Dienstag, 7. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 13
Fortschritt, Keine Zeit – Gandorfer

Keine Zeit --- In Ernst Kreuders Gesellschaft vom Dach-boden (1946) kommt der Ich-Erzähler bei einem Trödler vorbei, der etliche Pendeluhren feilzubieten hat. Doch keine von ihnen tickt. Wie der Trödler erläutert, hat er sie alle angehalten, weil sie sonst zu viel Zeit verbrauchen würden. Sie fräßen so unerbittlich Zeit wie sie tickten.
~~~ Ein treffendes Bild! Pferde fressen Hafer, Autos Benzin – und durch unsere Uhren wird die Zeit genauso knapper wie das Erdöl durch unsere gefräßige Maschinerie. Gegen 1600, also am Beginn unserer sogenannten Neuzeit, kam es plötzlich auf Viertelstunden an: sie wurden jetzt von den Kirchtürmen herabgeläutet. Bei den Stechuhren in unseren Fabriken geht es bereits um Minuten. Für Fußgänger, die eine »belebte« Straße zu überqueren trachten, können bereits Sekunden entscheidend sein. Geben wir Stechuhr bei unserer Suchmaschine ein, möchten wir gefälligst nicht »ewig« auf die Suchergebnisse warten müssen – kein Problem: Der betreffende IT-Riese serviert 36.500 Treffer in 0,38 Sekunden (Oktober 2009). Der Stromverbrauch, unter dem jede einzelne Suchanfrage in Blitzesschnelle durch ein ungefähr stadtviertelgroßes Rechenzentrum gejagt wird, ist gewaltig. Das heißt, Computer fressen Zeit und Energie. Erkundigten wir uns nach den drei am meisten zu hörenden oder lesenden Floskeln der Postmoderne, bekämen wir nach kein Problem vermutlich keine Zeit und dann alles klar. Die Zeit ist eben knapper geworden. Man hat sie nur noch selten.
~~~ Aus ihrer Knappheit ergibt sich logisch die Folgerung, knausrig mit der Zeit umzugehen. Mein letzter Chef hatte in seinem für Handwerksmeister typischen breitmäuligen, hochbeinigen und PS-starken Geländewagen meistens alle Mühe, nicht durch das Hessische Ried oder den Odenwald zu jagen. Die Verspätung gehörte nämlich grundsätzlich genauso zu seinem Handwerkszeug wie der Zollstock. Jeder Unternehmer ist auf Auftragsstapel und Zeitdruck angewiesen. Leerlauf und Mußestunden wären sein Ruin. Auf der Durchgangsstraße unterwegs, zwang uns einmal eine rote Ampel an einer Straßenkreuzung einer sonst verschlafen wirkenden Odenwaldortschaft zum Halt. Ich stutzte und deutete von meinem lebensgefährlichen Beifahrersitz aus wortlos auf einen gegenüber liegenden Hausgiebel, an dem in verschlungenen Lettern zu lesen stand: Gott schuf die Zeit / von Eile hat er nichts gesagt. Doch dafür hatte mein Chef nur ein überlegenes Grinsen übrig. Nach Belegschaftsgerüchten hatte er als Verkehrsteilnehmer bereits einen mehrwöchigen Krankenhausaufenthalt und einen sechsmonatigen Führerscheinentzug hinter sich; als Unternehmer jedoch blickte er lieber nach vorn. Ich nehme an, er verschwendete auch nie einen Gedanken daran, er könnte auch andere mit ins Unglück reißen, ob MitfahrerInnen oder »gegnerische« VerkehrsteilnehmerInnen. Meinem mitfahrenden Gesellen Bott kostete die Wut darüber seinen Arbeitsplatz.
~~~ Bei seinen Kunden nicht überfällig zu sein, kam bei meinem Chef selten vor. Das heißt, umgekehrt unterstellte er seinen Kunden, sie hätten durchaus viel Zeit. Diesem Blickwinkel hat sich kürzlich Franz Schandl in der Brücke 145 unter dem Titel „Bitte warten!“ gewidmet. Der österreichische Publizist lacht die Leute aus, die neulich noch DDR-Warteschlangen verhöhnten. Heute warten wir alle schon professionell. Behörden, Banken, Bahnchef Mehdorn und Legionen von Ärzten haben nämlich herausbekommen, daß sich ihre Unternehmen sehr einfach »rationalisieren« lassen, indem sie Personal- und Servicekosten durch Erhöhung der Kundenwartezeiten verringern. Der Kunde steht oder sitzt die Einsparung ab. Er darf das auch durchaus gern in der Warteschleife seines eigenen Telefons tun, röchelnd. Deshalb – so Schandl – gingen unsere Besorgungen in der Postmoderne zwar schneller, dauerten aber länger. »Rationalisierung ist beschlagnahmte Zeit. Und niemandem kann man eine Abrechnung schicken für diese nicht ungeschickte Entwendung.«
~~~ Die Bosse selber gestatten sich selten ein Ausspannen. Ganz im Gegenteil, als Hobby mußte sich mein eben erwähnter Chef ausgerechnet Springreiten erwählen, um auch in seiner Freizeit möglichst viele Hürden vor Augen zu haben. Kreuders Dachboden-Leute predigen den Müßiggang. Dieses Wort ist erst im Zuge der Industrialisierung zum Schimpfwort geworden. Kreuders »Helden« widmen sich vor allem dem Spötteln und Philosophieren sowie der Schatzsuche. Das sind Aktivitäten, die mein Chef zu Recht zwecklos nennen würde.
~~~ Zu den schönsten Erzählungen Friedrich Georg Jüngers zählt Die Pfauen – diese Vögel hält ein Greis, der im Park seines Herrenhauses verdämmert und schließlich friedlich stirbt, während ringsum Geschütze donnern, Brände lodern und Menschen flüchten. Möglicherweise hat er sein müßiges Leben noch nicht einmal auf Kosten seiner Untergebenen geführt. Er war bestimmt ein gütiger Gutsbesitzer. Das erweist sich zuletzt auch an der halbwüchsigen Gärtnerstochter Therese, der er eine Schmuckschatulle mitgibt. Er selber, vom treuen Diener Anton in Decken gehüllt, bleibt in seinem Korbsessel unter den hohen Eichen des Gutsparks sitzen. Er hängt Erinnerungen nach; indische und ostpreußische Gärten vermischen sich. Angst oder Sorgen kennt er nicht mehr. »Die winzigen Kinder, die in Steckkissen von ihren Müttern fortgebracht oder auf Wagen fortgerollt wurden, konnten sich nicht sicherer fühlen als er. Sie taten es aus Unwissenheit, er aus Wissen.« Der treue Anton, kaum weniger betagt als sein entschlafener Herr, verhält sich so mutig wie konsequent: ehe die Panzer einrollen, schließt er sich auf dem Dachboden des Herrenhauses ein und steckt es in Brand.
~~~ Für den Fall, die Welt geht nicht so schnell unter wie sie sich inzwischen dreht, habe ich einmal vorgeschlagen, den nächsten Abschnitt der Geschichte – da wir Altertum / Mittelalter / Neuzeit schon hätten – Brandneuzeit zu nennen. Vielleicht verdichtet sich unser Planet in dieser vierten Epoche wieder zur Urknallerbse, während er noch für ein paar Jahrhunderte lodert. In meinen bisherigen sechs Lebensjahrzehnten hat sich das kulturelle Tempo geradezu sprunghaft erhöht. Kaum sind die ersten elektronischen Rechenmaschinen auf dem Markt, werden ihnen Computer nachgeschoben, die sich in Handtaschen und Handys unterbringen lassen. Wir erfreuen uns der Aufmerksamkeit von Videokameras, die kleiner als Orwells Augäpfel sind. Daran sehen wir, der menschliche Gigantismus geht mit einer atemberaubenden Verkleinerungskunst einher.
~~~ Am kleinsten ist zuletzt vermutlich der Mensch – nach Einschätzung des US-Paläontologen Stephen Jay Gould werden uns die Bakterien und Insekten »todsicher« überleben. Schon jetzt sehen wir unsere Moden auf allen erdenklichen Gebieten von Eintagsfliegen beherrscht. Was sich ohne aufgeprägtes Verfallsdatum zu zeigen wagt, gilt bereits als anrüchig. Daß schneller leben zugleich schneller sterben heißt, geht in die mit Tumoren vollgestopften Hirne meiner Zeitgenossen nicht hinein. Oder wünschen sie gerade das? Ich bin inzwischen geneigt, Freuds fragwürdigen Todestrieb für eine anthropologische Konstante zu erachten. Kaum kann sich ein Dreikäsehoch auf seinen Beinen halten, ist er schon auf die Feststellung erpicht, wer am schnellsten bis zur nächsten Hausecke gerannt ist – kein Stolpern und Auf-die-Nase-Fallen kann ihn von diesen Wettbewerben abbringen. Ein gesunder Menschenverstand müßte es ja eigentlich lächerlich finden, wenn sich einer damit brüstet, eine schwierige Aufgabe ein paar Sekunden rascher als seine Konkurrenten erledigt zu haben. Aber ich fürchte, der Menschenverstand war noch nie gesund. Bekanntlich ist unser Primatengehirn vor der Ära des Faustkeils geradezu explodiert. Daher der Durchmarsch bis zur Brandneuzeit.
~~~ Hält der Siegeszug der Zeit an, müssen Mensch und Planet weichen, weil jene nur auf Kosten des Raumes siegen kann. Im Jagen verflüssigt und verflüchtigt sich der Raum. Ein sprechendes Beispiel lieferte der britische Bomberpilot Andy Green im September 1997, als er in der Wüste von Nevada mit seinem düsengetriebenen Rennwagen Thrust SSC im Rahmen etlicher Versuche einen neuen Geschwindigkeitsrekord für Landfahrzeuge aufstellte: mit 1.228 Stundenkilometern und Mach 1,016 – womit er schneller als der Schall gefahren war. Anschaulicher ausgedrückt, fuhr Green mit einem Auto in einer Stunde durch die Wüste, die sich zwischen Basel und Kopenhagen erstreckt. Sein Kerosin-Verbrauch pro Sekunde: 16 Liter. Ausgerechnet vom Wochenblatt Die Zeit nach seinen Motiven befragt, verwies der Bomberpilot auf Lindberghs Atlantiküberquerung. »Der hatte keine dringende Verabredung auf der anderen Seite des Atlantiks. Er hatte nicht mal Post an Bord. Er flog, um zu beweisen, daß man es tun kann. Aus dem gleichen Grund haben wir die Schallmauer durchbrochen …« Hier haben wir das Credo aller Technokraten. An ihm orientieren sich heute schon 14jährige, die einen Mitschüler erstechen: aha – es geht! Verglüht unser Heimatplanet, werden die auf den Mond geflüchteten Technokraten ebenfalls befriedigt feststellen, es sei gegangen.
~~~ Bekanntlich ist die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die Gerade, womit es auch nur logisch ist, die Deckung, Verschmelzung und Explosion der beiden Punkte anzustreben, denn kürzer geht es dann nicht mehr. Damit stoßen wir auf zwei Mythen, die unseren sogenannten Fortschritt tragen: Teleologie und Theologie. Ich erlaube mir, zunächst meinen Kriminalkommissar Köfel sprechen zu lassen, der mit seinem Kollegen Luckenwalde auf der Galopprennbahn am Boxberg (bei Gotha) weilt. »An der Startmaschine trotzte nach wie vor ein Fuchs, der allerdings eher einem Windhund glich. Bei den kleinen edlen Rennern mit den seidigen Fellen konnte man jede Ader und jede Rippe zählen. Köfel fragte sich, ob ein Pferd in freier Wildbahn wie der Teufel über drei Kilometer preschen würde, nur um sich beklatschen zu lassen, den Tierarzt aufzusuchen, für 150.000 Euro den Besitzer zu wechseln. Von Springpferden wußte er mit Sicherheit, daß sie aus freien Stücken niemals über Teppichstangen oder Friedhofsmauern setzen würden. Vielleicht drehte auch ein Dakota-Mustang bei der Büffeljagd ziemlich auf, aber bestimmt nicht schnurgerade. Die Gerade war auch in diesem Oval auf dem Boxberg gegeben. Geschwindigkeitswahn und Zielstrebigkeit gehörten untrennbar zusammen. Warum sollte sich einer ohne Ziel verausgaben – sich krankrennen für nichts? Das Ziel des unausrottbaren Fortschrittsdenkens im allgemeinen war es, in der Schöpfung, die man nicht selber in Gang setzen durfte, wenigstens die Nase vorn zu haben. Macht euch die Erde untertan
~~~ Ich denke, hier hat Köfel den theologischen Kern der zielstrebigen Veranstaltung namens Fortschritt erwischt. Er ist ein Minderwertigkeitskomplex. Scham und Schande setzen uns zu, weil uns die Selbsterschaffung verwehrt war. Wir fanden uns und das Universum bereits vor. Nicht voraussetzungslos zu sein, empfinden wir offenbar als äußerst demütigend; es kratzt an unserer Souveränität; wir sind nur relativ. So halten wir uns dadurch schadlos, daß wir nach und nach all das zu machen trachten, was sich als machbar erweist. Wir müssen unsere Schöpferkraft unter Beweis stellen. Unser größter Triumph kann dann natürlich nur unsere Selbstausrottung sein. Als weiteres Motiv für seine Rekordjagd in der Wüste von Nevada führte Green der Zeit gegenüber an, er und sein Team wollten »die ersten sein, die mit einem Bodenfahrzeug Überschall fahren«. Ergo wird es demnächst heißen: zwar haben wir die Welt nicht erschaffen, aber wir werden sie zumindest als erste wieder beseitigt haben.
~~~ Vielleicht ist Kommissar Köfel auch der richtige Mann für die Frage, warum die meisten unserer Zeitgenossen noch immer so wenig beunruhigt vom sich offensichtlich potenzierenden Sog des Niedergangs seien. »Falsch!« erwidert Köfel. »Es ist eben nicht offensichtlich.« – »Wieso?« – »Die Tageszeitungen sind schuld. Ginge es mit rechten Dingen zu, müßten sie ja längst stündlich erscheinen. In ihrer täglichen Erscheinungsweise liegt die gleiche Täuschung, die uns auch von unseren Uhren und Kalendern bereitet wird. Sie gaukeln vor, am Tempo des Lebens und der Weltgeschichte habe sich nichts geändert. Unser tägliches Sichabhetzen ist in die vertrauten Raster der Zeit eingebettet wie der Kriegsberichterstatter in Bushs oder Obamas Truppen. Unsere Krankheiten – zu Symptomen des Stresses verharmlost – führen wir auf falsche Ernährung oder falsche Ärzte zurück. Das Herze flattert uns, das Handy tobt, doch solange des morgens die Zeitung im Kasten steckt, unsere Digitaluhr verläßlich Sekunden schiebt und das Geschichtsrad seit Urgedenken an jeder Jahreswende den gleichen Zahn zuzulegen scheint, kann die Lage noch nicht besonders besorgniserregend sein.«
~~~ Darauf einen Dujardin ..!

