Dienstag, 7. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 12
Explosion – Fortschritt, Sienkiewicz
Explosion – Fortschritt, Sienkiewicz
ziegen, 10:50h
Am Schluß seines Eintrages erwähnt Brockhaus, leider sei das Werk des niederländischen Malers »nur fragmenta-risch erhalten«. Die Explosion läßt das Lexikon eiskalt weg. Ein Selbstporträt in Öl, um 1645 entstanden, zeigt den jungen Carel Fabritius (1622–54) mit prächtigen und sicherlich auch echten braunen, schulterlangen Locken. Schließlich war er kein Barockkönig. Immerhin, mit ungefähr 20 Jahren war er Schüler oder Mitarbeiter des Amsterdamer Meisters Rembrandt geworden und hatte sich kurz darauf auch schon verheiratet: mit Frau Aeltje Herrmensdr van Hasselt. Hat er auf seinem Selbstporträt gleichwohl keinen Grund zum Lachen, liegt es vielleicht daran, daß er 1642 sein erstes Kind und ein Jahr darauf, bei der Geburt des dritten Kindes, auch seine Frau verlor. Das Würmchen starb ebenfalls. So nahm er seine ihm noch verbliebene Tochter Aeltje an die Hand und ging oder fuhr mit ihr in seine Heimatgemeinde Midden-Beemster zurück, wo sein Vater Schulmeister war. Der Ort auf dem Polder liegt rund 20 Kilometer nördlich von Amsterdam. Ob Fabritius weiter bei Rembrandt beschäftigt war, ist ungewiß. Jedenfalls plagen ihn öfter Geldsorgen, von denen ihn leider auch die Heirat mit der Delfter Witwe Agatha van Pruyssen im Jahr 1650 nicht erlösen kann. Vermutlich auf deren Wunsch läßt sich die Familie in Delft nieder (südlich von Amsterdam), wo sich Fabritius ab Oktober 1652 im Meisterbuch der St. Lukasgilde als Maler eingetragen findet. Niemand warnte ihn vor diesem Umzug. Auch die Delfter Kirchtürme tun es nicht, die sich nach der kommenden Katastrophe geradezu unverschämt aus den Ruinen und Aschehaufen recken werden.
~~~ Fabritius schafft in diesen drei oder vier Delfter Jahren nur wenige, aber heute hochgelobte, da über Rembrandt hinausführende Gemälde. Jeder sagt, er hätte ein ganz Großer werden können. Es kam nicht dazu, weil Delft am 12. Oktober 1654 um kurz nach 10 von einem Knall erschüttert wurde, der angeblich noch auf der 150 Kilometer entfernten Insel Texel zu hören war. Durch die Fahrlässigkeit des Arsenalverwalters Cornelius Soetenser, der die Schwarzpulvervorräte mit einer Funken sprühenden Laterne in Augenschein genommen hatte, war ein staatliches, eigentlich geheimes und auf die Engländer gemünztes Munitionsdepot im altehrwürdigen Pulverturm explodiert. Die Wucht des Delfter Donnerschlags – nach Angaben der Behörden durch rund 40 Tonnen Schwarzpulver bewirkt – zerstörte, neben dem Turm, 500 Gebäude der Stadt schwer bis vollständig und tötete, von den zahlreichen Verletzten einmal abgesehen, ähnlich viele EinwohnerInnen. Zu diesen zählte auch der 32jährige Fabritius, der in seinem Haus und Atelier in der Doelenstraat gerade den ehemaligen Küster der Delfter Oude Kerk Simon Decker porträtiert hatte. Zudem hielten sich, neben seinem Lehrling Martias Spoors, auch zwei Familienmitglieder im Haus auf, die in den Quellen unterschiedlich oder gar nicht benannt werden. Möglicherweise befand sich entweder seine Frau Agatha oder aber seine Schwiegermutter Judick van Pruyssen darunter. Alle fünf Anwesenden kamen um.
~~~ Daneben dürften, vom Küster-Porträt einmal abgesehen, etliche weitere, im Atelier verwahrte Arbeiten des Meisters verloren gegangen sein. Zu den wenigen Ausnahmen zählt der im Todesjahr entstandene Distelfink (Stieglitz), ein Ölgemälde, das heutzutage durch Reproduktionen massenhaft verbreitet ist. Der betrübte Vogel hat ein goldenes Kettchen am Bein – sein Schöpfer flog in die Luft. Die Szenerie mit den erwähnten frivolen Kirchtürmen wurde von Fabritius‘ Kollege Egbert van der Poel überliefert, der das Bild der Verwüstung damals auf über 20, meist ähnlichen Gemälden festhielt. Den Vordergrund bilden StädterInnen, die Trümmer oder Leichen fortschaffen. Van der Poels Gemütszustand beim Malen möchte man nicht geteilt haben, denn unter den Todesopfern der Katastrophe befand sich auch ein Kind dieses Künstlers.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
Das Talent der jungen Braunschweiger Malerin Käthe Evers (1893–1918) soll hier keine Rolle spielen. Im Brockhaus kommt sie sowieso nicht vor. Die Lehrers-tochter hatte ein Kunststudium in München durchlaufen. Bereits 1915 kamen (angeblich) ihre Freunde Albert und Hermann Hamburger als Kriegsfreiwillige an der Front um. Ob sie selber nun (1917?) genauso bereitwillig in die Rüstungsproduktion ging, ist nach freundlicher Auskunft des Braunschweiger Theatermanns Gilbert Holzgang nicht ganz klar. In einem Vortrag erläuterte er dazu 2018: »Es gab gerade in den bestgestellten Kreisen Frauen, die bereitwillig monotone, anstrengende, sogar gefährliche Fabrikarbeit auf sich nahmen, um ihren Teil zum Sieg Deutschlands beizutragen. Die Kriegslage war so prekär, das Denken so stark von der totalen Mobilisierung aller Kräfte geprägt, dass die Frauen – man kann sagen freiwillig – einen Beitrag leisten wollten. Die Möglichkeit sich der staatlich organisierten Frauenarbeit zu entziehen, bestand.« Die Malerin wurde in Heimatnähe in einer im Harzort Rübeland gelegenen Pulverfabrik* eingesetzt. Als diese am 10. Januar 1918 zum Teil in die Luft fliegt, bleiben 14 Tote plus neun Schwerverletzte auf der Strecke. Später kamen wahrscheinlich noch zwei Tote hinzu. Ironischerweise wirkt die angeführte Ansichtskarte ähnlich wie das Werk der nur 24 Jahre alten Künstlerin, die sich dem »Pointillismus« verschrieben hatte. Die meisten Leichen soll man gar nicht mehr ordentlich wiedererkannt haben: zerfetzt, atomisiert.
~~~ Evers‘ Engagement erinnert mich stark an die Heldin von Meta Scheeles Roman Frauen im Krieg von 1930. Die Schriftstellerin selber, → Scheele, kam mit 37 in einer faschistischen Tötungsanstalt um. Das jüngste Opfer der Explosion in Rübeland soll die einheimische Frida Schneider gewesen sein, 16 Jahre alt. Während wir über Evers sicherlich wenig wissen, wissen wir über Schneider gar nichts.
~~~ Am 13. Juni 1935, nun unter der Hakenkreuzflagge, gibt es einen »Arbeitsunfall«, wie die Kripo später befindet, der über Wittenberg (an der Elbe) eine riesige, schwarze Wolke zu Martin Luther in den Himmel steigen läßt. In einer Munitionsfabrik des WASAG-Konzerns sind 27 Tonnen TNT-Sprengstoff in die Luft geflogen. Dieses Unglück** sorgte für jeweils rund 100 Schwerverletzte und Tote. Vermutlich waren sie kaum ausnahmslos über 39 Jahre alt, nur geizen die Quellen auch ausnahmslos mit Namen. »Reichspropagandaminister« Joseph Goebbels eilte mit anderen Nazigrößen zum »Staatsbegräbnis« in die heute großkotzig und aufdringlich so genannte anhaltische »Lutherstadt« – um den Hinterbliebenen die »herrliche Gewißheit« einzutrichtern, ihre Angehörigen seien zu Tode gekommen, »auf daß Deutschland lebe«. Leider scheint es recht zählebig zu sein. Deutschland, meine ich.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/K%C3%A4the_Evers#/media/Datei:Ruebeland_Pulverfabrik_Ansichtskarte_um_1910.JPG
** Steffen Könau, »Munitionsexplosion bei Wittenberg: Vor 80 Jahren kommt es zum verheerenden Unglück«, Mitteldeutsche Zeitung 12. Juni 2015: https://www.mz.de/mitteldeutschland/munitionsexplosion-bei-wittenberg-vor-80-jahren-kommt-es-zum-verheerenden-ungluck-2040122
Siehe auch → Erkenntnis, Mandelkern (Gehirn) → Bevölkerungsfrage, Johnston (Vulkane) → Krieg, sprengen → Nobel
Unter Fähre zählt Brockhaus verschiedene Arten auf, darunter auch Seil- oder Kettenfähren. Wie die arbeiten, muß man allerdings den Briefkastenonkel der Kasseler Post fragen. Zu den östlichen Ausläufern der Fuldametropole gehörten Wolfsanger und Sandershausen. Zwischen diesen Siedlungen floß eben die Fulda. Die nächste Brücke gab es erst in der Stadt, am Fuldahafen. Was also tun? In meiner Knabenzeit, die ich in der genannten Gegend verbrachte, war die Angelegenheit geradezu abenteuerlich. Am Fuldaufer in Sandershausen gab es einen Pfahl, den eine alte Bratpfanne krönte. Am Pfannenstiel hing außerdem eine alte Suppenkelle. Wollte man nun »übergeholt« werden, mußte man auf die Pfanne hauen. Prompt ging jenseits, in Wolfsanger, die Tür des recht abgeschieden gelegenen Fährhauses auf. Der baumlange, schon halbglatzige Fährmann schlurfte zum Ufer, machte seinen Kahn los und kam zu uns. Da der Kahn bis zu zwei Dutzend (stehende) Leute aufnehmen konnte, hatte es der hagere Fährmann nicht einfach, sofern ihn Gesangs- oder Schützenvereine bemühten. Er bewegte sein Fahrzeug nämlich mit Hilfe eines »Verholstabes« ausschließlich durch Armkraft. Durch die Öse des Stabes lief ein Drahtseil, und an diesem zog er, die Öse verkantend, seine Fähre über den Fluß. Möglicherweise mußte er das Seil vor Fahrtantritt erst spannen. Ich glaube, in der Regel hing es beträchtlich durch, damit andere Schiffe nicht gestört oder gar zum Kentern gebracht wurden. Spätestens 1970 wurde dieser Fährbetrieb eingestellt.
~~~ In meiner Zeit kostete die Überfahrt 30 Pfennig, wohl unabhängig von der Fahrgastkopfzahl. Diese Gebühr bezahlte natürlich mein Großvater Heinrich aus der ehemaligen Werkssiedlung Salzmannshausen, denn bei dem wohnte ich. Salzmann war eine große Weberei in Kassel-Ost, also nicht etwa der Pädagoge aus Waltershausen-Schnepfenthal. Ich kannte die Fabrik, 1891 aus rotem Backstein erbaut, sogar von innen, weil ich dort zuweilen Ferienarbeit leisten durfte. Am interessantesten war es immer in den Lagerräumen, wo sich die Tuchballen stapelten. Die luden dazu ein, sich ein wenig auszustrecken, damit die Arbeit nicht etwa ihren Feriencharakter einbüßte. Man durfte sich nur nicht erwischen lassen. Das waren meine Anfänge als Klassenkämpfer.
