Montag, 6. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 10
DDR, Ulbricht – Dreier

Ulbricht (DDR-Familie) --- Obwohl sie nur 1,45 Meter maß, wird Lotte Ulbricht, ursprünglich: Kühn, überall als »resolut« beschrieben. Nur ihrem zweiten Ehemann gegenüber, dem sie ihren berühmten Namen verdankt, spielte sie ihre Durchsetzungskraft, wie es aussieht, nie ernsthaft aus. 1921 war das gelernte Büromädchen aus unterstem proletarischem Hause (in Berlin) der KPD beigetreten. Lottes erster Ehemann Erich Wendt, auch schon hoher Parteikader, fiel im Moskauer Exil vorübergehend in Ungnade. Ebendort lebte sie seit 1938 mit Walter Ulbricht zusammen (Heirat erst 1953). Sie arbeitete in Moskau vorwiegend für die Komintern, wohl als Sekretärin und Setzerin. Mit der berüchtigten Gruppe Ulbricht 1945 nach Berlin zurückgekehrt, war sie zunächst ZK-Sekretärin der KPD, bald darauf die »rechte Hand« ihres Gatten, der übrigens auch nur auf 1,66 kam. 1946 adoptierten die Ulbrichts mit »Beate« (ursprünglich: Maria Pestunowa) das zweijährige Töchterchen einer ukrainischen Zwangsarbeiterin, die bei einem Luftangriff auf Leipzig ums Leben gekommen war. Lotte konnte aufgrund verschiedener Krankheiten keine Kinder bekommen.
~~~ Möglicherweise wäre die Bombe, von der seine Mutter in Sachsen getötet worden war, für das braunäugige, dunkelblonde Baby kein größeres Unglück als diese Adoption gewesen. Beim Berliner Ehepaar Ulbricht soll Beate das Musterkind in einer sozialistischen Musterfamilie abgeben – und gerät, mit tatkräftiger Hilfe der prominenten Eltern, zum genauen Gegenteil. Ihre zaghaften Versuche, dem Korsett dieser Rolle zu entkommen, und sei es durch Nylonstrümpfe, werden von den Ulbrichts streng geahndet. Zwei Liebschaften, die jeweils zu Ehe und einem Kind führen, hat sie der elterlichen Mißbilligung abzuringen. Im Testament ihres Adoptivvaters wird Beate nicht erwähnt. Nach dessen Beerdigung (1973) wird die hübsche knapp 30jährige, die keinen Studienabschluß vorzuweisen hat, offenbar auch von Lotte Ulbricht endgültig geächtet, wobei sich die Großmutter später immerhin um die beiden Kinder Beates kümmert. Wahrscheinlich kamen die Kleinen vom Regen in die Traufe. Ines Geipel zufolge* war Beate Ulbricht beim Tod ihres Adoptivvaters bereits dem Alkohol verfallen. Sie läßt sich scheiden, verliert verschiedene Arbeitsstellen und um 1980 auch das mütterliche Sorgerecht. Sie verwahrlost zunehmend und droht in der Psychatrie zu landen. Im Herbst 1991, also im Zuge der »Wende«, gibt sie dem Boulevardblatt Super ein langes Interview, weil sie dafür viel Geld bekommt. Wenig später, am 6. Dezember, wird die inzwischen 47jährige erschlagen in ihrer Wohnung in Berlin-Lichtenberg aufgefunden. Der Fall ist bis heute unaufgeklärt. Offenbar hatte es einen Streit in der Wohnung gegeben. Möglicherweise ging es, zumindest oberflächlich, um jenes Geld. Sicher ist: Lotte Ulbricht blieb der Beerdigung ihrer Adoptivtochter fern.
~~~ Somit stand das Leben des geretteten ukrainisch-sächsischen Babys wahrlich unter keinem guten roten Stern, wie man sagen könnte. Das soll sich bei ihrer Adoptivmutter anders verhalten haben. Almut Nitzsche behauptet in FemBio, Lotte Ulbricht sei ordnungsliebend (wie ihr Gatte) und unbestechlich und bis zum Tode überzeugte Kommunistin und auch »Verweigerin« der sensationshungrigen oder rachsüchtigen Presse gegenüber gewesen. Zwar soll sie die »Entmachtung« ihres Gatten durch Erich Honecker (1971) bitter getroffen haben, gleichwohl wurde sie steinalt. Sie starb 2002 in Berlin-Pankow mit 98 Jahren. Vielleicht wurde sie gerade von ihrer Bewunderung für ihren Walter aufrecht erhalten. Diese Bewunderung ist allerdings für Außenstehende nicht so leicht nachzuvollziehen.
~~~ Der 40jährige Reichstagsabgeordnete Walter Ulbricht floh 1933 nach Frankreich und gehörte der Pariser und später Prager Emigrationsführung der KPD an, bevor ihn die Komintern in den spanischen Bürgerkrieg warf, wo er, laut Brockhaus, als Politischer Kommissar unter den republikanischen Truppen tätig war, was ja durchaus seinem Naturell entsprochen hätte. Wolfgang Leonhard behauptet (1955), in dieser Rolle habe auch Ulbricht – siehe etwa den berüchtigten Kommissar André Marty! – an der »Liquidierung revolutionärer antistalinistischer Kämpfer« mitgewirkt. Einen Beleg für diese Behauptung gibt der abtrünnige Kommunist nicht. Vielleicht hatte er, statt mit Koestler, Gorkin oder gleich einem unmittelbaren Mitarbeiter der CIA zu telefonieren, im Januar 1953 die Titelgeschichte des Spiegel Nr. 4 gelesen. Sie verzichtete zwar auf von »Spanienkämpfer« Ulbricht hinterlassene Leichen, trug aber ansonsten durchaus dick auf. Danach richtete Ulbricht 1936 in Albacete (wo auch Marty wirkte) »nach dem Muster der GPU Vernehmungskeller« ein, »in denen er die als 'Trotzkisten' entlarvten Genossen mißhandeln ließ. Er ließ sie tagelang ohne Nahrung in fensterlose Zellen sperren, nächtelang verhören, viele Stunden in schrankartigen Zellen aufrecht stehen und mit Peitschen schlagen. Selbst Frauen wurden nicht geschont.« Allerdings haut sogar der linke Berliner Historiker und Journalist Manfred Behrend, gestorben 2007, mit einer Bemerkung in seinem 1997 veröffentlichten empfehlenswerten Aufsatz über den Spanienkrieg in dieselbe Kerbe, wobei er auf ein Buch von Patrick von zur Mühlen von 1985 verweist. Ulbricht habe sich um die Jahreswende 1936/37 »insgeheim« in Spanien aufgehalten – »offenbar, um die Verfolgung von 'Trotzkisten' und anderen 'unzuverlässigen Elementen' deutscher Zunge bei den Interbrigaden vorzubereiten.«
~~~ Bemerkenswerterweise wird dieser Vorwurf nicht von Gustav Regler geteilt, falls ich es nicht übersehen habe. Immerhin war Regler in Spanien selber kommunistischer Politkommissar gewesen und läßt ansonsten (in seinen Erinnerungen Das Ohr des Malchus) kein gutes Haar an seinem ehemaligen Genossen Ulbricht. Dafür versichert er, vor dem Spanienausflug habe Ulbricht »Abweichler« oder auch nur »unsichere Kandidaten« gern durch die Methode des an die Frontschickens (oder der Drohung damit) »bekämpft«; schließlich zur illegalen Arbeit nach Deutschland eingeschleust, seien diese Leute, früher oder später, von linientreuen Genossen entweder eigenhändig oder durch einen Wink an die Kollegen von der Gestapo »beseitigt« worden. Der Exil-Chef sei mit einem phänomenalen Gedächtnis gesegnet gewesen, zumal was Personennamen anging. »Ulbricht führte die Liste seiner Opfer im Kopf wie alle GPU-Beamten.« 1938 wurde er denn auch nach Moskau berufen. Er starb 1973 mit 80. Schriftsteller Regler schildert Ulbricht schon von der Erscheinung her fragwürdig abschreckend – fragwürdig für Schriftsteller wie mich. Gegen Reglers Ulbricht war der Glöckner von Notre Dame ein Frauenschwarm. Kein Wunder, wenn so einer auch im Charakter nur ein rachsüchtiger, skrupelloser Fallensteller und »pedantischer Staatsanwalt« sein kann. Während Lenin noch gekämpft habe, habe Ulbricht ausschließlich spioniert. Er habe in jedem Menschen einen potentiellen Verräter gewittert – das lernte dann auch Merkels Kabinett von ihm. Trefflicher noch die folgende Bezeichnung, die Regler findet: »Ein Professor Unrat der Revolution, der Geschichte spielte und seine (übrigens präzise funktionierenden) Beamtenintrigen für machiavellistische Staatskunst hielt.« (Köln 1958, bes. S. 229–32)
~~~ Ulbrichts Ex-Mitstreiter Leonhard äußert sich in seinem schon angeführten bekannten Buch Die Revolution entläßt ihre Kinder kaum anders. »Unbelastet von theoretischen Überlegungen und persönlichen Gefühlen – ich habe ihn selten lachen hören und erinnere mich nicht, jemals bei ihm eine persönliche Gefühlsregung bemerkt zu haben – gelang es ihm meines Wissens immer, die ihm von sowjetischer Seite übermittelten Direktiven mit List und Rücksichtslosigkeit durchzusetzen.« Jede außerparteiliche antifaschistische Initiative in der SBZ lasse Ulbricht im Keim ersticken. Und als besonderen Leckerbissen für das spätabendliche Bettgespräch Walters mit Lotte: Auch den Wunsch von Angehörigen der Gruppe Ulbricht nach Diskussion der Übergriffe sowjetischer Soldaten auf Frauen würgt der Boß gnadenlos ab. Dabei ging es also um Belästigungen und Vergewaltigungen, und damit auch um die Abtreibungsfrage. 2005 hob Leonhard in der FAZ, wie schon Regler in seinen Erinnerungen, Ulbrichts Organisationstalent, seinen Fleiß und sein überragendes Gedächtnis hervor. Für alle anderen außer organisato-rischen und taktischen Fragen habe der Staatschef kein Interesse besessen. »Kein Interesse für Bücher, für Literatur, für Gemälde, für Musik, nichts. Ich denke um Gottes willen nicht, daß jeder für alles Interesse haben sollte, aber vielleicht doch ein Schnippelchen von irgend etwas.« Lotte scheint es nicht gestört zu haben.
~~~ Entsprechen nur 10 Prozent von allem, was die sogenannte Öffentlichkeit dem »Diktator« Walter Ulbricht unterstellt, der Wahrheit, verkörpert er noch immer exakt jenen Typus PolitikerIn, den selbst viele Deutsche inzwischen zu hassen scheinen. PolitikerInnen sind immer schlecht, sie mögen in kapitalistischen oder kommunist-ischen Fähnchen, oder wie Fritz Erler in sozialistischen stecken. Wenn ich freilich eben befand, Lotte sei »überzeugte Kommunistin« gewesen – was heißt das denn, in Wahrheit? Es heißt, sie war eine autoritätshörige Kleinbürgerin, vermutlich verkrampft bis ins Mark, wie ihr großer Gatte auch. Von einem halbwegs befreiten, beschwingenden Menschen keine Spur. Damit empfehlen sich noch einige Bemerkungen zu der heiklen Frage, was man eigentlich von Kommunisten – und von Antikommunisten zu halten habe.