∞ Überarbeitet 2010. Fünf Jahre früher hatte ich dem Chefredakteur der Tageszeitung Junge Welt vorgeschlagen, diesen Beitrag in der Sylvester-Ausgabe zu bringen. Wie erwartet, hustete er mir was – ohne sich selbstverständlich zu einer Stellungnahme herbei zu lassen. Dazu hatte er keine Zeit.


Für Brockhaus hat die Dampfmaschine »die industrielle Revolution« eingeleitet. Ansonsten breitet er die technischen Einzelheiten und Etappen aus. Vom Kapitalismus fällt kein Wörtchen. Das ist das Verfahren, das alle BürgerInnen lieben. Die Technik drängte eben mit Macht ans Licht; sie wollte ihre Wunderwerke zeigen. Aber das ist Dampfnebel, um mit dem sich anschließenden Brockhaus-Eintrag zu sprechen. Dagegen macht der DDR-Historiker Hans Mottek im zweiten Band seiner Wirtschaftsgeschichte ausdrücklich den »Zusammenhang zwischen der sozialökonomischen und der technischen Umwälzung« klar.* Danach war der entscheidende Antrieb jener »industriellen Revolution« (voran in Großbritannien) nicht die Dampfmaschine, vielmehr die Aussicht gewisser Kapitalisten auf Profit. Ohne moderne Werkzeuge und Maschinen wäre es denen niemals gelungen, die herkömmliche Haushaltsproduktion und die sogenannte Einfache Warenproduktion zu zerschlagen. Das schnöde Volk, die Handwerker und Bauern eingeschlossen, lechzte keineswegs nach industrieller Großproduktion. Es verzehrte sich auch nicht danach, Industrieproletariat zu werden. Vielmehr benötigten die Kapitalisten viele schlecht bezahlte Anhängsel für ihre schönen Maschinen.
~~~ Das Betrübliche ist nur: Kommunisten wie Mottek finden dies alles prima. Sie halten den geradezu schmerzhaften Stufenschematismus hoch, den ihnen Marx–Engels–Lenin vorgebetet haben. Danach war die Einführung des Kapitalismus unumgänglich, damit er »die Produktivkräfte« enfalte und so »den qualitativen Sprung« in den paradiesischen Sozialismus vorbereite. Nebenbei wird diese »Entfaltung« nicht unbeträchtlich »durch die Rüstungsaufträge [gefördert], die jetzt an preußische Unternehmen direkt vergeben wurden.« Da sieht der frohlockende Fernblick schon die Fallschirme und die Bomben auf Belgrad und Dresden sich entfalten. Das angestrebte Paradies lebt dann ebenfalls von technischen Wunderwerken höchster Streuwirkung. Dieses kommunistische Denken ist der eingefleischten Vorliebe für alles Große und für alles Organisierte geschuldet. Die Motteks und Ulbrichts schätzen auch »das Proletariat« gerade wegen seiner Größe und wegen seiner herrlichen Organisierbarkeit. Nur – was wäre an jenem Sprung dann noch qualitativ? Selbstverständlich das Gemeineigentum. Es steht jetzt auf frisch eingefärbtem rotem Papier. In Wahrheit gehören die Produktivkräfte dem neuen Vater Staat. Das ist eine Vogelscheuche mit bäuerlich wirkender Kutte, unter dem die nun herrschende Clique ihre volksfeindlichen Schliche ausheckt. Man hat gelegentlich gespottet, notfalls würden die Kommunisten auch gegen das Volk oder ohne Volk regieren – aber ein straff durchorganisiertes Volk, das sich leicht melken und jeden Abend in die Ställe führen läßt, ist ihnen lieber.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024
* 2. durchgesehene Auflage Ostberlin 1978, bes. S. 81/82 + 93



Unter Di (oder Ti) erwähnt Brockhaus eine Volksgruppe, die (um 700 v.Chr.) mit den Chinesen »wahrscheinlich rassisch und sprachlich verwandt« gewesen sei, sich jedoch »auf niedrigerem materiellen und politischen Kulturniveau« befunden habe. Das ist der übliche zivilisatorische Treppenblick, der den Planeten bald zugrunde gerichtet haben wird. Für den Treppenblick geht es stets von Nieder nach Höher. Auf der Fußmatte wird noch mit den Fingern gegessen; auf halber Höhe nimmt man schon Messer und Gabel; und viel weiter oben sitzt man in Flugzeugen und schlürft mit bunt geringelten Strohhalmen aus Plastik Coca-Cola.
~~~ Übrigens sind sich noch heute die wenigsten ErdbewohnerInnnen darüber im Klaren, daß es in der Natur sehr wahrscheinlich kein Unten und kein Oben gibt, solange ihr nicht der Mensch gegenüber tritt, und sei es, auf einem Esel reitend. Was hätte eine Flechte von der Einsicht, am Fuß einer Kiefer zu krauchen und hin und wieder einem Feuersalamander Durchschlupf gewähren zu müssen? Nur Verdruß. Genauso richtet der Feuersalamander seine Aufmerksamkeit nicht nach oben, weil er ehrgeizig oder unterwürfig wäre, sondern weil in der Kiefer ein bedrohlich funkelnder Schatten lauert, den wir Luchs nennen. Für uns gehören Katzen zu den Raubtieren. Und wenn wir Raubtiere für höher entwickelt halten als Lurche oder Kriechtiere, wird das durchaus mit ihrem Lebensraum zusammenhängen, der selbst höchste Bäume und die zwischen ihnen liegende Luft umfaßt. Warum die Vögel gemeinhin noch über sie gestellt werden, liegt auf der Hand. Sie werden als FliegerInnen bewundert, nicht als LiedermacherInnen.
~~~ Sie selber jedoch – die Pflanzen, Tiere, Wolken – verzichten darauf, sich dessen zu versichern, was wir ihre Stellung nennen. Darüber war sich selbst ein Charles Darwin im klaren, der doch so sehr unserer Sucht nach Stammbäumen entgegenkam. Es sei absurd davon zu reden, ein Tier stehe höher als ein anderes, bemerkte er nach Auskunft seiner Biografen Desmond/Moore.* Der Mensch betrachte diejenigen mit den entwickelsten geistigen Fähigkeiten als die Höchsten. Eine Biene dagegen würde zweifellos die Instinkte als Kriterium heranziehen und dem Menschen daher statt der Krone eher den Klumpfuß der Schöpfung verleihen. Freilich war solcher Relativismus keineswegs neu. Lichtenberg pochte bereits vor rund 250 Jahren darauf, wir beobachteten immer nur uns selber, wenn wir die Natur »und zumal unsere Ordnungen« beobachten. So stecke auch die Stufenleiter unter den Geschöpfen allein in uns.
~~~ Zu der Frage, wie wir zu ihr gekommen seien, äußert sich Lichtenberg, soweit ich sehe, allerdings nicht. Da er Physiker war, vermute ich jedoch, sie wurde uns von der Schwerkraft aufgebürdet, die ja stets senkrecht wirkt. Wenn wir uns erheben, zunächst aus den Kissen, dann vom Bettrand, haben wir die Erdanziehung zu überwinden. Schließlich reiben wir uns die Hände, weil nun auch unser Kopf klar ist, in dem doch irgendwie das Zentrum unserer mal verschwommenen, mal gefeilten Gedanken zu liegen scheint. Jetzt können wir ihn (und seine Nase) besonders hoch tragen. Ein Mensch steht in seinem Leben – falls es nicht vorzeitig abgebrochen wird – sicherlich dreißigtausend mal auf, und dabei erzielt er dreißigtausend Siege. Deshalb kann er nur von unten nach oben denken – und in Rängen: Teich, Flechte, Waldsaum, Adler, Weiße Riesen, Gott …
~~~ Weder die Pfarrer noch die Anthroposophen, die ich kenne, konnten mir je einleuchtend erklären, warum das Essen mit Messer und Gabel eigentlich achtungsgebie-tender als das Essen mit den Fingern sei. Das Argument mit der Hygiene ist doch mindestens so fadenscheinig wie eine Mund-Nasen-Maske gegen Grippeviren. Ja, sie waren überhaupt außerstande mir zu verraten, wo Gott eigentlich handsigniert aufgeschrieben habe, was des Menschen Bestimmung sei. Warum soll sich der Mensch nicht wie eine wohlig grunzende Sau im Schlamm wälzen, vielmehr adrett in Uniform gekleidet vor einem Bildschirm sitzen, um alle Leute, die Biden oder Baerbock im Fernsehen als Schurken bezeichnet haben, heimtückisch mit Drohnen kalt zu machen? Was für eine gegebene Gesellschaft gut und angebracht und vertretbar sei, ist allein eine Frage der Übereinkunft in eben der betreffenden Gesellschaft. Das einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann: je kleiner, nämlich überschaubarer die Gesellschaft ist, desto besser.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Adrian Desmond + James Moore, Darwin, 1991, hier Rowohlt-Ausgabe Hamburg 1994, S. 266

Siehe auch → Anarchismus, Mahmud (konservativ) + Tugan (Arbeiterklasse fehlt) → Bildende Kunst, Lyncker (Documenta u.ä.) → Chargaff → Lyrik, Versfüße (und gebrochene Texte) → Mammutisierung → Technik → Vergeudung → Vertretung → Band 4 Bott ausmisten Kap. 4/5 (Überleben) → Band 5 Folgen eines Skiunfalls (BAM-Manifest)




Der Fall von Evelyn Foster († 1931) wird demnächst seit 100 Jahren unaufgeklärt sein. Ich nehme an, Brockhaus hat nie von ihm gehört. Die im Geschäft mithelfende Tochter eines Garagen- und Taxiunternehmers aus dem nordenglischen Städtchen Otterburn, Northumberland, war Anfang Januar 1931 in der Nähe ihres Wohnortes von einem zugleich qualvollen und seltsamen Tod ereilt worden. Nach den meisten Quellen war sie erst 27. Man hatte sie mit schweren Verbrennungen an der Landstraße gefunden. Ihr Wagen, mit dem sie einen fremden Kunden nach Ponteland bringen wollte, stand ausgebrannt unterhalb der Straßenböschung im Moor. Bevor Foster wenig später in ihrem Elternhaus starb, konnte sie ihren verschwundenen Fahrgast noch als Täter angeben und den Tathergang schildern. Der ungefähr 30jährige Mann habe sie plötzlich vom Steuer gedrängt, geschlagen und schließlich, als der von ihm gelenkte Wagen im Moor stand, mit Benzin übergossen und dieses entzündet. Der Ortspolizist Andy Ferguson schrieb mit. Sie bejahte auch die Frage ihrer Mutter, ob sich der Fremde an ihr »vergangen« habe.
~~~ Foster hatte ihn, wie sie erzählte, an jenem frostigen Januarabend bei Otterburn aufgelesen, sodaß er leider bestenfalls flüchtig von dem einen oder anderen Zeugen gesehen worden war. Bald führten die Untersuchungen des Autowracks und verschiedene Ungereimtheiten in Fosters Geschichte zum Anwachsen der Zweifel bei Captain Fullarton James von der Bezirkspolizei. Zudem erklärte ein Medizinprofessor aus Durham, er habe an der Leiche keine Hinweise auf Vergewaltigung entdecken können. Foster sei noch »Jungfrau« gewesen. Zwar verurteilte ein örtliches Geschworenengericht gleichwohl »eine unbekannte Person« wegen Mordes, doch für James, der sich nach der Verhandlung entsprechend äußerte und damit für Entrüstung bei den Einheimischen sorgte, stand fest, diese Person habe es nie gegeben. Für die Polizei und selbst den Richter hatte Foster mit der Absicht, einen Unfall vorzutäuschen, ihren Wagen und versehentlich auch sich selber eigenhändig in Brand gesetzt. In der Folge blieb der Fall offen – und fiel allmählich dem Vergessen anheim.
~~~ Rund 25 Jahre nach Fosters Tod befaßte sich der erfolgreiche Kriminalautor Julian Symons (1912–94) mit ihm, wobei er auch (1956) vor Ort gewesen sein will.* Das Opfer schildert er als »zurückhaltende, ziemlich schüchterne, durch und durch anständige junge Frau« – und er fragt sich verständlicherweise, welchen Grund ein solcher Mensch gehabt haben solle, seinen noch fast neuen Wagen aufs Moor zu fahren und dort anzustecken. Der Richter hatte den Geschworenen zunächst den Köder »Versicherungsbetrug« vorgeworfen. Aber erstens hatte Foster von der Versicherung kaum mehr als den gegenwärtigen Marktwert des Autos zu erwarten, zweitens hätte diese ohne Zweifel auf einer Aussage des leider flüchtigen Taxikunden bestanden – den Foster nun einmal, törichterweise, ins Spiel gebracht haben soll. Als sein Angebot nicht zog, gab der Richter alternativ zu bedenken, man wisse ja auch von Fällen, in denen Menschen solche Dinge »aus unerfindlichen Gründen« täten, »entweder weil sie nicht anders können oder weil sie Spaß an abnormem Verhalten haben«. Mit beiden Argumenten gelang es ihm erfreulicherweise nicht, die Geschworenen auf die Linie seiner, so Symons, offensichtlichen Voreingenommenheit einzuschwören.
~~~ Es war auch die Linie der Polizei, wie so oft. Ein Kommissar setzt sich aus undurchsichtigen, wenig Vertrauen erweckenden Motiven die Theorie in den Kopf, der unbekannte Fremde sei böswillig erfunden worden, und daran hält er eisern fest, um seine Sicherheit und sein berüchtigtes Gesicht nicht zu verlieren. Captain James war beispielsweise der schwere Fehler unterlaufen, die Unfallstelle in der ersten Nacht nicht bewachen zu lassen, und in der Tat konnte sich dadurch ein schnüffelnder Journalist dort zu schaffen machen, der etliche Spuren beschädigte und auch gleich noch für neue sorgte. Hier ging es etwa um einen Schal der Taxifahrerin, der seinen Ort gewechselt hatte. Nach Symons gestand James dieses Versäumnis nie ein. Da paßt es wie die Faust aufs Auge, wenn sich bei den Nachforschungen des Kriminalautors vor Ort der erwähnte Polizist Andy Ferguson ebenfalls stumm wie ein Fisch zeigte – er verweigerte jede Auskunft.
~~~ Wie sich versteht, fragt sich Symons am Ende seiner Betrachtung, welchen Grund nun der Fremde, an den er durchaus glaubt, gehabt haben könnte, Evelyn Foster so grausam ums Leben zu bringen. Für Symons handelte er sowohl aus dem Zufall der Begegnung wie aus einem beträchtlichen kriminellen Potential heraus. Er nimmt dabei an, der Kerl habe bereits, wegen vorausgegangener Delikte, die Polizei zu meiden gehabt. »Wahrscheinlich wollte er zunächst tatsächlich nur bis Ponteland gebracht werden.« Dann veranlaßten ihn vielleicht indiskrete Fragen seiner Fahrerin oder die Angst, sie könne ihn wiedererkennen, zu einem Meinungsumschwung. Oder der bloße Umstand, mit ihr allein auf dem Moor zu sein, habe »seine sadistischen Triebe« angestachelt, »die es ja bei vielen Kriminellen« gebe. Nur bei diesen? Symons kannte die Opferzahlen des von Tony Blair befeuerten Irakkrieges von 2003 noch nicht; allerdings sollte er von Hiroshima erfahren haben.
~~~ Hat die Londoner Webseite True Crime Library ins Schwarze getroffen**, besteht keine Aussicht mehr, den wahren Mörder Evelyn Fosters auszuknobeln. Nach dieser Quelle war es nämlich der Pferdepfleger Ernest Brown, der genau zwei Jahre nach Fosters Tod bei Tadcaster, Yorkshire, seinen Boß erschoß, einen Farmer – selbstverständlich wegen der Farmersfrau. Man fand den Erschossenen im Wrack seines Autos sitzend – Brown hatte die betreffende Garage angezündet. Der Tatort liegt rund 100 Meilen von Otterburn entfernt. Hinsichtlich des Alters sowie des Auftretens passen Fosters Angaben recht gut auf Brown, der (anderen Webseiten zufolge) im Februar 1934, wohl mit 35, im Armley-Gefängnis, Leeds, gehängt wurde. Vorher soll ihn ein Kaplan aufgefordert haben, die Chance zu nutzen, seine Sünden zu bekennen und so mit Gott seinen Frieden zu machen. Henker Tom Pierrepoint habe anschließend versichert, Brown hätte beim Anlegen der Schlinge gemurmelt: »Otterburn.« Belege werden nicht gegeben.
~~~ Diese Spur ist der zuständigen Polizei keineswegs unbekannt, wie aus einem jüngeren Bericht des Regionalblattes Chronicle hervorgeht.*** Nur fehlten leider Beweise. Deshalb habe der Fall, so Tony Stevens von der Northumbria-Polizei, nach wie vor als ungelöst zu gelten. Der Fall Foster hat bereits einen Schwung von Artikeln und sogar Büchern hervorgebracht. Wenn Sie darin auf interessante Fingerzeige stoßen sollten, gönnen Sie mir bitte eine Nachricht.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* Julian Symons, »The Invisible Man (Der unsichtbare Mann)«, übersetzt von Ruth Sander und veröffentlicht im Sammelband Aufgeklärt! Ungesühnt!, Hrsg. Richard Glyn Jones, ursprünglich in Englisch 1987, hier Lizenzausgabe Augsburg 1999, S. 125–39
** »Evelyn Foster«, Stand 2015: https://www.truecrimelibrary.com/crimearticle/evelyn-foster/
*** Lisa Hutchinson, »The horrifying 1930s murder of a taxidriver …«, ChronicleLive 5. Januar 2019, online: https://www.chroniclelive.co.uk/news/local-news/horrifying-1930s-murder-taxi-driver-15633418




Fotografie und Film

Jerry Litton (1937–76), Viehzüchter und Politiker aus Chillicothe, Missouri, USA, hatte zuletzt eine Wahl zum US-Senat gewonnen, konnte seinen Sitz aber nicht mehr einnehmen, weil er auf dem Weg zur Feier seines Wahlsieges – die Party sollte in Kansas City, Missouri, steigen – aufgrund eines Maschinenschadens schon unweit seiner Ranch mit einem Kleinflugzeug in ein Sojabohnenfeld stürzte. Das war am 3. August 1976. Die Beechcraft Baron explodierte und brannte aus. Alle sechs Insassen kamen um. Das waren, laut englischer Wikipedia, neben Litton (39) dessen Gemahlin Sharon, seine zwei Kinder Linda und Scott (um 13), der Pilot Paul Rupp Jr. und ein Sohn von diesem, Paul Rupp III.
~~~ Vermutlich hätte ich an solchen Vätern wenig Geschmack gefunden. Kürzlich kam mir im Internet John Sturges‘ Italowestern Wilde Pferde (auch Chino genannt) von 1973 unter. Ich gestehe, ich blieb gefesselt daran hängen, obwohl ich seit Jahrzehnten ein Verächter allen Kinos bin. Dieser bemerkenswert ruhige, schlichte Film erspart dem Publikum immerhin Effekthascherei und Happyend. Eigenbrötler Chino Valdez, ein Halbblut und Züchter von Mustangs, weicht der Niedertracht und der Übermacht seiner »zivilisierten« Feinde. Die Frau, die er heiraten wollte, schlägt er sich aus dem Kopf. Er läßt seine Herde laufen, brennt seine Ranch nieder und verschwindet. Sogar den Jungen gibt der von Charles Bronson gespielte »misfit« frei. Der blonde Jamie, um 15, war ihm zugelaufen. Vincent van Patten, geboren 1957, bewältigte diese Kinderrolle ausgezeichnet. So einen hätte ich vielleicht als Enkel und Gralshüter meiner weitgehend unbekannten musikalischen und literarischen Werke akzeptiert, darunter so manche Strafpredigt gegen die Flut der Verbilderung. Aber nein, Van Patten zog es vor, Filmstar, Tennisas, Sportreporter und Pokerspieler zu werden, wie im Internet zu erfahren ist. In sieben Poker-Turnieren soll er unlängst über 100.000 Dollar eingespielt haben, das ist doch recht beachtlich. Meine Werke hätten das nicht abgeworfen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


