zu begreifen, einen Mann, mit dem ich mich gut verstehe, nicht auch umarmen zu wollen. Aber man will nicht. Es wäre mir inzwischen sogar fast zuwider. Das war in meiner Kommunezeit anders – doch diese zärtlichen Gesten blieben stets oberflächlich und unverbindlich. Entsprechend verkamen sie bald zum Automatismus. Noch anders war es einmal in Westberlin um 1980 gewesen. In einem Kreuzberger Hallenbad, wo ich regelmäßig zu duschen pflegte, erwärmte sich ein nackter, wohlgestalteter Mann für mich, der offensichtlich nicht auf den Kopf gefallen war. G. hielt sich als Übersetzer von englischen Krimis über Wasser. Ich ging mit ihm nach Hause. Ich hatte keine Schwierigkeiten, seinen sinnlichen Mund zu küssen und mich an seinen kräftigen Brustkorb zu schmiegen. Doch meine Leidenschaft entfachen zu lassen, blieb mir verwehrt. Ich tat zunächst als ob, denn »schwule Sachen machen« gehörte damals in unseren Spontikreisen zum guten Ton. Dann ließen wir unsere Beziehung binnen weniger Wochen einschlafen. Vorwürfe wurden nicht ausgeteilt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Eileen O'Shaughnessy (1905–45). Als die Tochter eines hohen Zollbeamten 1935 in London einen Schriftsteller trifft, der sich nach einem englischen Fluß Orwell nennt, hat sie bereits mehrere Berufe hinter sich. Fotos zeigen eine schlanke, dunkelhaarige Frau mit hübschem, etwas breitem Gesicht. Eileen wird als gebildet, witzig, hilfsbereit, nicht schüchtern, aber unaufdringlich und auch ihrerseits wenig zugänglich geschildert. Zuletzt betrieb sie ein Schreibbüro, bevor sie ein Psychologie-Studium aufnahm, beides in London. Ihr großer Bruder Laurence ist Mediziner und bereits eine Kapazität auf dem Gebiet der Herz- und Lungenkrankheiten. Eileen hatte ihm zeitweise als Sekretärin gedient. Wie Orwells Biograf Michael Shelden (1991) versichert, standen die Geschwister einander sehr nahe. Eileen habe Laurence »unendlich bewundert« – warum, schreibt Shelden nicht. Ein Grund war wohl die »brillante« Karriere des Bruders. Vielleicht waren auch inzestiöse Neigungen im Spiel? In einem der erhaltenen Briefe Eileens stößt man auf die reichlich unvermittelte Kennzeichnung, ihr ehrgeiziger Bruder sei »von Natur aus Faschist« (one of nature's Fascists). Das mußte sich freilich, falls es zutrifft, arg mit Orwells sozialistischen oder gar anarchistischen Positionen beißen. Doch die Blutsbande waren stark. Wenn sie ihren Bruder Laurence vom entgegengesetzten Ende der Welt bäte, sofort zu ihr zu kommen, täte er es – Orwell dagegen nicht. Orwell stelle sein Schaffen über alles.
~~~ Wie sich versteht, traf sie diese Feststellung noch nicht im Überschwang ihrer anfänglichen Verliebtheit. Damals arbeitet George Orwell halbtags in einem Buchladen und hat Anfangserfolge als Schriftsteller. Schon im Sommer 1936 mietet das Paar ein primitives Häuschen (mit Außenklo) in Wallington, 60 km nördlich von London, wo sich der lang aufgeschossene, hagere Orwell nun als Dorfkrämer versucht; daneben schreibt er an The Road to Wigan Pier. Wegen der Entfernung brach Eileen ihr Studium kurz vorm Examen ab, zumal ihr Orwell inzwischen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Sie folgt hier ihrer romantischen Neigung. Sie betreut den Laden mit, hilft im Garten, kümmert sich um Dorfkinder. Doch es muß alles andere als eine Idylle gewesen sein, wie Briefen Eileens an eine Freundin zu entnehmen ist, die erst 2005 gefunden und von DJ Taylor im Guardian vorgestellt worden sind.* Die beiden stritten sich unablässig, »Mord oder Trennung« lagen in der Luft. Auch Eileens Botschaften aus Spanien verraten ihren häufigen Ärger über Orwell und ihre Angst um seine Gesundheit. Frisch verheiratet, hatte Orwell bereits Ende 1936 dem Mahnruf des republikanischen Spaniens gehorcht. Eileen folgt ihm im Frühjahr, nachdem sie als POUM-Sekretärin für Barcelona engagiert worden ist. Sie besucht ihn an der Front. Im Sommer kommt umgekehrt Orwell nach Barcelona und nimmt an den berüchtigten dortigen »Bruderkämpfen« zwischen Kommunisten und Anarchisten teil. Kaum an die Front zurückgekehrt, inzwischen als Leutnant, wird Orwell verwundet (Halsdurchschuß). Wegen der Verfolgungen, denen die angeblich »trotzkistische« POUM ausgesetzt ist, entschließen sich die beiden zum Rückzug aus Spanien.