~~~ Die zumindest scheinbare antikommunistische Einheitsfront von Adolf Hitler über Konrad Adenauer, Kurt Schumacher (SPD), Wolfgang Leonhard bis zu Jutta Ditfurth und der Handvoll Anarchisten, die wir noch haben, ist eine große Bürde. Denn jenen »halbwegs befreiten, beschwingenden Menschen« wünschen alle außer der ehemaligen Grünen-Politikerin und den paar Anarchisten jede Wette nicht. Schumacher zum Beispiel wollte eine ärgerliche Konkurrenz um ArbeiterInnen-Stimmen vom Halse haben, die ihn vor dem Zweiten Weltkrieg sogar als »Sozialfaschisten« beschimpft hatte. Adenauer wollte keinen angesehenen Staatsmann Ulbricht neben – und schon gar nicht über sich. Alle wollten den freien Markt (statt des freien Menschen) – keinen »Ostblock«, der sich gegen das ungehemmte Geldverdienen stemmte. Also hieß es »die Roten« in den schwärzesten Farben zu malen – dabei waren sie gar keine Roten. Das ist das Schlimmste an diesem Phänomen. Indem sich die großen und kleinen Ulbrichts als überzeugte Sozialisten oder Kommunisten ausgaben, brachten sie die zwei oder drei guten Züge in Verruf, die sie ihrem System zumindest auf dem Papier angedichtet hatten: Gemeineigentum, Gleichheit vor dem Gesetz, internationale Solidarität der armen und entrechteten Schlucker dieser Welt. Nichts davon lösten sie in der Praxis ein, jedenfalls nicht ohne Pferdefüße, wie ich andernorts zeige. Stattdessen gelang es ihnen, auch die bekannten Ideale der Französischen Revolution, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, endgültig in Verruf zu bringen. Begonnen hatte das in der Französischen Revolution.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Ines Geipel, Black Box DDR. Unerzählte Leben unterm SED-Regime, Wiesbaden 2009



Möglicherweise habe ich hier und dort bereits auf die Blaufichte eingehackt. Ehemalige DDR-BürgerInnen kennen sie unbedingt, denn dort rahmte sie jede zweite Datscha ein. Nachdem wir 2003 in Waltershausen, zwecks Kommune-Gründung, das ausgedehnte Grundstück der biggi-Puppenfabrik erworben hatten, warf ich erst einmal unsere Motorsäge an. Ich hasse diese Fichtenart, die eigentlich, wie sogar Brockhaus weiß, in die nordamerikanischen Gebirge gehört. Mag sein, Lotte Ulbricht haßte auch den US-Imperialismus – die Blaufichte jedoch auf keinen Fall. Jede Importware, die den ostdeutschen Sozialismus westlicher aussehen lassen konnte, war willkommen. Und dies bereits vor der sogenannten Wende. Über diese, nämlich die Einverleibung der DDR durch Kohl, Vogel und Biermann, kann man sich gar nicht genug aufregen. Sehr wahrscheinlich bestand damals die letzte Chance, auf diesem Planeten eine vorbildliche größere anarchistische Republik zu eröffnen, ohne gleich über den Haufen geschossen zu werden. Eben in jener DDR, von der etliche Bananenfresser im Gefolge Biermanns 1989/90 nichts mehr wissen wollten. Gut so. Der Rest, vielleicht acht Millionen plus freundschaftliche Zuströme aus allen fünf Erdteilen, hätte dankbar ungefähr jene utopischen Konzepte verwirklicht, die ich inzwischen schon in mehreren Erzählungen dargelegt habe. Für Westberlin hätten wir Kohl den Bezirk Suhl abgetreten. Da hätte er immerhin etliche Kalibergwerke gehabt, zum Stillegen. Großberlin freilich hätten wir nach und nach ausgedünnt, wie ich es einmal am Beispiel Kassel vorführte. Man sieht bereits, der realistische Roman über die alternative DDR wäre noch zu schreiben. Dazu bedarf es allerdings historischer, geografischer, massenpsychologischer Kenntnisse, die ich leider nicht besitze und wohl kaum noch erwerben kann. Die einmalige Chance ist vorbei.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024


Der DDR-Schriftsteller Kurt Barthel, genannt Kuba (1914–67), kommt im Brockhaus, vor allem wegen seiner umfangreichen »Parteidichtung«, nicht gerade gut weg. Allerdings wäre ich auch nicht verblüfft, wenn alte SED-AnhängerInnen mit dem Vorwurf zurückschlügen, der stets linientreue Genosse, zeitweise Erster Sekretär des Schriftstellerverbandes und zuletzt Chefdramaturg in Rostock, sei von einer westdeutschen antiautoritären Bande namens SDS um die Ecke gebracht worden. Die Sache kam so: Am 12. November 1967 hatte sich Barthel im Rahmen einer Gastspielreise mit dem Rostocker Volkstheater und der Revolutionsrevue 50 Rote Nelken auch im Zoo-Gesellschaftshaus zu Frankfurt/Main eingefunden. Hier erhoben sich unter den rund 1.000 Zuschauern Tumulte, die just der SDS angezettelte hatte, weil ihm das Gebotene, so der Spiegel 48/1967, zu zahm war. Dabei erlitt der 53jährige Spielleiter, der freilich schon länger krank gewesen sein soll, einen tödlichen Herzanfall.
~~~ Ich besitze sogar einen Auswahlband mit rund 70 Gedichten Kubas.* Und mehr noch, ich quälte mich hindurch. Kubas kommunistische Frömmigkeit ist wirklich starker Tobak. Trotzdem bereue ich die Lektüre nicht. Auf Seite 185 stieß ich erstaunt auf das einzige Gedicht, das mich nicht nur nicht folterte oder langweilte, sondern das ich nach wie vor überragend finde. Da es im Internet nur verballhornt auftritt, schadet es nichts, wenn ich es mitteile. Die Schrägstriche ersetzen Zeilenumbrüche.
~~~ >Sagen wird man über unsere Tage: / Altes Eisen hatten sie und wenig Mut, / denn sie hatten wenig Kraft nach ihrer Niederlage. / Sagen wird man über unsere Tage: / ihre Herzen waren voll von bitterem Blut. / Und ihr Leben lief auf ausgefahrenen Gleisen, / wird man sagen – / Und man wird auf gläsernen Terrassen stehn – / Und auf Brücken deuten – / Und auf Gärten weisen – / Und man wird die junge Stadt zu Füßen liegen sehn / und wird sagen: / Die den Grundstein dazu legten / wurden ausgelacht und hungerten, / und doch / planten sie und bauten und bewegten / Trümmersteine. / Und im überlegten Handeln / fluchten sie. / Ach, / zweifelten noch ihre eigene Kraft an. // Denn ein böses Erbe, / Krieg und Kriegsbetrug verwirrte ihren Sinn. // Doch den Kriegen folgte jene Zeit der Wettbewerbe, / und die Zeit der Wettbewerbe / war der Anbeginn.<
~~~ Ich kann in diesem Werk keine Spur von Beweihräucherung oder Großmäuligkeit entdecken. Es feiert das Durchhalten beim (angeblichen) Aufbau des Sozialismus auf nüchterne, berechtigte, dazu noch einfallsreiche Weise. Es atmet ein mühsam errungenes Selbstbewußtsein, das mich keineswegs anwidert, vielmehr beeindruckt. Nun gut. Beim Verfasser persönlich mag sich das anders verhalten haben, sonst hätte er bei meiner Lektüre wohl eine bessere Erfolgsquote als 0,7 Prozent erzielt.
~~~ Wie ich dem Nachwort von Günther Deicke entnehme, stammte Barthel von einem Dorf bei Chemnitz, in dem die Armut zu Hause war. Die Mutter nähte in Heimarbeit Handschuhe, während er seinen Vater, einen Eisenbahnarbeiter und zuletzt Frontsoldaten, bereits verlor, als er selber erst sechs Monate alt war. Später wurde er sozialistisch gestimmter Malerlehrling. Aber da kam auch schon der Anstreicher aus Braunau ans Ruder. Kuba tauchte ab. Von da an war sein großer Halt offensichtlich die Partei. Jetzt hießen seine Väter Ulbricht, Stalin und dergleichen mehr. Vielleicht auch Alfred Kurella? Siehe bei → Scholochow.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 22, Juni 2024
* Kuba, Gedichte, Ostberlin 1952, rund 250 Seiten, 1. Auflage 30.000, Stückpreis 4 DM



Vielleicht hat Brockhaus eine haarsträubende Personalie aus dem Bereich faschistischer Euthanasie – der zielstre-bigen Vernichtung »unwerten« Lebens – übergangen, weil es ihm unbekannt war. Oder er wollte die »sozialliberale« Entspannungspolitik gegenüber der DDR nicht gefährden. Oder er glaubte, zuviel Greuel auf einem Haufen (in 24 Bänden) sei für die BenutzerInnen ungesund. Die ostdeutsche Psychiaterin und Neurologin Friederike Pusch (1905–80), eine Offizierstochter, war laut Ernst Klee 1933 Parteimitglied, dann 1939 Oberärztin der Landesanstalt Brandenburg-Görden geworden. Dort leitete sie die Kinderfachabteilung – das sei das Tarnwort für Mordabteilung gewesen. »Schwachsinnige« oder »idiotische« Kinder wurden unter Täuschung der Angehörigen und Fälschung der Krankenakte ermordet, um »die Volksgemeinschaft« zu entlasten oder auch zum Teil, um der »Wissenschaft« dienen zu können, etwa der Hirnforschung. Die Waffen waren unterschiedlich Tabletten, Spritzen oder Unterversorgung. Zahlen Puschs Wirken betreffend werden nirgends genannt; Beweise liegen offenbar »nur« in Einzelfällen vor.* Pusch muß die Kaltblütigkeit in Person gewesen sein. Noch im Juli 1945, nach Einmarsch der Roten Armee also, habe sie »organisches Material« an das ausgelagerte Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Gießen geschickt, heißt es bei Wikipedia.