~~~ Heute würde ich mir nach dem Posten des Wolfsangerischen Fährmanns alle 10 Finger lecken. Man hat jeden Tag etwas Kontakt zu seinen Mitmenschen, aber im wesentlichen seine Ruhe. Man rostet gleichwohl nicht ein, wegen der Ackerei am Seil. Bleibt die Kundschaft wegen Hitze aus, setzt man sich in seinem Gärtchen auf eine schattige Bank; bleibt sie wegen Regen aus, widmet man sich dem Gitarrespiel oder seiner Schreibarbeit. Bei Sturm schließt man flugs die Fensterläden – und damit den ganzen Betrieb. Die Stadt Kassel bezahlt ja. Denn ich würde auf einem Festanstellungsvertrag bestehen. Das gilt freilich nur für den Fall kapitalistischer Verhältnisse.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 11, März 2024
Auf das Stichwort Fallen vorgegriffen, macht man über dem aufgeschlagenen Band 7 ein langes Gesicht. Brockhaus kennt, in wenigen Zeilen, lediglich jene Käfige, Kästen, Schlingen, wie Wilderer oder häusliche Mäusejäger sie verwenden, und die bekannten Gruben. Sowohl der gewaltige Bereich des politischen wie des psychologischen Fallenstellens bleibt unerschütterlich ausgeklammert. Dabei ist doch der Mensch sehr wahrscheinlich das Tier, das sich ungefähr zu 50 Prozent seiner Lebenszeit mit nichts anderem befaßt, als sich die Welt oder die lieben Mitmenschen durch Feuer und Fallen zu unterwerfen.
~~~ Brockhaus bringt es in Band 7 noch nicht einmal fertig, einige andere Tiere zu streifen, die ebenfalls im Fallenstellen keineswegs Waisenknaben sind. Aber in Band 2 tut er es. Dort teilt er uns mit, Bakteriophagen seien »Viren, die Bakterien infizieren und sich in diesen vermehren. Sie besitzen keinen eigenen Stoffwechsel, sondern steuern den ihrer Wirte um und bilden so die zu ihrer Vermehrung notwendigen Enzyme.« Ja, mein Gott, wenn das nicht erstaunlich durchtrieben ist! Oder hatte Gott womöglich gar nichts damit zu tun? Und prompt fährt Band 2 die nächsten ausgefuchsten Fallenstellerinnen auf, nämlich die kleinen Baldachinspinnen. Diese Winzlinge hängen ihren gewebten »Baldachin« kunstvoll wie eine Zimmerdecke zwischen zwei übereinander liegenden Zweigen auf, verbergen sich unter ihm und warten seelenruhig auf die Beuten, die sich im Gewirr der angelegten Stolperdrähte vertun und deshalb in den Baldachin plumpsen. Nun eilt die Spinne händereibend herbei.
~~~ Ich erinnere auch an zahlreiche Arten »fleischfressender« Pflanzen und an den hübschen Aronstab, der die Beutetierchen in seine als betörende Blüte getarnte, gleichwohl arschglatte »Fliegenkesselfalle« lockt, damit sie ihn an deren finsteren Grund bestäuben. Ihm selber hatte Gott keine Bestäubungseinrichtung mehr mitgeben können, mangels Zeit. Schließlich hatte er die ganze irrsinnige Vielfalt der Welt in nur sechs Tagen zu erschaffen, was ich sogar schon einmal besungen habe. Sie finden mein Zwerglied »Gottes Langsamkeit« auf unserer Platte Leon von 2023, falls Sie die Platte finden. Somit spricht vieles dafür, daß die Kunst des Fallenstellens nicht auf unserem Mist gewachsen, vielmehr ein Grundzug allen kosmischen Lebens ist. Wir haben sie lediglich enorm ausgeweitet und verfeinert.
~~~ Weiter oben erwähnte ich ja eben erst Ehrenburgs Meinung, Revolutionär Babeuf habe sich einfältigerweise durch Longcamps Inszenierung einer Urkundenfälschung aus der Picardie vertreiben und überdies kräftig verleumden lassen. Berühmt ist die Afghanische Falle, wie der US-Präsidentenberater Zbignew Brzeziński sie einmal nannte. Man hatte die Sowjets 1979 zum Einmarsch in das Wüstenreich verleitet, um sie so weltweit in Mißkredit zu bringen, vom sowjetischen Blutzoll einmal ganz zu schweigen. Ferner fällt mir eine vergleichsweise primitive Begebenheit aus meinem Wirken als Handwerksgeselle der »Freien Marktwirtschaft« ein. Mein Chef wollte zu einer wichtigen Restauratoren-Konferenz reisen, fand aber seine Brieftasche nicht, obwohl er Büro und Laden auf den Kopf stellte. Also kam er zu mir in die Werkstatt, drückte mir den Schlüssel seines schwarzen Mercedes 300 in die Hand und sagte: »Fahren Sie mal eben in meine Zweitwohnung, Herr R., vielleicht steckt die Brieftasche da in irgendeiner Jacke!« Er lebte damals gerade in Scheidung. Befehl war natürlich Befehl – zumal sein Auto trotz des Raketentriebwerkes wie ein Kater schnurrte. Ich fühlte mich also wieder einmal beträchtlich geschmeichelt. Argwohn faßte ich nicht. Prompt durchsuchte ich seine Zweitwohnung vergeblich nach der Brieftasche. Auf der Rückfahrt dämmerte mir freilich: wenn er jetzt behauptet, du hättest die mit Banknoten vollgestopfte Brieftasche selber verschwinden lassen, bist du angeschissen. Denn wie wolltest du ihm das Gegenteil beweisen, solange die Brieftasche nicht wieder auftaucht?
~~~ Diese mögliche Falle ging jedoch glücklich an mir vorüber. Er nahm seinen Autoschlüssel mit der beinahe beiläufigen Bemerkung entgegen: »Schon gut, Herr R., Frau Z. hat die Brieftasche inzwischen in meinem Kittel gefunden.« Z. war die Näherin. Er hatte in der Nähstube zugeschnitten und dabei seinen Kittel ausgezogen, weil Frau Z. unterdessen wie der Teufel Gardinen bügelte. Es war ihm zu heiß geworden. Mir, in seiner Zweitwohnung und dann auf der Rückfahrt, auch.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023
Siehe auch → Politik, Zapata (Partisan) → Stierkampf
Familie → Bürokratie, Ehe → Clandenken → Erziehung, Schweinsblaseninsel
Faschismus
Er starb mit 91 in der Stadt meiner antiautoritären Schülerzeit, Kassel. Er hatte mehr Erfolg als ich. Ergo hat Gerhard Fieseler (1896–1987) Straßen. Er hat Straßen in seinem Geburtsort Bergheim-Glesch (bei Köln), ferner in Zweibrücken und Gifhorn, zudem einen Weg in Baunatal bei Kassel, wo der vierrädrige Fortschritt zu Hause ist, ich sage nur Volkswagen. Dann gibt es noch ein verschämtes Sträßchen »Am Fieseler Werk« in Lohfelden bei Kassel und eine »Fieseler-Storch-Straße« in Calden bei Kassel. Die Fuldametropole Kassel war Fieselers wichtigster »Standort«, wie so etwas heutzutage heißt.
~~~ Fieseler fuhr nicht; er flog und baute Flugzeuge. Von diesem Weg konnte ihn auch der Umstand nicht abbringen, daß er seinen ersten Absturz bereits bei der Pilotenprüfung hatte. Dafür überlebte er den Ersten Weltkrieg als »Tiger von Mazedonien« (19 Abschüsse), um sich anschließend nur noch als Kunstflieger zu beteiligen. Die geballte Menschenjagd hatte eine Pause, Weimarer Republik genannt. Auch als Kunstflieger war Fieseler erfolgreich. Doch man wird ja nicht jünger, und so widmete er sich ab ungefähr 1930 dem Flugzeugbau. 1938 wiesen seine drei Werke in Kassel-Ost bereits rund 5.300 Beschäftigte auf, später wohl noch mehr, darunter selbstverständlich streckenweise auch viele ZwangsarbeiterInnen. Ein Jahr früher war er von Reichsluftfahrtminister Göring persönlich zum Wehrwirtschaftsführer ernannt worden. Prompt ließ sich Fieseler unmittelbar am Schloßpark Wilhelmshöhe eine Villa bauen, in der Kurhausstraße 9, vollendet 1939. Dann ging das Schießen und Bombardieren wieder los.
~~~ Erfreulicherweise (für ihn) konnte Fieseler seine Villa nach dem Zweiten Weltkrieg bald wieder beziehen, nahm doch die »Spruchkammer« der »Rehabilitierungs-maschinerie« (Wiederhold auf S. 274) 1949/50 alle bösen Vorwürfe von ihm und stufte ihn in der Gruppe der »Entlasteten« ein. Wie so viele, Waldecks Fürst Josias etwa, zeigte Fieseler keine Spur von Reue – aus der Sicht seiner Anwälte nur zurecht, war er doch lediglich widerstrebend in den Dienst des Faschismus getreten, ja im Grunde ein Widerstandskämpfer gewesen – und nicht etwa ein Nutznießer der faschistischen Aufrüstungspolitik. Fieseler hatte Dutzende von »Persilscheinen« vorgebracht; dafür waren plötzlich für ihn unangenehme Akten verschwunden. So nahm der reingewaschene »Werks-führer« 1951 auf altem Bettenhäuser Betriebsgelände wieder die Produktion auf, diesmal allerdings nicht von Kampfflugzeugen oder selbstfliegenden Bomben, vielmehr von unverfänglichen Metallwaren wie Aluminiumfenster, Kleinmöbel und Lampen (bis 1958). Er hatte jetzt nur noch rund 100 Leute. In seiner Villa machte er außerdem ein Hotel auf, das bis 1966 bestand. Ob er auch selbst noch dort wohnte, und mit wem, sagt Wiederhold nicht. Als Greis litt Fieseler an Krebs. 1987 bekam der steinalte entlastete Träger des Pour le Mérite auf dem Kasseler Hauptfriedhof ein Begräbnis »mit allen militärischen Ehren«, wie Thorsten Wiederhold in seinem Buch mitteilt: Gerhard Fieseler – eine Karriere, Kassel 2003.
~~~ Um 1920 hatte Fieseler in seiner Eschweiler Druckerei (bei Aachen) seine künftige Ehefrau Helene kennengelernt. Den Betrieb schloß er 1926, um sich ganz dem Kunstflug zu widmen. Die Ehe wurde 1938 wieder geschieden. Das Paar hatte zwei Kinder, Sohn Manfred und Tochter Katharina, genannt Ina, die beide 1944 gestorben sein sollen. Trifft das zu, tippe ich auf Luftangriff, in welcher Stadt auch immer. Was das Scheidungsdatum angeht, trennten sich die Eheleute offensichtlich just während der Bauzeit der Wilhelmshöher Villa. Ob und wie andere Frauen in Helenes Fußstapfen (auf dem Perserteppich) traten, ist nirgends zu erfahren. Dasselbe gilt für die Scheidungsgründe. Vielleicht war der guten Helene ja Fieselers rücksichtsloser Opportunismus gegen den Strich gegangen. Ein Foto bei Wiederhold (S. 27) zeigt die kleine, etwas pausbäckige Dame mit Pelzkragen und Töchterchen 1934 in Kassel an der Seite ihres strahlenden Gatten, beide wiederum von schmunzelnden Hakenkreuzlern flankiert: Gauleiter (von Kurhessen) und Preußischer Staatsrat Karl Weinrich und Gaugeschäftsführer Bürckel. Fieseler war soeben als frischgebackener Kunstflugweltmeister aus Paris heimgekehrt. Mit diesem Titel beendete er seine künstlerische Karriere.