Der Augsburger Buchmaler Narziß Renner (c.1502–36) könnte zuletzt als schnöder Schulmeister erwerbstätig gewesen sein. Es war die Zeit, wo die Malerei von Hand für ungedruckte Schriften in Bedrängnis kam, weil der neuartige Buchdruck florierte. Immerhin half dem Künstler eine Zeitlang der Augsburger Fugger-Angestellte Matthäus Schwarz aus der Patsche, der sowohl auf kostbar ausgestattete, einmalige Handschriften wie auf modische Bekleidung Wert legte. Für Schwarz schuf Renner unter anderem eine Kostümbiografie und den sogenannten Geschlechtertanz. Zu allem Unglück hatte der »Illuminist« auch noch eine Gattin, Magdalena, und vermutlich Kinder, die ja gleichfalls alle satt werden wollten. Er selber hungerte aber nicht allzu lange, weil er, laut Ulrich Merkl (NDB 21–2003), mit ungefähr 34 »während einer Pestepidemie« unter die Erde kam.
~~~ Möglicherweise wäre Renner noch früher vom Schlag getroffen worden, wenn ihm ein Hellseher den Siegeszug der Fotografie angekündigt hätte. Ich habe das verhängnisvolle und überwiegend ekelerregende Phänomen der Verbilderung der Welt um 2000 in meinem Essay »Klappe zu, Affe tot« behandelt. Zu einer Veröffentlichung im Kursbuch, wo ich gerade einen Fuß drin hatte, kam es jedoch nicht, weil mir Redakteurin Ingrid Karsunke vorwarf, mit dieser Arbeit hätte ich die Grenzen der Kritik überschritten und sei »ins Feld des Fundamentalismus« geraten. Somit, sagte ich mir später, soll man lieber im Wasser stehen bleiben und wie ein Schilfrohr schwanken. Wer das Fernsehen »in Bausch und Bogen« verdammt, könnte auch Verdummung, Ausbeutung, Vergewaltigungen »generell« verteufeln. Es gibt aber gute und schlechte Vergewaltigungen, gute und schlechte Fernsehsender, gute und schlechte Autobahnen und gute und schlechte Gewehre. Daher ist Toleranz statt Konsequenz geboten. Der Wurm sitzt nie in der Sache, Einrichtung, Gewohnheit selbst.
~~~ Das betrifft auch den Menschen, weshalb es gute und schlechte Menschen gibt. Trachten die schlechten, die Grenze zum Mißbrauch zu überschreiten, halten die guten Menschen sie am Rockzipfel fest – statt »mit der Fundi-Keule zuzuschlagen«, wie es Karsunke an mir beobachtet hat. Mit dieser sanften Rockzipfel-Methode haben die guten Menschen schließlich schon die Kreuzzüge, den Kapitalismus und den ersten Atombombenabwurf zu verhindern gewußt.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


