Dienstag, 7. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 11
Duell – Erziehung

Die letzte, tödliche Dummheit des Politikers Ferdinand Lassalle (1825–64) nennt Brockhaus lieber nicht so. Er nennt sie Duell. Lassalle war studierter Philosoph, Rechtsbeistand einer Gräfin und »Gründervater« der deutschen Sozialdemokratie. Er selber wurde nicht alt, weil er, nach revolutionären Anfängen um 1848 im Verein mit Marxens Neuer Rheinischer Zeitung, bieder, eitel und hitzköpfig genug war, sich im August 1864 seiner Flamme Helene von Dönniges zuliebe in einer Genfer Vorstadt mit deren störrischem Erzeuger auf Pistole zu duellieren. Der 50jährige Diplomat Wilhelm von Dönniges war freilich so klug oder abgefeimt, sich beim eigentlichen Waffengang von seinem Wunsch-Bräutigam der Tochter vertreten zu lassen, dem rumänischen Bojaren Janko von Racowicza. Prompt schoß der feurige Baron vom Balkan den Präsidenten des erst im Vorjahr gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) empfindlich in den Bauch. Drei Tage später erlag Lassalle seiner Verwundung vom Felde der Liebe. Seine AnhängerInnen begruben den redegewandten 39jährigen Arbeiterführer auf dem Alten Jüdischen Friedhof zu Breslau und riefen ihm auf dem Grabstein nach: »Hier ruhet, was sterblich ist, von Ferdinand Lassalle, dem Denker und Kämpfer.«
~~~ Alexander Herzen hätte sich 1852 um ein Haar aus ähnlichen Gründen mit seinem Kollegen und Nebenbuhler Georg Herwegh duelliert. In seinen Erinnerungen* meint er, die Unsinnigkeit des Duells zu beweisen, lohne nicht; »theoretisch rechtfertigt es niemand, mit Ausnahme irgendwelcher Raufbolde oder Fechtlehrer, aber in der Praxis unterwerfen sich ihm alle, nur um – der Teufel weiß, wem – ihre Tapferkeit zu beweisen. Die übelste Seite des Duells besteht darin, daß es jeden Schurken rechtfertigt, entweder durch seinen ehrenhaften Tod oder dadurch, daß es aus ihm einen achtbaren Mörder macht.«
~~~ Allerdings ist der ritualisierte Zweikampf keine romantische Erscheinung; er ist ungefähr so alt wie Kain und das Phänomen der Konkurrenz. In unserem Mittelalter war er streckenweise eine Form des Entscheidungsmittels Gottesurteil. Wahrscheinlich fußte dieses auf dem Glauben, Gott werde einen Gerechten schon nicht im Stich lassen, werde ihn also zum Sieg oder zum Ausharren führen – wenn es etwa galt, barfuß über ein paar glühende Pflugscharen zu wandeln. Die Eskimo sollen schlitzohrig genug gewesen sein, um das »Duell« zwischen Widersachern oder Beschuldigten nur gesanglich auszutragen. Die Betreffenden hatten sich mit Spottliedern zu bekämpfen. Da hätte ich persönlich wahrscheinlich gar nicht so schlechte Karten. Beispielsweise könnte ich mein Stück „Ein Duckmäuser“ aus dem vergangenen Jahr zum Besten geben.**

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
* Mein Leben / Memoiren und Reflexionen, Ostberliner Ausgabe, Band 2 (1963) S. 362
** https://siebenschlaefer.blogger.de/static/antville/siebenschlaefer/files/duckmaeuser.pdf




Im Gegensatz zu seinen marxistisch gestimmten Eltern war der Berliner liberale Psychologe Karl Duncker, geboren Anfang Februar 1903, eher unpolitisch. Ab 1936/38 Emigrant in England und den USA, wohnte er zuletzt wieder mit seiner geflüchteten Mutter Käte zusammen. Er starb 1940, erst 37 Jahre alt, diesmal Ende Februar. Heute wird er zu den Kapazitäten der »Gestaltpsychologie« der Berliner Schule gezählt. Duncker galt als ausgesprochen begabt und fruchtbar, brachte es freilich, wohl wegen einiger Feindschaften gegen ihn und seine Arbeitsstelle, nie zu einem Lehrstuhl. Bis zu seiner Amtsenthebung im Sommer 1935 war er am Psychologischen Institut der Berliner Universität »nur« Assistent gewesen. Seine Habilitation wurde blockiert, obwohl er ausdrücklich versichert hatte, »nie Kommunist oder Sozialdemokrat« gewesen zu sein (Wendelborn S. 104). Zuletzt, ab 1938, hatte er sich, am US-Swarthmore College (bei Philadelphia, Pennsylvania), mit dem Posten »Instructor« zu bescheiden. Folgt man Sören Wendelborns gründlicher, wenn auch üblich fremdwortlastiger Studie*, hatten die Belange der beruflichen Laufbahn keinen unerheblichen Anteil an Dunckers Schritt, sich 1940 in einem Waldstück bei Baltimore zu erschießen. Ich nehme an, die nahe Großstadt im benachbarten Staat Maryland ist gemeint, wo sich Duncker nach Vermutung seiner Mutter zuvor die Schußwaffe besorgt hatte (S. 140). Man fand den Emigranten nebst »wirr« beschriftetem Zettel in seinem unter Bäumen geparkten Wagen. Für die Nachschlage-werke erfolgte sein Schritt aus der bekannten, alles und nichts sagenden »Depression« heraus.
~~~ Dunckers Eltern Käte und Hermann, beide Lehrer, waren stramme Kommunisten, versuchten jedoch, die politisch »neutrale«, vielleicht sogar »einfältige« Warte ihres ältesten Sohnes in Kauf zu nehmen. Bei der Mutter hatte er sogar einen dicken Stein im Brett. Man konnte zuweilen glauben, Karl sei ihr Liebhaber. Mit Hermann war sie eher unglücklich. Was ihren Liebling angeht, tat sich der mit anderen Frauen offensichtlich ziemlich schwer. Seine 1929 mit Gerda Naef geschlossene Ehe hielt keine drei Jahre lang (S. 37). Die wissenschaftliche Arbeit war ihm viel wichtiger. Man gewinnt den Eindruck, Dunckers geschlechtlichen Begierden seien entweder von Natur aus mager oder aber von ihm selber in eine Flasche eingekorkt gewesen, die er manchmal in sicherer Entfernung auf dem Wasser schwimmen ließ. Jedenfalls scheute er, obwohl als durchaus »charmant, liebenswürdig und gutaussehend« beschrieben (S. 34), Nähe. Wendelborns Material legt den Verdacht nahe, dafür sei Duncker einfach zu stolz, hochmütig, ja selbstverliebt gewesen. Es ist kein Widerspruch dazu, wenn er es auch wieder schätzte, zu leiden und Opfer zu sein. Bei seinem Ehrgeiz war er darauf aus, der »Welt seinen Stempel aufzudrücken«, wie Wendelborn formuliert (S. 40), doch seine Ängste und Arbeitsschwierigkeiten ließen ihn darin immer wieder stolpern. Er sei im Grunde ein Zerrissener, ein »Unentschiedener« gewesen, sagt Wendelborn (S. 206). Somit entbehrte er einer inneren Festigkeit, auf der man einigermaßen sicher stehen konnte. Das wäre ihm wohl zu beschränkt gewesen. Schließlich wünschte er über den Dingen zu stehen. Wahrscheinlich war es Karlchen nie vergönnt, den Größenwahnsinn des Kindes abzulegen. Entsprechend behauptet Wendelborn, er habe sich nie ausreichend von seinen Eltern, zumal seiner Mutter, gelöst. Aber wem gelingt das schon.
~~~ Einem Brief der Mutter an ihren Gatten aus dem Todesmonat verdanken wir recht bündige Behauptungen über das Selbstmordmotiv. »Die Angst vor einem völligen Versagen seiner Arbeitskraft u. die Verzweiflung darüber; das Zusammentreffen unglücklicher Zufälligkeiten u. Umstände; der Wunsch Köhlers, ihm durch Stellung leichter Aufgaben zu helfen, was ihn nur noch mehr entmutigte (denn er meinte auch ihnen nicht mehr gewachsen zu sein) u. ihn demütigte; die Angst, dem College zur Last zu fallen; wohl auch die Verantwortung für uns beide – all das hat mitgewirkt, das Leben war einfach zu schwer für ihn.« (S. 140)
~~~ Ein Eingehen auf die von Wolfgang Köhler und Max Wertheimer geprägte »Gestaltpsychologie« bitte ich mir zu erlassen. Zum einen dürfte sie in solchen Problemfällen eine echt nebensächliche, zufällige Rolle spielen. Als Anfertiger bestimmter Gesundheitssandalen oder Erfinder eines neuen dreifach geschraubten Sprunges beim Eislaufen hätte Duncker die gleichen Probleme gehabt. Zum anderen gibt es ungefähr so viele psychologische, wahlweise philosophische Schulen, wie es spaltbare Haare auf einer gut durchbluteten Kopfhaut gibt. Sie alle teilen mit den Gesundheitssandalen und dem Eislaufsprung das Fruchtlose und somit Überflüssige. Aber für die Karriere sind sie oft nützlich, und deshalb folgt Abzweig auf Abzweig auf Abzweig, bis man von der Wirklichkeit und der Wahrheit kein Fitzelchen mehr sieht.
~~~ Neben Schwester Hedwig, die Ärztin und steinalt wurde, hatte der Gestaltpsychologe noch einen jüngeren Bruder – der auch jünger umkam. Wolfgang Duncker (1909–42) trat in die Fußstapfen seiner Eltern, wurde kommunistischer Journalist, wohl speziell Filmkritiker. Nach Wendelborn war er vorwiegend für Berlin am Morgen, eine Tageszeitung aus dem »roten« Münzenberg-Konzern, tätig. Wohl 1935 traf Wolfgang (mit Gattin Erika) im Gelobten Land ein, in Moskau also, wo er als Schnittmeister (Cutter) gearbeitet haben soll. Allerdings sah er sich bald darauf verhaftet, angeblich wegen seiner Nähe zu Bucharin. Er soll mit 33 vor »Entkräftung« im Gulag von Workuta, Nähe Nordmeer, gestorben sein. Frau und Sohn überlebten. Vermutlich bewog das über Jahre hinweg ungewisse Schicksal ihres Jüngsten die Mutter Käte Duncker mit dazu, sich nach dem Krieg in der DDR von der SED fern zu halten.