~~~ Unseligerweise hieß die Mutter meiner Mutter Hannelore, meine Großmutter also, ebenfalls Helene. Diese Helene hatte so wie wahrscheinlich Helene Fieseler und ganz gewiß Millionen andere im Zweiten Weltkrieg Blutzoll zu zahlen, indem sie ihren ältesten Sohn »im Felde« verlor. Außerdem wurde sie ausgebombt – zufällig in Kassel-Ost, wo es leider nicht nur Mietshäuser, sondern auch Waffenschmieden gab. Beide Vorfälle verstärkten eine wohl ererbte Veranlagung zum »Nervenleiden« beträchtlich. Dafür machte, soweit ich zurückdenken kann, in meiner Familie niemals einer Gerhard Fieseler verantwortlich. Den Namen kannte ich gar nicht, auch nicht von meiner abgekürzten Gymnasialzeit her – kein Abitur. Hätte man wenigstens meinen Großvater Heinrich verantwortlich machen sollen? Lieber nicht. Der Volksschullehrer war pflichtbewußt mit in den Krieg gezogen und kehrte als angesehener Hauptmann einer Brückenbaukolonne zurück, die zuletzt auf dem Balkan tätig gewesen war. Möglicherweise war er, im Gegensatz zu Fieseler, wirklich »nur« ein sogenannter Mitläufer gewesen. Der jüngere Bruder meiner Mutter behauptet sogar, Hauptmann Heinrich V. habe auf dem Balkan zuletzt einen Befehl verweigert, DorfbewohnerInnen »vergeltungsweise« erschießen zu lassen, als Vergeltung für die ständigen Übergriffe frecher einheimischer Partisanen. Durch das Chaos des deutschen Rückzugs sei er dem »Kriegsgericht«, also wohl seinerseits dem Erschossenwerden entgangen. Heinrich war fromm. Gott hatte ihn hineingeritten, und dann riß ihn Gott wieder heraus.
~~~ Um 1990 warf ich in Berlin, wo ich mich die letzten Jahre als Aktmodell über Wasser gehalten hatte, das Handtuch. Ich hatte zunehmend mit verschwommenen Ängsten zu kämpfen und sah mich bereits auf der Schwelle zu Bonnies Ranch in Reinickendorf, einer sogenannten Nervenklinik. Aber soll ich das ebenfalls, wie im Falle meiner Großmutter, auf eine ungünstige Veranlagung schieben? Es war Pech, jawohl. Es war Erfolglosigkeit, Niederlage, Bankrott. Ich war um 40 und war nichts geworden. Damals ergriff ich die übliche Alternative zur Irrenanstalt: ich flüchtete mich in den Schoß der Heimat und unter die Schürze meiner Mutter. Die Zugfahrt war ein Horror, ich wurde ausschließlich von Unruhe und Wahngebilden begleitet. Kaum in die Wohnung meiner Mutter eingetreten, brach ich zusammen. Ich kniete vor einem Sessel und klopfte mit der Stirn das Polster – wurde von einem regelrechten Heulkrampf geschüttelt und stammelte dabei wohl auch schon Worte in dem genannten Sinne: ich sei gescheitert, ein Versager, es hätte alles keinen Zweck mehr und so weiter.
~~~ Offenbar gelang es meiner Mutter, mich zu beruhigen. Wie, könnte ich nicht mehr sagen. Aber von ihrer Liebe einmal abgesehen, war sie auch gewissermaßen vom Fach, das half ihr vielleicht. Ursprünglich Geschiedene, Schreibkraft, Altenpflegerin und dann Krankenschwester, hatte sie sich noch weiter fortgebildet, um zuletzt ein Wohnheim für »Geistigbehinderte« zu leiten. Zufällig lag es in der oben erwähnten Kurhausstraße, nur nicht in Nr. 9, Fieselers Villa, sondern noch näher zum Schloßpark hin. Es war eine Einrichtung, die man landläufig »gemeinnützig« nennt. Allerdings dürfte auch Fieseler davon überzeugt gewesen sein, er habe stets, ob als Kampfflieger, Flugzeugbauer oder Hotelier, dem Gemeinwohl gedient. Und dafür hat er eben die eingangs genannten Straßen und das Begräbnis »mit allen militärischen Ehren« bekommen. Meine Mutter wurde vor einigen Jahren, wohl ihrem Wunsch gemäß, schlicht verbrannt und verscharrt. Ihre Urne steckt unter einer Rasenfläche für »anonym« Bestattete.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont (1896–1967) residierte bis zu seinem Tod mit geringen Unterbre-chungen in Arolsen, das ein in vielen Kunstführern gerühmtes Barockschloß hat. In Wolfgang Meddings umfangreicher Stadtgeschichte Korbach von 1955, die auch als wichtiges Werk zur Geschichte des Fürstentums Waldeck gilt, taucht der Erbprinz mit keinem Sterbenswörtchen auf. Für Medding hat er nie existiert.
~~~ Dabei hatte Josias sicherlich nicht nur einmal in der nahen Kreisstadt Korbach zu tun. Vor mir liegen Fotos. Reichsbauernführer Darré spricht vor 7.000 Leuten auf dem Hauerplatz. Die Parade in der Hindenburgstraße nimmt Josias ab. Wie sich versteht, trägt er die schwarze Uniform der SS. Josias war nicht irgendwer. Als einer der ersten Vertreter des deutschen Adels hatte er sich gleich 1929 – da ließ sich das Fürstentum Waldeck endlich von Preußen einverleiben – der SS angedient. Er sorgt dafür, daß seine Residenz Arolsen Garnisonstadt und eine Hochburg der Nazis wird. Bei der »Ausschaltung« der um Ernst Röhm gruppierten SA-Führung legt er sich vor Ort – in München – ins Zeug. Eine Zeitlang ist er als Laienrichter an den brutalen Urteilen des Berliner »Volksgerichtshofes« beteiligt. Schließlich macht ihn sein Duzfreund Heinrich Himmler zu einem der 47 Höheren SS- und Polizeiführer des »Dritten Reiches«. In Fragen der Gerichtsbarkeit untersteht ihm damit auch das KZ Buchenwald bei Weimar. Noch im Frühjahr 1945 befiehlt er dessen Evakuierung, was Hunderten Häftlingen das Leben kostet.
~~~ 22 Jahre später stirbt der 71jährige Landesfürst selber – in Frieden. Die Lokalpresse hat es leicht, den Toten in weißer Weste zu geben, weil niemand in dem Dreck zu stochern wagt, der längst unter den Teppich gekehrt worden ist. Wegen seines »untadeligen« Lebenswandels, den man ihm nun bescheinigt, war Josias 1947 von einem US-Militärgericht zu lebenslanger Haft verurteilt worden. 1948 zu 20jähriger Haft begnadigt, verurteilte ihn ein Jahr darauf eine deutsche Spruchkammer zu fünf Jahren Arbeitslager abzüglich der bisherigen Haftdauer und zur Abgabe von 70 Prozent seines Vermögens. Selbst das war angesichts des nahenden Wirtschafts- und Verzeihungswunders noch zu viel. So wird er schon 1950 zum »Hausarrest« auf sein fürstliches Anwesen in Arolsen entlassen, und auch sein Vermögen bleibt nahezu unangetastet. Schließlich ist Sprößling Wittekind da, der solide erzogen und ausgebildet werden muß.
~~~ Zwar schreibt auch Gerhard Menk keine Geschichte von unten, doch muß man dem Marburger Staatsarchivar zugute halten, die schändliche Rolle des Josias in seinem Büchlein Waldecks Beitrag für das heutige Hessen (2001) nicht verschwiegen zu haben. Über das 1949 in Fritzlar stattfindende Spruchkammerverfahren gegen Josias gibt er sogar Details, die Anke Schmelings bahnbrechende Josias-Studie von 1993 ergänzen. Scharen angereister AnhängerInnen stärkten ihrem »Fürsten« den Rücken. Es kam zu Tumulten, die nur durch Polizeieinsatz unterbunden werden konnten. Von Reue bei Josias keine Spur. Vielmehr bemüht er sich in geschickter Demagogie, sein disziplinarisches Vorgehen gegen den Buchenwald-Lagerleiter Karl Koch mit dem antifaschistischen Widerstand in Verbindung zu bringen. Das nennt Menk frivol. Ein schockierter US-Offizier versichert in seinem Bericht, auf dem Niveau der »Entnazifizierung« werde in Deutschland keine Demokratie bestehen können.
~~~ Inzwischen (2007) hat Sprößling Wittekind, Jahrgang 1936, schon seinerseits die 70 überschritten. Mit dem Titel des »Fürsten« übernahm er von seinem Vater den Sinn für die rechte Traditionspflege. Hessens Ministerpräsident Roland Koch wußte das 2001 durch die Verleihung eines Verdienstordens zu würdigen. Unter Wittekinds mehr oder weniger heimlichen Schirmherrschaft konnten in Arolsen noch um 1990 die regelmäßigen »Kameradschaftstreffen« diverser SS-Einheiten und Wehrmachtsverbände stattfinden. Sein Ruhestand ist gesichert. Das Land Hessen, das sein verkommenes Barockschloß für veranschlagte 20 Millionen Euro sanieren läßt, räumte ihm dort ein Wohnrecht auf Lebenszeit ein. Sein Vermögen – auf 3.000 Hektar Land- und Waldbesitz fußend – wurde vor rund 20 Jahren auf 65 Millionen Mark geschätzt.