~~~ Die Stur- oder Blindheit der neuen ostdeutschen Behörden war auch nicht ohne. Bei Kriegsende konnte Pusch ihrer »Arbeit« in der Landesanstalt Görden einfach weiter nachgehen. Ab 1947 wechselte sie ihre Arbeitsstellen mehrmals: Landesanstalt Neuruppin, Universitätsnervenklinik Halle, Neuropsychiatrische Abteilung der Poliklinik Blankenburg im Harz. »Nach dem 1968 erfolgten Eintritt in den Ruhestand war sie noch bis Ende der 1970er Jahre für die psychiatrische Beratungsstelle in Wernigerode tätig.« Die Frau war ein Glückspilz: sie wurde bis zu ihrem letzten Atemzug weder belangt noch auch nur verhört, behauptet Wikipedia. Zwar habe das MfS einmal Untersuchungen, die Pusch betrafen, angestellt, doch niemals irgendwelche Maßnahmen eingeleitet.
~~~ Nach der Webseite T4-Denkmal hatte es Pusch bis Kriegsende mit Unterstützung des Gördener Anstaltsleiters Hans Heinze bis zur »Obermedizinalrätin« gebracht. Vielleicht ein guter Freund? In der SBZ/DDR sei Pusch nie behelligt worden, obwohl »belastende Zeugenaussagen« vorgelegen hätten. Dafür ist aber immerhin von Puschs Chef Heinze zu lesen, die sowjetischen BesatzerInnen hätten ihn für einige Jahre eingesperrt. Dieselbe Webseite** bringt ein Porträtfoto von ca. 1945, das die ungefähr 40jährige Rätin mit streng anliegender, durchaus schlicht wirkender Frisur zeigt. Man könnte glauben, sie sei eine Bäuerin gewesen – zwar leicht verhärmt, aber weder häßlich noch arbeitsscheu. Treffen freilich die Befunde zu, muß sie ein Ungeheuer gewesen sein. Das lief dann frei im Arbeiter- und Bauernstaat herum und durfte seinen Heilberuf ausüben, als wenn nichts gewesen wäre. Womöglich heilte es aber gelegentlich auch nicht.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024
* Einige Belege gibt Michael Reuter 2015 am Beispiel des Staßfurter Kleinkindes Edith Schulz: https://www.stassfurt.de/de/datei/anzeigen/id/11938,1065/edith_schulz.pdf
** https://www.t4-denkmal.de/Friederike-Pusch



Vor 60 Jahren verlor die DDR ihren berühmtesten Filmregisseur, Slatan Dudow, geboren 1903. Man dürfte zumindest seinen »proletarischen« Pionierfilm Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? von 1932 kennen. Später, nach dem Exil in Frankreich und der Schweiz, ging der bulgarisch-stämmige, mit Brecht befreundete Kommunist nach Ostberlin und drehte für die in Babelsberg ansässige DEFA. Doch er war selber erst 60, als er eines feierabends unfallweise zu Tode kam. Hat ihn am Ende just die DEFA auf dem Gewissen, wie der Journalist und Filmexperte Ralf Schenk zu glauben scheint?
~~~ Im Sommer 1963 drehte Dudow im östlichen Brandenburg auf einem Gutshof Szenen seines Streifens Christine, der unvollendet bleiben sollte. Der Drehort, wohl Heinersdorf, lag bei Fürstenwalde/Spree. Ebendort hatte der 60jährige am frühen Morgen des 12. Juli 1963 einen tödlichen Autounfall. Einzelheiten nennt, soweit ich sehe, niemand. Schenk erläutert aber immerhin*, Dudow sei nach den anstrengenden Dreharbeiten »auf dem Weg nach Berlin« gewesen – »und weil die DEFA-Direktion ein paar Monate zuvor aus Sparsamkeitsgründen beschlossen hatte, personengebundene Chauffeure auf ein Minimum zu reduzieren, lenkte er seinen Wagen selbst. Neben ihm, dem vor Müdigkeit immer wieder die Augen zufielen, saß seine Hauptdarstellerin Annette Woska. Sie überlebte den Crash, lag Wochen im Koma, erfuhr auch danach lange nicht vom Tod ihres Regisseurs …«
~~~ In einem Porträt aus einem gleichsam amtlichen Sammelband** über frühe führende DDR-Revolutionäre liest sich die Sache anders. Es stammt vom prominenten Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase. Danach war Dudow am Lenkrad eingeschlafen. Dies aber mitnichten auf dem Weg nach Berlin (gen Westen), vielmehr nach seinem recht nahen Häuschen in Saarow am Scharmützelsee, der südlich von Fürstenwalde liegt. Der Regisseur hatte dort eine Datscha, die er vor allem im Sommer gern nutzte. Mit »seiner Familie«, wie Kohlhaase reichlich unbestimmt formuliert, wohnte er in Berlin-Pankow. Beide Domizile waren anscheinend nur gemietet. Aber der »blaue Mercedes«, von dem Kohlhaase spricht, war unmißverständlich Dudows Privateigentum. Zum Umgang mit dieser Limousine aus dem Westen teilt der Filmautor Einzelheiten mit. Zunächst sei sie von einem Fahrer gesteuert worden, den die DEFA stellte, dann von einem, den der Starregisseur aus eigener Tasche bezahlte. Schließlich habe er sich jedoch in den Kopf gesetzt, sie eigenhändig zu fahren. Er machte also den Führerschein und erfreute sich daran. Einen harmlosen Unfall, bei dem er im Winter gegen eine mit Streusand gefüllte Kiste fuhr, nahm der vierschrötige, untersetzte, wuchtige Filmkünstler offensichtlich auf die leichte Schulter. Dann kam der verhängnisvolle Julitag 1963. Kohlhaase poetisiert: »Der Tod hat sich hinter einen Baum gestellt, um ihn zu erwarten.« Der Sensenmann war schuld.
~~~ Die von Schenk bemühte anrührende Geschichte von der arglistigen DEFA verschmähte Kohlhaase. Überdies verzichtet er aber nicht nur auf Andeutung der örtlichen Verkehrslage – er übergeht sogar die im Koma gelandete Beifahrerin Dudows. Woska kommt bei ihm nicht vor. Das ist schon ein dickes Ding.
~~~ Theater- und Filmstar Angelica Domröse, geboren 1941, hatte als 17jährige ihren ersten Film unter Dudows Leitung gespielt. In ihren Erinnerungen*** bestätigt sie Kohlhaases Sicht auf den blauen Mercedes und Dudows Begierde, ihn unter seine Lenkrad-Regie zu zwingen. Sie behauptet zudem, der alternde Filmregisseur, der (laut Kohlhaase) schon immer zu Sarkasmus, Aufbrausen und Sturheit neigte, sei wiederholt durch die Führerschein-Prüfung gefallen. Aber darauf will ich nicht herumreiten. Eine recht befremdliche Tatsache erblicke ich zum einen darin, daß auch Domröse, wie Kohlhaase, ihre Geschlechts-, Alters- und Berufsgenossin Annette Woska kaltblütig unter den Tisch fallen läßt. Sie scheint sie nicht zu kennen – obwohl sie mit Kohlhaase befreundet war, der jede Wette um die Rolle Woskas als Beifahrerin wußte. Nebenbei ist Woska auch im Internet nahezu unbekannt; noch nicht einmal die Lebensdaten sind zu haben. Wikipedia erwähnt lediglich, aufgrund ihrer schweren Verletzung bei dem Unfall habe sie »lange Zeit nicht filmen« können. Später, nach ihrer Heirat mit dem Regisseur Dieter Roth, habe sie jedoch, nun als Anette Roth, noch in mehreren DEFA-Filmen mitgewirkt. Wo sie zur Zeit von Christine wohnte, verrät kein Mensch. Vielleicht ruhte sie sich zumindest streckenweise in der Datscha am Scharmützelsee auf dem Eisbärenfell aus. Man erfährt auch nicht, ob sie mit Dudow möglicherweise vor Fahrtantritt ein paar Gläschen Sekt auf das Ende der anstrengenden Dreharbeiten geleert hatte. Falls es Pressemeldungen gab, sind sie mir nicht zugänglich. Erfahrungsgemäß kein Verlust.
~~~ Halten wir uns an die Literatur. Nach Ausweis ihres wenig empfehlenswerten Buches schätzte Angelica Domröse, neben dem Alkohol, insbesondere Katzen, Uhren – und Autos. Zeitweise fuhr sie einen roten Fiat-Sportwagen, dann einen weißen Porsche. Von den vielen VEB- oder LPG-Arbeiterinnen, die Domröse von den Kinosesselreihen her anhimmelten, einmal abgesehen, konnten selbst zwei deftige Autounfälle ihre Vernarrtheit nicht verscheuchen. Einen baute ihr erster Ehegatte Jiri Vrstala, ein Clown. Den anderen hatte sie selber als Beifahrerin eines DEFA-Chauffeurs. Sie lag Wochen im Krankenhaus. Ob und wie jeweils Dritte zu Schaden kamen, geht aus ihren Erinnerungen nicht hervor. Vielleicht hatten die Dritten zufällig mehr Glück als Woska. Als das Lübbe-Buch entstand, um 2000, fuhr Domröse einen Mini-Cooper. Mal sehen, mit welcher Marke sie demnächst das Jenseits bewältigt.
~~~ An Dudows Christine war damals auch der 34 Jahre alte Schauspieler Günther Haack (1929–65) beteiligt, als Luftschaukelarbeiter Georgi und einer von etlichen Geliebten der titelgebenden Landarbeiterin. Dagegen war er nicht an Dudows Autounfall beteiligt. Das kam erst zwei Jahre später. Mit seinem 33jährigen Kollegen Manfred Raasch (1931–65) und wohl noch anderen DDR-Bühnenkünstlern saß er im Juni 1965 vor oder nach einem Auftritt im Bitterfelder Kulturhaus (die Quellen widersprechen sich) in einem Auto, das zwischen Delitzsch und Leipzig auf der F 184 verunglückte. Fahrer soll der »unter Alkoholeinfluß« gestandene Regisseur Hans Knötzsch gewesen sein, der deshalb später vor Gericht kam.**** Raasch und Haack erlagen ihren Unfallverletzungen. Raasch, unter anderem beliebter Sänger von sogenannten »Seemannsliedern«, hatte 1963 die Single Die Liebe ist immer an Bord / … dann ist mein Glück gemacht herausgebracht, Amiga Nr. 4 50 406. Als Bundesverkehrsminister würde ich diese Scheibe gleich zwischen dem Autopiloten und der Innenraum-Überwachungskamera zwangsweise in alle Neuwagen einbauen lassen.
~~~ Im Gegensatz zu Filmzar Dudow konnte sich der gelernte Schlosser und Lokführer Helmut Scholz (1924–67) bis zum letzten Atemzug durch die Gegend fahren lassen, soweit sie umzäunt war. Als sein Chauffeur im März 1967 aus mir unbekannten Gründen Scholzens »schwere« und sicherlich einige Devisen fressende »Regierungslimou-sine«, so der hämische Spiegel (15/1967), an der Autobahnabfahrt Beelitz (südlich von Berlin) in einen »Trümmerhaufen« verwandelte, war Scholz erst 42 – und dennoch seit 1959 sowohl stellvertretender General-direktor der Deutschen Reichsbahn wie Vize-Verkehrs-minister der DDR. Der schwerverletzte Fahrer des Verdienten Eisenbahners Scholz überlebte möglicherweise. Der Unfall soll sich nachts ereignet haben. Entsprechend sieht die Quellenlage aus.