~~~ Während Orwell die Festigung seiner Abscheu vor einem autoritären Sozialismus und eine endgültig zerrüttete Gesundheit mitnimmt, zehrt Eileen von der rätselhaften Beziehung zu Orwells ehemaligem Kommandeur Georges Kopp, inzwischen Häftling der (kommunistisch beherrschten) Republik. Er hatte ihr heftig den Hof gemacht. Vielleicht bot ihr Kopp Verehrung und Zärtlichkeit, die sie bei dem ihr angetrauten Schriftsteller, der vorzeiten, im kolonialen Burma, eine Art Bezirkssheriff gewesen war, vermissen mußte. Zwar erklärt sie der Freundin, nicht in Kopp verliebt zu sein, gesteht dies aber nicht diesem selber, weil sie sein Gefängnislos nicht noch verschlimmern will. Angesichts der engen Freundschaft der »Rivalen« hat sie starke Schuldgefühle.
~~~ Noch im selbem Sommer 1937 treffen die Orwells wieder in ihrem Häuschen ein. Sie lassen den Laden geschlossen, schaffen dafür Tiere an: Hund, Hühner, Enten, Ziegen. Im Folgejahr hat Orwell, der schon früher eine Lungenentzündung durchzumachen hatte, seinen ersten Sanatoriumsaufenthalt, wobei ihn Eileens Bruder Laurence betreut. Dieser kann keine Tuberkulose feststellen – sagt er jedenfalls seinem Patienten. Inzwischen ist Orwells Spanienbuch Homage to Catalonia erschienen. Im Winter 1938/39, einer ärztlichen Empfehlung folgend, halten sich die Orwells in Marrakesch, Marokko, auf. Doch neben Orwells Gesundheitszustand scheint sich auch die Beziehung zu Eileen nicht zu bessern. Orwells Hauptaugenmerk gilt nun dem Romanmanuskript Coming Up for Air. Eileen bewirbt sich bei Kriegsausbruch mit Erfolg bei der Zensurbehörde in London. Orwell hält zunächst an seinem Landleben fest. Eileen wohnt im Hause ihres Bruders und besucht Orwell hin und wieder. Erst im Sommer 1940 nehmen sie sich in London eine gemeinsame Wohnung. Orwell schreibt jetzt vor allem Essays und Kritiken für Zeitschriften, erfüllt patriotische Propaganda-Pflichten beim Rundfunk (der BBC) und tritt außerdem der Heimwehr bei. Die deutschen Luftangriffe beginnen. Eileens Bruder Laurence, inzwischen Sanitätsmajor und knapp 40 Jahre alt, fällt bei Dünkirchen, was sie bis an den Rand eines Nervenzusammenbruchs und in tiefe Depressionen führt, die mindestens anderthalb Jahre anhalten. 1941 stirbt zudem ihre Mutter. Freunde haben den Eindruck, Eileen wirke nicht nur müde, erschöpft, grau, vernachlässigt, sondern habe sich offenbar völlig in sich verkrochen. Ihrem Mann fehlte der rechte Zugang zu diesem Leid; die Auseinandersetzung mit Gefühlszuständen lag Orwell ohnehin nicht.
~~~ Shelden schreibt, nach dem Tod ihres Bruders sei Eileen »nie wieder dieselbe« gewesen, aber allmählich kehrten doch ihre Lebensgeister zurück. Um 1942 betreute sie im Rundfunk eine Sendung über (Kriegs-)Ernährung – sie stand jetzt an der Kitchen Front, so der Obertitel dieser Reihe. Das befriedigte sie. Weniger begeistert war sie allerdings davon, auch noch den eigenen Haushalt verrichten zu müssen. Zudem ließ sie sich von Orwell überreden, ein Kind zu adoptieren. Ihr Gatte war nämlich steril oder glaubte es zumindest. An ihr habe es jedenfalls nicht gelegen, versicherte sie Freunden laut Shelden, wenn es nie zu einer Schwangerschaft gekommen sei. Orwell wollte einen Jungen. Eileen gewann den nun adoptierten Richard tatsächlich lieb, und auch die Ehe erhielt Auftrieb. Daneben nahm sie starken Anteil an Orwells neuer Prosaarbeit Animal Farm, die ihn zum »Bestsellerautor« machen würde. Er hatte das Manuskript im Juni 1944 nach einem Luftangriff aus den Trümmern ihrer Wohnung gerettet – sie zogen um. Leider, so später auch Orwell, erlebte Eileen diesen Erfolg nicht mehr mit.
~~~ Anfang 1945 ging Orwell trotz schwacher Gesundheit für den Observer und die Manchester Evening News als Kriegsberichterstatter nach Frankreich. Er wollte die letzten Tage des Hitler-Regimes miterleben. Eileen zog mit dem kleinen Richard ins Haus ihrer Schwägerin Gwen. Mit Orwell wechselte sie Briefe. Auch mit Kopp, der inzwischen auf dem Festland als Agent abenteuerte, stand sie noch in Verbindung. Er heiratete Gwens Schwester Doreen, was Eileen vermutlich nicht ohne jede Eifersucht zur Kenntnis nahm. Doch in diesem Frühjahr wurde unvermutet Eileens eigene Gesundheit bedroht: man stellte Uterus-Geschwüre fest. Orwell kabelte seine Zustimmung zur Operation. Eileen schrieb ihm noch wenige Minuten vor der Operation mit Humor. Doch dann erlitt die 39jährige unter der Narkose einen Herzanfall und starb.