~~~ Damals empfing er eine Journalistin der Frankfurter Rundschau. Anne Riedel* erkundigte sich auch, wie Wittekind mit seinen berühmten Paten umgehe. »Überhaupt nicht.« Sich von ihnen zu distanzieren oder zu lösen, halte er für überflüssig. »Die haben sich von mir gelöst. Als ich neun war, waren die tot.« Nur von daher spricht Wittekind von einem »Fehlgriff« bei der Auswahl seiner Paten – sie konnten sich nicht mehr um ihn kümmern. Die Paten hießen Heinrich Himmler und Adolf Hitler.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Die Anhänglichkeit der alten Kameraden«, FR 7. Juli 1988
Es ist vielleicht verzeihlich, wenn Brockhaus den Citronen Fjord nicht kennt – aber statt dauernd deutsche Nazis zu verharmlosen, hätte er schon den einen oder anderen dänischen Widerstandskämpfer aufnehmen können. Ich denke hier etwa an ein Gespann, das in Dänemark recht populär sein soll. Es bestand einerseits aus dem zunächst blonden, dann rothaarigen Sohn von Hotelbetreibern auf Seeland Bent Faurschou-Hviid (1921–44), genannt Flammen, was auf dänisch »die Flamme« heißt. Ende der 1930er Jahre zu Ausbildungszwecken in Deutschland, wurde er zum Gegner dessen, was in vielen Stiftungen und Nachschlagewerken unter »Nationalsozialismus« firmiert. 1943 betätigte er sich in der seeländischen Hafenstadt Holbæk als Flugblattverteiler und Stachel im Fleisch der deutschen BesatzerInnen. Im Jahr darauf wurde er in Kopenhagen eben als Flammen, so sein Deck- oder Spitzname, in der Partisanengruppe Holger Danske aktiv. Als deren Leiter Svend Otto »John« Nielsen (35), mit dem er auch eng befreundet war, im Dezember 1943 gefaßt und von der Gestapo gefoltert und umgebracht wurde, sann er gemeinsam mit seinem Genossen Jorgen Haagen Schmith (1910–44) auf Vergeltung. Das war der andere Teil des Gespanns, genannt Citronen. Vor dem Krieg unter anderem Bühnenmanager einer Kopenhagener Musikhalle, hatte dieser Kämpfer einst im Alleingang in einer Kopenhagener Citroën-Garage etliche Fahrzeuge von Deutschen unbrauchbar gemacht, daher sein Spitzname. Nun beschlossen die beiden, planmäßig Landsleute oder BesatzerInnen auszulöschen, die als Denunzianten galten. Innerhalb eines knappen Jahres sollen sie mindestens 11 Personen getötet haben. Bei dieser Arbeit verkleideten sie sich mehrmals als dänische Polizisten. Die deutschen Ordnungskräfte schlugen im Oktober 1944 zurück. Rächer Flammen erwischte es dabei am Abend des 18. Oktober, als er sich gerade im Kopenhagener Vorort Gentofte im Hause der Familie Bomhoff aufhielt. Er flüchtete zunächst auf den Speicher, sah jedoch, das Haus war hoffnungslos umzingelt. Daraufhin schluckte er eine Kapsel mit Zyankali. Das war sein »Freitod«.
~~~ Leider war der 23jährige unbewaffnet gewesen. Alle seine Gewehre und Pistolen hatten sich nämlich in Citronens Obhut befunden – und der war vor wenigen Tagen auch schon hops gegangen. Bei einem Schußwechsel verwundet, hatte Citronen, der eigentlich Frau und zwei Kinder hatte, in einer fremden, vermeintlich sicheren Wohnung desselben Vororts das Bett und eben die gemeinsamen Waffen gehütet. Da rückten deutsche Soldaten an. Bevor sie das ganze Haus anzündeten, soll der 33jährige Citronen in einem anhaltenden erbitterten Gefecht fast ein Dutzend Deutsche erledigt haben. Dann versuchte er dem Feuer zu entrinnen – und wurde seinerseits erschossen. Die Waffen verglühten. So folgte ihm Flammen, als dieser ebenfalls von den Deutschen aufgespürt wurde, vermittels Gift in den Tod.
~~~ Wie es aussieht, werden beide jungen Männer selbst in bürgerlichen Kreisen Dänemarks noch heute verehrt. 2008 machte Ole Christian Madsen aus ihrer Geschichte den Film Tage des Zorns – wofür ihn zumindest Jürgen Frey* im selben Jahr ausschimpfte: langatmige Dialoge, oberflächlich, schablonenhaft. Als Alternative zum öden Kinobesuch empfiehlt sich vielleicht ein Abenteuerurlaub am grönländischen Citronen Fjord, zumal es ja angeblich immer heißer wird. Dieser nach Früchtchen Schmith benannte** Landschaftsteil liegt im Norden der zu Dänemark zählenden vereisten Insel.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024
* in der Badischen Zeitung am 28. August 2008, online https://www.badische-zeitung.de/kino-neustarts/die-helden-des-daenischen-widerstands--4590486.html
** https://denstoredanske.dk/It,_teknik_og_naturvidenskab/Geologi_og_kartografi/Mineraler/Citronen_Fjord, Stand 2009
Ich übergehe die von Brockhaus gewohnt freundlich behandelten Nazifreunde Wilhelm Flitner (Pädagoge), Fritz Flügel (Neurologe) und Henrich Focke (Flugzeugbauer) und weise ersatzweise auf ein Interview hin, das Wladimir Putin soeben, am 6. Februar [2024], dem US-Journalisten Tucker Carlson gewährt hat. Die Junge Welt bringt Auszüge.*
~~~ Danach nennt der russische Staatschef die »Entnazifizierung« der Ukraine erneut das vordringliche, noch nicht erreichte Ziel des gegenwärtigen Krieges am Don. Darunter möchte er ausdrücklich »ein Verbot aller dortigen neonazistischen Bewegungen« verstehen. Das ist natürlich grober Unfug. Aber Staatschefs lieben eben Verbote. Noch nie haben Verbote verwerfliches oder auch nur mißliebiges Gedankengut aus menschlichen Köpfen vertrieben. Das war bereits Rudi Dutschke klar. Es steht jedoch zu fürchten, am Arbeitersohn Wladimir, geboren 1952, ist die Aufklärung stets vorüber gegangen. Jenes schlechte Gut erwächst einem bestimmten Sumpf, und den muß man trockenlegen, sofern man ernstlich etwas ausrichten will. Wenn in Deutschland zur Stunde auf allen Kanälen gegen die AfD gewettert wird, kann ich nur lachen. Das sind Ablenkungsmanöver, die sich gewisse Holzköpfe ausgedacht haben, auf die Putin sogar noch recht hübsch zurückkommt. Schafft also bitte nicht die AfD, vielmehr Deutschland und den ganzen angelsächsisch-russisch-chinesischen Kapitalismus ab. Die Konkurrenzgesellschaften müssen weg.
~~~ Ferner stellt Putin, an der Duldung des Nord-Stream-Anschlages und der Folgeschäden für Deutschlands Wirtschaft aufgehängt, völlig richtig fest, »die heutige Regierung Deutschlands lässt sich nicht von den nationalen Interessen leiten, sondern von denen des kollektiven Westens.« Er vermeidet nur das Wort ArschkriecherInnen. Dann wird er jedoch konkreter:
~~~ >Auch durch die Ukraine, in die die Deutschen Waffen und Geld pumpen, verlaufen zwei Gasleitungen. Die Ukrainer haben die eine einfach gesperrt. (…) Ich verstehe nicht, warum Deutschland der Ukraine nicht sagt: »Hört zu, Leute, wir zahlen euch einen Haufen Geld, also öffnet bitte die Ventile und lasst russisches Gas zu uns durch. Wir kaufen Flüssiggas dreimal so teuer anderswo ein, das ruiniert die Grundlagen unserer Wettbewerbs-fähigkeit. Wenn ihr wollt, dass wir euch finanzieren, dann sorgt dafür, dass wir dieses Geld auch erwirtschaften können.« Nein, das machen sie nicht. Warum, das können Sie die Deutschen fragen. (Schlägt auf den Tisch) Genau dieses Holz haben sie dort im Kopf. Dort regieren ausgesprochen inkompetente Leute.<
~~~ Das ist sicherlich einigermaßen zutreffend und deutlich, wenn auch nicht gerade sehr diplomatisch ausgedrückt. Bezeichne ich in der Kommunszene einen Widersacher als Holz- oder Strohkopf, habe ich jede mögliche Brücke zu ihm zertrümmert. Und so gänzlich aus Holz oder Beton sind Habeck, Baerbock, Scholz & Konsorten wohl kaum. Putins Wertung muß sie beleidigen, um nicht zu sagen, tief kränken. Am besten, sie legen sich zu Hause ins Bett und stehen nie mehr auf.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 12, März 2024
* https://www.jungewelt.de/artikel/469005.russland-und-der-westen-holzköpfe-in-berlin.html, 10. Februar 2024
Es gab etliche Frauen, die sich im Faschismus geschunden und in der ihn ablösenden Demokratie hintergangenen sahen. Ich denke beispielsweise an die kommunistisch gestimmte Bergmannstochter und Seifenverkäuferin Martha Hadinsky, die sich 1963 mit 51 umbrachte. Diesen leidgeprüften Frauen stellte ich einmal verschiedene, stets mit Samthandschuhen angefaßte Nazi-Gattinnen gegenüber. Eine von ihnen hieß Lina. Zur selben Zeit, da man der »unbelehrbaren« Martha die karge Rente gestrichen hat, zehrt die etwa gleichaltrige Lina auf der Ostseeinsel Fehmarn, wo sie außerdem ein Hotel betreibt, von einer just vor dem Schleswiger Landessozialgericht erkämpften »Kriegsopfer«-Rente. In ihren Augen war ihr im Sommer 1942 verstorbener Ehemann nämlich »einer unmittelbaren Kriegseinwirkung zum Opfer gefallen«. Und die Frage, wer den Krieg vom Zaun gebrochen hatte, hielt sie offenbar für unerheblich. Das Gericht schloß sich dieser Sicht (1958) schließlich an.
~~~ Das Opfer war kein Geringerer als Reinhard Heydrich gewesen, geboren 1904 in Halle/Saale. Im Brockhaus ist er sogar mit Paßfoto vertreten. Heyderichs Sterbeort war Prag. Der Polizeigeneral, Leiter des »Reichssicherheits-hauptamtes« und nebenbei Vize-»Reichsprotektor für Böhmen und Mähren« war damals, als 38jähriger, den Folgen eines auf ihn verübten Anschlages tschechischer Agenten erlegen, die im Auftrag der Londoner Exilregierung und mit Unterstützung einheimischer UntergrundkämpferInnen handelten. Nun war die arme Lina Witwe. Mit ihr und vier Sprößlingen hatte Heydrich bei Prag in Schloß Jungfern-Breschan (Panenske Brzezany) residiert, wo laut stern-Bericht von 2002 »bis zu 120 jüdische KZ-Häftlinge für sie fronen« mußten.* Vordringlich ging Heydrich allerdings als Berliner Cheforganisator der »Endlösung der Judenfrage« in die Geschichte ein. Nach zahlreichen Zeugnissen war die Gattin des kaltblütigen Massenmörders, eine geborene Von Osten, schon um 1930, also mit 20, eine »glühende Nationalsozialistin« gewesen. Manche Quellen bescheinigen ihr geradezu Sadismus. Lina übte maßgeblichen Einfluß auf ihren gleichfalls blonden, gleichfalls ehrgeizigen Reinhard aus, der zwar ein Hüne war, jedoch an seiner dünnen, hohen Stimme und dem entsprechenden Schüler-Schmähnamen Ziege gelitten haben soll. Zwar wurde Lina 1948 von einem tschechischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt – aber dummerweise in Abwesenheit. Himmler hatte ihr geraten, erst einmal nach Bayern abzutauchen. Später kehrte sie in den Schoß ihrer norddeutschen Heimat zurück. Dort konnte sie sich am besten um die Erziehung ihrer inzwischen nur noch drei Kinder kümmern.