∞ Verfaßt 2023
* Sören Wendelborn, Der Gestaltpsychologe Karl Duncker, Peter Lang Verlag, Ffm 2003




Dursey (Insel) → Band 5, Der Untergang des Werner Motz



In einem Text über Liselotte Welskopf-Henrich erwähne ich den »befremdlichen Ehrenkodex der Prärieindianer« – dem die DDR-Autorin huldigt, weil er anscheinend »voll auf der Linie« des Adolf-Hennecke-Sozialismus gelegen habe. Auch ihr sowjetrussischer Kollege Ilja Ehrenburg hat es, bei diesem Namen vielleicht kein Wunder, mit der Ehre. Im Zusammenhang mit dem Spanienkrieg (1936–39) führt er in seinen Erinnerungen die Bemerkung des republikanischen Kommandanten Grigorowitsch an, für uns sei »Ehre« ein altmodischer Begriff – hier jedoch, in Spanien, brauche man bloß die erste beste Bauernhütte zu betreten: »Der Mann ist Analphabet, aber was Ehre ist – das weiß er genau. Genauso gut wie ein alter Ritter …«
~~~ Ja, was wäre sie denn, die Ehre? Bei Ehrenburg verraten es uns weder Grigorowitsch noch der Autor selbst. Das ist schade, denn in Wahrheit steht die Ehre bis zur Stunde in aller Welt so hoch im Kurs, daß zum Zwecke ihrer Erlangung, Wahrung oder Rettung die ungeheuerlichsten Opfer in Kauf genommen werden, von Ohrfeigen über grausame »Ehrenmorde« bis zur Verteidigung der Ehre der USA durch ganze Geschwader aus Bombern und Drohnen. Vielleicht verstand sich die Ehre für den UdSSR-Autor von selbst. Der Satz »Ich bin Spanier« fällt in dem betreffenden Buchkapitel auf jeder zweiten Seite. Offenbar vermählt sich Männerehre gern mit Nationalstolz. Auf der Prärie ist man eben »Dakota« gewesen, im Bezirk Erfurt Die DDR, das sind wir. So die Parole auf einem verstaubten 1.Mai-Plakat mit Rote-Fahne-schwingenden Werktätigen, das ich neulich im thüringischen Waltershausen auf einem Speicher entdeckte. Die Parole erinnerte mich peinlich an die Nazi-Losung Wir sind Deutschland, die Werbefachleute im »rotgrünen« wiedervereinigten Deutschland um 2000 gern wieder aufgegriffen haben. Alle stolzen Indianer oder Volksgenossen lieben ihr Territorium und verteidigen die darauf herrschende Freiheit bis zum letzten Blutstropfen. Allerdings waren die Franco-Faschisten nicht weniger »Spanier« als ihre anarchistischen Feinde – und liebten die Freiheit nicht. Nur die Ehre scheint sich durch sämtliche ideologische oder nationale Lager zu ziehen. Wahrscheinlich kann sie dabei auf eine Verwechslung von National- und Besitzerstolz mit Menschenwürde bauen. Während Würde jedem Menschen von Natur aus zukommt, kann sich der verbreitete Stolz auf unsere Besitztümer, je nach Geburt, Lage und Gelegenheit, an durchaus sehr verschiedene, zufällige Dinge und Phänomene heften, wie man vielleicht zugeben wird. Er ist vom jeweiligen Subjekt und dessen Launen abhängig. Wechselt meine Sympathie, wechselt oft auch mein Ehrgefühl. Nur ein Waltershäuser Fan von Schalke 04 hat sein Haus auf Lebenszeit blau-weiß getüncht.
~~~ Der 1994 gestorbene Schriftsteller Bernt Engelmann dürfte der verdienteste Autor einer deutschsprachigen Geschichtsschreibung von unten sein, den wir zu bieten haben, aber selbst er sitzt in seinen Büchern dem Nebel des Patriotismus auf, den gewisse Sozialisten und Kommunisten hartnäckig als Rauchfahnen des Freiheitskampfes ausgeben. Auch die DDR pflegte ja sogenannte »nationale Befreiungsbewegungen« blanko zu unterstützen, sofern sie nur fleißig die Grußadressen an Stalin oder Breschnew unterschrieben. Engelmann verbucht besonders alles, was in den Jahrzehnten um 1848 die »deutschen Einigungsbemühungen« befördern half, automatisch auf der »fortschrittlichen« Seite. Insofern war auch der erzreaktionäre Kanzler Fürst von Bismarck fortschrittlich, der die ankapitalisierten deutschen Zwergstaaten in die Marktgemeinschaft, das Dritte Reich und schließlich in die sogenannte Globalisierung führte. Der psychologische Umstand, daß bereits ein gefeierter Popanz wie »gemeinsamer Sprachbesitz« für Narzismus und Imperialismus anfällig macht, entging Engelmann genauso wie der Gesichtspunkt des Machtmißbrauchs, der durch Zentralisierung, Vergrößerung, Verschleierung immer besten Nährboden findet.
~~~ Kommen wir auf die Ehre zurück, die die Würde praktischerweise gleich mitmeint. Werde ich verachtet, benachteiligt, zum Abschuß freigegeben, weil ich Spanier bin, kann ich wohl zurecht das Gefühl haben, meine Würde stehe auf dem Spiel. Doch das gälte auch für anderes. Wenn es etwa hieße: weil er ein Außenseiter, weil er ein armer Schlucker, weil er ein Dünnhäuter ist. Hier fehlt es schlicht an Achtung vor dem Anderen. Er muß genauso wichtig oder unwichtig sein wie ich. Wir haben beide Würde. Soll ich ihn aber deshalb bewundern? Kann er beanspruchen, verehrt und bedient zu werden, weil er zufällig Spanier, 1,92 groß oder Entdecker von mehreren tropischen Schmetterlingsarten ist? Hätte er wenigstens den Knopf im Gehirn entdeckt, an dem man den Verehrungstrieb ausstellt! Jedenfalls rate ich davon ab, das Gefühl von der eigenen Würde an Ver- oder Entehrung zu koppeln. Vielleicht sollte das Wort Ehre der Selbstachtung vorbehalten sein. Sie könnte womöglich einmal auf dem Spiel stehen – wenn ich gegen mein Gewissen oder meine Überzeugungen verstieße. Aber auch sie sind immer noch meine. Es ist ein Teufelskreis.

∞ Verfaßt 2013


Der französischer Lehrer und Schriftsteller Louis Pergaud (1882–1915) ist vor allem aufgrund seines angeblich großen Wurfes La Guerre des boutons berühmt (Der Krieg der Knöpfe, Paris 1912). Die deutschsprachige Ausgabe erschien bei Rowohlt ab 1964, darunter in der Reihe rororo rotfuchs, genauer 63.–70. Tausend April 1987. Befremdlicherweise sind sowohl die beiden Herausgeberinnen dieser Reihe als auch die Knöpfe-Übersetzerin (Gerda v. Uslar) Frauen. In Pergauds vielaufgelegtem und wiederholt verfilmtem Knüller, der die Feldzüge einer dörflichen Knabenschar ausbreitet, kommen Frauen nämlich bestenfalls am Rande vor. Die Mütter zetern; eine kleine Schwester darf gelegentlich Knöpfe oder Schnallen annähen, falls es dem Feind einmal gelang, die Kleider der Knaben (aus Longeverne) zu plündern. Der Feind wohnt im Nachbardorf Velrans und besteht gleichfalls ausschließlich aus Knaben. Man trifft sich ziemlich regelmäßig zu Schlachten in einem nahen Busch- und Steinbruchgebiet. Nur der Feind ist übrigens hinterhältig, dumm und so weiter. Er war es schon immer, geht der Bandenkrieg doch auf eine uralte Zwietracht zwischen den beiden Dörfern zurück, die selbstverständlich gepflegt werden muß.
~~~ Die Warte des Feindes, der Velraner also, nimmt Erzähler Pergaud nie ein, aber einen von denen tauft er »Schiefmaul«, das sagt ja wohl alles. Gegen Buchende haben die meist siegreichen Longeverner unter einem Verräter zu leiden. Der heißt eigentlich Bacaillé, wird aber plötzlich »der Krummbeinige« genannt. Und selbstverständlich wird er dafür, den Velranern die Hütte und den Schatz der Longeverner ausgeliefert zu haben, tüchtig bestraft. Die 30 oder 40 Krieger der Longeverner dürfen den Gefesselten reihum mit Weidenruten auspeitschen, bis er blutet wie ein Schwein. Vorher hat er seinen Verrat »gestanden«: weil ihm seine Ex-Kameraden übelste Folter androhten. Man glaube nicht, die beiden Kinderbanden würden lediglich Krieg spielen. Die Weidenruten sind so echt wie die Steine, mit denen sie sich bewerfen, und wie die Knüppel, mit denen sie sich auf die Mützen hauen. Daß bei solcher Handgreiflichkeit noch kein Auge ausgeschlagen wurde, darf stark bezweifelt werden. Einem erwachsenen Betrunkenen spielt man den »Streich«, ihn im Dunkeln über dutzendfach im Dorf gespannte Seile stolpern zu lassen – erstaunlicherweise bricht er sich nicht den Hals. Man befleißigt sich also der Brutalität, die einem die Väter, Lehrer, Soldaten vormachen. Dabei geht es weder um Land- noch Geldgewinne, nimmt man die Knöpfe und Schnallen einmal aus. Diese wichtigen, erbittert umkämpften Kurzwaren zeigen übrigens schon schlagend das Nichtspielerische dieses Abenteuerbuches an. In der christlichen Jungschar um 1960 hatten wir Knaben bei den Geländespielen je nach Partei verschieden gefärbte Wollfäden ums Handgelenk gebunden, die »Lebensfädchen«. Wer sein Lebensfädchen verlor, weil sie ein Gegner abgerissen und eingesackt hatte, war »tot«. Bei Pergaud jedoch müssen es schon echte Knöpfe und Schnallen sein, die wirkliche Lücken reißen, wenn sie dem Feind zur Beute fallen, und die dann zu Hause mitunter für eine zusätzliche, wirkliche Tracht Prügel sorgen.
~~~ Vor allem aber rauben sie dem Besiegten, der nun ohne Knöpfe und Schnallen dasteht, beziehungsweise seinem Verein die Ehre. Um sie dreht sich alles, es ist der Lieblingsbegriff des Predigers von Militarismus und Clandenken Louis Pergaud. Der Knöpfe und Schnallen beraubt, hat man eine Niederlage erlitten, und da echte Longeverner keine Anzweiflung ihrer Vormachtstellung dulden können, muß Rache geübt werden, Vergeltung. Trifft die Schmach gar Lebrac, ihren »General«, muß dreimal vergolten werden, da es selbstverständlich innerhalb der Vormacht noch einmal eine Rangordnung gibt. Pergaud macht sich nur selten die Mühe, sein nach all den von ihm aufgebotenen deftigen Schimpfwörtern stinkendes erzieherisches Programm ironisch oder satirisch zu verbrämen. Nebenbei leidet seine Darstellung an Längen und glänzt weder durch Anschaulichkeit noch durch Treffsicherheit im Ausdruck.
~~~ Dennoch ist Pergauds Botschaft unmißverständlich – und der riesige Erfolg dieser Erzählung wäre in der Tat eine Schmach, wenn er nicht normal wäre. Entsprechend normal kommt es mir vor, wenn Pergaud mit 32 in den Ersten Weltkrieg zog, binnen kurzer Zeit zum Leutnant aufstieg, aber schon im April 1915 im Rahmen von Gefechten bei Marchéville (Meuse) auf dem »Feld der Ehre fiel« oder verschollen ging.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022

Siehe auch → Welskopf-Henrich (DDR-Indianerfreundin)




Eigennutz → DDR, Tuchscheerer → Kapitalismus → Solidarität



Erkenntnis

Der österreichische Astronom Egon von Oppolzer (1869–1907) starb offenbar nicht im Dienst. Ein zeitgenössischer Nachruf* spricht von einer »Blutvergiftung, die er sich bei Arbeiten im Garten« zugezogen habe. Er war 37. Aus einer Gelehrtenfamilie stammend, hatte es Oppolzer (1906) zum Professor in Innsbruck und Gründer und Chef der dortigen Sternwarte gebracht. Er soll ein »feinfühlender, schöngeistiger« Mensch gewesen sein, der neben der Malerei die Musik liebte, auch Umgang mit den Familien Wagner und Bruckner pflog. Wie sich versteht, rechnet man ihm einige Entdeckungen an, etwa der kurzperiodischen Veränderlichkeit des Asteroiden (433) Eros; dessen Lichtkurve lasse auf seine unregelmäßige Form schließen. Möglicherweise hat das den Professor der nicht-künstlerischen Sinnlichkeit nähergebracht, aber wohl kaum dem Rätsel des Universums.
~~~ Ich greife kurzentschlossen Bedenken gegenüber der herrschenden Astronomie und Kosmologie auf, die ich bereits bei Krieger angedeutet habe. Vor gut 10 Jahren (am 21. Oktober 2010) war im angeblich kritischen Online-Blatt Telepolis ein Artikel über jüngste Entdeckungen des Weltraumteleskops Hubble zu lesen. Autorin Andrea Naica-Loebell leitete ihn mit der dummdreisten Feststellung ein: »Im Anfang war das Nichts. Alles begann vor ungefähr 13,7 Milliarden Jahren mit dem BigBang, dem mächtigen Urknall, aus dem heraus sich das Universum selbst entfaltete und ausdehnte.« Das überbietet die Autorin gleich noch durch den eingeklammerten Hinweis auf einen früheren Artikel mit der Überschrift »Das Universum braucht keinen Gott«. Sie kennt die Bedürfnisse des Universums besser als ihre eigenen. Das Universum begnügt sich mit dem Zwerg BigBang, der sich dann »selbst entfaltet«. Woanders, wohl an Brockhaus angelehnt, heißt der Zwerg »ursprüngliche« oder »kosmologische Singularität«. Dieses gesichts- und bartlose Urstück pickte sich einen explosionsfähigen Tropfen Ursuppe aus einer geknetschten rostigen Coladose, die zufällig in seiner Reichweite lag, und damit ging alles los.