∞ Verfaßt 2023
* Ralf Schenk: Artikel in Filmdienst 14/2003, präsentiert auf https://www.defa-stiftung.de/defa/publikationen/artikel/142003-der-mann-der-kuhle-wampe-drehte/
** Die erste Stunde, Hrsg. Fritz Selbmann, Lizenausgabe im Buchclub 65, Ostberlin 1969, S. 103–13
*** Ich fang mich selbst, aufgeschrieben von Kerstin Decker, Gustav Lübbe Verlag 2003, bes. S. 74/75, 106 ff, 169, 175 ff
**** »Oberstes Gericht verwarf Berufung«, Neues Deutschland 25. Januar 1966



Im Sommer 1990 wurde der Jurist und Kapitalist Detlev Rohwedder (1932–91), ehemals Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium und Chef des Stahlkonzerns Hoesch, zum Leiter der neugeschaffenen sogenannten Treuhandanstalt berufen. Ein knappes Jahr darauf war er tot. Der 58jährige Manager wurde am 1. April 1991 gegen Mitternacht mit einem Scharfschützen-gewehr erschossen, als er an einem Fenster seines Düsseldorfer Wohnhauses erschien. Viele Beobachter-Innen halten diesen Mord bis heute für ungeklärt. Einige von ihnen teilen die Vermutung des Ex-DDR-Abwehrchefs Wolfgang Schwanitz*, der Treuhandchef sei am Ostermontag aus dem Weg geräumt worden, weil sein sanierungsfreundlicher Kurs (statt Privatisierung) höheren Orts nicht genehm war. Tatsächlich änderte sich unter Nachfolgerin Birgit Breuel sofort die »Abwicklungs«-Politik. »Binnen dreier Jahre konnte die Treuhand die ostdeutsche Konkurrenz ausschalten« – Rohwedders Ableben habe für einen beträchtlichen Konjunkturschub gesorgt. Trotz dieser bedenkenswerten Zusammenhänge wird das Attentat auf Rohwedder jedoch zumeist der RAF in die Schuhe geschoben. Angeblich sprechen dafür etliche von der Polizei gesicherte Spuren, darunter Patronen, die auf eine schon früher benutzte Tatwaffe der RAF verweisen.
~~~ Bei dieser Schuldzuweisung macht auch Brockhaus mit, wobei ihm vielleicht der geringe Abstand (1992) zugute zu halten ist. Ich persönlich will keineswegs ausschließen, die Untergrundgruppe sei in das Attentat verstrickt, ich verweise allerdings auf die bekannte Verstrickung der Geheimdienste mit ihr. Sie dürfte ungefähr so sauber (gewesen) sein wie gewisse »islamistische« Kampftruppen, die von der CIA gesponsert werden. Die meisten Quellen verschwenden weder einen Gedanken an die verbreitete Lust falsche Fährten zu legen noch streifen sie die hier genannten Bedenken wenigstens mit einem Hauch. Manche führen zur Abwechslung immerhin die Stasi als Alternative zur RAF ein. Für mich ist das Jacke wie Hose. Im Vergleich dazu stellt Karl-Peter Ellerbrocks trockener Satz in der Neuen Deutschen Biographie (Band 22 von 2005)** geradezu eine Labsal dar: »Der Mord, dem R. zum Opfer fiel, wurde bis heute nicht aufgeklärt; der Presse wurde ein Bekennerschreiben der 'Roten Armee Fraktion' (RAF) zugespielt.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 32, August 2024
* Wolfgang Schwanitz / Robert Allertz, »Die Fakten sprechen für uns«, Junge Welt, 6. Juni 2009
** online https://www.deutsche-biographie.de/sfz107807.html

Siehe auch → Anarchismus, Gugelot (Warendesign) → Blüher (DDR-Fußballer) → Ehre, Ehre → Welskopf-Henrich (DDR-Autorin, Frauenrolle, Patriotismus)




Sollte sich die Kindheit des bekannten Liedermachers Franz Josef Degenhardt (1931–2011) ähnlich gestaltet haben wie die von Fänä Spormann, Viehmann Ronsdorf, Tünnemann Niehus, Zünder Krach und Sugga Trietsch, war sie gleichermaßen hart wie ergötzlich. Diese Arbeiterkinder um 13 sind die Helden von Degenhardts erstem Roman Zündschnüre von 1973, der unverkennbar in Degenhardts Geburtsort Schwelm (im südlichen Ruhrgebiet) angesiedelt ist.
~~~ Während der Kriegsjahre 1943/45 gab es in der Schwelmer »Unterstadt« offenbar eine größere Behälter- und Faßfabrik, der auch ein Lager für Zwangsarbeiter-Innen angeschlossen war. »Meurischs Mauer« liegt genau dem Haupttor dieser Fabrik gegenüber, jedenfalls in Degenhardts Buch. Auf dieser hockend, hecken die genannten Helden ihre den Widerstand gegen das faschistische Regime befördernden Streiche aus. Zumeist handeln sie mit Billigung oder wenigstens zähneknirschender Duldung seitens der ihnen bestens vertrauten kommunistischen oder sozialdemokratischen erwachsenen Antifaschisten. Wenn sie heimlich Wehrmachtsbestände plündern, Güterwagen in die Luft fliegen lassen, verfolgte Pater oder Pianistinnen aus der Stadt schmuggeln, Botschaften überbringen, Spionage treiben, treten sie nur in die Fußstapfen ihrer Väter, die entweder an der Front stehen oder im KZ sitzen. Die Schule bleibt ihnen erspart: zerbombt. Sie kennen sich im Zerlegen von Pistolen aus und sprechen auch schon routiniert dem »Schabau« zu, einem selbstgebrannten Schnaps des einheimischen Proletariats, der das rare Bier ersetzen muß. Gegen die ständig knurrenden Mägen wird unter Umständen das Fleisch eines von anderen gestohlenen Milchwagenpferdes organisiert.
~~~ In der Regel wissen die Jungen und das eine Mädchen (Sugga) um den unbestrittenen Anführer Fänä das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden. So wird dem abtrünnigen Lehrersohn Berti Bischoff die Schinderkarriere bei der Hitlerjugend durch einen Denkzettel vergällt, der sich dessen Leidenschaft für Fußballspielen sowie die Knappheit an echten Lederbällen zunutze macht. Angelockt vom Köder, eilt Berti aus dem Haus, läuft schon von weitem an – und tritt auf dem Rasenstück gegen eine mit Gelb und Schwarz (für die Nähte) erstklassig angemalte Eisenkugel. Als er mit dem Schrei eines »angestochenen Jungbullen« zusammen-bricht, kommentiert Viehmann Ronsdorf: »Na na, ein Hitlerjunge weint doch nicht.« Bertis Fuß kam in Gips, womit sich das Marschieren erst einmal erledigt hatte.
~~~ Der Roman endet mit dem Einzug der Amerikaner und der Rückkehr Heini Spormanns, Fänäs Vater, dem die Rote Armee lieber gewesen wäre. Degenhardt schreibt unverhohlen parteilich. Obwohl er (damals) der DKP nahesteht, bescheinigt ihm der Spiegel im Erscheinungs-jahr, er habe »ohne nostalgische Verklärung« auf die Existenz eines Antinazi-Widerstands der »kleinen Leute« hingewiesen: »ein in der Literatur der Bundesrepublik immerhin seltener Fall.« Genauer gesagt, verehren die Eltern des »pubertierenden Partisanennachwuchses« Thälmann und Stalin. Die sowjetische Bündnispolitik wird bestenfalls milde kritisiert, die KPD in keiner Hinsicht angezweifelt. Der junge Pater Clemens erringt das Vertrauen und die Achtung der Bande, weil er sich »wie ein ordentlicher Arbeiter« benimmt. Werden Gezänk und Gemeinheit berührt, sind sie den »kleinbürgerlichen Elementen« des Arbeiterviertels zugeordnet – es sei denn, es handelt sich um »Verräter«. Dieser Zug des Romans ist eher der Idylle als dem Realismus verpflichtet.
~~~ Auch deshalb ist der beträchtliche Erfolg des Erstlings erstaunlich. Zwischen 1973 und 1996 sind die Zündschnüre in mehreren Verlagen, dabei zum Teil in zahlreichen Auflagen, zudem in drei Übersetzungen (finnisch, tschechisch, dänisch) erschienen. Allein Rowohlt druckte das Buch bislang (2010) in knapp 100.000 Exemplaren. 1974 wurde es durch Reinhard Hauff verfilmt. 1976 erschien der Text als Fortsetzungsroman in der sowjetischen Zeitschrift Ausländische Literatur. Laut Spiegel war diese russische Übersetzung reichlich zensiert. Das Erstaunen steigert sich, wenn man über die literarische Qualität des Erstlings nachdenkt. Degenhardt erzählt ihn in 25 in sich abgeschlossenen Episoden, dabei vorwiegend von der Warte Fänä Spormanns aus. Für den Spiegel macht er dies »unstilisiert, locker und immer jargonsicher«. Wird der Jargon freilich abgezogen, bleibt eine eher arme und wenig bildhafte Sprache. Das dürfte auch Heinz Ludwig Arnold so empfunden haben, obwohl er das Buch (in der Zeit) zunächst in unmittelbare Nachbarschaft von Mark Twains Geschichten um Huckleberry Finn und Tom Sayers rückt.
~~~ Später bemerkt Arnold, Degenhardt sei »kein raffinierter Ästhetiker« und lege »keinen Wert auf unterschiedliche Sprachbehandlung« seiner Figuren. So klingt die höfliche Umschreibung eines Unvermögens. In der Tat sind Degenhardts Figuren – ob Kinder oder Erwachsene – überwiegend austauschbar. Sie haben kein Innenleben und kaum Konturen. Das betrifft auch die Art ihres Auftretens und sogar ihre Erscheinung. Eine geballte Ausnahme findet sich gegen Ende des Buches, wenn Niehus/Fuchs‘ Hochzeitsfeier geschildert wird – und es für des Autors Reue etwas spät ist. Hier läßt er Fänä sämtliche anwesenden Leute »begucken« und der Reihe nach (»wie ein ordentlicher Arbeiter«) über eine ganze Seite hinweg beschreiben. Selbst mit Schilderungen der Schauplätze, etwa Wohnungen, Gassen, Grotten im nahen Berg, ist Degenhardt nicht sehr freigiebig. Das geht auf Kosten der Anschaulichkeit und der Atmosphäre. Wenn Arnold Degenhardts »Charakterisierung des Milieus« dennoch für gelungen hält, dürfte es damit zusammenhängen, daß Arnold es aus eigener Anschauung kennt, wie er in seinem Artikel erwähnt. In solchen Fällen hat man es trotz der Lücken oder Unschärfen im Text vor Augen.
~~~ Sagte ich man? Hinsichtlich der Rolle der Frau verfährt Degenhardt widersprüchlich. Einerseits stellt er zurecht die Tapferkeit und die Verdienste der proletarischen Mütter heraus, die ja überwiegend des männlichen Beistandes beraubt waren. Mit Oma Berta Niehus, der zur verspäteten Hochzeit eine frische Schweinehälfte besorgt wird, schafft er fast eine im Rollstuhl thronende Johanna der Schlachthöfe. Andererseits teilt er seiner Bande lediglich eine Mitstreiterin zu, Sugga Trietsch also. Mehr als das fünfte Rad am Wagen darf freilich auch sie nicht spielen. Sugga hat sich stets mit untergeordneten Aufgaben zu begnügen. Wichtig wird sie eigentlich nur – der klassische Fall – weil sie die Braut des Bandenführers ist. Dabei wirkt die Liebesbeziehung zwischen Sugga und Fänä ausgesprochen abgeklärt. Gefühle scheinen auch dann nicht im Spiel zu sein, wenn die beiden knutschen oder vögeln.
~~~ Die Grundhaltung dieser Kriegskinder ist überhaupt ein stoischer Pragmatismus, der ihnen möglicherweise aus »Meurischs Mauer« in die Unterwäsche gekrochen ist. Hadern, träumen, schmachten sieht man Degenhardts Kinder nie. Sie sind auch nie verstört, wütend oder albern. Jedenfalls die Kinder aus seinem Buch nicht.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022