~~~ Dies alles wußten die Schleswiger SozialfürsorgerInnen zu belohnen. Offenbar hielt Lina ihrem Reinhard auch bis zuletzt die Stange, wie aus ihren Memoiren hervorgehen soll. Von Reue keine Spur. Sie starb 1985 mit 74 Jahren.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 17, April 2024
* Mario R. Dederichs am 6. November 2002: https://www.stern.de/politik/geschichte/epilog-verdraengung--vertuschung-und-vergebung-3899814.html
Zum Staatsrechtslehrer Hans Peter Ipsen (1907–98) teilt uns Brockhaus im wesentlichen mit, 1939–73 sei er Professor in Hamburg gewesen. Aber nun überlegen Sie einmal: gut 30 Jahre lückenlos in zwei Regimen! Nach Ernst Klee und weiteren Quellen war Ipsen auch SA-Scharführer, Parteimitglied, Staatsrat, Kommissar an »Kolonialuniversitäten« im besetzten Belgien, hanseatischer Oberlandesgerichtsrat sowie Referatsleiter im Reichsjustizministerium. Nach dem Krieg habe er als »Doyen des Europarechts« gegolten. Aha – jetzt wollte er also ein schönes Europa ohne die Schützenhilfe von SA- oder SS-Rabauken herbeiführen, zu denen er selber gezählt hatte. Die Vereinigung deutscher Staatsrechts-lehrer machte ihn zum Ehrenvorsitzenden. Von einer »Entnazifizierung« lese ich nichts. Der karge Eintrag auf der Webseite der Hamburger Uni gibt in Ipsens »aktiver Dienstzeit« allerdings eine zweijährige Lücke 1945–47 an. Vielleicht eine Anstandsfrist. Ipsen wird noch 90 Jahre alt. Kritik an ihm scheint selten zu sein. Wahrscheinlich steht sie am ehsten bei Norman Peach/Ulrich Krampe 1991.
~~~ Bei soviel Nachsicht mit charakterlosen Karrieristen droht man hin und wieder wirklich ins Kotzen zu kommen. Aber ich will gerecht sein: die angelsächsischen Demokraten waren nicht unbedingt liebenswerter als die germanischen. Bei den Inseln erwähnte ich ja gerade Weiners Geschichte der CIA. Danach stürzte sich der abgedankte, rundum zerrüttete US-»Verteidigungs-minister« James Forrestal 1949 aus dem 16. Stockwerk einer Psychoklinik der Marine, anscheinend nachts. Zuvor hatte er antike Verse abgeschrieben, in denen eine Nachtigall vorkommt. Mitten im Wort nightingale hatte er sich unterbrochen, um mehr oder weniger spontan aus dem Fenster zu springen. Weiner teilt mit*, nightingale sei der Codename einer ukrainischen Widerstandsgruppe gewesen, die just von Forrestal ermächtigt worden war, »einen Geheimkrieg gegen Stalin zu führen. An ihrer Spitze standen Nazi-Kollaborateure, die im Zweiten Weltkrieg hinter den deutschen Linien Tausende von Menschen umgebracht hatten.« Nun waren sie von der CIA mit viel Geld und ein paar Fallschirmen versorgt worden. Allgemeiner versichert Weiner in seiner gekonnten, belegreichen und sogar preisgekrönten Darstellung, im sogenannten »Kalten Krieg« habe die CIA bedenkenlos Faschisten gegen das kommunistische Lager eingesetzt. Vom Rechtsanwalt Allan Dulles, 1953–61 CIA-Chef, führt er die, vermutlich aufs »Rollback« gemünzte Bemerkung an, man könne den Zug nicht ins Rollen bringen, »ohne ein paar NSDAP-Mitglieder mitzunehmen.«
~~~ Das kam bekanntlich auch unserem Nazispion General Reinhard Gehlen zugute, der später unseren demokratischen Bundesnachrichtendienst (BND) aufbauen durfte. Nebenbei hatte der BND auch deshalb alle Hände voll zu tun, weil er irgendwann den Chef von Gehlens Spionageabwehr enttarnen mußte, der langjährig als Moskaus Maulwurf gewirkt hatte. Den legendären ukrainischen Nationalhelden Stepan Bandera erwähnt Weiner nicht, dafür jedoch eine rechte Hand von diesem, Mykola Lebed. Der hatte sich nach Mordtaten in Polen mit den dort einrückenden deutschen Faschisten angefreundet. Dann übernahm er das Kommando über ukrainische Terrorbanden, darunter just jene »Nachtigallen«. Nach Kriegsende rettete er sich vor den siegreichen Rotarmisten nach München, wo er, laut Weiner, als selbsternannter Außenminister der Ukraine residierte und der CIA weiterhin seine Partisanen für den Kampf gegen Moskau andiente. 1949 zog er es aber vor, US-Bürger zu werden. Dazu erläutert Weiner, das Justizministerium sei zunächst dagegen gewesen. Der Mann sei ein Kriegsverbrecher, der zahlreiche Ukrainer, Polen und Juden umgebracht hätte. Das aber habe Allan Dulles persönlich mit einem Schreiben an den Chef der Einwanderungsbehörde bereinigt. Danach war Lebed »von unschätzbarem Wert für die Agency« und wirke an »Operationen von allerhöchster Wichtigkeit« mit.
~~~ Daraus können wir heute, während der sogenannte Präsident Wolodymyr Oleksandrowytsch Selenskyj mit Hilfe westlicher Gelder und Waffen die letzten jungen Leute seines Landes im »Krieg gegen Moskau« verheizt, eigentlich nur den Schluß ziehen, die gute Zusammen-arbeit zwischen Angelsachsen und Faschisten habe nie aufgehört. Im übrigen verhehlt Weiner nicht, daß auch die CIA das Verheizen beherrschte. Allein in den 1950er Jahren wurden die eigenen Agenten oder verbündete Kräfte immer wieder dutzendweise ins absehbare Verderben geschickt, weil sich dieser nahezu unkontrollierbare Verein vor allem durch Selbstüberschätzung und Selbstbetrug, Fehler und Unbelehrbarkeit auszeichnete. Ich nehme an, auch dabei ist es bis zur Stunde geblieben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 19, Mai 2024
* Tim Weiner, CIA. Die ganze Geschichte, deutsche Ausgabe Ffm 2008, S. 71–83
Der riesige Ladogasee ist mir vor allem durch Berichte von der Blockade Leningrads im Zweiten Weltkrieg unvergeßlich. Er erstreckt sich rund 4o Kilometer östlich der damaligen 2,5-Millionen-Stadt gen Norden. Der Roten Armee diente er nicht unbeträchtlich als Versorgungs- und Evakuierungsweg. Aber die Opfer der Blockade waren noch weitaus riesiger als der Ladogasee. Wenn es Rekorde im Massenmord geben sollte, gebührt den deutschen Faschisten sicherlich eine Olympische Medaille. Ihre Abriegelung der stolzen Stadt am Finnischen Meerbusen, begonnen im Herbst 1941, währte fast zweieinhalb Jahre lang. Todesopfer, meist Verhungerte: über eine Million. Durch eine Eroberung hätten die Faschisten die Bevölkerung im Häuserkampf am Hals gehabt und außerdem anschließend auch noch ernähren müssen. Deshalb kam sie die Einschließung erheblich billiger, so dachten sie: man läßt die Leute einfach verhungern. Immerhin bot der Verzicht auf Eroberung oder gar Flächenbombardierung der örtlichen Industrie die Möglichkeit, die Sowjetarmee nach wie vor mit Waffen zu beliefern – sofern die ArbeiterInnen noch nicht verhungert, von Seuchen weggerafft oder auf der Flucht umgekommen waren. Im Ganzen soll die Rote Armee rund 1,3 Millionen Menschen aus der Stadt geschleust haben. Doch auch die Versorgung oder Flucht über den meist zugefrorenen See war verlustreich. Die Faschisten versuchten das natürlich durch Panzerbeschuß, Jagdflugzeuge und Bomber zu unterbinden, und die sowjetische Abwehr konnte es nicht immer verhindern. Viele übermüdete LastwagenfahrerInnen ließen ihr Leben. Am erfolgreichsten waren die Faschisten mit Bomben, die sie kurzerhand im Bereich der Fahrstraßen aufs Eis krachen ließen. Die ausgemergelten Städter, die sich vielleicht schon am rettenden Nordufer wähnten, versanken grausam mitsamt ihren Lastwagen in den eisigen Fluten. Man fragt sich kopfschüttelnd, woher später Funktionäre von gewissen westdeutschen Verbänden die Unverfrorenheit nahmen, für ihre (1945) vor der Roten Armee gen Oder und Elbe flüchtende Klientel die Krone des Vertriebenenschicksals zu beanspruchen. Sie stellten die Kriegsgeschichte geradezu auf den Kopf. Dagegen wartet eine Bundesoberbehörde, die dem deutschen Innenministerium untersteht, erstaunlicherweise noch zur Stunde mit einer ziemlich selbstkritischen Darstellung auf.* Lesen Sie Erica Zinghers Artikel möglichst bald, bevor Nancy Faeser oder Annalena Baerbock ihn kippt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
* https://www.bpb.de/themen/deutschlandarchiv/340408/leningrad-niemand-ist-vergessen/, 17. September 2021
Die Sintiza Erna Lauenburger (1920–44) ging nicht in den Brockhaus, aber immerhin in ein Buch für Kinder ein. Als Mädchen mit der Berliner Autorin Grete Weiskopf befreundet, durfte sie eine Hauptrolle in deren Roman Ede und Unku spielen, der 1931 im Malik-Verlag erschien. Unku war Ernas Sinti-Name. Bald darauf zog sie mit ihrer Familie nach Magdeburg, wo sie ins polizeilich überwachte Zigeunerlager Holzweg geriet. Von dort aus wurde 1938 zunächst ihr Gefährte Otto Schmidt im Rahmen des faschistischen Kampfes gegen »Arbeitsscheue« ins KZ Buchenwald geschickt, wo er 1942 umkam. Er war 24. Lauenburger dagegen, inzwischen zweifache Mutter, wurde im März 1943 mit allen rund 160 Insassen des Magedeburger Lagers, vorwiegend Kinder, nach Auschwitz verschleppt. Laut Wikipedia wird die 22jährige ein Jahr darauf ermordet. Leider war sie beileibe nicht die einzige: Viele Tausend Sinti und Roma kamen allein im Ausschwitzer »Zigeunerlager« um. In Berlin und Magdeburg gibt es inzwischen Ede-und-Unku-Wege.
~~~ Lauenburgers Gefährte Schmidt hatte in Buchenwald zu den zahlreichen Opfern des Lagerarztes Waldemar Hoven gezählt, der Häftlinge emsig als Versuchskaninchen benutzte oder sie auch ohnedem wunschgemäß »abspritzte«, sofern seine SS-Kameraden meinten, sie taugten nichts mehr. Dieser prominente Weißkittel kommt auch in Alexander Zinns Biografie* über den thüringischen/tschechischen schwulen Dachdecker Rudolf Brazda vor, der Buchenwald überlebte. Dafür fanden etliche Freunde Brazdas den Tod, beispielsweise der Schlosser Leopold Kretzschmar (33) aus Altenburg, der Ende 1943 ins berüchtigte Buchenwalder Außenlager Dora (bei Nordhausen) gesteckt wurde, wenn mich meine Notizen nicht täuschen. Da hieß es Zwangsarbeit leisten untertage – die Vorstufe zum Sarg. Ich erwähne dies, weil die Häftlinge mit den rosa Winkeln, die Homosexuellen, wie die »ZigeunerInnen« eine starke Opfergruppe darstellen, die oft im Schatten »der Judenverfolgung« zu stehen hat. Dem entsprach die Benachteiligung dieser Opfer selbst nach 1945.