~~~ Sie können hinblicken, wohin Sie wollen: die berühmte Theorie vom Urknall ist binnen weniger Jahrzehnte so gut wie zur Tatsache geronnen. Die Theorie geht auf Georges Lemaitre zurück. Der Belgier hatte den »heißen Anfangszustand des Universums« 1931 »primordiales Atom« oder »Uratom« genannt, war er doch Theologe und Physiker zugleich. Man könnte diesen Anfangszustand genauso gut Naica-Loebell nennen. Mit welchem Grund? Die Gute setzt etwas voraus, das sich jeglicher Überprüfbarkeit entzieht, damit also unangreifbar wie Gott ist. Schon die Lässigkeit, mit der sie über 13,7 Milliarden Jahre verfügt, ist atemberaubend. Jochen Kirchhoff hat wiederholt den leichtfertigen Umgang der etablierten AstrophysikerInnen mit »monströsen Zeiträumen« angeprangert. Wenn etwa Einstein behaupte, die Merkurbahn vollziehe in drei Millionen Jahren eine vollständige Drehung**, halte er es offenbar für legitim, »den winzigen Beobachtungs-zeitraum, der uns zur Verfügung steht, ins Unabsehbare auszuweiten und den Jetzt-Zustand einfach in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein zu extrapolieren.« Selbstverständlich habe das nichts mit Empirie zu tun; es sei pure Setzung.
~~~ Der Physiker und Autor Peter Ripota weist auf haarsträubende innere Widersprüche der Urknall-Theorie hin. Wenn aus dem Nichts in einem Augenblick etwas so Gewaltiges wie das gesamte Universum entstehen könne, widerspreche es allen Prinzipien und Gesetzen der Physik, ganz besonders dem Energieerhaltungssatz. Die Theorie der »kosmischen Inflation« – derzufolge das Weltall nach dem Urknall mit zunehmender Geschwindigkeit expandierte – entbehre nach den Formeln der Physik jeder Grundlage. »Keine Masse kann auch nur annähernd Lichtgeschwindigkeit erreichen, geschweige diese milliardenfach überschreiten.« Eine zunehmende Explosionsgeschwindigkeit mit wachsender Entfernung sei ohnehin absurd: woher nähmen die beteiligten Objekte die dazu erforderliche Energie? Bekanntlich verhalte es sich bei allen beobachtbaren Explosionen genau umgekehrt: die weggeschleuderten Teilchen werden langsamer.
~~~ Schließlich behauptet Ripota, in den Kugelstern-haufen um die Galaxien hätten sich inzwischen Sterne gefunden, die älter als unser angebliches Universum seien, nämlich zum Teil über 15 Milliarden Jahre alt. Aber hier beißt sich die »immanente« Kritik in den Schwanz. Jochen Kirchhoff hat überhaupt die Fahrlässigkeit beklagt, mit unseren Milchstraßenmaßstäben (von Zeit, Raum, Masse, Energie dergleichen) universell zu hantieren. In diesem Licht sollte man auch der beliebten Angabe mißtrauen, unser Sonnensystem – und wir mit ihm – bewege sich auf seiner 220 Millionen Jahre langen Umkreisung des Milchstraßenzentrums mit einer Geschwindigkeit von 240 Sekundenkilometern fort. Woran will man so etwas denn messen? Also gut, wir rasen in einer Sekunde von Berlin nach Hannover, während wir Käsebrot kauen oder über den Käse von anderen lästern. Doch wir merken nichts davon. Irgendetwas scheint die Welt zusammen zu halten, ohne uns mit dieser Anstrengung zu belästigen. Wir können sogar schlafen. Der Gegensatz zwischen Ruhe (Festigkeit) und Bewegung gehört zu den seltsamen, ja beunruhigenden Grundzügen unserer Existenz.
~~~ Setzte ich vor ungefähr 55 Jahren meinen Physiklehrer mit der Frage in Verlegenheit, was eigentlich vor dem Ur gewesen sei, griff ich natürlich zu kurz. Denn das ganze Koordinatensystem unsrer Weltauffassungsgabe hängt in der Luft – was zahlreiche hochstudierte Köpfe mal unverschämterweise, mal elegant zu übersehen pflegen. Vorher und nachher sind so willkürliche Kategorien wie unten und oben. Sein oder Nichtsein stellt lediglich für ein Staubkorn namens Hamlet die große Alternative dar. Es sind ja völlig andere »Existenzformen« denkbar, die sich unserem auf Raumzeitlichkeit und Kausalität*** geeichtem Vorstellungsvermögen leider entziehen. Unser Problem ist unsere beschränkte Warte. Seit Gott abgewirtschaftet hat, steht uns kein verläßlicher Bezugspunkt außerhalb unsrer selbst zur Verfügung. Das könnte man im Zeichen des erwähnten Astroiden auch Selbstbefriedigung nennen, im Fachjargon Onanie.
~~~ Ähnlich halbherzig wie Ripota verfährt der Astrophysiker Hans-Jörg Fahr in seinem Buch Universum ohne Urknall, Heidelberg 1995. Er führt zahlreiche stichhaltige Einwände gegen die herrschende Urknall-, Rotverschiebungs- und Hintergrundstrahlungs-Kosmologie beziehungsweise -Theologie an und stellt sogar deren Universal-Meßlatten wie etwa »die Zeit« in Frage, doch er scheut einen konsequenten Abschied. Nähme er seine Kritik ernst, müßte er ja beispielsweise vorschlagen, mindestens neun Zehntel der gängigen abenteuerlichen »Forschung« auf kosmologischem Gebiet sofort einzustellen. Schließlich werden hier für buchstäblich nichts seit Jahrzehnten Gehälter und Geräte im Werte von sicherlich etlichen Milliarden Dollar verpulvert, mit denen man locker Afrika, Lateinamerika, Mexiko und die USA zusammengenommen vom Elend befreien könnte. Fahr findet jedoch, es müßten weiterhin Universen »konzipiert« werden, und seien es alternative, beispielsweise anfangslose, dynamisch-vitalistische. »Die Schöpfung muß unerschöpflich bleiben«, betet der Bonner Professor (auf S. 149), ganz wie der Topf mit dem Forschungsgeld. Nebenbei hat es für die Entlohnung eines Lektors seines Werkes nicht mehr gereicht. Es wimmelt von Druckfehlern, Füll- und Fremdworten und der Konjunktion daß wie ein bereits stark expandiertes Weltall, hat aber nur 150 Seiten.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* in der Prager »Naturwissenschaftlichen Zeitschrift« Lotos 11–1907: https://www.zobodat.at/pdf/Lotos_55_0177-0179.pdf
** Irre ich mich nicht, ist die Drehung der ganzen Bahn in ihrer Ebene gemeint (Periheldrehung). Jochen Kirchhoff, Räume, Dimensionen, Weltmodelle, München 1999, S. 217/18.
*** Kein Geschehen ohne Ursache; gleiche Ursachen gleiche Wirkungen



Gute Dopamine zum bösen Spiel --- 2008 machten Professor Samuel Wang und Chefredakteurin Sandra Aamodt mit Welcome to your Brain viel Wind, es wurde gleich zum »Kultbuch« erhoben. Immerhin ist die Arbeit der beiden NeurowissenschaftlerInnen aus den USA erheblich besser geschrieben als Detlef Linkes Das Gehirn von 1999. Sie hat sogar einen trockenen Witz, der von Koestler stammen könnte.
~~~ Allerdings sind beide Werke dem Positiven Denken verpflichtet. Aamodt/Wang empfehlen es ausdrücklich als Mittel zur Steigerung unseres Glücksgefühls. Der Zustand und das Wohlergehen der Gesellschaft interessiert sie nicht. Jeder ist seines Glückes Schmied, und sei es auf Kosten des Nachbarn oder einer indischen Turnschuhnäherin. Rühmen Aamodt/Wang die Dopamin-Neuronen, die maßgeblich am Erlernen von Verhaltensmustern beteiligt seien, die positive Ergebnisse nach sich ziehen, laden sie neben dem Egoismus zum Opportunismus ein. Zeige ich Dritten gegenüber das erwartete Wohlverhalten, springt mein Dopamin-Spiegel gleich um drei Grad, denn Wohlverhalten wird augenblicklich belohnt. Deshalb soll man auch die Zuteilungen annehmen, die uns »von oben« gewährt werden – von Gott, Vater Staat oder einem Chefredakteur. »Glück ist zu wollen, was man bekommt«, zitieren Aamodt/Wang einen Spruch aus unbekannter Quelle. X. bekommt Hartz IV, Wolf Biermann das Große Bundesverdienstkreuz am Bande, Israel den Gazastreifen. Das bedeutet nicht, die Hände in den Schoß zu legen. Beispielsweise empfiehlt das Duo ein Training unseres präfrontalen Kortex‘, weil es unter anderem unsere Willenskraft stärken könne. »Gehen Sie deshalb mit Fleiß an heikle Aufgaben, wie die, nett zu sein zu Leuten, die Sie nicht leiden können.« Lächeln Sie jeden an, der Sie schlechtzumachen, über den Tisch zu ziehen, auszubeuten gedenkt. »Womöglich hilft Ihnen das später, eine Diät durchzuhalten« – oder Abgeordnetendiäten einzustreichen. Heucheln Sie, ob bei Feinden oder Freunden.
~~~ Wer wollte herausbekommen, warum der eine Schriftsteller mehr zur Toleranz und Behutsamkeit, der andere dagegen zu Konsequenz und Polemik neigt? Gene sind nicht alles. Auch Aamodt/Wang versichern, unsere Disposition durch sie könne von allen möglichen Umweltfaktoren beeinflußt werden, darunter »natürlich« nicht zuletzt die Kinderstube. Aber wie sich diese »gebunkerten« Faktoren mit gegenwärtigen Einflüssen aus Amts- oder Redaktionsstuben mischen, nach welchen »Gesetzmäßigkeiten« also, weiß kein Schwein. Ähnlich undurchschaubar ist unsere Gehirntätigkeit selbst. »Kein Wissenschaftler hat bislang eine vollständige Computersimulation von der biochemischen und elektrischen Leistung jedes einzelnen Neurons zuwege gebracht – geschweige denn von der von 100 Milliarden Neuronen in einem echten Gehirn. Genau vorherzusagen, was ein ganzes Gehirn unternehmen wird, ist im Grunde unmöglich.« Damit sei in der Praxis eine funktionelle Definition von Freiheit und dem vieldiskutierten Freien Willen gegeben, folgern Aamodt/Wang. Aber sie greifen zu kurz wie fast alle WissenschaftlerInnen. Vielleicht sollte man besser von unserer Bedingtheit, nicht unserer Unfreiheit sprechen. Denn der Einwand, an einer Kette laufen zu dürfen sei immer noch besser, als im Block zu stecken, ist schwer zu entkräften. Es gibt Grade der Freiheit. Dagegen kann man nicht mehr oder weniger oder nur ein bißchen tot sein. Hier geht es um Grundtatsachen, um die grundsätzliche Beschaffenheit des Menschen. Deshalb sage ich, entweder ist der Mensch bedingt oder nicht. Und selbstverständlich ist er es. Er hat sich weder seine Milchstraße noch seine Mutter ausgesucht. Niemand gab ihm einen Schaltplan seines Gehirnes mit auf die Reise. Räumt aber einer ein, sein Gehirn sei ihm diktiert worden, schließt das natürlich auch die Spielräume ein, die ihm dieses Gehirn, weiß der Teufel warum, gnädigerweise gewährt. Das ist nur logisch.