Demokratie

Gewaltmonopol des Staates --- Seine Beschwörung durch sämtliche »demokratische« Regierungen ist zunächst verlogen, weil sich diese merkwürdigerweise stets mit dem Streichholz-, Zucker- und Zeitungsmonopol verbündet wissen. Die Staatenlosen dagegen stellen immer ökonomische Nieten dar – oder umgekehrt. Mit anderen Worten: eine sehr wesentliche Gewalt wurzelt bereits im Privat- wie im Staatseigentum an Produktionsmitteln und Ländereien, von dem bekanntlich viele Menschen ausgeschlossen sind. Auf dieser Ebene hat sie mit Polizeiuniformen noch keinen Zipfel zu tun. 2010 rutschte dem bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer (CSU) eine Bemerkung heraus, die es vermutlich nie in die Geschichts- oder Soziologiebücher bringen wird. Mit Erwin Pelzig, dem Chef einer beliebten Unterhaltungs-Sendung des ARD-Fernsehens, über Demokratie plaudernd*, räumte Seehofer etwas verlegen ein: »Diejenigen, die entscheiden, sind nicht gewählt; und diejenigen, die gewählt werden, haben nichts zu entscheiden.«
~~~ Maßgeblich sind diskrete Machthaber wie Josef Ackermann von der Deutschen Bank – oder wie Kurt Freiherr von Schröder, der 1921, durch eine günstige Heirat, Teilhaber des Kölner Bankhauses J. H. Stein geworden war. 12 Jahre später, am 4. Januar 1933, lud dieser Schröder Papen und Hitler zu einem kleinen Nachtimbiß ein. Nur VerschwörungstheoretikerInnen behaupten, dabei sei der Sturz der Regierung Schleicher erörtert worden. Mehr zu ihm findet sich unter → Recht, Schreck. Diese diskreten Machthaber, zunehmend auch Machthaberinnen, stehen nie zur Wahl. Ihr zusammengeraubtes oder erbmäßig erschlichenes Kapital genießt päpstlichen Segen und den amtlichen Schutz ewig verhangener Denkmäler. Gegen ihre multinationalen Verflechtungen ist der Staat ein Kartenhaus. Prompt ist dieser so freundlich, ihnen unablässig Zinsen für Kredite, einen »Öffentlichen Dienst« nach dem anderen und neuerdings auch milliardenschwere »Rettungspakete« in den Rachen zu schmeißen. Davon geben sie dann wieder gnädig Kredite. Alle Details der entsprechenden Verordnungen und Verträge hält das Regierungspersonal wohlweislich geheim – auch vor den Pensionsberechtigten im Bundestag.
~~~ Die diskreten MachthaberInnen vernebeln die Welt durch ihr Gerede von »Wirtschaftlichkeit«, verstecken sich hinter kunstvoll verschachtelten Aktienpaketen, schicken bestochene ManagerInnen, MinisterInnen, Gutachter-Innen, RechtsverdreherInnen vor und lassen jede Sozialkritik von einem Bertels- oder Diekmann als »Verschwörungstheorie« verhöhnen oder als »Gutmenschentum« durch den Dreck ziehen. Und mit dem Pochen auf das »Gewaltmonopol« des »demokratischen« Staates gaukeln sie uns nebenbei vor, außerhalb von Polizeiknüppeln und Maschinengewehren gebe es keine Gewalt. Doch der Staat selber übt diese bereits durch eine Bürokratie aus, die Tag für Tag die Mußestunden, Hoffnungen, Lebenspläne zahlreicher kleinen Leute zerstört. Ein Pharmaziemanager übt sie verheerend aus, indem er bestimmte Pillen, die in Afrika recht nützlich wären, mangels »Gewinnerwartung« nicht produzieren läßt. Ein Lehrer kann einen Schüler allein durch schlechte Benotung zu chronischem Asthma oder in den Selbstmord führen. Der Bürger terrorisiert sein Kind, ohne jemals auch nur eine Ohrfeige zu bemühen. Vorwürfe unter Freunden treffen wie Huftritte. Einer wirft den Schuh – und der andere, der ihn sich anzieht, nutzt die bekannte »Opferrolle« zu erpresserischen Zwecken.
~~~ Es war natürlich schon immer das Werk von Demagogen, »die« Anarchisten stets als Menschenfresser mit Sprengstoffgürtel zu malen. Leute wie Michail Bakunin, Alexander Berkman, Victor Serge stellen revolutionäre Gewalt unter hohen Rechtfertigungsdruck. Das nimmt zuweilen schelmische oder groteske Züge an. So verkündet Bakunin, jede Gewalttätigkeit zwischen freien nationalen Föderationen sei zu unterbinden – wohl mit Paketschnur oder mit Samthandschuhen. Unsere winzigen anarchistischen Kommunen haben dasselbe, übrigens schon von Orwell gesehene Problem. Wie gewährleisten sie die Befolgung des selbstgewählten Reglements? Werden Vereinbarungen hartnäckig mißachtet oder unterlaufen, können sie ja schlecht den üblichen »Druck« machen, indem sie Essensrationen kürzen, Büroschlüssel wegschließen oder Polizei ins Haus holen. Also bleibt ihnen nur, anders zu sanktionieren. Böse Zungen sprechen mitunter von Psychoterror, aber es ist das andere Leben.
~~~ Eine gewaltlose Menschenwelt ist undenkbar. Auch die Freie Räterepublik muß ihre Angehörigen vor »Rechtsbrechern« schützen. Auch der Kommunarde hat sein Kind daran zu hindern, auf die verkehrsreiche Straße zu laufen. Droht als Sturmschaden ein Baum in den Hof zu stürzen, fällt er ihn, obwohl erst in einer Woche wieder Plenum ist. Dort setzt er, wenn nicht beißenden Spott, seine Überzeugungskraft ein. Am liebsten führt er die Waffe der Aufrichtigkeit – die mitunter kränkt, gelegentlich auch tötet. Für dieses Spektrum der Gewalt hatte der ehemalige burmesische Bezirkspolizeichef und Spanienkämpfer George Orwell einen guten Blick. Deshalb stellte er 1947 (zu Tolstoi) fest: »Der Unterschied, auf den es wirklich ankommt, ist nicht der zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit, sondern zwischen der Neigung zur Machtausübung und der Abneigung dagegen.«
~~~ Versucht sich demnach ein überzeugter Anarchist den Drang zum Rechthaben und Herrschen abzugewöhnen, heißt das noch lange nicht, er werde bei jeder Zumutung auf Gewalt verzichten. Den Beitrag zum Weltfrieden leistet er so wenig wie Partisan und Pazifist es tun.

∞ Verfaßt um 2010
* Seehofer bei Pelzig am 20. Mai 2010, kurzer Ausschnitt: https://www.youtube.com/watch?v=UBZSHSoTndM



Übelchen --- Alles ist relativ. Mögen deshalb die Übel selbst das Ausmaß von VW-Geländewagen, Butterbergen, Atomkraftwerken, Ölteppichen, Hartz VII, Afrika, Schwarzen Löchern haben – alles halb so schlimm, weil sich immer noch größere Übel denken oder beschwören lassen. Schließlich soll das Universum unendlich sein. Somit sind wir mit Hartz IV noch gut bedient.
~~~ Da sie rein quantitativ operiert, greift die weltweit beliebte Theorie des Kleineren Übels in allen Bereichen und Gremien. Während sich rechterhand stets ein Buhmann findet, der mit der Kettensäge droht, gehen zur Linken die Hackebeilchen hoch. Diese werden uns dann als Erfolg im Abwehrkampf verkauft, ehe sie zur Kürzung unserer Renten dienen. Seitenwechsel ist erlaubt. Nach diesem Muster geben sich in unseren kapitalistisch verfaßten Demokratien seit vielen Jahrzehnten zwei bis fünf verschieden angestrichene Parteien die Türklinke des Staatsapparates in die Hand. Welche Schweinerei auch wer gerade ausheckt – mit Hilfe der Theorie des Kleineren Übels läßt sie sich rechtfertigen, ohne dem Stimmvieh schon für heute radikale Lösungen zumuten zu müssen. Nach dem marxistischen Gesetz des Umschlags der Quantität in die Qualität, an das zumindest die reformistische Linke glaubt, stellen sich die radikalen Lösungen irgendwann ganz von selber ein. Man muß nur emsig Reformen aneinander reihen, die zunächst einmal Linderung bringen. Lenke ich die Entrüstung auf uranhaltige Splittergeschosse, stellen meine herkömmlichen Gewehrkugeln geradezu die Rettung vor jenen dar. Ein ziviler Arbeitsplatz an einem Fließband für Katzenfutterkonserven erhebt mich immerhin weit über das Niveau der Menschenfresserei. Die Grausamen sind die auf der Straße brüllenden Nazis – während unsere von einem makellos gekleideten Bundesverteidigungsminister befehligten Bomber weltweit »humanitäre Katastrophen« abwenden. Da unsere demokratischen Parteien ohne Nazis gar zu schlecht aussähen, wissen Verfassungschutz und Polizei, wen sie zu decken und zu züchten haben. So läßt sich stets mit einem Superbuhmann drohen – und sei es mit dessen Verbot.
~~~ Wer darauf achtet, taumelt beim Studium der Geschichte von einem Übelchen zum nächsten. Der liberale Zeitzeuge Sebastian Haffner schreibt in seinen Erinnerungen eines Deutschen, die Regierung Brüning (Reichskanzler 1930) sei »im Effekt fast unentrinnbar zur Vorschule dessen« geworden, »was sie eigentlich bekämpfen« sollte. Der Kommunist Gustav Regler behauptet (in seinen Erinnerungen Das Ohr des Malchus) nichts anderes schon von Reichskanzler Wilhelm Marx (1926–28): »Sie nannten ihn das kleinere Übel; es war eine erstaunlich dumme Losung, nicht aggressiv, nur selbstmörderisch. Sie verloren diese Schlacht, wie sie die von Kapp und Cuno verloren hatten.« Der Schriftsteller Lion Feuchtwanger und seine Gattin Marta wählen 1932 Hindenburg als das »geringere Übel«, wie Marta in ihren Erinnerungen (Nur eine Frau, 1983) kritiklos erwähnt. Die KPD – mit der beide sympathisierten – hatte immerhin zur Wahl von Thälmann aufgerufen, weil jede Stimme für Hindenburg den Krieg wähle. Am 30. Januar 1933 machte dann der neue Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler.
~~~ Bald darauf – am 16. September 1935 – legt ein gewisser Joseph Goebbels in einer vermutlich intern gehaltenen Rede dar, warum davon abzuraten sei, den Gegner zu sehr in die Enge zu treiben. Brächten wir in der Propaganda zum Ausdruck, die Juden hätten überhaupt nichts mehr zu verlieren – »ja, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn sie kämpfen. Wenn Sie ihnen aber eine Chance geben, eine geringe Lebensmöglichkeit, dann sagen sich die Juden: Wenn die jetzt im Ausland wieder anfangen zu hetzen, dann wird's noch schlimmer – also, Kinder, seid doch mal still, vielleicht geht's doch!« Zitat nach Wolf Schneider: Wörter machen Leute, München 1986, Seite 128.

∞ Verfaßt um 2010

Siehe auch → Anarchismus, Tauberbischofsheim (Privatsphäre) → Lüge → Mehrheitsdenken → Spitzel → Vertretung




Denkmäler

Während meinen letzten Westberliner Jahren (um 1990) wohnte ich in einem großen, ungewöhnlich menschen-freundlich verwalteten Mietshaus Ecke Kameruner-/Togostraße. Es war der Weddinger »afrikanische« Winkel. Er hatte sogar eine übergreifende Afrikanische Straße zu bieten. Mit diesem Winkel war die unverbrüchliche Freundschaft des deutschen Volkes mit allen Negern bekräftigt, wie man damals noch sagen durfte. Den tropischen, für Baumwolle und Kaffee günstigen Landstrich Togo an der westafrikanischen Küste hatte sich der deutsche Imperialismus 1884 unter den Nagel gerissen – nur zu »Schutz«-Zwecken selbstverständlich. 1914/16 kamen die Franzosen in seinen Genuß. Ja, hätten wir den Ersten Weltkrieg nur gewonnen, hätten wir diese Wachablösung verhindern oder wieder rückgängig machen können! So aber erklärten einheimische schwarze Bosse Togo im Jahr 1960 für unabhängig. Darüber wird heute noch gelacht: über die Unabhängigkeit. Zu den ersten Großtaten jenes Jahres zählte die Errichtung eines, wie Brockhaus meint, »monumentalen« Unabhängigkeits-denkmals in der Hauptstadt Lome (frz. Lomé). Das Lexikon bringt sogar ein Farbfoto.* Das wuchtige Stück ähnelt der verbreiterten und durchlöcherten Berliner Luftbrücke. Vermutlich war es sogar teurer als diese. Das wäre der volkswirtschaftliche, vielleicht lediglich untergeordnete Gesichtspunkt. Die Errichtung von fünf geräumigen Dorfgemeinschaftshäusern für dieselbe Summe wäre meines Erachtens beträchtlich sinnvoller gewesen. In der Hauptsache geht mir freilich auf, daß ich, als Anarchist, Denkmäler grundsätzlich aus sozialpsychologischen Gründen ablehnen sollte. Einen »Umsturzplatz« hier und dort könnte ich vielleicht noch verkraften. Aber bei Pferden und fäuste- oder computermausschwingenden Zweibeinern hörts wirklich auf. Man kann Achtung vor verdienten Mitstreitern so wenig verordnen wie Revolutionen. Jeden Personenkult verabscheut der Anarchist sowieso. Nebenbei würden Denkmäler in Freien Republiken gegen meine wohlbegründete Abneigung verstoßen, den öffentlichen Raum, ob Marktplatz oder Birkenhain, bis zur Unkenntlichkeit zu verschandeln. In dieser Hinsicht bin ich ganz Umwelt- und sogar Luftschützer.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 23, Juni 2024
* https://www.bridgemanimages.com/de/noartistknown/independence-monument-lome-togo/photo/asset/3068707




Im Gegensatz zu Brockhaus will ich die Schriftstellerin Juliane Déry (1864–99) erwähnen, obwohl sie vielleicht keine umwerfenden Werke geschaffen hat. Die Tochter eines deutsch-jüdischen Kaufmanns kam mit ungefähr 10 aus Ungarn nach Wien, wo ihre Eltern zum Katholizismus übertraten. Kurz darauf brachte sich ihr Vater allerdings um. Juliane konnte trotz häuslicher Armut Lehrerin werden. 1888 gab sie ihr literarisches Debüt mit einer Novelle. Nach einem mehrjährigen Paris-Aufenthalt, der sie mit vielen Prominenten zusammenbrachte, darunter Zola und Dreyfus**, machte die umtriebige Ungarin auch als Dramatikerin auf sich aufmerksam. Ihr Einakter Verlobung bei Pignerols kam 1893 im Coburger Hoftheater heraus. Bis 1898 in München lebend, war sie an der Gründung des Intimen Theaters beteiligt. Vom »Malerfürsten« Franz von Stuck wurde sie mehrmals porträtiert. Dann ging sie nach Berlin, wo sich offenbar Heiratspläne zerschlugen. Es kam hinzu, daß Déry bereits in Paris in die berühmte »Dreyfus-Affäre« verwickelt und der Spionage beschuldigt worden war. Man hatte den »jüdischen« Hauptmann Alfred Dreyfus wegen angeblichen Landesverrats (an »die Deutschen«) vor ein Militärgericht gestellt. 1899 hatte er gerade seinen zweiten Prozeß, in dem er noch immer nicht freigesprochen wurde. Das spielte womöglich bei Dérys Auflösung mit. Die 34jährige Schriftstellerin stürzte sich Ende März vom Balkon ihrer im dritten Stock gelegenen Berliner Wohnung.**
~~~ Als Dreyfus schließlich rehabilitiert und sogar zum Major befördert wurde, lag Déry schon sieben Jahre unter der Erde. Ein Dr. H. E.* soll sie ein »wildes, leidenschaftliches Geschöpf« genannt haben, »in ihrer Kunst sowohl wie in ihrem Leben und ihrer Liebe.« Mit diesem Temperament habe sie sich teils in romantischen Stimmungsgemälden verrannt, teils jedoch zu Bildern »voller Kraft, Ingrimm und Übermut« aufgeschwungen. Déry sei die einzige in deutscher Sprache schreibende Frau der Moderne gewesen, »die eine starke Empfindung für alles Psychologische hatte, sie war eine der ganz wenigen, die Eigenes, nicht Anempfundenes gaben.«
~~~ In einem erst unlängst erschienenen Aufsatz** behauptet Agathe Schwarz, Déry sei bereits am 10. Juli 1861 geboren worden, demnach erst mit 37 gestorben. Als Lehrerin sei sie wahrscheinlich nie tätig gewesen. Sie reiste viel und war überhaupt ein multikultureller Hans Dampf in allen Gassen. Die Mutmaßungen über Liebeskummer, genauer wegen der geplatzten Verlobung mit einem norwegischen Architekten, bestätigt Schwarz. Sie gibt jedoch zu bedenken, so ein Selbstmordmotiv sei eben »akzeptabler« als etwa die weibliche Unzufriedenheit mit der künstlerischen Laufbahn gewesen. Schwarz zeigt die anscheinend blonde gebürtige Ungarin als vielseitige, vielleicht auch zu überspannte, zerrissene Persönlichkeit, der es möglicherweise nicht mehr gelang, sich ausreichend zusammen zu halten.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* laut https://www.projekt-gutenberg.org/ewers/fuehrer/chap053.html. Wahrscheinlich handelt es sich um Hanns Heinz Ewers (1871–1943), im Sammelband Führer durch die moderne Literatur, Globus Verlag Berlin, o.J.
** Agathe Schwarz im Sammelband Transdifferenz und Trans-Kulturalität, transcript Verlag 2018, S. 227–42. Vorsicht, die Überschrift des sogar im Internet lagernden Aufsatzes (»Alterität, Gender, Transdifferenz und Hybridität in Juliane Dérys Leben und Werk«) könnte empfindlichen Besuchern den Magen umdrehen!