~~~ Zinns Buch macht dies alles hervorragend deutlich. Nebenbei stellt er den kommunistischen KZ-Häftlingen (im allgemeinen) ein ziemlich schlechtes Zeugnis aus – womit er ins gleiche Horn bläst wie beispielsweise Margarete Buber-Neumann in ihren empfehlenswerten Erinnerungen.** Darin kommt auch das Ende von einer Freundin Kafkas vor, Milena Jesenská, mit der sich Buber-Neumann im KZ Ravensbrück angefreundet hatte.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
* Alexander Zinn, »Das Glück kam immer zu mir« / Rudolf Brazda – das Überleben eines Homosexuellen im Dritten Reich, Ffm 2011, bes. S. 242–48
** Als Gefangene bei Stalin und Hitler, urspr. Köln 1952, viele Ausgaben
Sollte man einen Schwerverbrecher, der als Polizeioberrat in Pension gehen durfte, übersehen? Brockhaus gelingt es. Das mag jedoch entschuldbar sein, weil wir, soweit ich sehe, erst neuerdings ein halbwegs verläßliches Bild von Konrad Rheindorf (1896–1979) haben.* Danach war er als junger Mann im Ersten Weltkrieg gehärtet worden. 1920 zur preußischen Schutzpolizei gestoßen, stieg er bis 1933 (in Weilburg und Kassel) bis zum Polizei-Hauptmann auf. Flugs in die NSDAP eingetreten (1. Mai 1933), sah er sich nun zunehmend wieder vor militärische Aufgaben gestellt, denn die »inneren Feinde« ruhten nicht. 1936 schon Polizei-Major, wurde er in Bochum und Witten (Ruhrgebiet!) als Hundertschaftsführer verwendet. Dann entdeckte ein Vorgesetzter Rheindorfs pädagogische Begabung, sodaß er 1941 an die Polizeioffiziersschule in Fürstenfeldbruck, Südbayern, versetzt wurde. Allerdings konnte er lediglich knapp zwei Jahre lehren, weil die Erfolge der Wehrmacht im Osten nach Stabilisierung schrieen. So wurde er Anfang 1943 zum Stab des Polizei-Regiments 25 nach Lublin, Polen, abgeordnet. Dazu bemerkt Autor Schreiner-Bozic, Kriminalbeamter und Forscher in München, der Bezirk Lublin sei, unter dem SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik, ein »besonderer Schwerpunkt in der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik« gewesen. Auch Rheindorfs Truppen hätten vor allem bei der Auflösung ländlicher jüdischer Gettos gewütet. Im November 1943 sei es auch zu der berüchtigten Aktion Erntefest gekommen, den »größten Massenerschießungen des Zweiten Weltkrieges« mit weit über 40.ooo Todesopfern in Majdanek und ähnlichen »Konzentrationslagern«. Dabei sei Rheindorf persönlich nicht anwesend gewesen, da er andernorts Partisanen zu bekämpfen hatte, doch als Regimentskommandeur müsse er genau im Bilde gewesen sein.
~~~ Um 1970 hatte Rheindorf Gelegenheit, in einem Ermittlungsverfahren, das nicht ihn betraf, durch einige falsche Aussagen »seine eigene Verantwortung und die seiner Einheiten kleinzureden und zu verleugnen« und alle Schuld auf Globocnik oder dessen Vorgänger Kintrup abzuwälzen. Allerdings habe man ihn anschließend weder für Kriegsverbrechen noch wegen der Falschaussagen belangt. Es kam (1974) gar nicht zum Prozeß, weil Rheindorf seine »Verhandlungsunfähigkeit« geltend gemacht hatte. Geduld muß man eben haben. Rheindorf war ja damals schon fast 80.
~~~ Zurück nach Lublin. Die Großstadt wurde im Juli 1944 von der Roten Armee eingenommen. Die näheren Umstände von Rheindorfs Gefangennahme seien nicht bekannt. In Deutschland galt er zunächst als vermißt. Nun hatte er aber in Fürstenfeldbruck eine Gattin mit zwei Söhnen, die nicht von Luft und Liebe leben konnten. Deshalb setzte die Ehefrau ein Entnazifizierungsverfahren in Gang – das am 10. Juni 1948 mit der Einstufung des Polizeichefs als »nicht betroffen« beendet wurde. Schließlich sei Rheindorf lediglich einfaches Parteimitglied, also weder in SS noch SA gewesen. Damit stand seiner Gattin Unterstützung zu. Mehr noch, bekam sie später sogar die vollständigen Dienstbezüge Rheindorfs, stellte sich doch heraus, daß ihm Besatzer- oder Landesbehörden nie gekündigt hatten. Sieben Jahre darauf, im Oktober 1955, kam auch der Gatte persönlich nach Fürstenfeldbruck zurück. Obwohl er 1950 in Minsk zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war, gewährten ihm die sowjetischen Behörden offensichtlich Strafverkürzung. Bereits im folgenden Herbst, 1956, habe er seinen Polizeidienst wieder aufgenommen. Schreiner-Bozic führt das auf eine tiefverwurzelte Seilschaft in der südbayerischen Schutzpolizei zurück, die ihren Kameraden Rheindorf bestens kannte und ihm die Stange hielt. Zuletzt Vizechef der Landpolizei im Regierungsbezirk Schwaben, schenkte man Rheindorf im Hinblick auf seine Pensionierung (Juli 1959) auch noch den eindrucksvollen Titel des Polizeioberrats, Aufstockung der Bezüge eingeschlossen.
~~~ Der Mann, der an blutigster Verfolgung zahlreicher polnischer Juden, Partisanen, Zigeunern und so weiter »mitgewirkt« hatte, so Schreiner-Bozics vorsichtige Formulierung, verbrachte seinen Lebensabend in Bad Homburg am Taunus. Dort starb er mit 83. Ich hoffe, die Ampel im Bad Homburger Stadtparlament gibt demnächst Grünes Licht für die Einrichtung einer Konrad-Rheindorf-Straße. Das wird die hessische »Kriegsertüchtigung« sicherlich bedeutend befeuern.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 32, August 2024
* Marcus Schreiner-Bozic, »Konrad Rheindorf: Eine typische Polizeikarriere in seiner Zeit?«, in: Band 11 der Buchreihe Täter Helfer Trittbrettfahrer, Hrsg Wolfgang Proske, Gerstetten 2021, S. 251–59
Als die bekannte Filmregisseurin Leni Riefenstahl (1902–2003) in ihrer Villa am Starnberger See ihren letzten Atemzug tat, war sie 101. Das nenne ich beachtlich. Noch mit 71 soll sie wegen einer neuen Leidenschaft für Unterwasserfotografie einen Tauchschein gemacht haben. Auch im Bestreiten zahlreicher Vorwürfe wegen ihrer Karrierefrau-Rolle im »Dritten Reich« zeigte sie sich hartnäckig. Am liebsten gab die ehemalige Berliner Tänzerin und Schauspielerin den politischen Einfaltspinsel. Sie hatte sich nie für Politik interessiert – immer nur für Kunst. Bei dieser Rolle konnte sie immerhin auf ihre erfolgreiche »Entnazifizierung« um 1950 bauen. Nach mehreren Spruchkammer-Verfahren fiel damals die Entscheidung, sie sei nur »Mitläuferin« gewesen. Dadurch verlor sie lediglich das passive Wahlrecht. Sie konnte also nie mehr die erste weibliche germanische Bundespräsidentin werden. Vor den Kammern hatte sie sich darauf berufen, nie Parteimitglied gewesen zu sein. Das entsprach ausnahmsweise den Tatsachen. Überdies hatte sie, wie üblich, ein paar günstige Persilscheine vorgelegt. Damit waren ihre berühmten Propagandafilme über drei NSDAP-Reichsparteitage sowie die Berliner Olympiade von 1936 vom Richtertisch gewischt. Zum Olympiafilm machte sie außerdem geltend, er habe auch im Ausland Lob und Preise eingeheimst. Sie war eben eine große Lichtspielkünstlerin. Nach etlichen Quellen war sie freilich auch enorm ehrgeizig, entsprechend willensstark und lügenfreudig und wiederholt recht skrupellos auf ihren Vorteil bedacht. Aber das sollen ja allgemein-menschliche Züge sein. Die hatte sie möglicherweise als eine der ersten deutschen Frauen überhaupt für sich reklamiert. Mit Adolf Hitler verstand sie sich blendend. Goebbels nahm sie noch 1944 in die Gottbegnadeten-Liste auf.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 32, August 2024
Siehe auch → Achtundsechzig, Dörnberg (Stanley Milgram) → Bontjes van Beek (Widerstand) → Gewalt, VerbrecherInnen über uns (Vereinzigartigung des F.) → Pesch (Horst Wessel) → Schwarberg (Mengele) → Band 4, Bott Jagdschein Kap. 6 (Ullrich/Bunke) → Band 5, Frau im Waagehäuschen, Kap. 6 (Ofenfirma Topf)
Flößen → Band 5, Floß für zwei
Wahrscheinlich vergeht kein Tag, an dem ich nicht mindestens zwei- bis dreimal »Scheiße«, »Mist«, »verdammt!« und dergleichen knurre oder gar schreie. Ich fluche also gern. Nur ist Fluchen leider unschön, wenn nicht gar, wegen Gottes- oder Bundeskanzlerlästerung, verboten. Im Mittelalter hätte man mich vermutlich öfter ins Trillerhäuschen gesperrt, auch Roll- oder Narrenhäuschen genannt. Es handelte sich um einen meist auf dem Marktplatz stehenden, zuweilen spitzbedachten, röhrenförmigen Käfig, der nichts anderes als einen besonders fortschrittlichen Pranger darstellte. Auf einer Art Töpferscheibe gelagert, war er nämlich drehbar. So konnte man den betreffenden Dieb, Rauf- oder Trunkenbold, Sittenstrolch und so weiter von außen in Bewegung setzen, bis ihm schwindlig wurde und er sich zum Beispiel erbrach. Hoffentlich nicht auf den drehenden anständigen Bürger. Durch seine Drehbarkeit war das Trillerhäuschen auch enorm platzsparend, sodaß es oft in einem Winkel zwischen zwei Häusern unterkam und sich gleichwohl noch bedienen ließ. Wer den Missetäter, darunter durchaus auch schon unzüchtige Weiber, anspucken wollte, konnte dies also trotz der Beengtheit in dem betreffenden Winkel von allen Seiten tun, ohne nun wie ein Göpelgaul im Kreis laufen zu müssen. Er konnte ihn natürlich auch gefahrlos mit faulen Eiern oder Tomaten bewerfen. War etwa ein grüner Spitzenpolitiker und Kriegstreiber eingesperrt, durfte man aber nur zertifikierte Bio-Ware nehmen.