~~~ Vermutlich würden sich Aamodt/Wang hüten schmunzelnd einzuwenden, dann sei ja wohl auch die Logik ein Diktat, gössen sie dadurch doch ersichtlich Wasser auf die Mühlen meiner Argumentation. Nein, sie ziehen es vor, sich in jenen Spielräumen und bei der Ausführung ihrer Taschenspielertricks frei zu fühlen, damit sie sich nicht gedemütigt und gelähmt fühlen müssen. Sie werfen die Erkenntnistheorie dem Pragmatismus zum Fraß vor. Sie möchten schließlich leben, möchten handeln. Also erheben sie ihren Wunsch nach Freiheit zur Tatsache der Freiheit. Das Verfahren ist auch in weniger grundlegenden Fragen weltweit beliebt. Hundertmal in der Woche »markieren« wir den starken Mann oder die starke Frau – bis wir einmal zusammen-brechen. Nicht anders gibt der Internet-Tyrann Wikipedia den Anschein von Objektivität in seinen Artikeln als Objektivität selber aus.
~~~ Sind die unablässigen Verhandlungen unserer 100 Milliarden Nervenzellen oder Neuronen (mit Hilfe von mindestens 100 Billionen Verbindungen oder Synapsen) schon unübersichtlich genug, gesellt sich noch das Phänomen hinzu, daß sie uns mal bewußt sind, mal nicht. Die Gründe und die Gesetzmäßigkeiten dieser Trennung sind den Forschern nahezu schleierhaft. Und davon, was Bewußtsein eigentlich sei, hat niemand eine Vorstellung. Mit Aamodt/Wang festzustellen, die Nerven- und Gliazellen des Gehirns erzeugten chemische Veränderungen, die elektrische Impulse und eine Kommunikation von Zelle zu Zelle auslösen und damit sämtliche Gedanken und Handlungen steuern, sagt ja über die Beschaffenheit von »Bewußtsein« gar nichts aus. Wie erhebt sich aus einer chemischen Substanz und einem elektrischen Funkkontakt die Vorstellung eines Käsebrotes mit Oliven; die Vorstellung, ein solches werde im Augenblick von vielen Millionen Bewohnern dieses Planeten schmerzlich vermißt; die Vorstellung, die wir Gerechtigkeit und Frieden nennen, aber nie erzielen; die Vorstellung, ich selbst (H. R.) und nicht etwa mein Freund oder Feind Z. zu sein?
~~~ Immerhin läßt sich die persönlichkeitsbildende Funktion unseres Gehirns nach den bisherigen Forschungen offenbar nicht mehr ernsthaft bezweifeln. Das heißt, Rousseau oder die RomantikerInnen, auch »Lebensphilosophen« wie Ludwig Klages und noch der Büchnerpreisträger von 1953 Ernst Kreuder, lagen mit ihrem schwärmerischen Nachtseiten- und Äonen-Gefasel meilenweit daneben. Die ForscherInnen führen dafür säckeweise Belege an. Sie verdanken sie vor allem Untersuchungen von geschädigten Gehirnen; hinzu kommen immer mehr bildgebende Verfahren (»Hirnscanner«), mit denen sie uns unter die Schädeldecke blicken können. Sollte ein Mensch zu seinem Peiniger herzlich sein, liegt es nicht an dem Muskel in seinem Brustkorb; der Muskel bekommt seine Befehle. Oder auch nicht. Nach wie vor undurchsichtig bleibt, von welchen »Erwägungen« sich unsere »oberste Instanz« leiten läßt, wenn sie so oder so entscheidet. Gibt sie einer Erscheinung den Vorzug, die mit verheißungsvoller Neuigkeit glänzt, oder bleibt sie lieber beim Gewohnten? Beides kann unser Glücksgefühl steigern, wie Aamodt/Wang betonen. Das Gehirn ordnet Erscheinungen gern in vertraute Muster ein; freilich öden uns diese zuweilen derart an, daß wir uns in ein Abenteuer stürzen – lassen. Aber von wem? Wer oder was stürzt uns hier? Um diesen heißen Brei drücken sich Aamodt/Wang in zahlreichen Windungen. Damit lassen sie das hübsche Zitat von Emo Phillips, mit dem sie die Einführung zu ihrem Buch eröffnen, von Seite zu Seite verblassen. »Ich dachte immer, das Gehirn sei mein wichtigstes Organ. Aber dann überlegte ich: Moment mal, wer sagt mir das eigentlich?«
~~~ Das erste Kapitel beginnt mit dem starken Satz: »Ihr Gehirn lügt Sie unablässig an.« Diese Trennung zwischen uns selber und unserem Gehirn behalten Aamodt/Wang im folgenden bei, ohne jemals auch nur anzudeuten, worin der Unterschied zwischen beiden Phänomenen bestehen könnte. Die naheliegende Frage, wieso ich über meinem Gehirn stehen sollte, klammern sie aus. Und womit stünde ich denn, bitteschön? Hier winken wahlweise Seele, Über-Ich, Gott und was dergleichen schon alles bemüht worden ist, doch Aamodt/Wang hüten sich vor einer Festlegung. Detlef Linke entschied sich in dem angeführten Buch für die Seele – hütete sich aber wiederum, sie (im Gegensatz zu Leib und Bewußtsein) zu definieren. Während uns das Bewußtsein immerhin Fährten durch Emotionen, Hirnströme, abgefeuerte Neuronen legt, speist uns die Seele lediglich mit dem unabweisbaren Gefühl ab, daß immer etwas fehle. Die Seele hängt als Besorgnis erregendes, aber mitunter auch erhebendes Fragezeichen über unserem Haupt. Sie gaukelt uns Souveränität vor. Kann mich mein Gehirn anlügen oder kann ich über mein Gehirn nachdenken, kann das Gehirn nicht das letzte Wort sein – so der fadenscheinige Glaube.
~~~ Zwar könnte einer auch den Verdacht haben, mit eben diesen Kabinettstückchen narre uns das Gehirn in einem fort. Aber dadurch hätte er jenen nie definierten Unterschied zwischen uns und unserem Gehirn schon wieder gemacht. Wir sind außerstande, unsere merkwürdige Befangenheit in unseren Widersprüchen zu erklären, geschweige denn zu durchbrechen. Nur das ist das Problem. Aamodt/Wang haben es »natürlich« auch, nur gestehen sie es nie.

∞ Verfaßt 2013, gekürzt 2022


Juckreiz im Mandelkern --- Während es sich beim sogenannten Urknall, der schon beinahe überall als Tatsache gehandelt wird, um eine dinosauriergroße Kohlmeise handeln dürfte, scheint es für die sogenannte Gehirnexplosion (beim Menschen) inzwischen genug Anhaltspunkte zu geben, um sie für ein unbestreitbares, wenn auch todtrauriges historisches Ereignis halten zu können. Es fand vor ungefähr zwei bis ein Millionen Jahren statt – wie sich versteht, nicht über nacht. Damals schnürte der Frühmensch bereits auf zwei Beinen durch die Savannen. Die Gründe der Neuerung bleiben schleierhaft. Vorteile bot sie kaum. Im Gegenteil bekam man ja durch das beständige Hirnwachstum zunehmend Ärger mit der eigenen Birne: sie wurde immer schwerer. Das brachte wohl schon den Urahnen der Menschheit die uns bekannten steifen Hälse, Bandscheibenschäden, Rückenschmerzen ein. Außerdem fraßen die Hirnzellen Unmengen an Energie, die dann beim Muskelaufbau fehlten. Zu einem prächtigen Leoparden fehlte dem Frühmenschen also trotz seines viel fetteren Gehirns das Zeug. Der Zug war abgefahren. Jetzt hatte er seinen Scharfsinn vor allem in den trickreichen Nahrungserwerb zu stecken. Dabei spielte die Entdeckung oder Bändigung des Feuers keine geringe Rolle. Das Feuer schien, neben Licht und Wärme, Waffengewalt zu verleihen. Um einen ganzen Wald anzustecken, bedurfte es keiner Bärenkräfte. So konnte schließlich auch jeder Schwächling einen Granatwerfer oder eine Atombombe erfinden.
~~~ Als noch wirkungsvolleres Instrument sollte sich die Sprache erweisen. Ihre entscheidende Vervollkommnung setzt man meist für die Zeit vor rund 70.000 Jahren bis 30.000 Jahren an – die sogenannte kognitive Revolution. Mit ihr kamen die Dimensionen des Vergangenen und des Zukünftigen, allgemeiner des Unsichtbaren ins Spiel. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari bemerkt* dazu bissig: »Nur der Mensch kann über etwas sprechen, das gar nicht existiert, und noch vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge glauben.« Das sorgte jede Wette für eine Flut von Eindrücken oder Einfällen, die in den Horden der Jäger- und SammlerInnen oft für vorzeitige graue Haare, wenn nicht Wahnsinn sorgten. Andererseits begann man damals mit dem Stricken jener Legenden, Mythen und Ideologien, die gegenwärtig auch die westliche Russenphobie tragen. Durch den gemeinsamen Glauben konnte die »natürliche« Obergrenze von 150 Personen pro Gruppe weit überwunden werden. Hier winken Herrschaft, Zentralisierung, Imperialismus. Rasche Wechsel der Ansichten und der entsprechenden Propaganda ermöglichten rasche Verhaltensänderungen unabhängig von Genmutationen oder neuen Umweltbedingungen. Ich nehme an, hier wurzelt auch der Neuigkeitswahn, der an den befremdlichsten Dingen Gefallen findet. Für den Auslöser der kognitiven Revolution halten die meisten ForscherInnen »zufällige Genmutationen«. Das hat den Erklärungswert von Schneefall im August. Jedenfalls handelt es sich um nichts anderes als Fehler im Strickmuster, wenn ich so mutmaßen darf. Den Neandertaler verschonten sie offenbar, wurde er doch just in der genannten Zeitspanne vom Homo sapiens ausgerottet. Er war dem neuen Scharfsinn nicht gewachsen.