~~~ Orwell war entsetzt und flog sofort nach London, wo er freilich nur noch die Beerdigung besorgen konnte. Söhnchen Richard brachte er einstweilen bei Doreen unter. Wie es aussieht, blieben den Ärzten Vorwürfe erspart. Der Totenschein habe »klar und eindeutig« von »Herzversagen während korrekt verabreichter Narkose« gesprochen, teilt Shelden erstaunlich gutgläubig mit.** Bald darauf gestand Orwell einer neuen Bekannten, seine Ehe sei sicherlich oft schwierig gewesen, beide hätten einander unrecht getan, er sei Eileen auch »manchmal untreu« gewesen, aber sie hätten doch immer zueinander gehalten. Das dürfte zutreffen, zumal Orwell allgemein als verläßlich geschildert wird. Allerdings legen die Quellen den Eindruck nahe, Eileen habe »Seitensprünge« des Partners als ungleich bedrohlicher empfunden als umgekehrt ihr Ehemann. Und die Beziehung zu ihrem Bruder Laurence, die doch eine erhebliche Rolle gespielt zu haben scheint, liegt nach wie vor im Dunkeln.
~~~ Eines ist völlig klar. Als fragwürdiges Entgelt für die Mühen und Entbehrungen, die Eileen O'Shaughnessy mit dem werdenden Schriftsteller Orwell hatte, konnte sie noch nicht einmal das Lob miteinstreichen, das erst nach dem Erscheinen von Animal Farm und 1984 auf ihn gehäuft wurde. Das blieb Orwells zweiter Ehefrau Sonia Brownell vorbehalten. Ein geringer Trost: Auch George Orwell wurde nicht eben alt. Er starb 1950 mit 46.
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* DJ Taylor, »Another piece of the puzzle«, 11. Dezember 2005: https://www.theguardian.com/books/2005/dec/10/georgeorwell.classics
** Michael Shelden, George Orwell. Eine Biographie, hier deutsche Ausgabe Zürich 2000, S. 522
Klemperers Frauen --- Victor Klemperers Tagebücher aus der Zeit des Faschismus sind ohne Zweifel ein bedeutendes Dokument, das den ganzen grausamen Irrsinn des deutschen Faschismus, des »totalen Krieges« und insbesondere der Judenverfolgung belegt. Dagegen werden sie in stilistischer Hinsicht oft überschätzt, wie ich nach einer Wiederlektüre finde. Es handelt sich grundsätzlich um eine flüchtige, unbearbeitete Prosa – eine ausufernde Dürre, die Klemperer, wie so viele andere SchriftstellerInnen, mit der Konjunktion daß und mit Fremdworten spickt. Sie wirkt umso dürftiger, als der Professor der Romanistik weder ein begabter »Erzähler« noch »Philosoph oder Mystiker« ist, wie er immerhin selber mehrmals einräumt. Wahrscheinlich ist er noch nicht einmal ein ernst zu nehmender Gesellschaftskritiker. Vom Wesen des Kapitalismus, des Staates, der Parteien usw. hat er zumindest nach Auskunft dieser Aufzeichnungen keine Ahnung. Seine völlig unkritische Begeisterung für etliche »fortschrittliche« Errungenschaften ist mitunter peinlich, so vor allem das Auto betreffend. Soweit ihm die Dinge oder Verhältnisse jedoch mißfallen, moralisiert er – vermutlich in den Fußstapfen seines Vaters, des Rabbis. Man vermißt eine durchgebildete Weltanschauung bei ihm, die ihm Kontur gäbe.
~~~ Eine andere Frage ist, ob sich die Anfertigung jenes »bedeutenden Dokuments« moralisch betrachtet rechtfertigen ließe … Schließlich setzt Klemperer zahlreiche namentlich erwähnte MitbürgerInnen, voran seine Frau Eva und die Ärztin Annemarie Köhler in Pirna, der Gefahr aus, bei Entdeckung der Tagebücher schwer mißhandelt oder ermordet zu werden. Klemperer sieht und empfindet diese Klemme selbstverständlich und wiederholt sich entsprechend ermüdend auch in dem Hinweis auf sie. Aber seine Rechtfertigung bleibt ähnlich dürr wie seine Prosa. Sie beläuft sich auf die Versicherung, er habe das herrschende Unrecht und Elend zu bezeugen, also auf den Rang einer persönlichen Pflicht oder Mission, die keiner Begründung bedarf. Weltanschauungen, Parteibücher oder sonstige Befehlsnotstände hat er ja nicht in die Waage zu werfen. In der Tat fürchte freilich auch ich, gegen die genannte Klemme gibt es kein Rezept, sondern nur eine Entscheidung je nach Naturell. Klemperer wählt die gefährliche Lösung, weil sie seiner Selbstüberschätzung entspricht. »Ich muß Zeugnis ablegen bis zum letzten …« Er tat es, überlebte den Faschismus, blühte dann noch einmal als Greis in der SBZ/DDR auf und starb 1960 hochbetagt wie -geehrt, womit er auch seine Hypochondrie überlebt hatte. Klemperer erlag dem Herzinfarkt, den er über Jahrzehnte hinweg x-mal beschworen hatte, erst mit 78.