~~~ Ursprünglich lag der Sinn des Fluchens allerdings nicht darin, den Fluchenden, vielmehr den Verfluchten zu strafen. Man baute dabei sogar auf Fernwirkung. Gott würde schon helfen – wenn es ihm schon einmal mißlungen war, einen Planeten zu erschaffen, auf dem Gerechtigkeit waltet. Riefe man heute per Handy Baerbock an, um sie als kriegsgeiles Weib zu verwünschen, würde natürlich gar nichts passieren. Außer, daß der Anrufer das Bundeskriminalamt und den zuständigen Staatsanwalt auf dem Hals hätte. Einige Seelenärzte weisen freilich darauf hin, man sollte die heilsame Innenwirkung des Fluchens oder Verwünschens nicht unterschätzen. Der Wutabfuhr bis hin zur Schmerzlinderung dienend, kann es sich mitunter ins Gegenteil verwandeln, den Segen. Bringt einen der Staatsanwalt dann, wegen der Baerbock, in den Bau, sitzt man wenigstens gesund und glücklich drin. Der Philosoph Spinoza und die nordamerikanische Mystikerin Renée Weber hätten sogar von »Seligkeit« gesprochen. Kommunarden kennen die Faustregel seit langem: kommen dir Dinge oder Verhältnisse in die Quere, die du nicht ändern kannst (zum Beispiel das Wetter oder das Weltwirtschaftsforum), mußt du deine Haltung zu ihnen ändern.
~~~ Selbstverständlich geht meinem alltäglichen Gefluche jede erlauchte politökonomische oder kosmologische Kragenweite ab. Es ist schlicht und ergreifend kindisch. Ich verfluche meinen Tretroller, meinen Papi, die in tausend Körnern gewälzten Brote (die Körner springen zu 90 Prozent ab), die thüringische Landesregierung (speziell Bodo Ramelow) oder gar meine abtrünnige Geliebte, weil mir diese Dinge nicht so zu Willen sind, wie ich es gerne hätte. Und warum? Weil ich mich für den Nabel der Welt halte. Dabei hat mich Gott lediglich als Arschloch der Welt erschaffen. Das ist die nackte Wahrheit.
∞ Verfaßt 2022
Flüchtlinge
Ansturm auf Pingos --- Das Problem der Vermassung der Menschheit* gibt mir wieder einmal eine Romanidee ein, die sehr wahrscheinlich nicht zu realisieren ist, jedenfalls nicht von meinem bescheidenen Kaliber. Sie baut auf der Annahme auf, die freie Inselrepublik Pingos habe bis in jüngste Zeit, 2015 vielleicht, durchgehalten und dabei auch ihre Unabhängigkeit und ihren Charakter bewahren können. Pingos, gesprochen ungefähr »Piehngus«, kommt in meiner letzten Schlackendörfer-Geschichte vor, Handlungszeit 1965/66 [inzwischen separat in → Band 4]. In der nördlichen Ägäis unweit der »kastonischen« (griechischen) Küste gelegen, umfaßt sie rund 5.000 Leute, die längs der umlaufenden Inselbahn in einigen Küstenortschaften leben. Es gibt keine »Streitkräfte«, vielmehr sind sämtliche Grundorganisationen der Republik bewaffnet. Was werden nun die BewohnerInnen des südlichen Dorfes X für lange Gesichter machen, wenn an ihrem Strand ein großes Schlauchboot landet, das mit mindestens 50 mehr oder weniger schwarzhäutigen und abgezehrten Gestalten vollgestopft ist? Wie sich rasch herausstellt, kommen sie aus Libyen und suchen hier, nach entbehrungsreicher Irrfahrt, Asyl – oder auch sonstwo ihr Glück.
~~~ Es liegt auf der Hand, daß die Ankunft von afrikanischen Flüchtlingen in einer kleinen anarchistisch gestimmten Inselrepublik wie Pingos gewaltige Probleme aufwirft, nicht zuletzt moralische. Zurückschicken kann man sie kaum. Wer wollte diese Menschen? Wo würden sie nicht schikaniert? Andererseits hat Pingos mit Grund sehr strenge Aufnahmebestimmungen. Es kann sich weder Dutzende oder gar Tausende von zusätzlichen hungrigen Mäulern noch neue Mitglieder leisten, die wahrscheinlich kaum den geringsten politischen und charakterlichen Anforderungen genügen. Bekanntlich flüchten auf den Booten nicht unbedingt die aufgeklärtesten und uneigennützigsten BewohnerInnen Afrikas. Wie soll man auf einen Schlag Dutzende von Konsumsüchtigen, Karrieristen, schnöden Gaunern oder auch nur seelisch und körperlich Zerrütteten verkraften?
~~~ Gewiß sind fürs erste Notlösungen denkbar. Vielleicht verwandeln sich diese sogar in Zündstoff, der einem Roman, der keine heile Welt vorgaukeln möchte, nur willkommen sein kann. Die schwarzen »Gäste« könnten sowohl mit lästigen wie angenehmen Überraschungen aufwarten: etwa Diebstahl hier, Bereicherung durch praktische Vorschläge dort; ein sexueller Übergriff – eine neue Liebe für ein Mauerblümchen; eingeschleppte Krankheit – Heilkunde aus dem Busch und dergleichen mehr. Weitere Konflikte werden sich selbstverständlich aus der Erörterung des Hauptkonflikts ergeben. Vielleicht sprechen sich etliche RepublikanerInnen für eine unbarmherzige Abschiebung aus. Andere zerfließen vor Mildtätigkeit. Neoliberale oder kommunistische Blätter aus aller Welt werden Pingos mit Häme und Verleumdungen übergießen. Vielleicht gibt es sogar vereinzelte einheimische Gewalttaten gegen die Flüchtlinge. Immerhin ist die gesamte Republik bewaffnet, wie ich oben betonte.
~~~ Schon diese Steiflichter deuten jedoch auf nichts weniger als eine Zerreißprobe hin, die der kleinen Inselrepublik mit der jüngsten weltweiten Auswanderungswelle bevorsteht. Hinzu kommt freilich ein schlechter Witz. Danach wird die erste Überraschung ja sehr wahrscheinlich keineswegs auch die letzte bleiben. Begegnet man nämlich der ersten Fuhre von 50 oder 70 Leuten mit Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft, kommen über kurz oder lang die nächsten Fuhren, weil sich die Angelegenheit in Windeseile bis zum Kap der Guten Hoffnung herumspricht. Schließlich schreiben wir 2015, da gibt es Satellitenfernsehen und Mobiltelefone. Ergo wird die Inselrepublik jede Wette von einer wahren Flüchtlingswoge überspült. Wehrt sie sich dagegen, wird sie unweigerlich militarisiert, verroht – und zerstört. Tut sie es nicht, erhalten wir das gleiche Ergebnis.
~~~ Ein weiteres Problem sehe ich in mir selbst, dem Autor. Es betrifft die Figuren der Flüchtlinge. Ich traue mir nicht zu, mich hinreichend in ihre Lage und ihre Haut zu versetzen und sie entsprechend überzeugend handeln zu lassen. Anton Tschechow, Martin Andersen-Nexö, Robert Merle hätten es gekonnt. Allgemeiner gesprochen, bin ich vom Naturell her ohnehin weder ein begnadeter Erzähler noch ein begnadeter Psychologe. Ich bin der letzte Aufklärer und der letzte Enzyklopädist. Nach mir die Sintflut.
∞ Verfaßt 2020
* Bezug auf eine früher vorausgegangene Betrachtung mit dem Titel »Raum ade«
Siehe auch → Faschismus, Ladogasee
Lieber KO, nachdem das berühmte Segelschulschiff unserer Marine Gorch Fock für ungefähr 135 Millionen Euro saniert worden ist, hat sich meine knallblonde Tochter gesagt, auf so einem teuren, schicken Renner würde sie sich als Matrosin sicherlich gut ausnehmen. Sie wissen ja, das Militär akzeptiert seit der rotgrünen Machtergreifung auch Weiber. Jasmin will sich also bewerben und übt an unserem Balkongeländer bereits das Selfie-Schießen an der Reling. Ihre Mutter tobt – zumal wir in der Ex-Platte ganz oben wohnen. Sollte man aber solcher emanzipativen Forschheit, wie Jasmin sie verkörpert, Steine in den Weg legen? Ergebenst Ihr Arnold F., Halle-Neustadt.
~~~ Lieber Herr F., ich will kein Blatt vor den Mund nehmen und Ihnen versichern, der Namensgeber des berühmten Segelschulschiffs war ein Arschloch. Offiziell gilt er als Schriftsteller. Zwar bemühen sich immer mal wieder einige AnhängerInnen, Gorch Fock zum »Karl May des Meeres« auszurufen, doch bislang überdauerte sein Name weniger in seinen Büchern, dafür in Straßen, Schulen, Plätzen, Mettwürsten, Schnäpsen und eben jenem Renner, in den sich Ihre Jasmin verliebt hat. Dessen Vorläufer war am 3. Mai 1933, also vermutlich unter Hakenkreuzfahnen, auch schon als Gorch Fock vom Stapel gelaufen. Fock selber, geboren 1880, wuchs auf Finkenwerder (Hamburg) als Sohn eines Hochseefischers auf. Zu seinem Leidwesen als seeuntauglich befunden, war er notgedrungen Buchhalter geworden. Ab 1904 hielt er sich freilich als Schriftsteller schadlos, indem er das Fischer- und Matrosenleben und den beifallsträchtigen Kampf gegen die Naturgewalten in zumeist auf plattdeutsch verfaßten Texten verherrlichte, die rasch Zuspruch fanden. Seinen Roman Seefahrt ist not! kannte und liebte zumindest an der »Waterkant« jedes Kind, das sich nach verwegenen, oft auch vaterländischen Heldentaten verzehrte. Die Hamburger Schulbehörde bestellte 1913 gleich 8.000 Exemplare, angeblich die gesamte zweite Auflage, »um sie den Schulabgängern (nur den Jungen!) als Weihnachtsgabe zu überreichen«, wie mich ein Hamburger Gewerkschaftler belehrt.* Das müßte mir mal passieren!
~~~ Andererseits sehe ich ein, daß auch Frauen Arschlöcher haben und daher neuerdings mit Macht zur Macht drängen. Nur sind die Chancen, Jasmin könnte sich unter 23 knallweißen Segeln unbemerkt bis zur Krim vorpirschen, doch eher gering. Hat sie einen Führerschein? Na also. Ich schlage vor, sie bewirbt sich bei einem Panzerbataillon. Auf den Panzern, mit denen Baerbock jetzt verstärkt den Herren Biden und Selinski in den Arsch kriecht, sind Männer wie Frauen stets gut getarnt (meistens braun). Auf diesem Wege wird es gelingen, ganz Rußland zu unterwandern und im entscheidenden Augenblick, wenn Nato-Chef Stoltenberg das Signal dazu gibt, überall die orangefarbenen Flaggen durch die Gully-Roste zu recken.
~~~ Auch Gorch Fock kämpfte, als Freiwilliger des Ersten Weltkrieges, zunächst bescheiden als Landratte, nämlich bei der Infanterie. Im Frühjahr 1916 setzte er allerdings doch noch seine Seetaufe durch: er wurde Matrose auf dem Kreuzer SMS Wiesbaden, wohl vornehmlich als Ausguck und Berichterstatter verwendet. Mit diesem Schiff ging der 35jährige Patriot und Familienvater noch im Mai desselben Jahres in der berüchtigten Skagerrakschlacht (gegen die Briten) glorreich in der Nordsee unter.