~~~ Eine Erschwernis, die sich sowohl durch den Aufrechten Gang wie durch die dann ständig wachsende Birne ergab, betraf die Geburt. Sie mußte verständlicherweise immer früher erfolgen, sonst wäre der Nachwuchs in der Mutter stecken geblieben. Jetzt wuchsen Kopf und Gehirn des Kleinkinds außerhalb der Mutter noch emsig weiter. Das ging allgemein mit einer Ausdehnung der Kindheit und der entsprechenden Abhängigkeit einher, die unter Leoparden oder Feldhasen unbekannt war. Dadurch gewannen die engsten sozialen Beziehungen erheblich an Bedeutung. Das Kleinkind mußte gefördert, geformt – um nicht zu sagen: geknetet werden. Manche Anthropologen und Psychologen beklagen den verbreiteten Irrglauben, das auszeichnende Merkmal eines Gehirns sei dessen Größe. Zwar seien bei der Geburt schon sämtliche Nervenzellen angelegt, doch nun komme es auf deren Verknüpfung an. Dafür wiederum sei jene Förderung unerläßlich, die man vielleicht altmodisch auch Zuneigung nennen könnte. Wenn Sie jetzt einmal darauf achten, wie gefesselt heutzutage junge Mütter oder Väter beim Kinderwagenschieben auf ihr Smartphone statt auf ihr Baby starren, können Sie die prozentuale Verteilung der je persönlichen Zuneigung im digitalen Zeitalter recht gut ermessen. Freilich stellte die Formbarkeit des Kleinkindes schon vor dem Siegeszug des Computers eine Medaille mit zwei Seiten dar. Arthur Koestler** faßte das Problem in den Satz: »Die Gehirnwäsche beginnt in der Wiege.«
~~~ Selbstverständlich wüßte so mancher nur zu gern, ob auch anderswo im Universum »kognitive Revolutionen« tobten und was man, wenn ja, dagegen unternommen hätte. Viele AstrophysikerInnen halten bereits die Wahrscheinlichkeit für intelligente Zivilisationen allein in unserer Galaxie, der Milchstraße, für hoch. Eine andere Frage ist, ob wir uns mit diesen auswärtigen Leuten, vielleicht auch Knackwürsten oder Dunstschleiern, überhaupt verständigen könnten. Das ist natürlich nicht nur ein grammatisches Problem. Der Freiburger »Exosoziologe« Michael Schetsche, geboren 1956, erinnert*** an die »gewaltigen Zeiträume«, sprich: Entfernungen, die man zu diesem Zwecke matt setzen müßte. Das gelänge wahrscheinlich nur mit Hilfe einer ferngesteuerten KI, also einem besonders schlauen Automaten. Ob aber Schetsche es noch erlebt? Vielleicht hat die andere Seite mehr Glück. Schetsche hält Außerirdische mit einer Lebenserwartung von 10.000 Jahren für durchaus denkbar. Er räumt sogar ein, wir könnten leider immer nur »in menschlichen Kategorien« denken (etwa Zeit, wie er). Erfreulich finde ich seine Auskunft: »Meine Spekulation ist: Wenn sie so fortgeschritten sind, dass sie unsere Kommunikate durch Fernbeobachtung verstehen, werden sie wahrscheinlich nicht kommen. Dann schicken sie kein Raumschiff los, sondern denken: Das ist ja eine komplett verrückte Zivilisation, die gerade dabei ist, den Planeten zu zerstören. Dann werden sie als friedliche Zivilisation gar keinen Kontakt suchen.«
~~~ Damit klopft zum wiederholten Male das Problem unserer beschränkten Denk-Kategorien an die Tür. Im schon gestreiften Irrläufer-Buch beklagt Koestler, wir seien leider gleichermaßen außerstande, uns andere räumliche Dimensionen als die des Würfels oder uns beispielsweise eine rückwärts fließende Zeit vorzustellen. Recht hat er. Aber in Die Armut der Psychologie (Bern 1980, bes. S. 278–83) huldigt er dafür altbekannten (buddhistischen, christlichen, mystischen) zeitlosen Konzepten, weil er seine Unsterblichkeit wenigstens »kollektiv« zu retten gedenkt. Der Geist macht es möglich. Vor der Geburt und nach dem Tod treiben wir im »psychischen Äther« oder auch im »kollektiven Unbewußten«. Dort gibt es anscheinend keine Zeit. Damit fällt aber auch der Raum. Jeder zeitliche Vorgang ist ja wohl stets mit irgendeiner Bewegung oder Ortsveränderung verbunden – hebele ich die Zeit aus, benötige ich keinen Raum mehr. Ich kann im »psychischen Äther« vor mich hindümpeln, ob zwei Minuten oder 20 Milliarden Jahre lang. Umgekehrt dürfte es genauso schwer fallen, sich einen Raum ohne Zeit vorzustellen, sozusagen etwas absolut Statisches, die Starrheit an sich. Versuchen Sie es einmal. Zwar können Sie behaupten, in so einem Objekt, und sei es »unendlich« ausgedehnt, stünden sogar die Elementarteilchen still, falls es welche hätte – aber Sie können sich kein Bild von ihm machen. Das gleiche gilt selbstverständlich für jenes Nichts, das Koestler aus poetischen Gründen »psychischen Äther« nennt. Vieles ist durchaus vorstellbar – nichts jedoch nicht.
~~~ Da ist es einfacher daran zu glauben, der nächste Nachbarstern unserer Sonne, Proxima Centauri, den wahrscheinlich zwei Planeten umkreisen, sei 4,2 Lichtjahre von uns entfernt. Das wären immerhin schon schlappe knapp 40 Billionen Kilometer. Ob diese Angabe zutrifft beziehungsweise irgendeinen praktischen Nährwert hat, wage ich zu bezweifeln. Der Durchmesser unserer Milchstraße wird übrigens auf 100.000 Lichtjahre geschätzt. An die Entfernungen im restlichen Kosmos oder was immer da noch existieren sollte, darf man gar nicht denken, sonst wird man verrückter als von dem Rummel um die angebliche Corona-Pandemie. Was da draußen für Gesetze herrschen, falls es dort dergleichen gibt, wissen wahrscheinlich Gott oder Satan selber nicht so genau. Jedenfalls halte ich es (wie Kirchhoff) für aberwitzig, von unseren beschränkten Milchstraßenverhältnissen auf die Zustände im ganzen Rest zu schließen.
~~~ Jemand könnte einwerfen, in seiner Erzählung Der seltsame Fall des Benjamin Button habe doch F. Scott Fitzgerald jene rückwärts fließende Zeit schon im Jahr 1922 vorgeführt. Nein, das hat er eben nicht. Er hat das Phänomen lediglich für diesen einen Fall behauptet. Ich will nicht leugnen, daß die vielgelobte Erzählung sicherlich »elegant« geschrieben ist, doch für den ausgefallenen »Plot« – der Held kommt als Greis zur Welt und wird immer jünger – kommt sie mir gar zu belanglos und unergiebig vor. Die mit Benjamin niedergekommene wohlhabende Südstaatendame scheint schon bei der »Geburt« keine Rolle zu spielen, und Benjamins Verschwinden als Säugling bleibt genauso im Nebel. Der Held selber hat anscheinend nie ein Bewußtsein von seinem »seltsamen Fall«. Jedenfalls ist die Geschichte viel zu unwahrscheinlich, um jene Belanglosigkeit zu verkraften. Und die ihr angedichteten Aufschlüsse über Zeit und Vergänglichkeit kann ich nirgends entdecken.
~~~ Dafür muß Fitzgerald ein ziemlich geschichtsblinder, angepaßter Schönling gewesen sein. Gegen Ende seines schmalen Buches treten die Vereinigten Staaten in den Ersten Weltkrieg ein – warum, interessiert den Autor offensichtlich nicht die Bohne. Schauen Sie diesbezüglich mal bei → USA nach.

∞ Verfaßt 2022, leicht gekürzt
* Yuval N. Harari, Eine kurze Geschichte der Menschheit, 2011, hier 3. deutsche Auflage 2014, bes. S. 17–40
** Arthur Koestler, Der Mensch – Irrläufer der Evolution, Bern 1978, bes. S. 18 ff + 317 ff
*** https://www.derstandard.de/story/2000124221987/exosoziologe-wir-werden-aliens-lange-zeit-nicht-verstehen, 20. Februar 2021



Der römische Dramatiker Terenz († um 160 v.Chr.) ist vor allem als Schreck vieler nachgeborenen Zöglinge in aller Welt berühmt, die Latein zu pauken hatten. Seine Sprache sei nämlich vorbildlich rein, sein Witz, als Komödiendichter, nicht zu derb gewesen, ist überall zu lesen. Allerdings sollen nur sechs seiner Werke erhalten sein. Über sein Ende gibt es anscheinend kaum mehr als Gerüchte. Zu Studienzwecken in Griechenland, soll er ebendort, eher jedoch auf der Heimreise, durch Krankheit oder Schiffbruch umgekommen sein. Jedenfalls liefert sein »Untertauchen« mit ungefähr 33 – ob freiwillig oder nicht, aber sicherlich mit Gepäck – eine einleuchtende Erklärung für die Schmalheit seines Oeuvres. Von ihm selber, seinem persönlichen Lebenswandel, weiß man so gut wie nichts. Dafür kennt jeder mindestens drei aus dem Oeuvre gezogene Sprüche von ihm.
~~~ Um Doppelmoral anzuprangern, wird beispielsweise gern auf seine spöttische Feststellung zurückgegriffen, wenn zwei das gleiche täten, sei es nicht das gleiche. Vielleicht sollte man bei jedem Rückgriff vorsichtshalber hinzufügen, dieser Hieb könne keine Allgemeingültigkeit beanspruchen. Zahlen Krösus und ich für ein mit sechs Euro ausgezeichnetes Reclam-Heftchen die gleiche Mehrwertsteuer, ist es in der Tat nicht das gleiche, denn mich trifft die Steuer ungleich mehr. Mahnt Terenz mit seinem satirischen Satz strenge Gleichbehandlung an, klammert er jegliche Relativität aus. Die Ermahnung ist auch als Richtschnur für eine libertäre Rechtsprechung ungeeignet, die jeden Fall als Sonderfall zu betrachten hat. Den Mord sollte man sich abschminken. Es gibt den Totschlag zwischen streitenden Brüdern, und es gibt die vielen tausend Toten, die unsere Impfpäpste anstiften.
~~~ Hier sind vielleicht noch ein paar Bemerkungen zu einem Phänomen angebracht, das man Mogellogik nennen könnte. Zu den beliebtesten Gummihämmern, die in der Politik unablässig geschwungen werden, zählt die Feststellung, wer A sage müsse auch B sagen. Den Hammer fallen zu lassen, ist unstatthaft. Bin ich schon einmal aufs Klo gegangen, muß ich die Schüssel auch füllen – wieder rauskommen ohne meinen Darm entleert zu haben ist verboten. Auf dem Klo nur ein paar erholsame Comics lesen zu wollen, kommt schon Hochverrat gleich.
~~~ Darauf zu pochen, vermeintliche Logik sei oft gar keine Logik, ist aber zu wenig. Wie F. G. Jünger betont hat, folgt die Sprache überhaupt keiner Logik – sie umfaßt alle denkbare Logik. Sie vermeidet auch keine Widersprüche; sie deckt sie auf. Wenn es klappt! E. G. Seeliger meint (in seinem Handbuch des Schwindels) zur Gewalt: Nur auf dieselbe Weise, wie sie in die Welt gekommen sei, könne sie auch wieder daraus verschwinden, »nämlich auf dem Wege des Denkens«. Das mag unmittelbar einleuchten; mit Alain halte ich es sogar für richtig. Nur zwingend ist Seeligers Schluß nie und nimmer. Ich frage Sie analog: Wie ist denn Seeliger auf die Welt gekommen? Aha. Und wird er die Welt auf diesem Wege auch wieder verlassen? Die arme Mutter.
~~~ Dazu paßt Robert Hofstetters Bemerkung zum landläufigen Aberglauben, da nach unserer Erfahrung jedes Ereignis eine Ursache habe, müsse auch die Menge aller Ereignisse, oft »Universum« genannt, eine Ursache haben. Dieser Schluß sei so unsinnig wie beispielsweise die Behauptung, jeder Club müsse eine Mutter haben, da ja auch alle seine Mitglieder eine hätten.
~~~ In Remarques Obelisk verkündet ein Priester bei Sauerbraten und ausgesuchtem Weißwein, Speise und Trank seien Gaben Gottes, die wir zu genießen und zu verstehen hätten. Grabsteinhändler Bodmer erwidert, dann sei sicher auch der Tod eine Gabe Gottes – ob sie entsprechend zu behandeln sei?
~~~ Vor Jahren zeigte ich mich einmal über das Selbstlob eines mit mir befreundeten Malers erstaunt. Darauf versicherte mir der gute Mann, er würde seine Bilder genauso beeindruckend finden, wenn sie von einem anderen Maler stammten. Ich stutzte – und schmunzelte. »Diese Behauptung besitzt ohne Zweifel den Vorteil, daß kein vernünftiger Mensch von dir verlangen kann, sie zu beweisen.«
~~~ Um noch einmal aufs Universum zurück zu kommen: Unter Philosophen ist der Gummihammer des »Gesetzes« beliebt, nur Gleiches oder Ähnliches könne einander erkennen und verändern. Reiben sich Autorad und Straße aneinander ab, sind sie also beide rund? Mit gleicher »Evidenz« könnte ich umgekehrt behaupten: Nur weil ich keine Tomate bin, kann ich eine Tomate schmatzend verformen und in Menschenkot verwandeln. Doch wie auch immer, geben dergleichen »Gesetze« nicht ein Gramm an Erklärung her. Es sei denn, wir setzen diskret wie Kosmologe Jochen Kirchhoff einen aller Gravitation zugrunde liegenden Weltwillen voraus. Dann läßt sich nämlich hübsch behaupten, dieser wirke ja offensichtlich wirklich, insofern müsse auch das, worauf er wirkt, von seiner Art sein.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022

Siehe auch → Chargaff → Kosmologie → Band 4 Bott ausmisten Kap. 3 (Anthropozentrismus)




Obwohl der erfolglose Politiker Fritz Ermarth (1909–48) ein interessanter Fall ist, wie ich finde, läßt die Quellenlage viel zu wünschen übrig, nimmt man einmal spärliche Hinweise auf Wolfgang Schivelbuschs verdienstvollen FAZ-Aufsatz* aus, der im Internet allerdings nicht aufrufbar ist. Weitere wichtige Aufschlüsse verdanke ich Auskünften, die mir 2014/15 freundlicherweise Hans Michael Ermarth, damals um 70, aus den USA per Email gab. Er ist Ermarths jüngster Sohn.