~~~ Allerdings möchte ich mich in dieser Betrachtung weniger Klemperer und seinen Aufzeichnungen, vielmehr seinen Frauen widmen. Nebenbei knüpfe ich damit an meiner Verspottung Erich Kubys an, nahm sich Klemperer doch nach dem Tod seiner Gattin Eva – sie starb 1951 mit 68 – mit der Germanistin Hadwig Kirchner (1926–2010) ein Jahr darauf eine 45 Jahre jüngere zweite Ehefrau. Kirchner war an der Edition der Tagebücher beteiligt. Angeblich begann dieses, vom Aufbau-Verlag geförderte Unternehmen bereits (oder erst) um 1985. Rochen sie »die Wende«? Klemperers Hiebe auf die Kommunisten hätte die SED wohl kaum durchgehen lassen. Die Tagebücher erschienen ja auch erst 1995. Kirchner wurde noch älter als ihr Gatte, 84. Allerdings soll sie »nach langer Krankheit« gestorben sein. Peter Jacobs schrieb 2005 einen interessanten Artikel über sie, gleichwohl habe ich den Eindruck, die Rolle dieser Dame ist sehr undurchsichtig. Womöglich wird sie in den mindestens drei Sammelbänden mit Aufsätzen über Victor Klemperer erhellt, die inzwischen vorliegen. Ich halte es freilich für unwahrscheinlich.
~~~ Mit dieser Undurchsichtigkeit wäre Kirchner eine durchaus würdige Nachfolgerin Eva Klemperers gewesen. Die geborene Schlemmer, Tochter eines ostpreußischen Landwirts, war nur ein Jahr jünger als ihr Lebensgefährte, den sie (1904) in dessen Berliner und Münchener »Bohemian«-Zeiten getroffen und (1906) geheiratet hatte. Sie hatte sich wenig erfolgreich als Pianistin, Klavierlehrerin und Malerin versucht. Klemperers gediegene Familie mißbilligte die Heirat, doch die größeren Schwierigkeiten machten sich die beiden bald selbst. Die Ehe war ausgesprochen heikel und innig zugleich. Daß die »arische« Eva Victor durch ihre Treue letztlich im Faschismus das Leben rettete, trug sicherlich auch zum Zündstoff dieser Beziehung bei, da sich Erpressung und Schuldgefühl bei solcher Lage geradezu anbieten. Eva hatte ihr Unterrichten und Streben nach künstlerischen Weihen ihrem frischen Gatten zuliebe eingestellt und half ihm bei seinen journalistischen Arbeiten als Sekretärin und Lektorin und dann bei der Doktorarbeit. Als betont »deutsch« gestimmter Jude nahm Klemperer bereitwillig am Ersten Weltkrieg teil. In dieser Zeit wandte sich Eva wieder der Musik, insbesondere der Orgel, und Komposition zu, was ihr Victor übel genommen haben soll. Durch verschiedene Krankheiten, darunter öfter Gallenkoliken, möglicherweise auch einen Unfall, war sie dann aber sowieso an der Musikausübung gehindert.
~~~ Seit 1920, nach Victors Berufung auf einen Lehrstuhl der Romanistik an der dortigen TH, lebte das Ehepaar in Dresden. Rund ein Jahr nach dem Machtantritt der Faschisten setzte Eva ihren Kopf durch, auf einem Hanggrundstück am Stadtrand von Dresden ein Häuschen zu bauen. Nachdem Victor 1935 seines Lehrstuhls beraubt worden war, wurde das Ehepaar 1940 auch aus dem neuen Haus vertrieben. Sie wurden in immer beengtere Mietwohnungen gezwungen. Ein Exil hatte Eva stets abgelehnt. Das Haus mit Garten war ihre Höhle, in der sie sich nach bekanntem neurotischem Muster vergraben und verstecken und für allerlei Entbehrungen schadlos halten zu können glaubte. Zwischen ihr und Victor war es über viele Jahre hinweg ein nie erkaltender Konfliktherd. Zum Drama der Kränklichkeit beider Eheleute, immer schön um die Musik, den Hausbau und das ach so wichtige »Opus« des Gatten gerankt, gesellte sich dann noch eine schon andernorts geschilderte Katzenposse und »natürlich« nicht zuletzt der nervtötende Reißer der Judenverfolgung und des Faschismus überhaupt, Krieg und Bombardierung eingeschlossen. Die Tagebücher ihres Mannes überstanden Verfolgung und Bombardierung, weil sie von Eva in Abständen zu der erwähnten Freundin Köhler nach Pirna (bei Dresden) geschafft worden waren, auch dies eine mutige Tat. Dagegen ging Evas eigenes Werk (als Musikerin) durch den Krieg verloren. Nach 1945 war sie wiederholt als Übersetzerin aus dem Spanischen und Französchen für DDR-Verlage tätig. 1951 starb sie angeblich an einem »Herzschlag«, wie es bei Wikipedia heißt.