Elstern sehen so aus, wie sie John James Audubon (1785–1851) vor rund 200 Jahren malte. Das kann ich als Vogelkenner versichern. Das Vorwitzige und Gaunerhafte ihrer Bewegungen fing er ebenfalls ein. Wir könnten, was unsere Unterrichtung angeht, getrost auf die Fotografie verzichten. Wir brauchten sie überhaupt nicht. Leider hat sich nämlich längst unser Unvermögen gezeigt, die eine oder andere technische Erfindung nur zum Teil, nur begrenzt zu nutzen. Ich nenne neben der Kamera bloß Auto und Computer. Die Technik duldet keine Grenzen. Statt durch Reproduktionen lassen sich Gemälde natürlich auch anders verbreiten, etwa durch Stiche oder Lithografien. Oder SchriftstellerInnen schildern sie nicht weniger gut wie sie Herrn Tobias Wendehals oder den oberhessischen Vogelsberg beschreiben. Wem das zu ungetreu ist, der möge sich zu den Gemälden hinbegeben.
~~~ Am besten scheint mir allerdings beraten, wer sich an die Fersen der Vögel selber heftet. So verfuhr Audubon. Unter großen Entbehrungen unternahm er viele Reisen, um die Vögel Nordamerikas an ihren Orten aufzusuchen. So wurde er nebenbei zum bewanderten Ornithologen. In solcher Liebesmüh lernt man die Objekte seiner Begierde gründlich kennen, achten, schätzen. In Lewis Mumfords Mythos der Maschine wird erwähnt, Audubon habe Tauben, Wachteln oder Stare nicht nur erlegt um sie zu malen, sondern auch etlicher hübscher Mahlzeiten wegen. Hoffentlich nahm er – uns zuliebe – statt der Flinte Pfeil und Bogen. Denn wie sich Gewehr, Kamera und der rasche Blick auf Reproduktionen gleichen, entsprechen Pfeil und Bogen der mühsamen Annäherung. Der Laie wird auf 40 Schritte mit Pfeil und Bogen keine Scheune treffen, aber mit einem Gewehr. Gewiß erfordern solche Annäherungen viel Geduld und Zeit. Noch im Barock waren gedruckte Noten zu rar und kostspielig für den gewöhnlichen Musikstudenten. So sah sich ein Jüngling namens Johann Sebastian Bach gezwungen, auf seinen Reisen durch Deutschland jede Partitur, die er zu studieren gedachte, eigenhändig abzuschreiben, was so lästig wie eindringlich gewesen sein dürfte. Gewiß entging ihm durch diese aufwendige Arbeit so manches lehrreiche Musikstück. Doch es ist besser, wenige Dinge gründlich als zahllose Dinge oberflächlich zu kennen. Letztlich gewinnen wir dadurch sogar Zeit, weil sich auf den Oberflächen doch viel Überflüssiges räkelt.
~~~ Als so um Spitzweg herum die ersten chemisch behandelten Platten belichtet wurden, war sich noch niemand darüber im klaren, wie gewaltig die Fotografie die allgemeine Verflachung befördern sollte. Walter Benjamin sah es um 1930 dann wohl ein, fand es aber prima so. Sein massenrevolutionäres Sätzchen, jeder heutige Mensch könne den Anspruch vorbringen gefilmt zu werden, ließ er sogar kursiv drucken. Dankeschön, Walter! Inzwischen hat sich im Haushalt zur Waschmaschine die Videokamera gesellt. Die Flut von mehr oder weniger reellen Abbildern ist nicht mehr aufzuhalten. Wer will mir weismachen, er könne unter diesen Umständen noch irgendetwas so verdauen wie Audubon seine Tauben?

∞ Die kleine saarländische Zeitschrift Die Brücke brachte jene Betrachtung über Fotografie und Film »Klappe zu, Affe tot« 2006. Das Vorstehende ist davon der erste Abschnitt.


Ich mißbrauche den kurzen Brockhaus-Eintrag zum Kino, um mich entgegen früherer Absicht zum Film zu äußern. Der Film muß sehr wichtig und beliebt sein, widmet ihm das Lexikon doch in Band 7 mindestens 10 Seiten, wobei es selbstverständlich auch nicht mit Standfotos aus angeblich überragenden Filmen spart. Apropos: der Film pflegt bekanntlich nicht zu stehen, vielmehr zu laufen. Schon von daher hat er, als Informations- und Kunstmittel, eine einzigartige reißende Gewalt. Bedient er sich dann noch bildhübscher oder abgrundhäßlicher Gestalten und Szenerien – und das tut er immer – sind selbst Marxisten oder AdornoschülerInnen nicht mehr in der Lage, sich seiner Macht zu entziehen. Der Film ist ein Sog, ein Orkan; er überwältigt jeden. Ich ziehe es deshalb bereits seit etlichen Jahrzehnten vor, mir mein Heimkino aus Büchern zu bauen. Ein gutes Buch hat gewiß ergreifend zu sein – aber ich kann es nach Belieben zur Seite legen oder zur Hand nehmen. Ich kann darin verweilen. Wer dagegen versuchen sollte, im Kino einmal den Film zurückzublättern, dürfte auf der Polizeistation oder in der Klapsmühle landen.
~~~ Nebenbei ist es meist ähnlich müßig, den Redefluß typischer Zeitgenossen bremsen zu wollen. Der Wurm sitzt schon in der Anlage. Hirn, Zwerchfell, Zunge, Worte drängen mit Macht, gleichsam im Selbstlauf zum Ohr des Mitmenschen. Das Redevermögen erspart dem Zuhörer das Denkvermögen; er kommt einfach nicht mehr zum Denken. Ganz anders beim Buch. Ich kann den betreffenden Text nicht kurzerhand herunterlesen; ich muß ihn zuächst einmal übersetzen. Denn der gute Schriftsteller schreibt mir keine Leseart vor. Er läßt mir Spielraum. Er gewährt mir die Chance, mir meine eigenen Bilder zu machen, statt mir die seinen vor den Latz zu knallen beziehungsweise in die Gehirnrinde einzubrennen. Im übrigen weist jeder Text schon insofern Spielraum auf, als er die einzelnen Worte durch »Spatien« genannte Lücken voneinander absetzt. Entgegen einem verbreiteten Irrglauben wird dies in der mündlichen Rede überwiegend nicht so gehalten – wir alle spulen in unseren Alltagsgesprächen Filme ab. Sie liefern pro Sekunde 24 Einzelbilder. Sie sind Gewalt.
~~~ Brockhaus will mir ein Schnippchen schlagen, indem er die übliche Unterscheidung zwischen dem falschen und dem richtigen Gebrauch eines Mittels vornimmt. Gewiß sei der Film eine Zeitlang als Massenunterhaltungsmittel beschimpft oder aber in seinen aufklärerischen Möglichkeiten überschätzt worden. Doch dann habe er nach und nach als selbstständiges künstlerisches Medium Anerkennung gefunden, das mit nicht geborgter, eigener Ausdruckskraft zu Werke gehe. Das ist natürlich eine fadenscheinige Ausflucht. Denn jene von mir gebrand-markte reißende Gewalt übt jeder Film aus, er mag den mit Schuh aufs Rednerpult trommelnden Chruschtschow, ungestüm über die Maikoppel galoppierende Fohlen oder Lee Van Cleef zeigen, der mich gerade in die Mündung seines Colts blicken läßt. Der Film ist immer schlecht. Das teilt er mit vielen anderen Mitteln, die die menschliche Kultur hervorgebracht hat. Oder haben Sie schon einmal ein gutes Maschinengewehr gesehen? Eine gute Vergewaltigung? Ein Passagierflugzeug mit 200 Sitzplätzen, das nicht jederzeit vom Himmel fallen oder von sogenannten Konfliktparteien abgeschossen werden könnte?
~~~ Hier drängt sich das wichtige Stichwort Distanz auf. Der Film verhindert Distanz. Jeder Film ermöglicht Besinnung allenfalls im Nachhinein – aber dann hat sein Gift bereits gewirkt, sodaß die Besinnung eher in seinem als in unserem Sinne ausfällt. Gleichwohl singen die meisten »fortschrittlichen« KunsttheoretikerInnen Lobeshymnen auf ihn. Geben manche von ihnen das Kino für die Vollendung des Theaters aus, können sie das Theater allerdings nur mißverstanden haben. Das Theater war nie der Illusion, nämlich der täuschenden Vorspiegelung von Wirklichkeit verpflichtet. Zwar verstrickt sich Willy Loman offensichtlich in seine Lebenslüge, ein prächtiger Staubsaugerverkäufer, Vater und Gatte zu sein, woran die Gattin selber nebenbei keinen geringen Anteil hat. Vieles deutet darauf hin, daß sich Loman umbringen wird. Trotzdem bleiben die Zuschauer gefaßt in ihren Sesseln sitzen. Sie stürzen nicht auf die Bühne, denn sie verwechseln das dort gegebene Stück Der Tod des Handlungsreisenden keineswegs mit der Wirklichkeit. Sonst müßten sie eingreifen. Doch das Künstliche des Geschehens hält sie auf Distanz. Damit sei auch gewährleistet – so Alain in seinem Propos Die Tragödie vom November 1923 – daß die Handlung sie niemals mehr ergreife, als sie selber wollten.
~~~ Wer mir am Zeug flicken will, wird mich vielleicht eines Selbstwiderspruchs bezichtigen. Um das Buch zu verklären, prangerte ich die Mündliche Rede an – dabei werde doch auf der Bühne ebenfalls geredet. Ja, in postmodernen Quasselbuden leider viel zu viel! Die klassische Inszenierung dagegen arbeitet vornehmlich mit Bildern und Gebärden. Dialog setzt sie eher sparsam ein. Sofern aber einer redet, tut er es so deutlich, daß ihn der Cineast prompt der »Künstlichkeit« zeiht. Aber gerade sie sorgt für die erforderliche Distanz. Als TheaterbesucherIn vergessen wir nie: es handelt sich um ein Spiel. Loman tut so als ob. Er führt uns etwas vor, damit wir Lehren daraus ziehen. Wir sollen uns ein Urteil bilden. Was ist der Mensch? Wie sollte er sein? Darum geht es auf dem Theater. Das Kino dagegen verurteilt – nämlich uns. Es macht uns zu Gefangenen der Sicht, die es uns aufdrücken will.
~~~ Am liebsten stempelt es uns mit Plattheiten. Es flößt uns auch gern Unruhe ein, oder wahlweise Selbstgerechtigkeit. Und genau so laufen wir dann auf der Straße herum oder wandeln durch die Wohnung, in der ein Freund eine Party gibt: als Abziehbilder. Das gefällt allerdings den dadaistischen, avantgardistischen, innovativen Filmemachern nicht. Deshalb stempeln sie uns mit formalen Mätzchen und Belanglosigkeiten. Sie lenken uns gern von allem ab, das eigentlich wichtiger wäre. Vor allem von der Selbstbesinnung.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 21, Mai 2024


Der aus Ungarn stammende Pionier des US-Filmgeschäfts Adolph Zukor (1873–1976) baute die Paramount in Hollywood auf. Bei seinem Tod war er noch immer der »Ehrenpräsident« dieses 1912 gegründeten Unternehmens. Der früh verwaiste Sohn armer Juden, mit 16 eingegewandert, war zunächst Putzmann, dann Zuschneider in einer New Yorker Firma für Häute, Felle und Pelze gewesen. Bald handelte er selber erfolgreich mit dieser Ware. Dann investierte er in der noch völlig unschuldigen Kinobranche. Das stellte sich als Volltreffer heraus. Vielleicht erklärte sich Zukors Vorliebe für den üppigen Ausstattungsfilm durch seinen Werdegang. Auch den »Starkult« – so Brockhaus – soll er erfunden haben, u.a. mit Hilfe von Clara Bow, Mary Pickford und Rudolph Valentino. Der Schönling aus Italien erreichte nicht einmal ein Drittel von Zukors Alter. Daß sich Stars verschleißen und Nicht-Stars aus Gram umbringen, dürfte dem alten Fuchs klar gewesen sein. Wer reich und mächtig werden will, muß Opfer auf der Gegenseite in Kauf nehmen. Allerdings wird überall betont, im Gegensatz zu den meisten anderen Film-Moguln habe sich der schmächtige Mann mit der Adlernase stets gehütet, den Lebemann oder auch nur den Boß hervorzukehren. Zu den zahlreichen Spitznamen, die man ihm verpaßte, zählte neben »Sugar« auch »Creepy«, weil er einen leichtfüßigen, kaum hörbaren Gang besaß, wodurch den Leuten oft der Schrecken in die Glieder fuhr, nachdem er unversehens aufgetaucht war. In die Herstellung seiner bald berühmten Streifen mischte sich Zukor nie ein. Mit seiner ersten und offenbar einzigen Ehefrau Lottie Kaufman (Heirat 1897), mit der er zwei Kinder hatte, lebte er vorwiegend auf einem ausgedehnten Landsitz in Clarkstown am Nordrand der Metropole NYC, auf dem ihm unter anderem ein eigener Golfplatz und ein eigenes Filmtheater zur Verfügung standen. Lottie starb 1956. Ansonsten sei Adolph leidenschaftlicher Kartenspieler gewesen, Binokel, Bridge, Poker und dergleichen, weiß Albin Krebs, Nachrufer der New York Times, 1976 zu berichten. Der Dahingeschiedene war 103 Jahre alt geworden.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024

Siehe auch → Verbilderung




Fredou, Helric († 2015), Polizist, gestorben mit 45. Warum? Einmal davon abgesehen, daß wir es nicht wissen, scheint es heute keinen mehr zu interessieren. Gehen Sie ins Internet; Sie werden fast ausschließlich Berichte aus dem Todesmonat finden. In Nachschlagewerken steht er sowieso nicht.
~~~ An den Ermittlungen zum berüchtigten Anschlag auf die Charlie-Hebdo-Redaktion in Paris beteiligt, griff der pausbäckige, bieder wirkende französische Polizeichef, laut Focus, »nur Stunden« nach dem »Terrorakt« zu seiner Dienstpistole, um sich selber umzubringen. Das begab sich am 8. Januar 2015 frühmorgens in seinem Büro in der Polizeidirektion von Limoges, von der er Vizechef war. Die Großstadt liegt in Mittelfrankreich. Fredou hatte am späten Abend Bereitschaftsdienst, Besprechungen mit Kollegen aus Paris und »wichtige« Telefongespräche gehabt oder vorgehabt. Er stand im Begriff, einen Bericht zu verfassen, wozu es dann nicht mehr kam. Für einen Selbstmord aus Liebeskummer, Melancholie oder aus dem Gefühl des Verkanntseins heraus hätte er sich wirklich keinen günstigeren Ort und Zeitpunkt aussuchen können. Schließlich war gerade das Auge der Welt auf Frankreich gerichtet. Nur auf ihn nicht.
~~~ Nach einem erfreulich ausführlichen Artikel* der Epoch Times wurde den Angehörigen Einblick in den Autopsiebericht verweigert. Man könnte es außerdem merkwürdig finden, daß der Schuß angeblich ungehört blieb, obwohl kein Schalldämpfer benutzt worden war. Laut Polizei schoß sich Fredou »frontal« in die Stirn, was bei Selbstmorden, der Verrenkungen wegen, ebenfalls als seltsam gilt. Kein Abschiedsbrief. Während Focus schrieb, der Vizepolizeichef sei alleinstehend, kinderlos und überarbeitet gewesen und habe an Depressionen gelitten, behauptet ET, Fredous Mutter habe vom Hausarzt ihres Sohnes keine Bestätigung für die Unterstellung bekommen, er sei »ausgebrannt« oder »depressiv« gewesen. Bemerkenswerterweise hatte sich im November 2013 schon ein örtlicher Kollege Fredous im Dienst umgebracht, der Kommissar Christophe Rivieccio. Warum, müßte man untersuchen. Der vierfache Familienvater soll erst 44 gewesen sein. Damals habe Fredou seiner Mutter im Gegenteil versichert: »So etwas würde ich dir nie antun.« Als Fredou jedoch tot war, beschlagnahmten Kollegen in seinem Hause Computer und Smartphone. Mit den wenigen Skeptikern darf man also getrost argwöhnen, er sei wieder einmal einer gewesen, der zuviel oder das Falsche wußte.
~~~ Was den Pariser Anschlag angeht, hatten Fredous Leute in der Stadt Châteauroux die Eltern der Rechtsanwältin und UMP-Politikerin Jeannette Bougrab vernommen, von der noch umstritten ist, ob sie einmal Geliebte des ermordeten Charlie-Hebdo-Chefredakteurs war. Die Dame hatte es unter Sarkozy (bis 2012) zur Staatssekretärin gebracht. Soweit ich sehe, tun sowohl die Mainstream- wie die sogenannten alternativen Medien alles, um den Fall Fredou den Weg von 99,99 Prozent aller »Ereignisse« gehen zu lassen: ins Nichts.**