~~~ In einigen fragwürdigen Quellen heißt es, der damals ebenfalls noch junge Ermarth senior sei 1933 ins nordamerikanische Exil gegangen, weil er der SPD angehört und an den Unis Reden gegen die Nazis geschwungen habe. In der Tat erzählte das Ermarth selber auch dem FBI – nur finden sich dafür laut Schivelbusch im Nachlaß des Emigranten keine Belege. Es klingt ohnehin ziemlich unwahrscheinlich, wenn man Ermarths wissenschaftliche Veröffentlichungen aus der Weimarer Zeit bedenkt. Der glänzende Jurastudent hatte nicht ohne Sympathien über die Wirtschafts- und Sozialpolitik des italienischen Faschismus promoviert und trat auch in der Folge für den starken Staat ein, der die Interessens-gegensätze im Griff hält. Er veröffentlichte unter anderem Artikel in der italienischen faschistischen Elitezeitschrift Gerarchia. Weit davon entfernt, Rebell zu sein, also das Aufbegehren von unten zu verkörpern, verehrte er Männer wie den Prinzen Max von Baden, der 1918 kurzzeitig kaiserlicher Reichskanzler gewesen war. Man hatte diesen adligen Herrn übrigens streckenweise im Verdacht, seinen Bewunderer Fritz Ermarth sogar gezeugt zu haben. Aber auch das ist schon deshalb unwahrscheinlich, weil der Prinz schwul gestimmt war und sich seine offiziellen Kinder nur aus Gründen der Karriere und der Staatsräson (mit Hilfe seiner »Gattin« Maria-Luise von Hannover-Cumberland) abgerungen hatte.
~~~ Fritz Ermarth kam fünf Jahre vor »Kriegsausbruch« als uneheliches Kind der damals 27jährigen Karlsruher Bühnenschauspielerin Melanie Ermarth zur Welt. Diese 1881 geborene Tochter eines Münchener Schauspielers war von 1904 bis 1935 am Karlsruher Hof-, später Landestheater engagiert und im übrigen zeitlebens ledig. 1948 würdigt Staatsschauspieler und Dramaturg Felix Baumbach die Leistungen Melanie Ermarths am Theater in einem kleinen Nachruf** und schreibt zu den Todesumständen lediglich das folgende. »Der Heimgang dieser bedeutsamen künstlerischen Persönlichkeit ist von Tragik umwittert. Frau Ermarth verlor ihren einzigen Sohn. Mit großen idealistischen Plänen war Dr. Fritz Ermarth aus der Emigration zurückgekehrt. Sie sollten sich nicht erfüllen. Der hochbegabte, zukunftsreiche Sohn schied jäh aus dem Leben, und die Mutter, für deren alternde Tage dieser Sohn alles bedeutete, versank in ausweglos erscheinender Nacht.«
~~~ Den Vater erwähnt Baumbach nicht. Wahrscheinlich handelte es sich dabei um einen Major namens Johann Gottlieb Fritz Steindamm, wie laut Schivelbusch in einem 1938 ausgestellten Ahnenpaß zu lesen ist. Doch wer auch immer, er dürfte der einzige Mann oder Liebhaber im Leben der beifallsgewohnten Schauspielerin Ermarth geblieben sein. Vielleicht machte sie sich ja gar nichts aus Männern. Ihren schlanken und schmalgesichtigen Sohn mit den energisch zurückgekämmten dunklen Haaren freilich ausgenommen. Der war nach seiner Promotion als Rechtsreferendar im badischen Justizdienst angestellt, doch schon ein Jahr darauf, 1933, als »politisch unzuverlässig« wieder entlassen worden, worauf er, wie schon angedeutet, seine akademische Karriere in den USA fortsetzte. Allerdings kehrt er während der Zeit des deutschen Faschismus wiederholt in seine Heimat zurück, um vor allem seine Mutter zu besuchen. Und dabei bleibt er dem roten Bären zum Trotz, den er dem FBI aufband, unbehelligt. Ermarths Verhältnis zu seiner Mutter, stolze Besitzerin eines BMW-Cabriolets, soll ungewöhnlich eng gewesen sein – zuweilen, bei gemeinsamen Reisen, bis ins selbe Hotelzimmer hinein. Jedenfalls ist anzunehmen, daß sie auf ihn noch mehr als auf ihr Auto gab.
~~~ Was Melanie Ermarth von der Heirat (1935) ihres Sohnes mit der US-Bürgerin Margareth hielt, einer Historikerin, ist mir nicht bekannt. Es scheint echte Liebe gewesen zu sein. Dafür wird Fritz Ermarths Verhältnis zu seinem Gastland zunehmend gestört. Man glaubt behördlicherseits etliche Anhaltspunkte über Ermarths Nähe zu den Nazis zu haben, darunter geopolitische Erwägungen in Veröffentlichungen, undurchsichtige Konsulatskontakte und eine aufwendige Weltreise, von der niemand weiß, wie er sie finanzierte. Zudem ist sein nordamerikanischer Schwager, der NS-Sympathisant Edward Sittler, im Berliner Propagandaministerium angestellt. Aus diesen Gründen verliert Ermarth 1939 seinen Posten an der University of Oklahoma in Norman. Schon dieser Posten hatte übrigens einen »Abstieg« für den inzwischen doppelten Doktor bedeutet, der vorher, an der Ostküste, mehrere prominente Forschungs- und Lehraufträge genossen hatte. Nun sieht sich Ermarth in Deutschland nach Stellen um, wird erstaunlicherweise nicht zur Wehrmacht eingezogen, erhält im Gegenteil eine Ausreisegenehmigung. Ab 1940 lebt er, als mehr oder weniger Verfemter, mit Margareth und auf deren Kosten (sie ist zu jener Zeit als Lektorin berufstätig) in Chicago. Die beiden Söhne Fritz und Hans Michael werden 1941 und 1944 geboren. Fritz junior wird später – in einer Art reuevollem Wiedergutmachungsdrang, wie man unken könnte – für Jahrzehnte Mitarbeiter (»Analysist«) in meinem weltweiten Lieblingsverein CIA.
~~~ Soweit Schivelbusch in sie Einblick gibt, deuten Fritz Ermarths geopolitische Erwägungen einen »machtbewußten«, man könnte auch sagen, in die Macht verliebten, ja sogar größenwahnsinnigen Zug an, der auch aus manchen Äußerungen seiner privaten Briefe sprechen soll. Jedenfalls dürften Ermarths Sympathien für imperiale und faschistische Lösungen kein Zufall gewesen, vielmehr seiner »Natur« entsprossen sein – über die wir leider, trotz Schivelbuschs Arbeit, wenig wissen. Unter anderem liegt Ermarths Jugend bislang so gut wie im Dunkeln. Einmal bemerkt Schivelbusch zu Ermarths Naturell, offenbar sei er in politischer wie moralischer Hinsicht gleichermaßen »impassible«, was wohl gefühl- und rücksichtslos heißen soll. Möglicherweise hat es auch nur zu bedeuten, Ermarth habe sich nie lange geziert, oder Ermarth habe Rührseligkeit verabscheut. Nur auf seine Heimat läßt Ermarth nichts kommen. Zwar spricht er sich inzwischen für den Kriegseintritt der USA aus, doch er bleibt strenger deutscher Patriot, weil er zwischen Nation und Nazis unterscheidet. Nur die letzteren müssen weg. Ermarth übersteht verschiedene Inhaftierungen (»feindlicher Ausländer«) recht glimpflich und wird, zurückgekehrt, 1946/47 erstaunlicherweise von den US-Besatzern beim Süddeutschen Rundfunk in Stuttgart angestellt – zunächst als Redakteur, dann sogar als Direktor, wie die aktuelle SWR-Webseite bestätigt.***
~~~ Ermarth tritt nun als »entschiedener Anhänger der liberalen Demokratie und Vertreter eines christlichen Humanismus« auf, so Schivelbusch. Ähnlich äußert sich Stefan Kursawe****, wenn er Ermarth bescheinigt, er habe in seinen Kommentaren eine »deutliche Frontstellung gegen den Nationalsozialismus« bezogen, sich für »Säuberung« (Entnazifizierung) eingesetzt und »die amerikanische Demokratie« hochgehalten. Gleichwohl fällt der frischgebackene Rundfunk-Intendant Ermarth schon im Herbst 1947 bei der Militärbehörde wieder in Ungnade: am 7. November muß er seinen Hut nehmen. Die SWR-Webseite führt als Grund an, Ermarth habe auf der Einstellung nazistisch »belasteter« Journalisten bestanden. Schivelbusch zieht dagegen die allgemeinere Formulierung vor, Ermarth sei nicht bereit gewesen, seinem Patriotismus abzuschwören und sich als Sprachrohr der Besatzungsmacht zu verstehen.
~~~ Nach diesem Rauswurf wechselt Ermarth ins Stuttgarter Wirtschaftsministerium, was Schivelbusch merkwürdigerweise gar nicht mehr erwähnt. Immerhin handelt es sich dabei um Ermarths letzte, nur kurzlebige und sicherlich sehr unbefriedigende Arbeitsstelle. Was seine dortigen Aufgaben waren, ist mir nicht bekannt, doch es liegt auf der Hand, daß man ihn nicht gerade auf den Posten eines Staatssekretärs hievte. Vielleicht war er Pressesprecher oder Archivleiter. Er selber wie auch seine im nahen Karlsruhe lebende Mutter hätten Fritz Ermarth vermutlich, früher oder später, viel lieber als Minister in Bonn oder wenigstens als Chef einer neuen Partei gesehen. Zwar hatte Ermarth kürzlich eine sogenannte »Arbeitsgemeinschaft für die deutsche Einheit« ins Leben gerufen, doch wie der Spiegel nach Ermarths Tod schadenfroh mitzuteilen wußte*****, sei er auf deren jüngster Tagung »der einzige Besucher« gewesen. Grundsätzlicher gesagt, dürfte sich der aus Übersee heimgekehrte Enddreißiger an der Jahreswende 1947/48 in beruflich-politischer Hinsicht als hoffnungslos Schiffbrüchiger gefühlt haben. Da er mit seinen Vermittlungsversuchen zwischen verschiedenen Staatsdoktrinen gescheitert war, winkten auch keine prestigeträchtigen wissenschaftlichen Entdeckungen auf akademischem Felde mehr. Gleichwohl hätte Ermarths in dieser Hinsicht vermutlich stark enttäuschter Ehrgeiz wahrscheinlich nicht allein für den Entschluß ausgereicht, sich umzubringen, wie es dann im Sommer geschah. Hinzu kamen Verwicklungen »im persönlichen Bereich« – die nun wiederum für die SWR-Webseite ausschließlich für Ermarths krassen Schritt (aus dem Leben) verantwortlich gewesen sein sollen. Wahrer dürfte sein, daß wieder einmal alles zusammengekommen war.
~~~ Schivelbusch scheint nicht schief zu liegen, wenn er seinen Gegenstand beiläufig als »notorischen Frauenliebling« bezeichnet. Sohn Michael verrät, seine Mutter Margareth habe während der im ganzen mehrjährigen Abwesenheit ihres Gatten gern über dessen 4-F-Club gewitzelt, nämlich über die »Former Female Friends of Fritz«, wobei sie allerdings wahrscheinlich eher verzweifelt als belustigt gewesen sei. Zu diesem Club zählte auch Ermarths »Braut« (Verlobte) Lotte Planitz, eine Musikstudentin und Rebellin aus wohlhabendem rheinischem Hause, die er eigentlich um 1933 in die USA nachzuholen gedachte, dann aber rasch aus den Augen und dem Sinn verlor, wie Schivelbusch schreibt. Kaum wieder (auf Reisen) in Deutschland, flammte die alte Leidenschaft zwischen den beiden freilich erneut auf. Begleiterschei-nung dessen war die Geburt von Goetz-Dieter im Frühjahr 1940. Fritz Ermarth erklärte die Vaterschaft, wozu er sogar das Einverständnis seiner Strohwitwe Margareth aus Chicago erringen konnte. Somit haben wir in Goetz-Dieter den dritten und ältesten Sohn Ermarths, der auch dessen Nachnamen bekam. Er wurde später bei der Lufthansa in Frankfurt am Main tätig und starb 2012.