~~~ Erfreulicherweise findet sich im Internet ein vollständiger Aufsatz* der Hamburger Sozialforscherin Gaby Zipfel über Eva Klemperer, veröffentlicht 2000. Zipfel stützt sich auch auf die frühen Tagebücher oder biografischen Aufzeichnungen Victor Klemperers, die ich nicht kenne. Habe ich ihre Darstellung richtig verstanden, litt Victor von Hause aus (Vater, Brüder) an Minderwertigkeitsgefühlen. Zudem bedrängt ihn von Jugend an der Todesgedanke. Hier hat ihm Eva weitaus mehr Unbeschwertheit voraus. Zwar ist V. Anhänger der Frauenemanzipation, spürt jedoch bei E., sie ist selbstständiger als er, nicht unbedingt auf ihn angewiesen. Sie benötigt auch keine Kinder – allerdings später Katzen, die verwöhnt werden bis zur Groteske. Eine selbstständige Musikerin Klemperer, die ihre eigenen Wege geht (statt die Stütze des Gatten und Romanisten zu sein), möchte nun Victor offenbar unbedingt verhindern. Er hat sowieso wenig Beziehung zur Musik, ja mehr noch, als sich E. während des Ersten Weltkriegs aufs Orgelstudium wirft, haßt er Musik. Die Orgel selbst wird zum »unweiblichen«, bedrohlichen Nebenbuhler. Aber wie gelingt es V., E. die Musik zu vergällen? Immer unterstellt, das sei sein Begehr gewesen.
~~~ Wenn ich mich nicht täusche, wird dieser Schwenk selbst in Zipfels Aufsatz nicht genügend deutlich. Fakt ist nur: E., die auch den ganzen Haushalt versorgt, wird im Lauf der 20er Jahre immer kränker. Nervenentzündungen in Hand und Armen, wiederkehrende Zahnprobleme, eine Verwachsung im Bein, Beschwerden im Knie, häufige »Depressionen«. Dadurch erledigt sich das Problem mit der Musik sozusagen von allein, weil sie sie ohnehin nicht mehr ausüben kann. Ist diese Kränklichkeit nun eher Victors Waffe gewesen, oder aber eher Evas »strafende« Reaktion auf seine ihr feindlichen Wünsche? Später, um Hitlers Staatsstreich herum, wiederholt sich die Sache noch einmal: die Stelle der Musik nimmt nun der Haus- und Gartenbau ein. Victor sträubt sich auch gegen diesen zunächst hartnäckig, doch dann sieht er ein, das Vorhaben könnte Evas Rettung sein, was sich ja auch bestätigt, nachdem sie ihren Kopf trotz der finanziell beschränkten und immer bedrohlicheren Lage des Ehepaars durchgesetzt hat: sie blüht mit dem Planen und Werkeln auf. Allerdings bleibt auch dies Episode. Schon 1937 liegt sie wieder häufiger krank im Bett als sich auf zwei Beinen irgendwie nützlich zu machen. Victor schmeißt wieder »die Wirtschaft«.
~~~ Ich gestehe, im Gegensatz zu ihrem Gatten bekomme ich von Eva Klemperer bislang nur ein verschwommenes Bild vor Augen. (Nebenbei kenne ich auch keine Fotos.) Vielleicht war sie ja ungleich komplizierter »gestrickt« als der neurasthenisch gestimmte Victor, bei dem man nie den Eindruck hat, seine witzigen und skeptischen Züge bissen sich ernsthaft mit seinen ängstlichen. Er hatte das Runde, das sich offenbar mit zunehmendem Alter auch in leiblicher Hinsicht bei ihm durchsetzte. Er war die Welt – und diese durfte auf keinen Fall untergehen. Eva ist schwer faßbar. Wenn Victor im Tagebuch einmal erwähnt, zu den wichtigsten Stützen der Nazis habe Eva »hysterische Frauen« gezählt, kann ich mich freilich eines Schmunzelns nicht erwehren, weil Frau Klemperer, ihrem Gatten zufolge schon immer ein »hundsmageres« Geschöpf mit kurzen, braunen Haaren, braunen Augen, Kneifer oder Brille und Fähigkeiten im Messerwerfen, selber öfter als Hysterikerin erscheint. So ist aus einer Anmerkung der Tagebuch-Ausgabe zu erfahren, wegen zunehmender Depressionen Evas hätten die Klemperers früher, im März 1931, eine Reise nach Lugano unternommen. Diese Reise habe jedoch eher eine Verschlechterung von Evas Zustand erbracht. »Eva Klemperer erlitt häufig Ohnmachtsanfälle und glaubte sich für dauernd gelähmt.« Seit den oben erwähnten Krankheiten, mochten sie vielleicht auch nur »eingebildet« sein, und ihrer damit einhergehenden Zurücksetzung als Künstlerin muß sie Victor vorwiegend als Leidende gegenüber getreten sein. Sie klagt ständig über die einen oder anderen Schmerzen, beschimpft und bemitleidet sich als »Krüppel«, fühlt sich todkrank, liegt mit Migräne im Bett und so weiter.