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Charlie Hebdo Attentat – Beging der ermittelnde Kommissar wirklich Selbstmord?«, The Epoch Times (New York City), 30. Januar 2015: https://www.epochtimes.de/politik/ausland/charlie-hebdo-attentat-beging-der-ermittelnde-kommissar-wirklich-selbstmord-jetzt-reden-helric-fredous-mutter-und-schwester-a1217704.html
** Eine etwas jüngere Beleuchtung des Falles wage ich aus fremdsprachlichen Gründen nicht zu beurteilen und zu verwerten: Hicham Hamza, »Affaire Charlie: un franc-maçon proche de Bougrab succède au commissaire 'suicidé'«, Panamza, 16. November 2015: https://www.panamza.com/161115-charlie-fredou/. Soweit ich verstehe, geht es in ihr vor allem um Fredous Nachfolger Thierry Miguel.




Fremdworte

Der Österreicher Pius Walder (1952–82) war Holzfäller und Wilderer im Villgratental in den Hohen Tauern, Osttirol. In einer Septembernacht 1982 wurde der 30jährige beim Weiler Kalkstein von zwei Jägern überrascht und sehr wahrscheinlich auch erkannt, obwohl er sein Gesicht mit Ruß geschwärzt hatte. Zwar hatte er, wie man später feststellte, in dieser Nacht nicht einen Schuß aus seiner Flinte abgegeben – aber man kannte diese Brüder ja. Die Gebrüder Walder, vier Stück an der Zahl, waren talweit als wilde und wildernde Gesellen berüchtigt. Als Pius Walder nun flüchtete, schoß Jäger Schett mehrmals auf ihn und traf ihn dabei in den Hinterkopf. Damit hatte Schett für einen Toten, den Racheschwur Bruder Hermann Walders, eine Flut von Zeitungsartikeln, außerdem für etliche Bücher, Lieder und Filme gesorgt. Nicht alle ergriffen für die Walders Partei, doch das Befremden zog sich ziemlich lückenlos durch die ganzen Alpen.
~~~ Nach dem Gerichtsverfahren konnte Hermann Walder seinen Schwur nur bekräftigen. Das Urteil sah keinen Mord, wie Hermann selber, sondern lediglich eine »Körperverletzung mit tödlichem Ausgang«. Schett bekam drei Jahre Haft, wovon er nur die Hälfte absitzen mußte. Laut Bernhard Odehnal* war der vorsitzende Richter zufällig ein Kamerad von Schett, nämlich ebenfalls Jäger. Aber die Kumpanei zwischen Jägern und der jeweiligen Obrigkeit oder Elite der Demokratie dürfte ja bekannt sein. Sie trinken aus denselben Geldhähnen und pochen gemeinsam auf das soldatische Recht, im Zweifelsfall von Staats wegen zu töten. Einige BeobachterInnen merken allerdings zurecht an, der postmoderne Wilderer sei in der Regel weder Hungerleider noch Rebell. Das soll sogar Hermann Walder eingeräumt haben. Man wildert aus Spielleidenschaft und bestenfalls noch aus Trotz gegen die anmaßende kapitalistische Einrichtung dieser Erde. Die umfaßt neuerdings auch schon den zunehmend mit Satelliten gespickten Himmel.
~~~ Die große Verbrämungskraft der verschiedenen Kauderwelsche, die sich die Eliten leisten, wird glänzend vom bekannten »Jägerlatein« verdeutlicht. Das Wort töten kommt in ihm nicht vor. Man greift vielleicht in die Altersklasse ein oder bringt den edlen Hirsch zur Strecke – aber man bringt ihn nicht um. Ähnlich rücksichtsvoll wie die Jäger zeigen sich auch die Händler. Den Anblick blutverkrusteter Leichen kennen sie nicht. Von den Schachteln im Supermarkt wedeln uns die Hühner die Eier mit lustig flatternden Flügeln geradezu in den Mund; sie wären gekränkt, ließen wir sie auf ihren Eiern sitzen – bevor sie selber in die Suppe wandern. Das rosige Schwein auf dem Dosendeckel quiekt vor Vergnügen, weil es kaum erwarten kann, in Leberwurst verwandelt zu werden. Fröhlich schnatternd und gereckten Halses ziehen die Gänse ums Schmalztöpfchen; sie gieren danach, ihre Köpfe zu verlieren.
~~~ Erwischen wir zufällig ein schmalzloses Töpfchen, besteht noch lange kein Grund zur Panik. Es handelt sich nämlich lediglich um eine Mogelpackung. Stecken wir auf längere Sicht zu viel Gänseschmalz in uns hinein, neigen wir zur Korpulenz. E. G. Seeliger behauptet, Fremdworte seien schlecht. Sie gäben im günstigsten Fall die Ansicht eines Dinges, während nur die »eigenwüchsigen« Worte für so etwas wie Erleuchtung, Durchstrahlung, Wesen und Wahrheit gut seien, meint er in seinem Handbuch des Schwindels. Wahrscheinlich hat er recht. Bei Korpulenz steht mir zwar ein Dicker vor Augen, doch warum er dick ist und was davon zu halten sei, deutet dieses Wort nicht an. Nenne ich ihn fett, kommen wir der Sache schon näher. Er hat seiner zarten Verfassung Gewalt angetan. Vermutlich ging das von seiner Mami aus.
~~~ Damit sind wir also von Hölzchen auf Stöckchen oder von den Wäldern an der österreichisch-italienischen Grenze auf Faustregeln zum Fremdwortgebrauch gekommen. Ich rate Ihnen, meiden Sie Fremdworte pro Seite zehnmal öfter, als Sie es gewohnt sind. Der Grund liegt selbstverständlich nicht in der Undeutschheit der Fremdworte. Er liegt zunächst, mit Seeliger, in ihrer Unanschaulichkeit. Überdies sind sie aber, darin durchaus deutsch, hochnäsig, dünkelhaft, einschüchternd. Während sie von den Eingeweihten auf Anhieb verstanden werden, bedeuten sie den anderen, wie dumm sie sind – die anderen. Damit verbitten sie sich natürlich jeden Zweifel an den Äußerungen des klugen Autors. Wer trotzdem zweifelt, wird unter Umständen bei einer Polizeirazzia, die »Falschnachrichten« gilt, erschossen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Bernhard Odehnal (Wien), https://www.bernhardodehnal.com/artikel/gott-vergibt-ein-tiroler-nie, Tagesanzeiger (Zürich), 28. Juli 2012



Gebildete Menschen, voran AkademikerInnen, benutzen Fremdworte ad dies vitae, nämlich: auf Lebenszeit. Brockhaus-Autoren greifen ebenfalls gern zu ihnen. Ein »entsprechender« Vorgang wäre ihnen zu simpel (!); der Vorgang muß analog sein. Weist ein Musikstück ungewöhnliche Rythmik auf, ersparen sie sich die Mühe uns zu erklären, die Rythmik sei, je nach dem, »feingliedrig, unterschwellig, ausgeklügelt« – nein, sie ist einfach subtil. In Band 7, unter dem Stichwort »Fremdwort«, bringt Brockhaus es fertig, die wesentlichen Einwände gegen häufigen Fremdwortgebrauch unter den Tisch fallen zu lassen. Stattdessen betont er die Vorliebe schrulliger, nämlich sogenannter puristischer Gärtner, Fremdworte aufgrund eines »Willens zur nationalen Selbstbehauptung« auszujäten – wobei ich nicht verblüfft wäre, wenn mir mit »ausjäten« eine Tautologie unterlaufen wäre. Aber mir können die Puristen gestohlen bleiben. Für mich liegt das Ärgerliche von Fremdworten nicht in ihrer Fremdheit, sondern a) in ihrer Unanschaulichkeit, b) ihrer Autoritätshörigkeit.
~~~ Der A-Fall liegt auf der Hand: Bei subtil sieht zumindest ein ABC-Schütze so gut wie nichts. Er muß erst nachfragen: »Is‘n das ..?« Schon hier wird er also gedemütigt, vielleicht sogar ausgegrenzt. Im B-Fall schlägt die autoritäre Keule ganz gnadenlos zu. »Was, du hast keine Ahnung, was Affinität sei? Ja, stammst du denn von Affen ab? Wenn sich ein Akademiker und die Affinität auf der Straße treffen und sofort umarmen, dann ist das Anziehung, Zuneigung, Verwandschaft aufgrund beträchtlicher Ähnlichkeit. Hast du‘s jetzt gefressen?« Anders ausgedrückt, hat der Gebrauch von Fremdworten stets eine mehr oder weniger einschüchternde Wirkung. Ich erinnere auch an das Jägerlatein. Den Unverständigen erniedrigt das Fremdwort; den Eingeweihten erhöht es.
~~~ Mit dem Siegeszug der Angelsachsen und deren befremdlicher Sprache scheint das Problem allerdings gegenstandslos zu werden. Den englischen Einheitsbrei frißt, versteht und serviert ja inzwischen so gut wie jeder. Ich selber halte (mit Erwin Chargaff) das Englische beziehungsweise Nordamerikanische für eine vergleichweise arme Sprache. Man könnte das achselzuckend mit dem Hinweis abtun, damit sei diese Sprache nur der angelsächsichen Charaktermasse adäquat. Die Stärke dieser von Weltherrschaft besessenen ZweibeinerInnen läge eher im Keulenschwingen und Betrügen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 1, November 2023, hier gekürzt


Ich fürchte, der kubanische Schriftsteller Severo Sarduy (geb. 1937), offenbar ein Avantgardist, hat meine Aufmerksamkeit nur errungen, weil ich über ein selten schwachsinniges Brockhaus-Fremdwort gestolpert bin. »Der Roman De donde son los cantates (1967) evoziert so die spanische, afrikanische und asiatische Kulturmischung Kubas.« Was will uns der robenlose Redakteur mit diesem Schmuckwort sagen? Laut verschiedenen Wörterbüchern heißt »evozieren«, etwas rufe bestimmte Vorstellungen, Erinnerungen, Gefühle, Stimmungen und dergleichen hervor, wahlweise: es beschwöre sie herauf oder bewirke sie. Dafür gibt es dann noch zahlreiche Synonyme, von denen man sich nur das Passende heraus zu suchen hat, etwa erwecken, entzünden, stiften, entfesseln. In einer schlichten Fassung hätte der Redakteur einfach geschrieben, dadurch zeuge der Roman von der bunten Kulturmischung Kubas. Ich muß jedoch gerechterweise betonen, im großen und ganzen kann man Brockhaus keineswegs ungezügelten Gebrauch von Fremdworten vorwerfen. Sein Bemühen, bei aller ideologischen Wankelmütigkeit doch den auch bei Wikipedia beliebten durchgängigen Anschein von Objektivität zu evozieren, ist erheblich unangenehmer.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 33, August 2024