~~~ Zum nun folgenden Drama liest man bei Schivelbusch: »Als Ermarth 1946 nach Deutschland zurückkehrte, kam es neben dem Wiedersehen mit seiner Mutter auch zur Wiederaufnahme der Beziehung mit Lotte Planitz, weil die geplante Übersiedlung von Ermarths amerikanischer Familie sich hinzog und Lotte Planitz, die inzwischen verheiratet und Mutter einer Tochter war, allein lebte, da ihr Ehemann sich in russischer Kriegsgefangenschaft befand. Wieder legte Ermarth seiner Frau gegenüber die Karten offen auf den Tisch. Die Antwort war diesmal nicht Einverständnis, sondern die Einreichung der Scheidungsklage.«
~~~ In der Tat wurde im Juli 1947 die Scheidung ausgesprochen. Die beiden »ehelichen« Söhne blieben offensichtlich bei der Mutter in den USA. Schivelbusch erwähnt, Ermarth, der inzwischen mit seiner Geliebten Lotte, deren Tochter und seinem »unehelichen« Sohn in Stuttgart eine Wohnung teilte, habe seiner Ex-Gattin in mehreren Briefen versichert, an seiner Zuneigung zu ihr habe nichts rütteln können, doch diese Briefe habe Margareth mit Schweigen quittiert. Lotte gegenüber äußerte Ermarth seine Wunschvorstellung, die beiden Frauen mögen einander in Liebe zugetan sein. Michael Ermarth deutet seinen Verdacht an, sein Vater habe in jener Nachkriegszeit von einem in Deutschland stehenden Korb mit zwei Hennen und einem Hahn geträumt – von den vielen Küken einmal abgesehen, die nebenbei bemerkt eine Menge Geld kosten, von anderer wünschenswerter Zuwendung ganz zu schweigen.
~~~ Etwas anders Ermarth selber. Laut Schivelbusch bezeichnete er sich in seinem letzten Brief an Lotte als »Zigeunerjungen«, der nie erwachsen geworden sei. Man bedenke dabei, der Mann wuchs ohne Vater auf. Seine Absicht, sich umzubringen, teilte Ermarth, nach Aktenlage, sehr wahrscheinlich niemandem mit. Das schließt auch Ermarths 67 Jahre alte Mutter ein, die im Juli 1948 nach zwei Tagen die Nachricht erhielt, ihr Fritz habe sich in der erwähnten Stuttgarter Wohnung das Leben genommen, indem er in der Küche den Gashahn aufdrehte. Vielleicht wußte er Lotte und die Kinder außer Haus oder auf Reisen. Vielleicht drohte dafür der »Besuch« des erwähnten russischen Kriegsgefangenen? Oder davon unabhängig ein von Lotte ausgestellter Laufpaß für Fritz, wie der Spiegel behauptete? Sicherlich war die Lage verwickelt. Die Mutter beispielsweise gehörte ja auch noch dazu. Melanie Ermarth wählte, eine Woche darauf, in ihrer Karlsruher Wohnung eine für Dritte etwas ungefährlichere Methode als ihr Sohn: sie erhängte sich. Beide Toten wurden am 3. August in Karlsruhe in einem gemeinsamen Grab beigesetzt.
~~~ Nach meinen Beobachtungen zeigt Selbstmord grundsätzlich dieselbe, in mehr oder weniger Bereichen wirkende Zwiespältigkeit wie der Mensch im allgemeinen. So erfordert er großen Mut, aber oft auch viel Feigheit. So kann er echten Anstand, aber auch brutale Rücksichtslosigkeit des »Täters« bezeugen. Dabei dürften dieserart Gegensätze so gut wie niemals unvermischt zu haben sein, nur die Schwergewichte wechseln von Fall zu Fall. Beurteilungen solcher Fälle sind ungemein schwer – fast so schwer wie der Selbstmord selber. Man könnte in Ermarths Fall schimpfen, die Nachahmung durch seine Mutter hätte er wohl absehen können; aber was folgt daraus? Über Melanie Ermarth wissen wir noch weniger als über ihren Sohn – und damit auch darüber, was für ihr Wohlergehen erforderlich war oder gewesen wäre.
~~~ Wahrscheinlich könnte man Ermarth noch am ehesten vorwerfen, er habe seine drei Söhne im Stich gelassen. Dabei haben ihn die beiden jüngeren, die aus Chicago, ohnehin nur als Knirpse erlebt. Wie, weiß ich nicht. Michael ist jedenfalls in beruflicher Hinsicht in die Fußstapfen seiner Mutter getreten und Historiker geworden. Er lehrte zuletzt – 2011 emeritiert – in Hanover, New Hampshire, am Dartmouth College, das zu den »Elitehochschulen« der Staaten zählt. Bei Michael Ermarth liegt der väterliche Nachlaß, der noch einer genaueren Sichtung und Zubereitung harrt. Das wäre viel Mühe, vom erforderlichen Geld zu schweigen. Und lohnte sich denn die?
~~~ Vielleicht sollte man lieber Mühe in Nachforschungen über die Schauspielerin Melanie Ermarth stecken.

∞ Verfaßt 2020
* Wolfgang Schivelbusch, »Der Überlebende des Scherbengerichts. Ein Mann, drei Systeme: Fritz Ermarth studierte den New Deal, den Faschismus und die Wirtschaftsordnung des Nationalsozialismus«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. April 2006, S. 41
** Badische Neuste Nachrichten vom 3. August 1948
*** Chronik Intendanten: http://www.swr.de/-/id=9391890/property=download/nid=7687068/1pcdiig/index.pdf
**** Stefan Kursawe, Aufsatz »Stimmen der Stunde Eins. Politische Kommentare im Stuttgart der unmittelbaren Nachkriegszeit«, in: Rundfunk und Geschichte Nr. 4 Oktober 1997, S. 208–23: http://rundfunkundgeschichte.de/assets/RuG_1997_4.pdf
***** Nr. 31/1948: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-44418565.html




Erziehung

Chef der Kasseler Jungschar, die mich nicht unwesentlich erzog oder verbog, war Konrad F., ein dunkelhaariger, stets tadellos rasierter Mann, um 1960 in seinen Dreißigern. In der Regel leitete er auch die beliebten Sommerlager. Gab er zum Ausklang des Heimabends die nächsten Abenteuer heldenhafter Kinder zum Besten, blickte er selten ins Buch. Er erzählte stets im Stehen. Sein hoher Wuchs wurde nur ein wenig durch seine X-Beine gemildert. Die 30 oder 40 abgekämpften Knaben, die ringsum an den Wänden auf Stühlen oder Tischen saßen, hingen an den wulstigen Lippen ihres Idols. Ob sie ihn nun als »Maschinengewehr Gottes« oder nur als Ersatzvater nahmen – die Stellung eines CVJM-Jugendsekretärs ließ an Machtfülle nichts zu wünschen übrig. So einer konnte alles. Er konnte alle Mundorgel-Lieder auf der Klampfe schrubben, einem in seinem VW-Käfer die Beichte abnehmen, gar Nachlaß auf die Teilnahmegebühren des nächsten Sommerlagers gewähren. Beim Volleyball konnte er sich wohlweislich von einem sportlichen Praktikanten vertreten lassen.
~~~ Vor allem beherrschte er die Finte, beim Erzählen die Stimme ganz allmählich bis zum Flüstern abzusenken. Jeder wußte, gleich kommt‘s, aber niemand wollte es wahrhaben. Es war zu schön, wenn einem F.s jäh auftrumpfende Stimme das Herz in die Pantoffeln stürzen ließ. Unterwerfung war schön. Häuptling F. teilte Gruppen und Dienste ein, erkor sich Gruppenleiter und Ratgeber aus der Knabenschar. Alles wurde benotet. Wie schneidig wirkt das Spalier der angetretenen Gruppe, sind die Betten perfekt gebaut, die Zelteingänge umzäunt, sitzen die Halstuchknoten, welcher Rang wird bei Völkerball-schlachten oder Geländespielen erreicht. Da Skalpieren erst bei der Bundeswehr drankam, zählten wir nur die erbeuteten »Lebensfädchen«: unterschiedlich gefärbte Wollfäden, die dem Feind vom Handgelenk zu reißen waren.
~~~ Man ist verlockt, Einrichtungen wie Jungschar, Pfadfinder, Junge Pioniere, Sport- und Kaninchenzucht-vereine als Brutstätten kriegerischer Konkurrenz zu verdammen, träfe damit aber den Kern des Übels nicht. Er sitzt in der Erfindung »Mensch«. Kein Mensch kann Selbstsicherheit entwickeln, wenn ihm in seiner Jugend keine Möglichkeiten zum Ausloten seiner Kräfte, keine Bewährungschancen, kurz keine Grenzen geboten werden. Diese will er dann jedoch durchbrechen. In diesem reibungsvollen Widerspruch eine Balance zu finden, die kein verstörender Eiertanz wäre, hat schon Scharen von »alternativen« Pädagogen überfordert. Alle Ersatzangebote für Machtkämpfe langweilen und verdrängen nur. Sie schieben das Problem auf, bis der Erzieher für den 18jährigen, von Alkohol und Musik bedröhnten Autofahrer nicht mehr zuständig ist. Der Soziologe, SDS-Häuptling und Dörnberg-Referent Dieter Bott aus Homberg an der Efze wird dies vielleicht abstreiten; er spezialisierte sich (in Frankfurt/Main) auf Coaching im Fußballfan-Bereich. Später wirkte er in Düsseldorf. Aber der Mensch will keine Kugel aus Luft und Leder beherrschen; er will seinen Alten, seinen Widersacher, seinen Nebenbuhler zermalmen.
~~~ F. war insofern alternativ, als er instinktiv zur Peitsche Zuckerbrot gab. Im begehrtesten Fall nahm dieses die Form von gebratenen halben Hähnchen nebst Pommes Frites und Salat an, die seine jungen Mitarbeiter nach der offiziellen Nachtruhe im Dorfkrug verspeisen durften. F. und das Team der Jungenschaft würzten das Spätabendmahl mit Anekdoten und anzüglichen Witzen. Um das Niveau von VW-Betriebsrats-Fernreisen zu erreichen, gebrach es Jungschar und Jungenschaft bloß an Mädchen. Für mich erhoben sie sich jedoch alsbald wie Gazellen aus Kassels roten Aschenbahnen, denen ich wie ein Besessener meine nagelneuen Puma-Spikes gab. Ich geriet zwischen 15 und 17 in die Mühlen eines Karriere-Konfliktes. Sollte ich CVJM-Jugendsekretär oder Olympiasieger im Zehnkampf werden? Zeit- und Geldmangel ließen nicht zu, auf beides zu trainieren. Nebenbei war ich ja auch noch Schüler.
~~~ Von daher löste sich der Konflikt: die antiautoritäre Revolte erfaßte mich. Mit 17 sagte ich mich sogar vom Elternhaus los. Wir hielten uns mit Gelegenheitsarbeiten, notfalls auch Diebstählen über Wasser und rüttelten die Welt mit Gedichten und Flugblättern auf. Eine Zeitlang fand ich mit anderen Streunern Unterschlupf in der Wohnung eines verdienstvollen schnauzbärtigen Sozialarbeiters mit dem Vornamen Heinz. Er hatte fast so viele Cream- und Doors-Platten wie Büttenbender vom Dörnberg, der ihn öfter als Honorarkraft beschäftigte. Dann trieb ich eine sturmfreie, billige Dachkammer auf, die spätere Biografen wegweisend nennen werden. Sie lag unterhalb des Weinbergs (Villa Henschel) im Philosophenweg.