~~~ Da Eva nicht mehr Orgel spielen kann und gelegentlich ihre schmerzende Hand erwähnt wird, vermute ich jene »Verkrüppelung« eben dort, an der Hand. Victor spricht diesbezüglich mal von »Unfall«, den er freilich nie beschreibt, mal davon, eines Tages hätten Evas Hände »ihren Dienst versagt«. Vielleicht will er so den neurotischen Zug abdämpfen, den man bei der Angelegenheit (Evas Verhinderung am Musikmachen) vermuten muß, und der beispielsweise Rheuma ausgelöst haben könnte. Dann wieder spricht Victor wiederholt von einem »Fußleiden«, das Eva das Gehen zur Qual macht und enorme Taxigelder frißt. Nun ja, Orgel wird schließlich nicht unbeträchtlich auch mit den Füßen gespielt … Über weite Strecken hat Victor zur Krankenpflege, stundenlanges Vorlesen eingeschlossen, sämtliche Besorgungen und die Hausarbeit am Hals. Er verflucht aber Eva in seinem Tagebuch nie, vermerkt dankbar jeden ihrer Anfälle von Tatkraft und Fröhlichkeit und läßt keinen Zweifel daran, wie sehr sie ihm trotz der Last Stütze ist.
~~~ Hier scheint allerdings ein Problem auf, das der Betrachter hat. Er kann sich nur auf Victors Aussagen stützen ohne die Sicherheit zu haben, sie seien zutreffend oder auch nur ehrlich. Schon Victors Bemerkungen Eva betreffend könnten gefärbt sein, weil er ja wohl mit ihrem Mitlesen zu rechnen hatte. Weiter sind, wenn ich mich nicht irre, weder Kommentare Evas zum Tagebuch bekannt noch scheint Victor selber seine Aufzeichnungen noch einmal aus dem Abstand heraus durchgesehen und gegebenenfalls berichtigt zu haben. Andernfalls hätte er übrigens jede Wette zahlreiche Wiederholungen gestrichen, zumindest die wortgetreuen. Behaupten die HerausgeberInnen, dies hätten doch sie bereits getan, müssen sie das Gehirn des durchschnittlichen Lesers für eine Walnuß halten. Aber selbstverständlich stellen auch die immergleichen Lamenti Klemperers Wiederholungen dar, die einen Leser wie mich geradezu wütend machen können. Sie werfen schon deshalb ein schlechtes Licht auf Klemperer, weil er doch eigentlich nicht vereinsamt war, also das Tagebuch nicht notwendig dazu brauchte, sich selber sein Herz auszuschütten und sich selber ein ums andere Mal Mut zuzusprechen. Jedenfalls steht der Betrachter vor der genannten Unüberprüfbarkeit. Weder kann er beurteilen, ob Victor seiner Gattin nicht hin und wieder unrecht tat, noch sind die Eingriffe der HerausgeberInnen durchsichtig. Wer weiß, ob Frau Klemperer II nicht glaubte das Recht zu haben, mit Frau Klemperer I ein Hühnchen zu rupfen? Die HerausgeberInnen verweisen auf das ausgesprochen klein und dicht abgefaßte handschriftliche (teils auch getippte?) Original, das angeblich in der Dresdener Sächsischen Landesbibliothek liegt. Aber wer hätte schon die Befugnisse und die enormen zeitlichen und finanziellen Mittel, es zu untersuchen?
~~~ Was ich hier zu Victors mutmaßlicher Voreingenommenheit oder jedenfalls Befangenheit sage, gälte selbstverständlich – falls es berechtigt ist – genauso für die früheren Tagebücher, die ich nur andeutungsweise aus Sekundär-Quellen kenne. Das hieße, womöglich besitzen wir von Eva lediglich ein mehr oder weniger verzerrtes Bild, eben das ihres Gatten. Falls ich es nicht überlesen habe, ist auch Zipfel auf diesen Gesichtspunkt nie eingegangen. Erstaunlicherweise berichtet sie, aufgrund der früheren Tagebücher, von einem reichen, streckenweise sogar »exzessiven« Liebesleben des jungen Ehepaars. Es erstaunt mich nicht, weil ich etwas dagegen einzuwenden hätte, sondern weil sich zu diesem Thema in den Tagebüchern aus der Zeit des Faschismus so gut wie kein Komma findet. Berichtet Victor, seine Führerscheinprüfung (im Januar 1936) habe er mit Eva zu Hause bei einer Flasche Haute Sauternes gefeiert und fügt er hinzu: »Con amore«, ist es schon viel. Die Sache ist ihm immer noch so peinlich, daß er sie fremdländisch erwähnen muß.
~~~ Ob dieser Mangel leidenschaftlicher Umtriebe nur am vorgerrückten Alter des Ehepaars liegt? Oder an Zensur? Das Dumme ist, er paart sich mit dem Fehlen jeder Reflexion über die Liebesbeziehung, also etwa über Wünsche, Ängste, Enttäuschungen – kurz, die Frage, was zweie noch voneinander wollen. Dabei merkt Victor durchaus öfter sowohl seine Kenntnisse wie sein Interesse in psychologischen Fragen an. Man könnte einwenden, Victor hätte wahrlich wichtigere Sorgen gehabt. Aber das Damoklesschwert des Faschismus, unter dem das Eheleben stattzufinden hat, ist kein Gegenargument. Remarque führt in seinem vorzüglichen Roman Die Nacht von Lissabon vor, wie eine zerrüttete Ehe gerade daran wieder erstarkt. Vielleicht war Victor schlicht zu ängstlich auf sich selbst (und seine Rettung) bezogen, um sich diesen Fragen widmen zu können. Merkt er an, für den Fall, man erschlage ihn, müßten wenigstens das Haus und sein inzwischen auf die Hälfte gestutztes Ruhegehalt für Eva gesichert sein, liest es sich nicht gerade als Vorschlag zu deren Rettung. Es ist Pflichtübung und Gewissensberuhigung.