~~~ Hatte Ihre Tochter eigentlich in Mathematik gute Noten? Sie könnte doch einmal erwägen, was man bereits mit einer Million Euro alles anstellen kann. So ließen sich dafür sicherlich etliche Kilometer Autobahn in Gemüsefelder umwandeln. Und dann erst für jene 135 Millionen von der Schulschiffssanierung! Es käme glatt zu Überproduktion, sodaß wir das halbe Gemüse nach Afrika oder Asien verschenken müßten. Bundesverkehrsminister Wissing soll freilich anders drauf sein. Er möchte die Autobahnen dichter und breiter haben, und dies so schnell wie möglich. Auf den angebauten Spuren könnten die Autokonzerne dann ihre Halden-Modelle parken, damit sie nicht in den Himmel wachsen, die Halden. Ich fürchte, im Mittelalter hätten sie so einen wie Wissing einfach mal für ein paar Monate, zur Erholung der Pferde, vor die im Wegebau eingesetzten Steinwalzen geschirrt.
~~~ Nebenbei, Herr F.: Achten Sie einmal darauf, wie sehr wir in den jüngsten Jahrzehnten darauf getrimmt worden sind, eine Million als Klacks oder Peanuts zu empfinden. Das ist natürlich nur ein Seitenstück zu der Entwertung, die wir auch auf dem Finanzmarkt oder auf den Schlachtfeldern beobachten können. Nur wenn die Frage so steht, ob 135 Millionen Ukrainer genauso viel wert sind wie 135 Millionen Russen, wissen bereits Grundschüler-Innen die korrekte Antwort. Die Ukrainer sind hundertmal soviel wert.
∞ Verfaßt 2023, für die Blog-Rubrik Kummerkastenonkel
* Ralph Busch, »Schwieriges Gedenken an Gorch Fock«, hlz (GEW Hamburg), 7–8 / 2016: https://www.gew-hamburg.de/sites/default/files/download/hlz/hlz_2016_juli-august_gorch_fock.pdf
Folter → Todesstrafe
Im Brockhaus fehlt der Sohn eines finnlandschwedischen Pfarrers Bengt Gottfried Forselius (1660–88), obwohl er meist als Begründer des estnischen Volksbildungs-wesens gilt. Nach dem Gymnasium in Reval (Tallin) und einem Studium der Rechtswissenschaft in Wittenberg widmete sich Forselius der Unterrichtung estnischer Bauernkinder nach neuen Methoden, die auf Johann Amos Comenius zurückgingen. Dabei stützte er sich auf zahlreiche eigenhändige Übersetzungen religiöser und weltlicher Texte ins Estnische, außerdem vereinfachte er die Schreibweise des Estnischen und entwickelte das erste estnische ABC-Buch. 1684 gelang es ihm sogar, in Bischofshof bei Dorpat (Tartu) eine von ihm geleitete Schule zu eröffnen, die sich auftrug, junge Werktätige innerhalb zweier Jahre zu Volksschullehrern auszubilden. Neben Lesen und Schreiben wurde Deutsch, Religion, Gesang, Rechnen und Buchbinden unterrichtet. Dieses »Lehrerseminar« wie auch die überall entstehenden »Kirchspielschulen« erfreuten sich der Unterstützung des livländischen Generalsuperintendeten Johann Fischer und damit auch des schwedischen Staates, nicht dagegen des deutschbaltischen Adels. Für dessen Empfinden genügte es, wenn Bauernkinder Steine vom Acker lesen und genau bezeichnete Bäume fällen konnten.
~~~ Das Verhängnis für Forselius lauerte allerdings nicht auf der heimatlichen Scholle. Im Sommer 1688 reiste er auf Einladung des schwedischen Königs nach Stockholm, um seine »fortschrittlichen« volksnahen Lehrmethoden vorzustellen. Seine eigens mitgereisten Schüler Ignati Jaak und Pakri Hansu Jüri beeindruckten König Karl XI. genug, um Forselius zu einer Art Schulinspektor für Livland zu ernennen und mit entsprechenden Befugnissen auszustatten. Doch auf der Rückfahrt im Spätherbst des Jahres geriet Forselius‘ Schiff auf der Ostsee in einen Sturm – der ungefähr 28jährige Pädagoge ertrank, angeblich am 16. November 1688. Trotz dieser Zeitangabe ist über das Unglück so gut wie nichts in Erfahrung zu bringen. 1827 war in einem Nachschlagewerk zu lesen*, neben Forselius seien sämtliche »Passagiere« des Schiffes umgekommen, was hieße, auch seine beiden Vorzeigeschüler. Der Name des Schiffes wird nicht genannt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 12, März 2024
* J. F. von Recke / K. E. Napiersky / Th. Beise: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexicon der Provinzen Livland, Esthland und Kurland, Band 1, Mitau 1827, S. 596
Fortschritt
Als 30jähriger trat der bald darauf berühmte polnische Schriftsteller Henryk Sienkiewicz (1846 –1916) eine ausgedehnte Reise durch Nordamerika an. Das war 1876. Bei einer Jagdexpedition, die sich am North Platte River, Wyoming, orientierte, kam er sogar den Black Hills, die ich von → Welskopf-Henrich her schon fast wie meine Westentasche kenne, immerhin bis auf Sichtweite nahe. Als Jahreszeit nennt er in seinem nie langweiligen Buch Briefe aus Amerika den Frühherbst oder »Indian Summer« (Altweibersommer), wahrscheinlich des Jahres 1876, vielleicht auch 77. Es war genau die Zeit, in der jenes eindrucksvolle Bergmassiv, das den Prärieindianern als heilig galt, hoffnungslos von Goldschürfern überlaufen wurde, deshalb berichtet der Pole davon. Ihm zufolge waren die Black Hills den Sioux erst 1874 von der US-Regierung feierlich als Heimstatt zugesprochen worden, doch der Goldrausch fegte auch diesen Vertrag alsbald in alle Winde. Zunächst kamen, im Herbst 1874, rund 30 gut bewaffnete Abenteurer, die sich durchs »feindliche« Indianerland schlugen; im Mai 1875 hätten im Kies des French Creeks bereits 5.000 nach Gold geschürft. Während es die Regierung gegenüber den Eindringlingen im wesentlichen bei Ermahnungen beließ, ging sie gegen die sich wehrenden Sioux bekanntlich mit Pulver und Blei vor. Sienkiewicz sympathisiert natürlich mit den Indianern, wenn er auch wiederholt ihren »impertinenten« Körpergeruch beklagt. Er führt sogar die bald darauf legendäre, für die Sioux ausnahmsweise siegreiche »offene Feldschlacht« am Little Bighorn vom Juni 1876 und die beiden Häuptlinge Crazy Horse und Sitting Bull an.
~~~ Beim selben Planwagen-Treck durch die Prärie, der hauptsächlich auf Antilopen und Büffel geht, treffen die Jäger auch eine Bärin mit zwei Jungen, woraus sich eine fast zirkusreife Nummer ergibt. Die angeschossene Bärenmutter verfolgt Expeditionsleiter Woothrup, der sich zu einem Baum flüchtet, diesen in seiner Panik jedoch lediglich mit Armen und Beinen umklammert, statt ihn zu erklettern. Die wutschnaubende Bärin hätte ihn sicherlich zerfleischt, wenn ihr nicht eins ihrer Jungen zwischen die Hinterbeine geraten wäre, als sie sich bereits in Woothrups Rücken furchterregend aufrichtete. Das Kind brachte sie zu Fall. Das steigerte den Zorn der Bärin gewaltig, lenkte ihn freilich auf das ungeschickte Bärenjunge, das sie unter Gebrüll sogleich mit schweren Prankenhieben bearbeitete, wodurch es umkam. Doch inzwischen waren andere Jäger zur Stelle und erschossen die Rasende mit ihren Henrystutzen. Das zweite Bärenjunge wurde eingefangen und – an eine Kette gelegt – dem Treck eingegliedert. Woothrup kam mit dem Schrecken und der Zerknirschung davon. Nicht schlecht war der Scherz, den sich der alte Trapper Left Hand abends am Lagerfeuer erlaubte. Es sei sicherlich sehr umsichtig, sich vor einem angreifenden Bären auf einen Baum zu flüchten, nur dürfe man dabei nicht »das falsche Ende« des Stammes erwischen.
~~~ Wie vom Nachwortautor meiner Ostberliner Ausgabe der Briefe aus Amerika zu erfahren ist (Heinz Olschowsky, 1969), schwebte Sienkiewicz und einigen anderen Emigranten zunächst vor, in Kalifornien Land zu kaufen und eine Art Kommune oder Künstlerkolonie zu gründen, wobei sie sich angeblich am Modell der bekannten, gleichfalls schon gescheiterten Bostoner Brook Farm orientierten. Dieses Vorhaben zerschlug sich, obwohl es in Anaheim zu einem Landkauf gekommen sein soll. Zu den Betreibern und Geldgebern des Projekts hatte auch die polnische Schauspielerin Helena Modrzejewska gehört, die mit einem Gutsbesitzer verheiratet war. Sie wurde dann in den Staaten ebenfalls wieder als Bühnenfee gefeiert. Ich wäre nicht erstaunt, wenn alle Beteiligten an jenem Vorhaben in sie verliebt gewesen wären und damit guten Zunder an das Unternehmen gelegt hätten. Sienkiewicz selber war, nach der Reise, im ganzen dreimal verheiratet. Er starb 1916 mit 70 (und Nobelpreis) in der Schweiz.
~~~ Zumindest als junger Mann zählte Sienkiewicz unübersehbar zu den Anbetern der mächtigsten Ideologie der Weltgeschichte, des sogenannten Fortschritts. Zwar gibt er zu, bislang hätten die weißen Sendboten des Fortschritts den Indianern vor allem Branntwein, Pocken, Syphilis und andere unbekannte Verelendungsmittel gebracht, doch wenn man den Rothäuten nur etwas mehr von der Zeit ließe, die wir in Europa für die Entfaltung der Zivilisation genossen hätten, und sie geduldig in Demokratie statt im Schußwaffengebrauch unterweise, könnten sicherlich auch sie auf dem Wege westlicher Weißheit fortschreiten. Hier erscheinen Fortschritt und Zivilisation ganz zeittypisch als unbezweifelbare Grundwerte, als Ding oder Sinn an sich des Menschengeschlechts. Immerhin räumt Sienkiewicz einmal ein, wenn eine hohe Zivilisation »nicht auch Glück« gewährleiste, möge man sie lieber über Bord werfen und wieder auf allen Vieren kriechen, aber was sie denn um Gottes willen sonst noch zu gewährleisten habe, außer Glück, bleibt so andächtig stimmend und verschwommen wie der Frühnebel des Indian Summers, der auf der Prärie liegt. Hat sie höhere Aufträge zu erfüllen, und bitte, welche denn? Ist sie aus ökologischen Gründen unabdingbar? Soll sie die Reise zu Planeten vorbereiten, auf denen uns paradiesische Zustände erwarten? Im übrigen läßt sich ja auch gar nicht leugnen, daß die Yankee-Zivilisation durchaus einigen Menschen Glück beschert hat. Ich denke beispielsweise an den steinreichen Filmzaren Adolph Zukor, der sogar steinalt wurde, 103. Ihm soll die Welt wichtige Streifen wie Ein Bandit von Ehre (Jesse James, 1927) und Dr. Jekyll und Mr. Hyde (1931) verdanken. Auf ihn komme ich unter → Fotografie zurück.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
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