∞ Verfaßt um 2007


Auf der Schweinsblaseninsel --- Mit der völligen Gleichberechtigung der Geschlechter ist es noch lange nicht getan. Was zunächst über Bord geworfen werden muß, ist der Wahnsinn, den wir »Liebe« nennen, und gleich anschließend gilt es, die Festung oder Folterkammer namens »Familie« zu schleifen. Genau zu diesem Zwecke hatten einst viele 68er die Ärmel aufgerollt. Ihre Kraft bezogen sie aus Schriften von Bronislaw Malinowski, Margaret Mead, Wilhelm Reich, Charles Bettelheim, Erich Fromm, Reimut Reiche und dergleichen. Doch wer würde sich heute noch mit solchem Gedankengut befassen? Und sich gar von ihm anregen lassen? Nicht die Färberlaus siegte, aber Rotgrün.
~~~ Auf der Schweinsblaseninsel geht es freundlich und freizügig zu. Männer und Frauen vergnügen sich je nach Wunsch und Gelegenheit. Ob dabei auch nennenswert homosexuell verfahren wird, wie in der Antike oder im Mittelalter, könnte ich nicht sagen. Jedenfalls gibt es Herzenswärme und Gefallen aneinander, was grundsätzlich alle oder fast alle InsulanerInnen einschließt und zunächst nichts mit Sexualität zu tun hat. Wird diese aber gepflogen, sind selbstverständlich Verhütungsmittel im Spiel. Solche waren sowohl in der Antike und im Mittelalter wie bei zahlreichen Stammesgesellschaften bekannt, wie unter anderen Heinsohn/Steiger betonen.*
~~~ Gleichwohl sorgen die InsulanerInnen für regelmäßigen Nachwuchs. Sie zeugen Kinder, wenn es die Rate der Sterbefälle als angezeigt erscheinen läßt. Dafür sind Winke mit dem Zaunpfahl auf den Dorfver-sammlungen denkbar. Solche Winke werden am ehsten von Insulanerinnen aufgenommen, die »leicht« gebären, womit sie anders veranlagten Insulanerinnen die Folter des Gebärens ersparen. In der Regel werden die Winke auch von mehreren Insulanerinnen gleichzeitig aufgenommen, damit das Säugen der Kleinkinder nicht zum einsamen und letztlich verheerenden Geschäft wird. Die uns vertraute Kleinkinderstube dürfte nämlich die entscheidende Wiege sowohl jenes Wahnsinns der »Liebe« wie der Autoritätshörigkeit darstellen. Sie züchtet Verehrungstrieb und Unterwerfungssucht. Durch gemeinschaftliches Aufziehen wird dagegen vermieden, den Säugling an Mutter und Vater zu ketten. Nach Uschi Madeisky, die von den Mosuo aus Südwestchina berichtet**, lassen sich, etwas später, auf diese Weise sogar Trotzalter und Pubertätskrisen vermeiden. Das Kind wird befähigt, sich seine »Bezugspersonen« nach Lust und Gelegenheit zu erwählen. Allerdings leben die chinesischen Bauern und Fischer in Großfamilien (Clanen) zusammen, dabei alle unter einem Dach, was mir beides nicht sonderlich schmeckt. Bei mir steht dem Kind grundsätzlich eine rund 100köpfige Dorfgemeinschaft zur Verfügung. Solange es Säugling und Kriechling ist, lebt es im Mütterhaus. Anschließend trennt es sich von den drei oder fünf Müttern und wechselt ins Kinderhaus.
~~~ Das Kinderhaus ist eine kunterbunte, aufregende Sache. In der Regel dürfte es rund ein Dutzend Kinder zwischen drei und 13 Jahren beherbergen. HüterInnen des Hauses sind, bei monatlicher Ablösung, stets zwei Erwachsene, die auch in ihm übernachten. Sie stellen keine »ErzieherInnen«, vielmehr SchlichterInnen dar. Auf der Schweinsblaseninsel gibt es keine Erziehung. Nach einer wichtigen Grundeinsicht Hubertus von Schoene-becks*** haben wir Kindern Eigenverantwortlichkeit, Würde und Achtung nicht anders wie Erwachsenen zuzugestehen. Sie wissen schon, was sie wollen und was für sie gut ist. Wir Erwachsenen wissen es keineswegs besser. Wir haben nur die gröberen Machtmittel und die durchtriebenere Rhetorik. Die Achtung des kindlichen Willens bedeudet selbstverständlich nicht, daß wir ihm nicht öfter aus eigenem Interesse Grenzen setzen müßten. Die Konfliktbehandlung läuft hier nicht anders wie unter Kommunarden. Erfreulicherweise brandmarkt Von Schoenebeck auch den »Lernzwang« in der herkömmlichen Schule. Dagegen stellt er die Familie nirgends mit auch nur einem Komma in Frage. Im Gegenteil, in einem seiner positiven Beispiele dürfen Schulkinder und ihr Lehrer begeistert »Hochzeit« und »Ehe« spielen. Ich schlage vor, Roy Black singt dazu Ganz in Weiß
~~~ Heinsohn/Steiger scheinen Von Schoenebecks »antipädagogische« Warte zu teilen, heben sie doch einmal, wenn auch am Rande, die geringe Ängstlichkeit der (zu ihrer Zeit noch immer weitgehend kollektiv aufgezogenen) israelischen Kibbuzkinder hervor. Sie beruhe auf der allgemeinen Wertschätzung, die ihnen im Kibbuz entgegengebracht werde. Auf der Schweinsblaseninsel werden die bereits genannten Häuser, das große Gemeinschaftshaus eingeschlossen, von einem Jugendhaus, einem Haus der Mitte und einem Altenhaus ergänzt. Jeder Dorfbewohner ist in einem dieser Häuser »stationiert«, mit einem Stammschlafplatz und persönlicher Habe. Die Grenzen sind jedoch fließend und durchlässig. Es gibt stets ein paar überzählige, eher kleine Schneckenhäuser, sodaß sich Leute, auch Paare und Zirkel, spontan zurückziehen können. Dafür gibt es eine »Besetzt«-Markierung. In den Schlafhäusern stehen lediglich »Teeküchen« zur Verfügung, denn die täglichen Hauptmahlzeiten (morgens und frühabends) sind ja kollektive, im Gemeinschaftshaus stattfindende Einrichtungen, wie ich schon früher sagte. Wer für den Abend kocht, wird morgens auf den Arbeits- und Mußebesprechungen festgelegt, je nach Tagesprogramm der InsulanerInnen. Ich halte diese gemeinschaftlichen Mahlzeiten für wichtig. Nach dem intimen Gesauge an der »eigenen« Mutterbrust gibt es doch nichts Schädlicheres als dieses uns wohlbekannte hamsterartige und neidvolle Bruzzeln, Hocken und Tuscheln an der je »eigenen« Feuerstelle. Ehe und Familie müssen verabschiedet werden, weil sie Clandenken züchten, gruppenhaftes oder völkisches Zu- und Angehörigkeitsgefühl, halsstarriges Pochen auf das sogenannte Eigene. Sie sind die wesentlichen Brutstätten von Hader, Streit, Konkurrenz und Kapitalismus. Wahrscheinlich läge man nicht falsch, wenn man die sogenannte Kernfamilie als Keimzelle des Krieges in all seinen Formen begriffe.
~~~ Das mag ja alles sein, höre ich die EinwerferInnen, aber den Kinderwunsch und die Liebe lassen wir uns nicht nehmen. Dazu sage ich, eure brennenden Kinderwünsche und eure glühende Liebe sind beides romantischer Ziegenkäse. Nach Heinsohn/Steiger war »der Kinderwunsch« vor der Neuzeit hauptsächlich ökonomisch und damit gesellschaftlich begründet gewesen. Man legte es auf Erben, MitarbeiterInnen, AltenversorgerInnen an. Kinderwünsche, die turmhoch über die Triebe oder Träume eines Pavianweibchens und das Imponiergehabe eines Pavianmännchens hinausgingen, wurden belächelt, wenn nicht gar verhöhnt. Und so auch mit der Liebe. Zwar versichert Peter Farb****, selbst die vergleichsweise sehr primitiven WüstenbewohnerInnen Shoshone aus dem US-Südwesten hätten »die romantische Liebe« durchaus gekannt, jedoch als »eine Art Wahnsinn«, der nur Jugendliche befalle, mit Nachsicht behandelt. Er gehe vorüber und mache dann dem Zweckbündnis Ehe Platz. Im gegenwärtigen Europa wird er jede Wette nicht so schnell vorübergehen, obwohl hier die Ehe nur noch nach Art der Potemkinschen Dörfer am Einstürzen gehindert werden kann. Das bereits angeführte »Kernige« an der »festen« Paarwirtschaft ist zu wichtig. Niemand wagt die glühende Kette des neuzeitlichen Liebesgestammels anzufassen, um sie endlich über Bord zu werfen. Angenommen, Sie nähmen sich einmal alle in den drei jüngsten Jahrzehnten veröffentlichten CDs vor und strichen sämtliche Liebes- und Liebeskummerlieder – Sie stünden vor einem Riesengebirge aus weitgehend leeren CD-Schachteln. Die Sache mit der Leere meine ich im Ernst. Für mich dient unser schöner Firnis vom Liebes- und Familienleben in erster Linie dazu, die Hohlheit unserer Köpfe, unserer sozialen Beziehungen und selbstverständlich auch unseres Erwerbslebens zu übertünchen. Er erspart uns das Erschrecken vor uns selbst.
~~~ Im ersten Teil erwähnte ich eine unglückliche Verliebtheit des Mark und einen sogenannten Traumfänger. Dieser besteht bei einigen US-Indianerstämmen meist aus einer kreisrund gebogenen Weidenrute mit einer Bespannung, die an ein Spinnennetz erinnert. Zusätzlich baumelt amulettartiger Schmuck am unteren Bogen. Über dem Bett hängend, soll dieses geweihte Gerät die guten Träume zum Schläfer oder zur Schläferin durchlassen, die schlechten dagegen abfangen, wenn ich richtig verstanden habe. Ein solches Gerät bekam Mark von jener Angebeteten geschenkt, der seine Verehrung gar zu lästig war. Er hatte ihr versichert, sie sei wundervoll, er könne nicht ohne sie leben, er werde sie bestimmt auf Händen tragen, freilich nie zu anderen – Sie werden diesen Sermon zur Genüge kennen. Die junge Frau besprach den Traumfänger, den sie für Mark gebastelt hatte, mit dem Sermon und schärfte dem Gerät ein, dergleichen streng abzuweisen. Sie hingen diesen neuen Traumfänger gemeinsam über Marks Bett im Jugendhaus auf. Wenn das Gerät genug herausgefiltert habe, möge sich Mark bitte wieder bei ihr melden, sagte sie zu ihrem Verehrer, bevor sie zum Strand huschte. Sie war mit ein paar Leuten zum Muschelfang verabredet.

∞ Teil 3 einer Romanskizze von 2017
* Heinsohn/Steiger, Die Vernichtung der weisen Frauen. Studie über Hexenverfolgung und Menschenproduktion, ursprünglich 1985. Erweiterte Ausgabe München 1989.
** »Mütterliches Prinzip ist besser«, Frankfurter Rundschau, 3. Januar 2016
*** Hubertus von Schoenebeck, Kinder der Morgenröte, Norderstedt 2004. Allerdings ist Von Schoenebecks Einsicht nicht neu, wie ich aus einer Studie des anarchistisch gestimmten Volkswirtschaftlers Walther Borgius schließe, die 1930 in Berlin erschien: Die Schule – ein Frevel an der Jugend. Obwohl nur schwer zu den Perlen deutschsprachiger Prosa zählbar, ist dieses Werk aufgrund seiner Pionierleistungen empfehlenswert.
**** Peter Farb, Man's Rise To Civilization / dts. Die Indianer, 1968 / 1988, S. 44

Siehe auch → Ehre, Pergaud → Schule → Utopien, Schuh (Pingos)

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