~~~ Die Webseite luise-berlin.de behauptet (1999), aus Victors Nachkriegstagebüchern gehe ein geradezu krankhafter Ehrgeiz hervor. Dieser Mann habe seine Selbstbestätigung offensichtlich nahezu ausschließlich im Streben nach Ämtern, öffentlicher Anerkennung, Ruhm gefunden und sei zu diesem Zwecke auch nicht vor Intrigen oder Drohungen mit seinem Einfluß zurückgeschreckt. Seine beiden Ehefrauen habe er beneidet, weil sie von dieser Geltungssucht frei waren. In diese Kerbe schlägt auch Zipfel. V. wünsche Eva als alter ego, Spiegelbild, Ergänzung, nicht als die andere. Er bewundere sie (in seinem CV) für die Seelenruhe, mit der sie ihre Bilder in ihrem Zimmer aufhänge, ihre Kompositionen im Notenschrank verstaue, ohne »den leisesten Wunsch nach Anerkennung und Publizität« zu kennen, der ihn selber umtreibt, möchte er doch »gar zu gern mit seinem Werk nach außen wirken und in ihm weiterleben«. Ich vermute, in vielen Fällen paart sich Geltungssucht nur zu gern mit Neurasthenie: der ständig um sich Bangende nimmt sich buchstäblich »krankhaft« wichtig.
~~~ Was Eva angeht, habe ich keine Andeutung darüber gefunden, ob sie sich in ihrer DDR-Zeit eher glücklich oder eher unglücklich gefühlt habe. Vielleicht geht das ja aus jenen Nachkriegs-Aufzeichnungen ihres Mannes hervor. Zipfel möchte sich erklärtermaßen gegen das unbehagliche Klischee vom aufopferungsbereiten und migränehaften Anhängsel Eva wenden, das so viele »Rezipienten« aufgrund der Darstellung durch ihren Gatten gewinnen mußten, aber zu einer Alternative findet sie kaum. Ihr »Gegenbild« beläuft sich, im letzten Absatz 47, auf diesen orakelhaften Satz: Wenn Klemperer 1932 wehmütig feststelle, »Eva ist so ganz anders als ich. Viel lebensmüder, viel gleichgültiger gegen den Tod – und mit viel mehr Zukunftsplan«, habe er vielleicht die Quelle ihrer Kraft beschrieben, mit der sie ihn »buchstäblich an der Hand durch tiefe Finsternis« (1945) führte, ohne sich bewußt zu sein, wie hoch der Preis war, den sie für das, was er »Heroismus über jeglichem Heldentum« nennt, zu zahlen hatte. Entsprechend stellt Zipfel auch nie die Frage, warum eigentlich E. ausgerechnet auf V. anbiß, was sie bei ihm hielt. Insofern geht Zipfel ebenfalls einseitig vor, weil sie für E. eine Lanze brechen will.
~~~ Ich selbe neige aufgrund meiner Wiederlektüre zu der Befürchtung, beide Ehepartner seien unausstehliche Zeitgenossen gewesen. Trifft das zu, drängt sich allerdings die Frage auf, woher die beiden dann ihren hauptsächlich guten Ruf haben und warum sich überhaupt seit Jahrzehnten wahre Legionen von Lesern und sogenannten Wissenschaftlern mit ihnen beschäftigen? Selbstverständlich, weil die Klemperers mehr oder weniger zufällig den Mut fanden, dieses antifaschistische Tagebuch zu verfassen beziehungsweise zu unterstützen und zu schützen, das vor allem wegen seiner Beobachtungen der täglichen »Hitlerei« aufschlußreich ist, nicht wegen Evas Migräne oder Victors Herabsinken auf das Rauchen billigster, stinkender Stumpen, was ihn freilich nie ernsthaft bei der Selbstbeweihräucherung behindert. Offensichtlich war das eine (die Soziologie) ohne das andere (die Grillen) nicht zu haben.