Dienstboten

Wie ich wohl schon andernorts einmal spottete, legt in Deutschland jeder Landstrich, der mehr als drei Maulwurfshügel zu bieten hat, darauf Wert, mit der Schweiz zu konkurrieren. Deshalb haben wir also im winzigen Städtchen Buckow, ein »Erholungsort in seen- und waldreicher Hügellandschaft« und »beliebtes Ausflugsziel« der rund 50 Kilometer westlich Geschäfte treibenden BerlinerInnen, das Herz der Märkischen Schweiz zu sehen. Wer betucht genug dazu war, baute sich gleich eine Villa im Städtchen, oder wenigstens, wie Brecht und Weigel, ein geräumiges Ferienhaus unmittelbar am Ufer des Schermützelsees. Dort konnten sie sich dann von der anstrengenden Kraftfahrt über die löchrigen Landstraßen ausspannen, ehe sie die nächsten Buckower Elegien raushauten. Oder hatten sie vielleicht einen Chauffeur? Ich bin im Moment gar nicht sicher. Ich vermeide es eigentlich seit vielen Jahren so gut es geht, mich in die näheren Verhältnisse angeblich bedeutender Geistesgrößen oder KlassenkämpferInnen zu knien, um mir in dem Gedränge, das bei denen herrscht, keine Beulen oder Kotzgefühle zu holen. Aber bei Brecht darf man wohl zumindest sicher sein: Hatte er keine LohnkutscherInnen, dann doch jede Menge Regieassistenten und Frauen, die den Wagen notfalls schoben.
~~~ Was richtige »Dienstboten« angeht, kann ich sogar aus dem Stegreif einige moderne SchriftstellerInnen aufzählen, die keine Skrupel, dafür jedoch das Geld hatten, sich Hauspersonal zu halten: Ludwig Tieck, Gerhard Hauptmann, Lion und Marta Feuchtwanger, Beauvoir/Sartre, Zuckmayer, Kasimir Edschmid, Leonhard Frank, nicht zu vergessen das Ehepaar Monica und Peter Huchel in der bis 1990 angeblich sozialistischen DDR. Selbst der unablässig um Geld flehende Robert Musil hielt auf Personal. Konsequent empfängt auch dessen Mann ohne Eigenschaften in seinem »niedlichen« Wiener Schlößchen nur BesucherInnen, die sein Butler eingelassen hat. Die Soziale Frage wird in dem Wälzer so üppig behandelt wie im Alten Testament der Pazifismus. Anders bekanntlich Karl Marx – der sich im Verein mit seiner Gattin Jenny, zunächst in Brüssel, unter anderem eine Köchin gehalten hatte, die von einem saarländischen Tagelöhner, Ackerer und Bäcker abstammte und zu allem Überfluß auch noch Lenchen Demuth hieß. So schaffte das Ehepaar Marx kostbare Arbeitsplätze. Kern der sonstigen Rechtfertigungen für dieses schäbige Verhalten stellt natürlich das bekannte kommunistische Credo dar, der Zweck heilige die Mittel. Begabten Genies wie Marx und Brecht sind die Hände für ihre epochale Aufgabe freizuhalten, das Gesetz von Lohn, Preis und Profit und John Gays Beggar’s Opera zu entdecken. Versinken sie irgendwann, etwa 1989/90, im Sumpf, können sie sich ja am eigenen Zopf oder Bart wieder herausziehen.
~~~ Übrigens hatte auch Orwell, der manchen als halber Anarchist gilt, keine fleckenlose Weste. Michael Shelden versichert uns: »Ein Diener kümmerte sich nur um seine Kleidung und machte sein Bett, ein anderer machte sauber und leerte den Nachttopf, und ein dritter bereitete die Mahlzeiten zu.« Natur- und detailgetreuer könnte es kaum geschildert werden. Vielleicht färbte hier der Beruf seines Gegenstandes auf den Biografen ab. Orwell hielt sich damals – als junger Mann – für fünf Jahre im Dienste des Empires in Burma auf, wo er es bald bis zu einer Art Bezirkssheriff brachte. Er schrieb noch schlecht, war aber im gehobenen Polizeidienst. Als er dann gut schrieb, leerte er seinen Nachttopf immer eigenhändig.
~~~ Was mich selber angeht, stand ich zuletzt, 2003–6, in Diensten der hiesigen Puppenfabrikkommune, wo ich unter anderem das Amt des Müllbeauftragten bekleidete. Keiner stampfte die Tonne so gut wie ich, keiner warf die Gelben Säcke weiter. Bei deren geringem Gewicht erfordert das einiges Training; bei Gegenwind sollte man damit rechnen, daß einem ein Zacken aus der Krone bricht. Einmal wäre es in der Puppenfabrikkommune sogar fast zum Aufstand gekommen. Da der »routierende« Kloputzdienst nicht gerade glänzend funktionierte, platzten P. und L. schließlich die Kragen. Sie verkündeten auf dem Plenum: »Wir übernehmen den Job fest.« – »Was denn, ihr wollt das immer machen?« – »Ja, sicher, machen wir gern.« Ein Sturm der Entrüstung folgte! Mit Klauen und Zähnen wurden Basisdemokratie und Rotations-prinzip verteidigt. Doch die beiden Kommunarden setzten sich durch. Nach einigen luxuriösen Monaten hatte dann auch der letzte seinen stürmischen Einspruch vergessen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024


Vom niedersächsischen Maler und Versschmied Wilhelm Busch (1832–1908) bringt Brockhaus ein hübsches, farbiges Blatt aus der weltbekannten Bildergeschichte Max und Moritz. Die beiden Lausbuben sägen gerade den Steg an, auf den sie Schneider Böck zu locken gedenken, damit er in den Dorfbach fällt. Ihre Vorfreude auf den Streich ist unübersehbar. Etwas spät fällt mir allerdings auf, daß sie bei dieser Anordnung doch einige Mühe gehabt haben müssen, nicht selber im Wasser zu landen. Sie stehen nämlich beide nahe des langen Schnittes, den Max gerade mit der Tischlersäge anbringt, auf der besagten, nicht durch Pfosten abgestützten Brücke. Somit drohen sie sich den berüchtigten Ast abzusägen, auf dem sie selber sitzen – sofern sie sich nicht im letzten Augenblick mit akrobatischem Sprunge an die Ufer retten. Eben diese Maßnahme könnte freilich auch vorzeitig für den Zusammenbruch des Steges sorgen. Damit wäre der geplante Streich ins Wasser gefallen.
~~~ Hier deutet sich an: möchte sie glaubwürdig sein, ist stilisierende, verknappende Kunst nicht so einfach. Immerhin stimmt bei Busch die Säge. Ich habe mir bereits als Raumaustattergeselle und Kommunarde oft gesagt, um die Erdnähe der SchriftstellerInnen sei es überwiegend kläglich bestellt. Die meisten könnten eine Tischlersäge wahrscheinlich noch nicht einmal halbwegs in der Lotrechten halten. Sie können uns reizende Sonette von Shakespeare über fürstliche Finsterlinge vorsingen, aber keine Sense dengeln. Ich erinnere auch an die Dienstboten. In dieser Hinsicht zielt meine Kritik keineswegs nur auf das Ausbeutungs- und Befehlsverhältnis, das immer gegeben ist. Vielmehr bedauert sie den entlohnenden Dichter oder Denker als entfremdetes Wesen. Alle diese wertvollen ding- und alltagsnahen Erfahrungen, die er seinem Personal überläßt, kann er nun nicht selber machen. Er entfernt sich vom Erdboden. Was Wunder, wenn er abgehobenes Zeug schreibt und uns vor allem mit seinen Seelenkrämpfen kommt – oder denen seines Hundes. Noch so ein Dienstbote.
~~~ Im übrigen fördert der Verzicht darauf, sich bedienen zu lassen, selbstverständlich die Unabhängigkeit. Die postmoderne Welt ist wahren Heerscharen von »Experten« und unabdingbaren Gerätschaften ausgeliefert. Als immer schlimmer empfinde ich dabei den Terror, den die IT-Branche mehrmals täglich auf mich einprasseln läßt, sobald ich meinen Laptop anschalte. Es ist der sogenannte alternativlose Terror, denn ohne mich diesem zu unterwerfen, wäre ich, in gesellschaftlicher Hinsicht, sowieso schon längst abgehängt. So lockt die IT-Branche mich Dummböck auf den einzigen Steg unseres globalen Dorfes.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024



Der demokratisch, patriotisch, antiklerikal und rauferisch gestimmte schweizer Bildende Künstler Martin Disteli (1802–44) machte vor allem mit Buchillustrationen und politischen Karikaturen auf sich aufmerksam, wie uns vier Brockhaus-Zeilen mitteilen. Wer kennt den schon? Disteli stammte aus Olten, wohnte aber zuletzt in der Kantonshauptstadt Solothurn, wo er einen Posten als Zeichenlehrer hatte. Die Stadt liegt auf halbem Wege zwischen Basel und Bern. Ein Selbstporträt Distelis von 1840 zeigt wirklich einen Könner, wenn er auch etwas abgerissen wirkt. Und warum gab er seinen Solothurner Posten mit 41 schon wieder auf? Das erfährt man im Internet, soweit ich sehe, hauptsächlich durch einen kurzen, als Pdf eingestellten Bericht von Gottfried Wälchli. Der 1899 geborene Germanist und Lehrer war ebenfalls Oltener und setzte sich stark für den Landsmann ein. Etliche andere Quellen scheinen uns Distelis Ende sehr taktvoll nicht zumuten zu wollen.
~~~ Disteli hatte sich 1828 mit der Bauerntochter Theresia Gisiger verheiratet, die freilich schon drei Jahre darauf starb. Nach Wälchlis wertvollem Heimat-Artikel* verfiel Disteli, der stets auf seine Kraft und Unverwüstlichkeit stolz gewesen sei, in seinen letzten Lebensjahren zusehends. Besonders dürfte ihm seine unglückliche Liebe zu Caroline Mehlem zugesetzt haben. Er einsiedelt auf dem Solothurner Hermesbühl, verwahrlost offensichtlich, gibt sich dem Alkohol hin und wird immer kränker. Wälchli spricht von Husten, Fieber, Brustwassersucht. Ärztliche Ratschläge verwirft Disteli, Freunden macht er Reisepläne vor. Nach dem Fortgang eines Jugendfreundes, der ihn besucht hatte, befällt ihn plötzlich schwere Übelkeit. Gegen Mitternacht im Bett liegend, habe er sein Leben mit einem Seufzer ausgehaucht.
~~~ Über beide genannten Frauen oder Liebschaften erfährt man Näheres** von der Solothurner Stadtführerin Marie-Christin Egger. Die blutjunge Theresia soll bildhübsch gewesen sein, erlag jedoch mit 23 der Schwindsucht. Eine bodenlose Ungerechtigkeit. Allerdings hatte die durch Schwangerschaft erzwungene Ehe mit Theresia den Freiheitskämpfer Disteli eher beengt und gequält. 1837 jedoch, sechs Jahre nach dem Tod seiner Frau, verguckt sich Disteli in Caroline, Tochter der Wirtsleute vom Roten Turm am Soluthurner Marktplatz. Sie muß sich heimlich mit Disteli verloben, weil ihre Eltern nichts von diesem fragwürdigen Schwiegersohn wissen wollen. Dann funkt auch noch eine »freigebige« Kellnerin des Roten Turms dazwischen. Im Sommer 1841 trennt sich Caroline schweren Herzens von dem schwierigen, oft ruppigen, vielleicht auch lieblosen Künstler. Jedenfalls hat er seiner heimlichen Braut, wie es aussieht, viel Kummer gemacht. Egger zitiert Berührendes aus Briefen von ihr. Nun gibt Caroline der Werbung eines soliden, wohlhabenden Auswärtigen nach. Gegen diesen Nebenbuhler soll Disteli ziemlich ausfällig geworden sein. Dann habe sich der Künstler, von verzweifelten Waldgängen heimgekehrt, zunehmend in »Kaffee und Fusel« gestürzt. Einmal sei er sogar im Bucheggberg von einem Landjäger, der ihn, den Herrn Obristen [Offizier der eidgenössischen Armee], nicht kannte, als Landstreicher aufgegriffen und nach Solothurn gebracht worden. Von daher könne man sich seine heruntergekommene äußere Erscheinung ausmalen. Die Stadtführerin verkneift es sich rücksichtsvoll, auf die klassische männliche Doppelmoral Distelis einzugehen: mit der erwähnten Kellnerin vergnügt er sich hinter Carolines Rücken ersatzweise gern; deren neuen Schwarm dagegen, Mister Teodor Dudenhöfer aus St. Louis, möchte er am liebsten zerfleischen.
~~~ Vielleicht noch ein Wort zur Geburtsstadt des »Obristen«, Olten. Mit gut 18.000 Einwohnern ist Olten sogar die größte Stadt des Kantons Solothurn. Sie scheint aber Millionenstädten zu ähneln. Am 19. Mai 2023 meldet das Oltner Tagblatt, zwei Personen hätten einen Jugendlichen nach Bargeld gefragt, ihm eine Stichwaffe gezeigt und seine Bankkarte mitgehen lassen. Und dies alles in der Martin-Disteli-Straße.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Gottfried Wälchli, »Martin Distelis Tod«, in: Für die Heimat / Jurablätter von der Aare zum Rhein, Band 6 (1944), Heft 3, S. 46/47, online https://www.e-periodica.ch/cntmng?pid=jub-001%3A1944%3A6%3A%3A319
** https://roterturm.ch/de/Liebesgeschichte/, Stand 2021