Freundschaft → Angst, Weininger



Zum österreichischen Schauspieler, Schriftsteller und eingefleischten Junggesellen Egon Friedell (1878–1938) serviert Brockhaus eine Verkürzung, die in acht von 10 Fällen falsche Vorstellungen wecken dürfte. Das Lexikon schiebt vor dem Todesdatum ein: »(Selbstmord nach dem Einmarsch deutscher Truppen)«. Somit erscheinen marschierende, zähnefletschende Wehrmachtssoldaten als Veranlasser von Friedells bekanntem Kopfsprung aufs Pflaster. Tatsächlich lief es jedoch etwas anders.
~~~ Ich hole ein wenig aus. Nach Auskunft* des Dramatikers Carl Zuckmayer, der mit ihm befreundet war, lebte Friedell in seiner Wiener Wohnung »allein mit einer Haushälterin [Hermine Schimann] und einem kleinen Hund unbestimmbarer Rasse, von ihm mit ‚Herr Schnack‘ und immer per Sie angeredet, der darauf dressiert war, Zeitungen mit törichten Artikeln oder gar ärgerlichen Kritiken in kleine Fetzen zu zerreißen.« Das Herrchen schrieb selber Unmengen bissig-eleganter Theaterkritiken und anderer Betrachtungen, daneben Großessays, voran seine so eigenwillige wie unterhaltsame Kulturgeschichte der Neuzeit, erstmals 1927–31 in drei Bänden erschienen. Sie stand ihm selber im Umfang kaum nach. In meiner einbändigen Dünndruckausgabe (München 1974) hat sie noch immer rund 1.500 Seiten. Zuckmayer zufolge hatte der kurzhälsige und breitschultrige, mitunter bis zum Platzen saufende Dicke einen mächtigen Kopf, bei dem Stirn und Nase ineinander übergingen »wie auf Cäsaren- oder Feldherrnporträts antiker Münzen, seine Lippen über dem starken Kinn wirkten weich, wenn auch sarkastisch, und um Augen und Mund lag immer ein Zug von Verspieltheit.«
~~~ Friedell schätzte auch und gerade beim Arbeiten Pfeife, Diwan und Schlafrock. Überraschende Störungen machten ihn kränker als seine ungesunde Lebensweise. Als Sohn eines jüdischen Seidentuchfabrikanten war er nicht unbedingt auf Honorare angewiesen, also wohlversorgt, hatte dafür allerdings eine Rabenmutter in Kauf zu nehmen, die mit einem anderem Mann durchbrannte, als ihr Jüngster noch kaum laufen konnte. Vielleicht wirkte das nicht nur in allgemeiner Verletztlichkeit, sondern auch in seiner berüchtigten »Freßgier« nach. Sie schloß sogar Bücher ein … Jedenfalls brachte sich dieser kluge und belesene Witzbold wenige Tage nach dem »Anschluß« Österreichs an das faschistische Deutschland (11./12. März 1938) auf eine Weise um, die sich mit seiner Vorliebe für die Bühne und fürs Anekdotische deckte. Günstigerweise lag seine Wohnung (Gentzgasse 7) im 3. Stock. Als sich am späten Abend zwei SA-Leute bei seiner Haushälterin erkundigten, ob hier »der Jud Friedell« wohne, warf sich der 60jährige durch ein Fenster aufs Straßenpflaster. Er war sofort tot. Augenzeugen versicherten angeblich, vor Absprung habe er umsichtig »Obacht!« oder »Treten Sie zur Seite!« gerufen. Ob wahr oder nicht, die Umsicht hatte er schon vorher bewiesen. Wenn etliche Quellen von einem Sprung »im Affekt« erzählen, ist es genauso irreführend wie Zuckmayers Behauptung, die beiden SA-Leute hätten gar nicht zu Friedell gewollt, womit er ja sozusagen, durch eine klassisch-komödienhafte Verwechslung, zu früh gesprungen wäre. Zum Selbstmord war er in jedem Fall entschlossen, das bestätigten später etliche Freunde, darunter auch Zuckmayer. Friedell wollte nicht emigrieren, er hing an Wien und seinem Schreibtisch, hatte sich deshalb schon, vergeblich, um Gift und Pistole bemüht. Offen ist lediglich, ob ihn die Nazis an jenem Abend bereits zu verhaften oder nur einzuschüchtern gedachten.** Trifft das letztere zu, hatten sie durchschlagenden Erfolg.
~~~ Von Friedells Landsmännin Hilde Spiel gibt es einen 1960 veröffentlichten Essay über ihn, der zu unrecht viel zitiert wird.*** Da sie eine Erzbürgertante ist, kann ich ihr lediglich anrechnen, Friedells verbohrte »Geniegläubigkeit« zu erkennen und sogar zu rügen. Mir selber fällt an Friedell, genauer seiner erwähnten Kulturgeschichte, voran die verblüffende Paarung von Engstirnigkeit (Voreingenommenheit) und Toleranz auf. Er achtet den Menschen und seine Liebesmüh auch dann, wenn ihm deren Richtung oder Ergebnis mißfällt. Er findet an allem etwas Gutes und verachtet eigentlich nichts. Das hindert ihn freilich nicht, unablässig auf den »Antichrist« oder auf den »Sozialismus« einzuhacken. Friedell ist im Kern Idealist, Frömmler und Antidemokrat. Dagegen ist er weder Melancholiker noch Misanthrop. Hielte er den Menschen grundsätzlich für eine mißratene Erfindung, könnte er sich nicht an so vielen Menschen und Menschenwerken der unterschiedlichsten Art ergötzen. Wie sich versteht, geht das für meinen Geschmack oft zu weit. Lobt er wiederholt seinen zwielichtigen und peinlich in sich selbst verliebten**** Zeitgenossen Carl Ludwig Schleich, Arzt und Schriftsteller in Berlin, mag man es, eben wegen des fehlenden Abstands, noch hinnehmen. Bei Wagner und Nietzsche hört es aber für mich auf. Nebenbei bringt es Friedell fertig, nicht nur Rudolf Steiner nicht zu erwähnen, im Grunde zwar kein Verlust, sondern auch Anton Tschechow nicht. War der Russe vor 1930 in Deutschland nur Eingeweihten bekannt? Am meisten hebt Friedell auf der geistigen Ebene Emerson und auf der politischen Bismarck in den Himmel. Der zweite Umstand ist natürlich eine Katastrophe – er unterstreicht aber meinen Hinweis auf den antidemokratischen und vernagelten Zug des Friedellschen Denkens.
~~~ Freilich gönnt einem Friedell selbst hierin keine Widerspruchslosigkeit. So zeigt er sich immer wieder sowohl als Hasser des Staates wie der Erwerbsarbeit. Man glaubt dann jedesmal, in einer anarchistischen Gemeinde wie Konräteslust wäre eine Mann wie Friedell – bei seiner Bildung, Buchstabenungläubigkeit, Beobachtungsgabe, Anschaulichkeit, Zungenfertigkeit sowie Humor- und Leibesfülle – der ideale BG-Leiter oder Nessepost-Redakteur gewesen, aber Pustekuchen. Ein paar Seiten weiter erbaut er sich wieder an ellenlangen Schlachtenbeschreibungen oder am Vermögen »des Italieners« (der Renaissance), gesellschaftlichen Reichtum auf möglichst feinsinnige oder jedenfalls unterhaltsame Weise aus dem Fenster zu schmeißen. Gemeint ist natürlich der adelige oder der betuchte Italiener. Ein Seitenstück zu Friedells elitärem Zug ist seine Vorliebe für Fremdworte, bei denen wahrscheinlich sogar Hilde Spiel zum Griff nach dem Wörterbuch gezwungen war. Eine neue Sicht auf die Welt hat Friedell nicht zu bieten – aber eine ungewöhnlich reichhaltige Fundgrube für Zimmerer und Maler am eigenen Weltbild, falls dazu noch jemand die Muße und die Geduld haben sollte.
~~~ Eine andere Frage wäre, warum sich Friedell diese wahrhafte Herkulesarbeit auflud. Ich kann sie einstweilen nicht beantworten. Vielleicht hülfen hier die drei oder mehr Biografien weiter, die es inzwischen schon über ihn gibt. Die Besprechungen im Internet sind aber eher ungünstig, weshalb ich die betreffenden Bücher einstweilen nicht zu lesen gedenke.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* Carl Zuckmayer, Als wär's ein Stück von mir, 1966, hier Sonderausgabe Ffm 2006, S. 79–82
** ORF-Gespräch mit Christian Goeschel, https://sciencev2.orf.at/stories/1692980//index.html, 12. Januar 2012
*** Hilde Spiel, »Egon Friedell«, in Welt im Widerschein. Essays, München 1960, S. 255–63
**** Carl Ludwig Schleich, Besonnte Vergangenheit. Lebenserinnerungen eines Arztes, Berlin 1920




In diesem Herbst [2023] hätte Dr. Alois Anton Führer, meist als Indologe und Archäologe bezeichnet, seinen 170. Geburtstag feiern und seinen Urenkeln die wenig bekannten Kapriolen auftischen können, die er einst, um 1890, als reifer Mann mittleren Alters in Nepal und Indien vollführt hatte. Er hatte das Licht der Welt, die Quellen schwanken, am 26. September oder 26. November 1853 in Limburg an der Lahn erblickt. Den gealterten, nach wie vor frommen Schlawiner zeigt ein Foto mit mächtigem weißem Vollbart à la Sigmund Freud oder Gottvater selbst. Heute hinge ihm diese Zierde sicherlich schon bis auf die Schuhe. Ja, die Geschichte postmoderner fakes ist uralt.
~~~ Nun waren Vollbärte damals nichts Besonderes. Führers Mentor Bühler, den ich wohl kaum in diesem Kalenderblatt umgehen kann, wies natürlich gleichfalls Vollbart auf. Im Jahr 1898 liefen einige Schockwellen durch das Reich der gelehrten AusgräberInnen dieses Planeten. Zunächst war der führende Sanskritforscher Georg Bühler (1837–98), ein 60 Jahre alter Professor und Hofrat aus Wien, im Bodensee ertrunken, und das auch noch am Karfreitag, den 8. April. Er hatte, obwohl in Wien schon der Vorlesungsbetrieb lief, einen Kurzurlaub in Lindau am Bodensee eingelegt, der vorgeblich seiner sportlichen Neigung geschuldet war. Seine Familie – schweizer Gattin und 16jähriger Sohn – lebte in Zürich, wenn ich Charles Allen nicht mißverstanden habe.* Dem britischen Historiker zufolge war sie merkwürdigerweise über seinen Abstecher nicht im Bilde. Vom Haussegen erfährt man aber auch durch Allen nichts. Dasselbe gilt für die Frage, ob Bühler schwimmen konnte. Es ist freilich anzunehmen, war Bühler doch leidenschaftlicher Ruderer. Auch am Karnachmittag stach er mit einem schmalen, windschnittigen Ruderboot solo in See – der Gattin blieb später nur, seine Gasthofrechnung zu begleichen. Man fand das Boot kieloben auf dem See treiben, und an einer anderen Stelle auch noch ein Ruder, das ihm fehlte. Nur der Professor oder seine Leiche ließen sich nicht blicken.
~~~ Wie so oft in solchen Fällen beeilten sich bestürzte Kollegen, einen »tragischen« Unfall zu beklagen. Das hallt bis heute in so manchem Nachschlagewerk unkritisch nach. Da es sich offenbar um einen unwetterfreien Karfreitag gehandelt hatte, mutmaßte zum Beispiel Julius Jolly**, möglicherweise sei dem Professor, etwa einer Dampfschiffwelle wegen, das erwähnte Ruder entglitten, und beim Versuch, es zu bergen, fiel er in den See. Oder der schwankende Kahn kenterte, als sich Bühler aufrichtete (und der Fahrtwind in seinen Bart griff). Oder er habe, nach mehrstündigem Rudern, einen Schlaganfall erlitten und sei deshalb ins Wasser gekippt, denn seine Gesundheit sei nicht mehr die beste gewesen. Immerhin muß Jolly redlicher als etwa Bühlers Schüler Anton Führer gewesen sein, sonst hätte er den ertrunkenen Professor nicht schon eingangs seiner Unfallnachricht einen »erfahrenen Ruderer« genannt. Bei Allen ist von Krankheit oder auch nur Altersschwäche keine Rede. Der letzte Zeuge des Karfreitagsdramas habe Bühler nach 19 Uhr auf dem Wasser gesehen, als es schon dunkelte. Somit wäre die Tarnung für allerlei Untaten günstig gewesen.
~~~ Es wird kaum verblüffen, wenn Allen einen Selbstmord des »stämmigen«, vielleicht auch beleibten 60jährigen Gelehrten für nicht unwahrscheinlich hält, zumal er auch noch ein Motiv anzubieten hat, nämlich eine schillernde Geschichte mit Bühlers ehemaligem Studenten und langjährigem engen Mitarbeiter Dr. Anton Führer – eine Geschichte, die Bühler womöglich selbstmordreif bedrückte. Sein zuletzt in Indien wirkender Schützling hatte sich, wie es aussieht, bei seinen zahlreichen »Entdeckungen«, darunter des angeblichen, schon immer eifrig gesuchten, weil bedeutungsschweren Geburtsortes Buddhas, und bei seinen Berichten und anderen Veröffentlichungen der unter ehrgeizigen Wissenschaftlern durchaus beliebten Methode des Fälschens bedient, wobei er auch nicht vor meterlangen Plagiaten aus Schriften seines Mentors Bühler zurückgeschreckt war. Diese Betrügereien werden recht ausführlich von der englischen Wikipedia dargelegt. Ihre Enthüllung setzte also weitere Schockwellen in Gang. Die indisch-britischen Kolonialbehörden sahen sich noch im Herbst desselben Jahres 1898 gezwungen, Führer aufgrund der Betrugsvorwürfe aller Ämter zu entheben und dabei auch gleich einen Stapel Unterlagen aus seinem Büro zu beschlagnahmen. Der Verdacht gegen ihn habe sich seit März 1898 erhoben, also knapp vor Bühlers Tod. Dann hätten ihn Regierungsbeamte als Fälscher und Händler mit gefälschten Antiquitäten entlarvt. Vieles von Führers Betrügereien kam aber erst später, allmählich, ans Licht. Laut Wikipedia wurde selbst die Aufsehen erregende Geburtsort-Entdeckung (»Lumbini-Säule«) verschiedentlich angezweifelt und von Charles Allen (2008) gar bestritten. Führer soll zumindest teilweise geständig gewesen sein. So hatte er wiederholt aussagekräftige »Inschriften« auf Denkmälern eigenhändig erfunden. Nach manchen Quellen waren Führers Posten in Indien schon seit längerem durch Schließung oder Mittelkürzungen bedroht – wohl mit ein Beweggrund für den Doktor, sich durch sensationelle »Entdeckungen« unentbehrlich zu machen. Er hatte in Indien auch geheiratet und vielleicht Ernährungssorgen. Mit der Abdankung kam er nun recht glimpflich davon, weil die Vorgesetzten bemüht waren, den Löwenanteil seiner Sünden zu vertuschen, um Schädigung des Rufes der ganzen Branche zu vermeiden.
~~~ Zurück zum angeblichen Unfall im April. Laut Allen hatte es selbstverständlich schon damals, vor allem in Wien und Kiel, Selbstmordgerüchte gegeben. Eben deshalb fuhren Bühlers Bewunderer die Unfalltheorien auf. Die Professoren Friedrich Knauer und Arthur MacDonnell etwa, so Allen, hätten jedoch eingeräumt, selbst Gelehrte von so hoher Gesinnung Bühlers seien nicht gegen alle »Mückenstiche« gefeit. So war er sicherlich auch nicht gegen Schädigungen seines hohen Rufes immun. Immerhin hatte er einige Unlauterkeiten von Führer entweder großzügig übergangen oder aber für bare Münze genommen und prompt in verschiedenen Schriften mitgefeiert. Laut MacDonnell ging Bühlers Angst vor Rufschädigung gar so weit, ein bemerkenswertes heimliches Buch zu führen. Darin habe Bühler »die Fehler, die er in den Arbeiten anderer Gelehrter fand«, aufgezeichnet, um sie gegebenenfalls, bei Angriffen gegen ihn selbst, als Abwehrwaffen auskramen zu können …
~~~ Wie es aussieht, zog sich Führer nach seiner Abdankung in die Schweiz zurück, wo er, inzwischen zum zweiten Mal verheiratet, als christkatholischer Priester wirkte und 1930 mit knapp 77 starb. Schließlich hatte er einst sowohl Orientalische Sprachen wie Katholische Theologie studiert. Damit hatte die Welt einen prominenten Büßer oder Scheinheiligen mehr. Wie Führer, damals noch in Indien weilend, die Todesnachricht vom Bodensee aufgenommen habe, sei unbekannt, teilt Allen mit. Den mutmaßlichen Selbstmord läßt der Brite im Dunkeln.
~~~ Sollte sich Führers Mentor Bühler – aus welchen Gründen auch immer, es gibt genug! – in der Tat umgebracht haben, wußte dieser vermutlich zu verhindern, daß er, ob lebendig oder tot, gleich wieder auftauchen würde. Hier gehört vielleicht eine merkwürdige Beobachtung hin, die Allen gleich zu Beginn seines Drowning-Kapitels anführt. Nach Augenzeugen sei Bühler gegen Abend des Todestages mehrmals an derselben Stelle des Sees vor- und zurückgerudert. Hatte er womöglich ein Senkblei dabei, um den günstigsten Sterbeort auszuloten? Jedenfalls ist anzunehmen, er hatte irgendeinen schweren Gegenstand nebst Seil geladen, um sich vorm Abtauchen hinreichend zu beschweren.
~~~ Auch Allen stößt das »höchst ungewöhnliche« Ausbleiben der Leiche auf. Allerdings verkneift er sich die Andeutung der denkbaren Alternative: es gab gar keine Leiche. Vielmehr wurde dieses Bodensee-Unglück vom Mentor des Fälschers vorgetäuscht – um in einem recht anderen Sinne abtauchen zu können und die liebe Züricher Familie, Hypotheken und andere Schulden eingeschlossen, endlich vom Halse zu haben. So etwas kommt ja wohl vor.