~~~ Ich werfe noch einen Blick auf eine dritte Frau, die ich bereits streifte. Nach freundlicher Auskunft der Stadtverwaltung Pirna sind die biografischen Angaben über Annemarie Köhler (1893–1948), die Hüterin von Victor Klemperers Aufzeichnungen, »trotz umfangreicher Recherchen« leider dürftig. Auch von den Gründen ihres frühen Todes wisse man nichts. Ich fürchte allerdings, in Pirna hat man noch nicht einmal Klemperers Tagebuch (und dessen Anmerkungen) auf die vermißten Angaben hin abgeklopft. Danach richtete Köhler 1937 mit einem Dr. Friedrich Dreßel in Pirna eine eigene, private Klinik ein. Laut einer Anmerkung hatte sie mit diesem Kollegen schon in »wilder Ehe« zusammengelebt. Nun leitet Dreßel die neue Klinik, während Chirurgin Köhler mehr die Geldgeberin und Geschäftsführerin zu machen scheint. 1938 heiratet Dreßel – aber nicht etwa Köhler, wie sie nach Einschätzung der Klemperers erhofft hatte. Sie glauben, diese Enttäuschung habe Köhler nachhaltig zugesetzt. Wahrscheinlich sei sie ihm verfallen gewesen. Dafür zollt Romanist Klemperer eifrig Fremdwörtern Tribut. Dreßel etwa nennt er »einigermaßen ludovizisch gesinnt«. Andere Gipfel: Eva wird in einer Mietsache »zu inhibieren suchen«. Vor unserem Heim »interpellierte« uns eine junge Berlinerin, ob wir denn schon abreisten …
~~~ Auch das Verhältnis zwischen Köhler und den Klemperers ist nicht unproblematisch. Sie kennen die dralle, zumindest früher recht lebhafte Medizinerin aus ihrer gemeinsamen Zeit in Leipzig 1916–18. Sie fühlen sich trotz Köhlers Hilfsbereitschaft öfter von ihr vernachlässigt, abgewimmelt oder versetzt. Allerdings scheint die Ärztin auch selber mit Krankheit zu kämpfen. Juli 1940: »Verquollenes Gesicht, beide Augen infiltriert wie eine Bulldogge, ständiger Husten. Sie ist offenbar schwer herzkrank. Schlimmer die innere Veränderung. Sonst redselig, aufgeregt. Jetzt fast apathisch.« Ähnlich Oktober 1942: leidend, hustend, abgestumpft. Den Husten erkläre sie als ein Symptom ihres Herzleidens. Sie sei 12 Jahre jünger als die Klemperers, habe jedoch schon öfter betont, ihr sei kein langes Leben beschieden, heißt es im Tagebuch.
~~~ Köhler war Antifaschistin, hin und wieder sogar schon angeeckt, weshalb die Manuskripte (und das Geld) Klemperers auch bei ihr nicht völlig sicher waren. Er wußte jedoch keine Alternative. Im Mai 1944 notierte er: »Annemarie bleibt uns ein psychologisches Rätsel. Treu und untreu, herzlich und kalt in einem, gleichgültig dem Leben und dem Krieg gegenüber.« Im Januar 1945: »Eva kam recht deprimiert von Annemarie zurück: 'ein toter Mensch'. Das war schon mein Eindruck, als ich in den ersten Kriegstagen nach Pirna herauskam. Sie steht allem stumpf gegenüber. Im übrigen gegen uns freundschaftlich, hilft mit Geld, mit Manuskript-Aufbewahrung. Ich bin nach wie vor der Meinung, daß sie an der Affäre Dreßel entzweigegangen ist.« Leider ist mir nicht bekannt, ob und wie Klemperer sie auch noch in seinen Nachkriegstagebüchern erwähnt.
∞ Verfaßt 2014
* Gaby Zipfel in Germanica 27 / 2000: https://journals.openedition.org/germanica/2458?lang=de
Dem Pin-up-Girl gönnt Brockhaus immerhin sechs Zeilen und keine Abbildung. Mich erinnert es an ein Kneipengespräch mit einer guten Freundin, die ich, in Westberlin um 1990, hin und wieder gerne traf. Als wir auf einen gemeinsamen Bekannten zu sprechen kamen, Lefty genannt, kicherte Ulla jäh und verriet mir brühwarm, Lefty hätte kürzlich einen Schock erlitten. Einen Schock? Ja. Er habe sich im Supermarkt eine bestimmte Pornozeitschrift gekauft, und als er sie zu Hause genauer durchsah, habe ihn plötzlich Ivonne angelächelt. Sie habe schön breitbeinig auf einer Sofakante gesessen, man hätte ihre Schamhaare zählen können.
~~~ Ich grinste wohl aus mehreren Gründen. Ivonne und Lefty hatten sich schon vor einigen Jahren einvernehmlich voneinander getrennt. Sie studierte inzwischen Malerei und war möglicherweise öfter knapp bei Kasse. Die Zeitschrift zahlte ihren Fotomodellen vermutlich deutlich mehr als ihren Putzfrauen. Nach einer Weile sagte ich:
~~~ »Und dir das zu erzählen, hat ihm nichts ausgemacht?«
~~~ »Nicht die Bohne. Er ist ja weißgott nicht prüde. Die besagte Zeitschrift wird schließlich von zahlreichen Männern gekauft. Warum nicht auch von ihm?«
~~~ Ich nickte. »Stimmt … Aber daß da ausgerechnet Ivonne auf der Sofakante saß, das hat ihn schockiert? Es schmerzte ihn?«
~~~ Sie lächelte. »Na klar. Das räumte er auch offenherzig ein. Er fragte mich sogar, was daran eigentlich so peinlich sei. Immerhin seien ja die anderen Fotomodelle genauso schutzlos und preisgegeben. Darauf erwiderte ich, die anderen seien aber nicht seine verflossenen Geliebten. »Die eigene Ex-Flamme wirft sich auf den Markt der Fleischeslust, so eine Schweinerei!«
~~~ Diese Diagnose leuchtete mir ein. Ich verkniff mir jedoch die Frage, ob sie Lefty noch einmal getroffen und vielleicht gefragt hätte, was er jetzt mit seiner Verflossenen in der Pornozeitschrift so anzustellen pflege. Schließlich kennt er sie hautnah. Von daher war der Kauf der Zeitschrift für ihn womöglich ein Glücksgriff.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
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