Dohrn, Wolf (1878–1914), Reformprojekt-Chef in Dresden, beim Skilaufen in der Gegend von Chamonix (Walliser Alpen) verunglückt. Die berühmte »Gartenstadt« Hellerau, damals vor den Toren Dresdens, wurde 1909 vom lebensreformerisch gestimmten Möbelfabrikanten Karl Schmidt gegründet. Wichtiger Bestandteil waren Werkstätten und eine »Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik«, später nur noch »Festspielhaus« genannt. Man wollte im Grünen arbeiten, wohnen und feiern – kurz, man wünschte sich einen jugendstiligen Winkel, in dem der Kapitalismus gesünder und schöner auszuhalten sei. Dazu bedurfte es natürlich der Unterstützung durch zahlreiche lebensfroh und neuartig gesinnte Künstler-Innen, und wer sie alle anwarb oder koordinierte, war Schmidts »rechte Hand« Wolf Dohrn.
~~~ Der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler war mit Dohrn befreundet. In seinem Lebensrückblick* schildert er Dohrn, der in einem gelehrten Hause Neapels aufgewachsen war, als großzügig und draufgängerisch veranlagten Humanisten, dem offenbar ein »neues Griechentum« vorschwebte. Einen besonderen Narren hatte Dohrn an dem französisch-schweizerischen Komponisten und Musikerzieher Jacques Dalcroze gefressen. Für ihn gab er beim Architekten Heinrich Tessenow die erwähnte »Bildungsanstalt« in Auftrag. Sucht man sich ein eher unvorteilhaftes Foto** dieses mit wuchtigem Säulenportal versehenen Gebäudes heraus, weiß jeder gleich: hier findet ein Unterricht hinter Gittern statt. Die heutigen Sachsen hätten es problemlos zu einer Besserungsanstalt für Corona-LeugnerInnen erklären können, doch es heißt, sie nutzten es wieder als Kunsttempel. Das ist womöglich im Sinne Schefflers, der merkwürdigerweise von einem »schlicht tempelartigen« Gebäude, andererseits jedoch von einem gewissen Hochmut der SchülerInnen, Lehrkräfte und bevorzugt Werkenden und Wohnenden spricht. Laut Scheffler gab es in Hellerau trotz aller lebensfrohen Kundgebungen zunehmend Unstimmigkeiten, Cliquenwirtschaft und einen Machtkampf zwischen Dohrn und seinem Gönner, dem Möbelbaron. Den eigentlichen Niedergang des Projekts habe Freund Dohrn »zum Glück« nicht mehr erlebt. Nachdem es in der Weimarer Republik unaufhaltsam verwässert worden war, erkannten die Faschisten 1939 immerhin die Potenz des »Festspiel-hauses« und nutzten es als Polizeischule. Später zog die rote SU-BeschützerInnenarmee dort ein.
~~~ Für Scheffler lag Dohrns Skiunfall (mit 35) in den Alpen sozusagen auf der Linie der Verwegenheit des Freundes. Dohrn habe stets alles aufs Spiel gesetzt, nebenbei für Dalcroze auch sein ganzes Vermögen. Nach Thomas Nitschke*** war Dohrn am 4. Februar 1914 mit der Berliner Schauspielerin Mary Dietrich unterwegs. Unweit des Dörfchens Trient sei er einen 400 Meter langen, steilen Hang »bergab gerutscht und kopfüber gegen einen Stein gestürzt, wo er leblos liegen blieb.« Zuvor habe Dietrich, soweit Nitschke wisse, Dohrns Ehe »erschüttert«. Der Organisator hatte sich 1907 mit Johanna Sattler verheiratet, wohl eine Bildhauerin. Sie ging nach dem Bergunfall an seinen jüngeren Bruder Harald Dohrn. Von Dietrich, geboren 1896, heißt es, sie habe häufig für Theaterguro Max Reinhardt gearbeitet, auf den Scheffler übrigens nicht so gut zu sprechen war. Dietrichs Antifaschismus hielt sich anscheinend in Grenzen. Sie starb 1951 in den USA. Da der Bergunfall bereits Anfang 1914 stattfand, blieb Dohrn auf diese Weise nicht nur die Entscheidung zwischen den Damen sondern auch der Frage erspart, ob es sich beim Ersten Weltkrieg um eine gymnastische oder doch eher dynastische Übung handele, nämlich der Krupps und Stinnes‘ und deren ArbeitnehmerInnen. Jedenfalls führte die Übung zum Faschismus.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Karl Scheffler, Die fetten und die mageren Jahre, Leipzig 1946, S. 43–46
** https://de.wikipedia.org/wiki/Wolf_Dohrn#/media/Datei:Tessenow_lores.jpg
*** Grundlegende Untersuchungen zur Geschichte der Gartenstadt Hellerau / Band 1 »Die Gründerjahre«, Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2005, bes. S. 153 und 170–72




Doorn ist eine inzwischen unselbstständige Gemeinde in der Provinz Utrecht, na immerhin. Den niederländischen Maler Tinus van Doorn (1905–40) dagegen kennt Brockhaus nicht. Er stammte aus einer Lehrerfamilie und besuchte ab 1924 zumindest zeitweise die Kunstakademie in Den Haag. Wichtiger sollen ihm die Anregungen »vor der Natur« gewesen sein. Nach Ausstellungs-Rezensent Stefan Kuiper* wird er unter Fachleuten den »kleinen«, außerdem den »naiven« Malern zugeschlagen. Kuiper scheint nicht viel von ihm (oder seinen handwerklichen Fertigkeiten) zu halten. Nur in den Farben sei er stark, wenn er sie so kontrastiert, daß die Szene von innen wie eine Laterne beleuchtet erscheint. Zur Biografie des Künstlers schweigt sich Kuiper aus. Ein paar Angaben finden sich jedoch in einem Pdf, das mir freundlicherweise eine bei Amsterdam gelegene Kunsthandlung überlassen hat.**
~~~ Danach lebte Doorn (Heirat mit Annie »Akkie« Vermeulen) ab 1929 in Rotterdam, wo er sich mit Illustrationen, Plakaten, Werbung, Bühnenbild über Wasser hält. 1932 kauft ein Museum zwei Gemälde von ihm; er kommt ins Gespräch. 1933 bezieht er mit seiner Frau die Hütte De Pondok in Barchem, Gelderland. Das Dorf liegt östlich von Zutphen und damit unweit der Grenze zu Deutschland. Das Paar soll sich hier zunächst sehr wohl gefühlt haben; nur steigt im Osten der deutsche Faschismus auf. Doorns Arbeiten, teil als »kindisch« abgetan, bekommen düstere, bedrohliche Züge. 1935/36 habe das Ehepaar in Spanien/Portugal verbracht. Ich vermute, ohne Bürgerkriegsteilnahme. Anscheinend kehren die Doorns in ihre Hütte zurück. Aber im April 1938 weichen sie nach Brüssel aus. Hier schafft Doorn verschiedene Skulpturen, außerdem antimilitaristische Zeichnungen. Mit Kriegsausbruch bereiten die Doorns eine Flucht nach Frankreich vor, doch sie werden von den Flüchtlingsströmen zurückgetrieben. Nun sind in ihrer Vorstadtwohnung Gas und Wasser gesperrt. Auch die Geldnot nimmt stark zu; schließlich liegen die Kunstmärkte brach. Die Nazis hätten Doorn natürlich sowieso als entartet eingestuft*** und eher auf Dornen als auf Rosen gebettet. Erhofftes Geld von den Eltern trifft nicht oder zu spät ein. Mit dem Einmarsch der Deutschen in Brüssel Mitte Mai 1940 bringt sich das Ehepaar gemein-sam um. Wie, wird nicht gesagt. Doorn war knapp 35.
~~~ Nach den Unterlagen aus Blaricum soll sich Doorn zuletzt, in einem Brief, recht selbstbewußt über sein Schaffen geäußert haben; für die Ignoranz vieler Leute könne er ja nichts. Dagegen behauptet die deutsche Wikipedia, er habe zunehmend unter Selbstzweifeln gelitten. Von seiner Ehefrau erfährt man auch aus Blaricum gar nichts, sofern ich es nicht übersehen habe. Einige Webseiten verkünden immerhin, Vermeulen sei Pianistin und 15 Jahre älter als Doorn gewesen. Trifft das erste zu, dürfte »Akkie« im ehemaligen Residenzstädtchen Zutphen wenig Auftrittsmöglichkeiten gefunden haben. Oder war sie Musiklehrerin? Wir wissen es nicht. Und erst der Zündstoff des angeblichen Altersunterschiedes! In den Sümpfen um Barchem feucht geworden, verschimmelt. Vielleicht sollte sich einmal ein Fuchs an Vermeulens Fersen heften, die ist doch viel interessanter als Doorn.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Stefan Kuiper, »Paradise Lost«, 8weekly (Utrecht), 1. November 2005: https://8weekly.nl/recensie/kunst/tinus-van-doorn-schilder-van-het-verloren-paradijs-paradise-lost/
** Studio 2000 magazine, Blaricum (bei Amsterdam), 20. Jahrgang, Nr. 3 September 2015. Das Heft ist ausschließlich Doorn gewidmet, bietet einige Texte (leider auf niederländisch) und viele Abbildungen, ferner Literaturhinweise.
*** https://de.wikipedia.org/wiki/Tinus_van_Doorn#/media/Datei:Tinus_van_Doorn_-_Farmer_in_the_moonlight.jpg