∞ Verfaßt 2023
* Charles Allen, The Buddha and Dr. Führer: An Archaeological Scandal, London 2008, hier Paperback-Ausgabe Haus Publishing, London 2011, bes. S. 173–76
** Julius Jolly, Georg Bühler, Straßburg 1899, Broschüre von 23 Seiten. Siehe auch online unter http://www.payer.de/dharmashastra/dharmash02a.htm. Führer ist mehrmals erwähnt, doch alles Skandalöse und Persönliche (Schüler etwa) umschifft der Würzburger Indologe eiskalt. Den »entsetzlichen Unfall« am Bodensee streift er im letzten Absatz.




Der »frühen Feministin« Margaret Fuller (1810–50), eine US-Schriftstellerin, gönnt Brockhaus (1989) immerhin rund 20 Zeilen. Die Umstände eines »Schiffsuntergangs« werden natürlich offen gelassen. Laut Victor Grossman* war die »nicht allzu mädchenhafte« Tochter eines Bostoner Rechtsanwaltes schon in jungen Jahren ungewöhnlich gebildet, allerdings auch ziemlich eingebildet. Sie hatte zeitlebens unter Kopfschmerzen und Albträumen zu leiden, vielleicht von der verkrampften Kindheit her. Zwar schwang sie sich von der Lehrerin zu einer bekannten Journalistin und führenden Frauenrechtlerin auf, doch im Grunde litt sie wohl auch über weite Strecken an unerfüllter Liebessehnsucht. Eine Liebschaft vor ihrer Europareise blieb kurz und schmerzhaft; der Mann machte sich aus dem Staub. Die Reise trat sie (1846, als Korrespondentin der New York Tribune) trotz ihrer Angst vor dem Wasserweg an. Zwar traf sie dann in Italien erneut einen Liebhaber, mit dem sie sogar Sohn Angelino zeugte, doch auch dieses von den jüngsten revolutionären Umtrieben befeuerte Glück währte kaum ausgiebiger als jenes in den Staaten, weil die junge Familie auf der Heimreise ertrank.
~~~ Der Ersatzkapitän des hauptsächlich mit Marmor und Handelsware beladenen Segelschiffs Elizabeth, der rechtzeitig von Bord sprang, behauptete später, Margaret, inzwischen 40, habe sich gar nicht retten wollen. Makabererweise war der Segler nur wenige Steinwürfe vor Fire Island (bei New York City) bei einem »fürchterlichen« Sturm auf eine Sandbank gelaufen und dort Leck geschlagen worden. Der tobende Seegang blockte die an der Küste bereitliegenden Boote ab; selbst Versuche, Leinen zum Wrack zu schießen, schlugen fehl. Einige NichtschwimmerInnen behalfen sich mit Planken. Ob das Paar Fuller/Ossoli schwimmen konnte, wird nirgends gesagt; man muß freilich daran denken, es hatte ein Söhnchen dabei, das noch keine zwei Jahre alt war. Jedenfalls sprang die Familie nicht ins schäumende Wasser. Auch vier Seeleute sollen, im Gegensatz zum Kapitän, auf dem Wrack ausgeharrt haben – warum auch immer. Nach 12 Stunden Gefangenschaft wurde das Wrack von einer mächtigen Welle erfaßt, die alle Zurückgebliebenen ins Meer spülte, wo sie ertranken. Das war am 19. Juni 1850. Thoreau kam aus Boston herbeigeeilt, mit anderen Leuten nach den Leichen zu suchen. Von der Familie Fuller/Ossoli fand sich lediglich die Leiche des kleinen Angelinos, dazu Baby-Sachen und einige Briefe, nicht dagegen Fullers Buchmanuskript zur Geschichte der italienischen Revolution – »vielleicht ihr Meisterwerk«, so Grossman. Bekannt geworden war sie mit dem Buch Woman in the Nineteenth Century, erstmals 1845 erschienen.
~~~ Ich nehme stark an, das Nähen von Kleidern oder Fenstervorhängen gehörte nicht gerade zu Fullers Lieblingsbeschäftigungen. Am 4. Februar ihres Todesjahres, um 8 Uhr 20, war in der Maschinenfabrik A. B. Taylor & Co., New York City, ein 200-PS-Dampfkessel explodiert. Die lokalen Zeitungen überboten sich mit Extrablättern. Am Ende waren 63 Tote und rund 70 Verletzte zu beklagen. Laut Angelika Glanders Singer-Biografie** ging bei dem Unglück beiläufig auch ein in dieser Fabrik ausgestellter Prototyp einer Schneidemaschine drauf, die den Beginn von Isaac Merritt Singers Karriere als Erfinder und steinreicher Industrieller markierte. Mit der berühmten, nicht durch Dampf angetriebenen Nähmaschine war der ungehobelte Sprößling deutscher Einwanderer dann erfolgreicher.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* Victor Grossman, Rebel Girls: 34 amerikanische Frauen im Porträt, Köln 2013, S. 30–39
** Norderstedt 2009, S. 116




Fundamentalismus → Fotografie, Renner



Gandhi, Mahatma

Der indischer Guru aus dem späteren Bundesstaat Gujarat Shrimad Rajchandra (1867–1901) stand anscheinend dem Hinduismus nahe. Erstaunlicherweise soll er bereits mit 10 öffentliche Vorträge gehalten, mit 20 geheiratet (vier Kinder) und zeitweise mit Edelsteinen gehandelt haben. Eigentlich vertrat er, wenn ich richtig sehe, mehr den Weg der Entsagung. Sein Hauptwerk Atma Siddhi verfaßte er mit 28. Darin dürfte auch der junge Mahatma Gandhi viel Erleuchtung gefunden haben, der überall als wichtiger Schüler Rajchandras erwähnt wird. Spätestens um 30 soll sich Rajchandra vom Familien- und Handelsleben abgewandt haben. Ein verbreitetes Foto zeigt ihn vermutlich aus dieser Spätzeit – ein Skelett im Schneidersitz. Nach einigen Quellen litt er an verschiedenen Krankheiten, die sich allerdings durchweg nach Auszehrung anhören. Am 9. April 1901 soll »er«, der 33jährige, »seinen sterblichen Körper verlassen« haben, wie offensichtliche VerehrerInnen in der bekanntlich stets unparteilichen englischen Wikipedia schreiben.
~~~ Wenn die Menschen aller Kasten und Klassen durch eins verbunden werden, dann ist es ihr nachsichtiger Umgang mit allem, was sich religiös oder spirituell gebärdet. Ob Faschist, Bundestagsabgeordneter, anarchistischer Kommunarde oder Rubikon-Redakteur – vor dem religiös oder spirituell Gefärbtem verneigt er sich. Mit so Gestimmten darf man es sich nicht verderben, sonst würde man möglicherweise die eigene Wiedergeburt gefährden. Diese schleimige Nachsicht hat vermutlich bereits angefangen, als die ersten Fische daran schritten, zwar nicht ihren Körper, aber doch schon das Wasser zu verlassen.
~~~ Hier kann sich Brockhaus (Band 8 von 1989) nicht ausnehmen. Damit komme ich auf Rajchandras Schüler Gandhi zurück. Neben der asketischen Lebensweise sei Gandhi »seit seiner Kindheit von hoher Religiosität« bestimmt gewesen. Hut ab also: der Mann war hoch religiös! Aber er war bekanntlich auch Politiker. Im Zweiten Weltkrieg habe Gandhi die sofortige Entlassung Indiens in die Unabhängigkeit gefordert und »die auf Verzögerung angelegten Pläne der britischen Regierung zum Scheitern« gebracht. Merkwürdigerweise liest sich das in Arthur Koestlers ausführlichem Gandhi-Porträt von 1969* genau umgekehrt. John Grigg und andere hätten bewiesen, ohne Gandhi wäre die Unabhängigkeit Indiens sogar noch sehr viel früher gekommen (S. 168). Das erinnert an Henry Kissinger, von dem man uns etwas später vorgaukeln würde, er habe geholfen, den Vietnamkrieg abzukürzen. Das Gegenteil war der Fall. Aber es erinnert auch an Hunderte von anderen Dunkelmännern der Epoche, die als Lichtgestalten gemalt werden, ich sage nur John F. Kennedy, Willy Brandt, Joschka Fischer. Die interessierten LegendenbildnerInnen dieses Planten haben die wirksameren Waffen; dagegen hilft keine »Gewaltlosigkeit«, um erneut auf Gandhi zurück zu kommen. Selbstverständlich findet sich Koestlers kritischer Aufsatz nicht in der Literaturliste, die Brockhaus gibt. Nach Koestler war Ghandi, gestorben 1948 (kurz nach der Unabhängigkeit), sicherlich überwiegend von lauteren Absichten geleitet, dennoch der typische vernagelte, fanatische Patriot und Rechthaber, der in ungefähr 90 Prozent der männlichen Zweibeiner unseres Planeten wohnt. Seit Fischer kommen vermehrt Frauen hinzu.
~~~ Ich sage nur nebenbei, daß mir einige Abneigungen von Gandhi durchaus zusagen, etwa gegen den westlichen Schul- und Bildungsbetrieb. Koestler rügt diese Abneigung natürlich. Der britische Freund von Orwell besaß eine gleichsam religiöse Ehrfurcht vor dem Wissenschaftsbetrieb und allen Akademikern, die ihn nie so richtig als Gleichrangigen erachten konnten, obwohl er doch ein weltberühmter Schriftsteller war. Im Grunde war er noch der christlich-kommunistischen Fortschritts-Ideologie verfallen – ähnlich wie Orwell, und möglicherweise sogar mehr als Gandhi. Das soll nicht an Koestlers Begabung rütteln, Widersprüche und Selbsttäuschungen aufzudecken – bei anderen …

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Mahatma Gandhi – der Yogi und der Kommissar«, in: Die Armut der Psychologie, deutsche Ausgabe Bern 1980, S. 141–79




Der Landwirt Ludwig Gandorfer (1880–1918) vom ansehnlichen Zollhof in Pfaffenberg, Landkreis Straubing, zählte zu den vielen schillernden Figuren der bayerischen Umsturzwirren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Seit 1912/13 war er vollständig erblindet. Das verdankte er aber wider Erwarten nicht seiner bekannten Streitlust und Hitzköpfigkeit. Nach Richard Dill* soll ihm ein Ochse schon in jungen Jahren ein Auge ausgestochen haben. Den Verlust des zweiten Augenlichts habe seiner Familie zufolge eine Netzhautablösung aufgrund einer aus »Deutsch-Ostafrika« mitgebrachten Malaria bewirkt. Dort hatte sich Gandorfer kurzzeitig (1904/05) als Farmer versucht. So galt er später überall als »der blinde Bauernführer«, und zumindest die erste Hälfte dieser Bezeichnung stimmte.
~~~ Für sein Gut hatte Gandorfer einen Verwalter. Ab ungefähr 1915 war das Xaver Seitz, der drei Jahre darauf auch in dem (angeblichen) Unfallauto neben seinem Dienstherren sitzen sollte. Gandorfer hatte zudem eine Gattin, seit 1908. Diese Ehe mit Katharina Lang blieb jedoch kinderlos und womöglich nie vollzogen. Manche munkelten, wenn (der blinde) Gandorfer mit Eisner, dem Chef des jungen bayerischen »Freistaats« Arm in Arm durch das »befreite« München gezogen sei, habe sich darin nicht nur Gandorfers Nähe zur Revolution ausgedrückt. In dieser Sicht drückte sich vermutlich Schwulenhaß aus. Vielleicht war Gandorfer zu Katharina einfach zu ruppig gewesen. Als ihm sein Erzfeind Karl Pracher, seines Zeichens Bezirksamtmann, 1905 einen Jagdschein verweigert, tut er es mit Verweis auf Gandorfers beachtliches Vorstrafenregister: »wegen Körperverletzung, also Rauferei, und Sachbeschädigung«, wie Dill schreibt. Durch den kleinen Zusammenstoß, der sich aus Prachers Weigerung in dessen Mallersdorfer Bezirksamt ergibt, kommen gleich noch einmal zwei Monate Gefängnis hinzu, wegen »Störung des öffentlichen Friedens«.
~~~ Für den Regensburger Kirchengeschichtler Johann Kirchinger** wurzelt die Wandlung des Großbauern Ludwig Gandorfer zum »Linken« just in solchen, von Gandorfer so empfundenen »Willkürakten« der Obrigkeit, und nicht etwa in seinem Glauben an den Sozialismus. Zudem sei er gegen 1918 hochverschuldet gewesen. Folglich habe der in Trennung von seinem Weib lebende, kinderlose Gandorfer im Gegensatz zu seinem gleichfalls bekannten und begüterten, erheblich behutsamer taktierenden Bruder Carl durch »die Revolution« nicht viel zu verlieren gehabt. Was die Brüder teilten, war wohl die Wut auf die kriegsbedingten Abgaben und Einschränkungen, die selbst Agrarkapitalisten ins Fleisch schnitten. Ludwig, zunächst SPD-Mitglied, gehörte seit 1917, als Kriegsgegner, der USPD an. Allerdings habe er »der Revolution« auch nicht viel zu bieten gehabt, findet Kirchinger. Sein Einfluß unter der Landbevölkerung sei sehr gering gewesen. Die Sicherung der Versorgungslage (Land ernährt Stadt), die sich die Revolutionäre von ihm versprachen, hätte Gandorfer wahrscheinlich niemals gewährleisten können. Eisner habe vornehmlich auf den »symbolischen« Wert Gandorfers und auf die Zugkraft des brüderlichen Namens gebaut. Konsequent sei er nach seinem, für viele »verdächtigen« Unfalltod von Eisner & Genossen zum Ideengeber, ja zum »blinden Seher« und selbstverständlich zum Märtyer der Revolution ausgerufen worden.
~~~ Sei es nun mit Gandorfers Motiven und Potenzen wie auch immer bestellt gewesen, jedenfalls stieg er im Laufe der Weltkriegsjahre auf. Sein Gutshof mauserte sich zum beliebten Treffpunkt der Revolutionäre; er selber zum engen Mitstreiter Kurt Eisners, den man nach den Münchener Aufständen am 8. November 1918 zum bayerischen Ministerpräsidenten erkor. Anders wie Eisner, der vier Monate darauf durch Anschlag ermordet wurde, kam Gandorfer aber bereits zwei Tage nach dem Umsturz, am 10. November, durch einen (angeblichen) Autounfall um. Der wird in den meisten Internetquellen sträflich kurzangebunden und unkritisch hingenommen. Ohne ihn wäre der breitschultrige 38jährige »Bauernführer« und vermeintliche Bürge für die Lebensmittelversorgung des roten Münchens sehr wahrscheinlich Vorsitzender des »Zentralen Bauernrats« geworden. Diesen Posten übernahm dann sein Bruder Carl. Genau aus diesem Grund, Sicherung der Ernährung, hatten sich, Dill zufolge, am Unfalltag sieben Personen in den vom Münchener Soldatenrat beschlagnahmten geräumigen, dreibänkigen Fiat des Prinzen Joachim Albrecht von Preußen gezwängt. Man sicherte diesem die Rückerstattung zu, sobald man wieder in München sei. Beide Vorhaben zerschlugen sich jedoch.
~~~ Hauptaugenzeuge der gewaltsamen Fahrtunterbrechung war Gandorfers schon erwähnter Gutsverwalter Seitz, der zu den immerhin sechs Überlebenden des Unfalls zählte. Nach Dill hat es sogar, wegen verschiedener Klagen auf Entschädigung, ein Gerichtsverfahren gegeben, doch seien die vorhandenen Unterlagen »durchaus lückenhaft« – wobei nicht die geringste Lücke darin bestehen dürfte, daß der erlauchte Fiat nach dem Unfall, so Dill, verschwand und nie mehr auftauchte. Am frühen Vormittag des besagten Sonntags kam der Wagen kaum über Schleißheim hinaus, das im Norden nahe bei München liegt. Nach Seitz‘ Aussage ging Sebastian Scharrer, ein erfahrener Kraftfahrer, die Landstraße in »gehörigem Tempo« an. Vor einer Kurve habe der Wagen plötzlich »einen Ruck bekommen«, worauf er hinten ins Schleudern geraten und gegen einen Alleebaum gestoßen sei. Dadurch seien die drei Männer, die die hinterste Sitzbank einnahmen, aus dem Wagen gefallen. Der Wagen selber landete im Graben. Von den Gestürzten kam lediglich Gandorfer um – Schädelbruch. Er starb auf der Stelle. Zufällig war er die Hauptperson des Unternehmens gewesen.
~~~ Sogar Dill räumt ein, wenn auch mit anderen Worten, jeder kritische Kopf werde sich angesichts solcher Unfallmeldung fragen, ob die Revolution »nur« zu schnell gefahren sei, oder ob ihr jemand ein weißbestrumpftes Bein gestellt habe. Kirchinger behauptet jedoch, eben Dill habe die »vor allem von dem Straubinger Heimatforscher Rupert Sigl kolportierten Gerüchte«, Gandorfer sei ermordet worden, »eindeutig widerlegt«. Offenbar baute Sigl*** auf Aussagen oder Gerüchte, wonach eine Leichenfrau von Anzeichen einer Schußwunde auf der Stirn des toten Gandorfers gesprochen hatte. Allerdings kommt mir Kirchingers Behauptung über Dills Eindeutigkeit mehr als kühn vor. Zur Stützung führt er einen Satz von Dill an, den man glatt für krank oder verunglückt halten könnte: »Alle Mordtheorien kranken daran, daß es zu viele Beteiligte gab, die nicht in eine Täter- oder Mitwissergruppe eingeordnet werden können.« Ja nun – und wenn schon? Warum sollen sich unter den »vielen« Beteiligten, ob innerhalb oder außerhalb des fürstlichen Fiats, nicht jede Menge Uneingeweihte befunden haben, deren Leben möglichen Attentätern scheißegal gewesen wären?
~~~ Selbstverständlich hätte ein Anschlag bei diesem (Un)Fall nichts Verblüffendes. Dill selber stellt sogar fest, Gandorfer habe ohne Zweifel zu den Personen gehört, die von den abgesetzten Machthabern in Regierung und Militär am meisten gefürchtet und gehaßt worden waren. Deshalb sei ihnen der bedauerliche Unfall sicher sehr gelegen gekommen. Das nun weist Kirchinger wiederum zurück. Gandorfers Tod habe der völkischen Rechten so gut wie keinen Nutzen gebracht: weil er ja ohnehin, wie schon gesagt, kaum Einfluß besessen habe und sofort durch seinen Bruder Carl ersetzt worden sei. In dieser Rechnung hat Haß keinen Platz. Oder die kaltblütige Erwägung: je mehr potentielle Staatsfeinde wir kaltmachen, um so besser. Sie bekundet nebenbei auch wenig Ahnung von dem rachedurstigen blutigen Wüten, das die »Weißen« nach der Niederlage der Räterepublik (Mai 1919) an den Tag legten.
~~~ Gewiß scheidet ein Verdacht auf einen Saboteur unter den sieben Wageninsassen aus. Die Blütezeit des unbedenklichen Selbstmordattentates war noch nicht gekommen. Ähnlich skeptisch sollte man sicherlich auch Erzählungen über »weiße« Heckenschützen oder BombenversteckerInnen aufnehmen, ist es doch recht unwahrscheinlich, daß es für einen Schuß oder eine Explosion, ja selbst für ein Reifenplatzen, nicht mehrere Ohrenzeugen gegeben hätte. Was aber nach einer Erklärung dürstet, sind mindestens zwei (angebliche) Tatbestände: Welchen rätselhaften »Ruck« (so Seitz) erlitt der Wagen – und wie, warum und wohin verschwand er denn nur, dieser Wagen? Wobei wir noch nicht einmal wissen, in welchem Zustand er sich befand. Man kann lediglich darauf wetten, der gute Fürst hätte ihn am liebsten nicht als Wrack zurückerstattet bekommen. Es sei denn, sein Fiat war gut versichert.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Richard Dill, »Ein Unfall, der gelegen kam«, in: Friedrich Weckerlein (Hrsg.): Freistaat!, München 1994, S. 146–56
** Johann Kirchinger, »Symbolische Politik in den Revolutionstagen. Die Stilisierung Ludwig Gandorfers zum Helden des Umsturzes von 1918/19«, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte (ZBLG), Band 75, München 2012, S. 843–66
*** 1984; wo, wird nicht gesagt, falls ich es nicht übersehen habe

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