Doppelmoral

Der deutsche Klassische Philologe Hans Diller (1905–77) war streckenweise sogar Mitglied der staatstragenden Partei. Das wird uns allerdings nicht im Brockhaus verraten. Diller sei 1937 Professor in Rostock, 1942 in Kiel geworden. Den Lehrstuhl in Kiel konnte er günstigerweise bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1973 halten. Ernst Klee* führt dazu eine Erklärung des Historikers Geoffrey J. Giles von der University of Florida an, gegeben in einem Sammelband über Akademische Karrieren unter Hitler, Berlin 1993: »Im Laufe der Entnazifizierungsverhöre leugnete Diller seine Parteimitgliedschaft und wurde infolgedessen wieder auf seinen Posten gesetzt.«
~~~ Hier war man also nachsichtig. Als Kontrast fällt mir dazu der Leidensweg des Hermann Auspitz ein, den Günther Schwarberg in seinen Erinnerungen streift.** Der Berliner Jude war Handlungsreisender, folglich alles andere als ein Akademiker gewesen. So hatte er in seiner Einfalt um Aufnahme in die NSDAP ersucht, von der er sich ein Ende seines Elends versprach. Nach wenigen Monaten wird er »enttarnt«, wieder hinausgeworfen und außerdem von der braunen Polizei aus Deutschland verbannt. Nun ist der nur 1 Meter 62 große Mann staatenloser Flüchtling. Er wird europaweit mehrmals eingesperrt und wieder abgeschoben, dabei in einem fort erniedrigt und krankgequält. Schließlich ist er nur ein kleiner Jude. Zur Krönung wird sein Antrag auf Unterstützung beim Berliner Entschädigungsamt nach Kriegsende mit der bösartigen Begründung abgeschmettert, durch jenen Aufnahmeantrag – den er auch noch verschwiegen haben soll – habe er sich nachweislich »zu den verbrecherischen Zielen der NSDAP bekannt und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Vorschub geleistet« … Dazu merkte ich bereits andernorts an: Im Falle von angeklagten aktiven Nazis wurde bekanntlich genau umgekehrt befunden, aus ihrer Unterwerfung unter geltendes Unrecht dürfe ihnen kein Strick gedreht werden; gemäß ihrer nationalsozialistischen Gesinnung sei ihnen das Unrecht auch gar nicht als solches einsehbar gewesen. Dergleichen Einsicht wurde erst wieder ab 1989 verschiedenen Repräsentanten des finsteren »Unrechtsstaates« DDR abverlangt. Ekelhaft.
~~~ Auspitz wurde später gerichtlich mit einem dürftigen »Härteausgleich« abgespeist – dies aber nur, weil er sich die Erklärung abnötigen ließ, er werde zukünftig auf alle Entschädigungsansprüche verzichten. Demnach kommt es immer darauf an, wie stark oder schwach der Beschuldigte beziehungsweise Rechtsuchende und wie gut oder schlecht gelaunt der Richter beziehungsweise Behördenchef ist. Damit befinden wir uns auf dem leider viel zu selten geprüften Minenfeld der bekannten Doppelmoral, auf die ich in Kürze zurückkommen werde.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, 2003, hier aktualisierte Ausgabe Ffm 2005, S. 111
** Günther Schwarberg, Das vergess ich nie, Göttingen 2007,
S. 304–6



Den folgenden Absatz aus Brockhaus zitiere ich lückenlos, weil ich ihn ausgezeichnet finde. Es geht in dem Eintrag um: doppelte Moral, eine Ethik, die zur Bewertung einer bestimmten Handlung zweierlei Maßstäbe ansetzt, ausgerichtet danach, von wem oder in welchem Lebensbereich die Handlung begangen wird; z.B. je nachdem ob eine Person als Künstler oder als Bürger auftritt, ob eine bestimmte Handlung durch einen Mann oder eine Frau verrichtet wird, ob sie in das Privatleben oder die angeblich rigeroseres Handeln zulassenden Bereiche der Wirtschaft oder der Politik fällt. Der Wechsel des Maßstabs wird mit dem Hinweis auf eine gewisse Eigengesetzlichkeit, die bestimmten Personengruppen oder Lebensbereichen zukomme, begründet. Das Motiv für eine d. M. liegt jedoch offensichtlich darin, den Spielraum der Handlungsmöglichkeiten, der durch die allgemein herrschenden sittlichen Werte, Gebote und Verbote begrenzt wird, zu erweitern, um auch eine Durchsetzung außermoralischer Sonderinteressen als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.
~~~ Soweit das Lexikon. Die fehlende Erläuterung, je nach dem, ob der zu Beurteilende dem eigenen oder dem feindlichen Lager angehöre, kann man sich ja, nach meinem Auftakt mit Diller, leicht hinzudenken. Der Internetredakteur Jens Berger nimmt sich gerade* die »absurde« Rechtfertigung angelsächsischer »Luftschläge« gegen den Jemen vor. Jemenitische Huthi-Rebellen hatten verschiedene Frachtschiffe beschossen, die sehr wahrscheinlich Lieferanten Israels waren. Die USA, das UK und der Berliner Baerbock-Papagei gaben die Vergeltung dieses Beschusses als völkerrechtlich gedeckte »Selbstverteidigung« aus. Dabei waren sie selber (oder Schiffe unter ihrer Flagge) keineswegs »angegriffen« worden; sie konnten zudem kein UN-Mandat vorweisen. Sie haben also das Gewaltverbot des Völkerrechts ganz im Gegenteil mißachtet. Die USA träten das Völkerrecht zum x-ten Male mit Springerstiefeln, klagt Berger, und weder die Bundesregierung noch die Kommentatoren in den Leitmedien interessiere dies. Dort erwärme man sich immer nur dann für das Völkerrecht, wenn man Böswichten wie den Russen (im Donbaß) dessen Bruch vorwerfen könne. Also ebenfalls ein Feld für Doppelmoral, und zwar ein sehr beliebtes. Der Brockhaus-Eintrag weist übrigens auch schon auf die sogenannte »Staatsräson« hin, die neuerdings so gern bemüht wird, um die für den einzelnen Bürger geltende Ethik in die Mülltonne treten zu können.
~~~ Irre ich mich nicht, deutet Bergers Bemerkung zu den Leitmedien eigentlich an, daß die großen AnwenderInnen von Doppelmoral es immer weniger nötig haben, ihre unmoralische Haltung überhaupt noch zu rechtfertigen. Vielleicht mußte der Regierungssprecher nur deshalb von »Selbstverteidigung« faseln, weil zufällig ein letzter, gut verkleideter aufmüpfiger Journalist an der Pressekonfe-renz teilnahm, den die Gorillas an der Eingangstür übersehen hatten. Die Leidmedien fühlen doch keinem Regierungssprecher mehr auf den Zahn. Sie sind zahmer als die von den Angelsachsen gefütterte Ziege Baerbock. Vielleicht kommt ein neuer Schub Rechtfertigungsdruck, wenn Wagenknecht Kanzlerin ist und ihr Parteijugend-verband von ihr zu wissen begehrt, warum sie gegen bestimmte, neuaufgelegte Rheinmetall-Panzer wettere, nicht jedoch gegen die jüngsten Fendt-Schlepper, obwohl diese offensichtlich viel höhere Hinterräder hätten. Ob sie am Ende mit zweierlei Maß messe ..?

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 9, Februar 2024
* Jens Berger auf https://www.nachdenkseiten.de/?p=109555, 16. Januar 2024

Siehe auch → Clandenken, Werner III → DDR, Gaidzik (böse und gute Mauern) → Grenzen, Ludwig → Recht, Rückwirkungsverbot (dito Mauern)




Dörnberg (bei Kassel) → Achtundsechzig, Dörnberg → Luftfahrt, Quackenbrücker (Segelflug)



Das Schicksal, einen Vater zu haben, ist ohnehin schon schlimm, aber der Erzeuger des dänischen sozialkritischen Autors Frederik Dreier (1827–53), ein Kopenhagener Hofgerichtsrat, war eine besonders harte Nuß. Dessen »Melancholie« steigerte sich im Laufe von Dreiers Kindheit zu religiösem und Verfolgungswahn, sodaß man ihn 1840 pensionieren, 1847 in die geschlossene Schleswiger Heilanstalt einliefern mußte. Zu diesem Zeitpunkt war Dreier junior um 20. Brockhaus übergeht beide Herren. Vielleicht hatte sich der Junior ja in erster Linie aufgrund der »Psychose« seines Erzeugers zu einem Medizinstudium entschlossen. Daneben legte er sich allerdings eine breitgestreute Bildung zu, durch die er imstande war, ein vergleichsweise umfangreiches philosophisch-politisches Werk zu schaffen. Auch dieses diente wahrscheinlich vordringlich als Bollwerk gegen die Gefahr, verrückt oder sonstwie krank zu werden. Es half nur begrenzt.
~~~ Dreiers Gedankenwelt war atheistisch, materialistisch, rational gegründet. Er zehrte vor allem von Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Max Stirner, Pierre Joseph Proudhon. Der bäuerlich-provinziellen dänischen Wirklichkeit war er mit seinen Vorstellungen weit voraus – und entsprechend stieß er bei Kollegen und Lesern auf Ablehnung, wenn nicht gar Nichtbeachtung. Nur der angesehene Kritiker Georg Brandes erkannte, Dreier sei ihnen allen »um Kopfeslänge« überlegen. Später wurde Dreier als »Dänemarks erster Sozialist« bezeichnet, wovon er selber freilich nichts mehr hatte. Nach einem Einsatz als Sanitäter im Bürgerkrieg 1848/49 bestand er im Frühjahr 1853 die ersten Zwischenprüfungen an der medizinischen Fakultät. Wenige Wochen später, im Mai, war der 25jährige designierte Arzt tot. Warum, scheint ungeklärt zu sein. Mehrere Quellen halten jedoch einen Selbstmord für wahrscheinlich. Dem Dansk Biografisk Leksikon zufolge* litt Dreier seit etlichen Jahren an einer »nie diagnostizierten« Krankheit, zuletzt wohl außerdem an Liebeskummer. Übrigens hatte er eine Zeitlang mit einer Geliebten, nämlich Ida Ekeroth, Tochter eines Goldschmiedes, zusammen gelebt. Mit ihr hatte er sogar mindestens ein Kind. Meine zahlreichen des Dänischen mächtigen LeserInnen verweise ich auf Svend Erik Stybes Buch Frederik Dreier von 1959, in dem womöglich Näheres steht.
~~~ Ein vermutlich im Todesjahr Dreiers entstandenes Gemälde von Carl Fiebig zeigt den jungen Denker zwar mit rötlichem Vollbart, jedoch zarten Gesichtszügen, allerdings auch mit einer leichten Hakennase. Brandes dürfte noch andere Gründe besessen haben, wenn er einmal von »dem einen wilden Vogel mit dem scharfen Schnabel« sprach. Laut Niels Finn Christiansen** hatte sich Dreier auch unmißverständlich und unter den gegebenen Umständen einzigartig gegen den überall wuchernden Nationalismus gewandt. Bekanntlich hatte dieser nicht zuletzt den erwähnten Bürgerkrieg befeuert, dänische gegen deutsche Fraktion. In Dreiers 1848 veröffentlichter Schrift Folkenes Fremtid (Die Zukunft der Völker) sei zu lesen: »Dem Vaterland zuliebe opfert der gute Bürger mit Freuden alles, selbst das Leben; z. B. wenn die Gefahr herrscht, daß ein Teil der Menschen nicht länger dem Vaterland angehören will, sein Land nicht mehr nach dem Namen des Vaterlandes nennen will, dann sollten sich lieber alle Bürger totschlagen lassen, als daß dem Vaterland solche Schmach widerfahre. Das sind sonderbare Grillen.«
~~~ Dreier hielt den »Patrioten« die allgemeinen, viel wichtigeren Werte entgegen, die alle Menschen, zumindest alle freiheitsliebenden und antiautoritär gestimmten, ungeachtet ihrer »Nationalität« teilen. Die Ideologie des »heiligen Wettbewerbs« als einzig möglicher Triebfeder menschlicher Tätigkeit zählte er ausdrücklich nicht dazu. »Wir kennen eine andere«, soll er im selben Jahr in einer Schrift über Volkserziehung versichert haben, »nämlich das Interesse an der Tätigkeit an sich, die Freude an der Arbeit.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 10, Februar 2024
* Artikel von Oluf Bertolt und Vagn Dybdahl, Stand 11. August 2014: https://biografiskleksikon.lex.dk/Frederik_Dreier
** Niels Finn Christiansen, »Das kommunistische Gespenst – die dänische Linke und 1848«, in: NordeuropaForum 8 (Berlin), 1998:2, S. 49–63, online https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/8371/christiansen.pdf?sequence=1&isAllowed=y

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