Sonntag, 5. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 8
Briefe – Colby
Briefe – Colby
ziegen, 14:06h
Briefe
Von der Post zum Posten --- Wakiya, in der Schule der (weißen) »Geister« Byron genannt, lehnt am Stamm einer freistehenden Kiefer. Für feierliche Anlässe hat er bestimmte Plätze, darunter das Grab des alten Häuptlings. Es blickt von einer Bodenwelle herab auf das King‘sche Anwesen, das freilich nur aus einer Blockhütte und dem ehemaligen Tipi des Alten besteht. Während die Präriegräser wie seit Jahrtausenden im Wind schaukeln, betastet Wakiya ehrfürchtig zwei Briefumschläge. Er hat tatsächlich Post bekommen! Cowboy Bob von der Nachbarranch hat sie ihm aus der Agentursiedlung mitgebracht. Die Briefe kommen von seinen Pflegeeltern. Queenie King schreibt aus der fernen Kunstakademie; Joe King dagegen meldet sich mit einem dünnen Brief aus dem Knast von New City. »Der dünne Brief war ihm wichtiger, daher wollte er ihn erst an zweiter Stelle lesen. Ein Indianer erledigt erst das Unwichtige, um sich dann dem Wichtigen ganz widmen zu können.«
~~~ DDR-Autorin Welskopf-Henrich hat ihre fünf Reservationsromane um Joe King, dem das Messer recht locker im Stiefelschaft saß, zwischen 1966 und 1980 veröffentlicht. Wie ließe sie ihren Indianerknaben heutzutage verfahren? Gut, er muß nicht unbedingt in der Blockhütte am Computer sitzen, er kann sein Notebook oder sein Smartphone mit hinauf zum Grab des alten Häuptlings nehmen. Nun ruft er also sein Email-Konto auf. Aha, seit gestern abend sind 17 neue Mails eingetroffen. Welche öffnet er zuerst? Betasten kann er sie alle 17 nicht. Aber wir lassen diese Sache, sie ist gar zu abwegig. Sie würde bereits daran scheitern, daß Wakiya heutzutage für den Abstecher zum Grab des alten Häuptlings gar keine Zeit mehr hätte.
~~~ Über Jahrzehnte hinweg stellten Briefe auch für mich etwas Besonderes dar. Entsprechend empfing ich sie. Aber das ist vorbei. Es kommen keine Briefe mehr. Man könnte einwenden, was ich neuerdings täglich in meinem Email-Konto abriefe, das seien doch auch Briefe. Ja, dann könnte man auch Nacktschnecken als Nachtigallen ausgeben. Verkehr per Email ist schriftliches Telefonieren. Da das Medium sofortige Reaktion geradezu provoziert, ähneln diese Verlautbarungen Hustenstößen oder Schwällen aus Erbrochenem, die den Planeten wie die jeweilige Großwetterlage einhüllen. Emails sind nahezu gestaltlos und in der Tat blitzschnell austauschbar. Der Server könnte die Adressen verwechseln, es fiele nicht sonderlich auf. Sie wimmeln von Formeln, Gemeinplätzen und Rechtschreibfehlern. Sie werden überflogen, um im »Papierkorb« der Festplatte zu landen. Entsprechend erschreckend sind die Irrtümer und Mißverständnisse, die einem in Antworten zugemutet werden, sofern denn welche kommen. Emails züchten, was zu den vier oder fünf wesentlichen Zügen der Moderne zählt: Flüchtigkeit.
~~~ Von daher vermute ich stark, das einst so beliebte Herausgeben von Sammelbänden mit Korrespondenzen hat sich inzwischen erledigt. Wie wollten es zwei Buch-deckel bewerkstelligen, diesen so leicht manipulierbaren Müll zusammen zu halten, den einer Tag für Tag in seinen Computer hackt? Der herkömmliche Brief zwang mich und meine PartnerInnen durch zahlreiche unvermeidliche Erschwernisse zu wohlerwogenen knappen Sätzen und damit zum genauen Ausdruck. Von daher war er ungleich erkenntnisträchtiger als jedes Gespräch. Die altmodischen SchriftstellerInnen nutzten ihre Korrespondenz seit jeher als Sandkasten, Komposthaufen, Steinbruch. So begegnen uns etwa im Briefwechsel von Wilhelm Dilthey und Paul York von Wartenburg ständig Bausteine ihrer philosophischen Gedankengebäude. Alles habe abgewirtschaftet, seufzt Dilthey einmal 1892; ein Glaube sei nicht mehr da, nur noch eine »furchtbare nervöse Unruhe«. Und das vor 120 Jahren! Wie soll man da erst den heutigen Zustand nennen?
~~~ Er ist die Frucht eines seit vielen Jahrhunderten eingeübten quantitativen Denkens, das selbstverständlich nur in der allgemeinen Charakterlosigkeit enden kann. Auf zeitgenössisch heißt schreiben posten und Charakter-losigkeit Flexibilität. Selbst ein konservativer und disziplinierter Rebell wie ich ist nicht davor gefeit. Um 2010 machte ich vorübergehend bei Wikipedia mit, was mir die CIA wahrscheinlich noch heute hoch anrechnet. Warum sollte ich mir damals beim Verfassen oder Überarbeiten von Wikipedia-Artikeln uneingeschränkte Konzentration, Geduld und Sorgfalt abverlangen, wenn ich doch das in diesem Internet-Lexikon »Veröffentlichte« schon nach Sekunden wieder ändern konnte? Und wenn es auch jeder andere jederzeit ändern konnte? Man sieht, das einzige Feste im Zeitalter des Computers ist die Festplatte – die lediglich als Durchgangslager für Eintagsfliegen zu dienen hat. Entsprechend setzen die Gestalter der Webseiten alles daran, die BesucherInnen restlos daran zu hindern, den dort gebotenen Text aufzunehmen, wie ich schon hier und dort verfluchte: durch blasse Schriftbilder, unlesbare Schriftarten, Kraut&Rüben-Layout, Laufschriften, jäh ins Bild platzende Schilder mit x Aufforderungen, routierende Fotostrecken, Trommelfeuer aus Videoclips und so weiter und so fort. Man lebt im Irrenhaus.
~~~ Die Gediegenheit des klassischen Briefwechsels verdankte sich also der verhältnismäßig hohen, wohltuenden Unumstößlichkeit der darin aufscheinenden Positionen und Charakterzüge. Dabei konnte es allerdings ungemütlich werden, wenn einer die Briefe, die er empfing oder selbst versandte, für bare Münze nahm, pflegten sie doch aufgrund ihrer guten Formulierung nicht selten eine Höhe zu erreichen, von der man gar zu leicht abzustürzen drohte. Hier lauerten Enttäuschung und Beschämung. Das Phänomen ist auch von zahlreichen Bücherschreibern her bekannt. Sie bilden sich ein, sie wären so gut wie ihre Texte. Tatsächlich hinken sie diesen natürlich hinterher wie Esel Adlern. Lassen sie sich trotzdem auf die Dichterlesung zum Anfassen ein, können sie nur verlieren; man möchte ihnen am liebsten eine Schlafmütze über die Löffel ziehen. Solche Ernüchterung blieb womöglich selbst Briefwechslern wie Goethe und Schiller oder Georges Simenon und Federico Fellini nicht erspart, wenn sie sich gelegentlich leibhaftig trafen. Vermutlich vermieden sie es soweit es ging. In der Tat gab es immer Menschen, die gerade deshalb zum Briefverkehr griffen, um sich die betreffenden PartnerInnen vom Leibe zu halten. Sie waren vielleicht von Natur aus schüchtern oder die geborenen EigenbrötlerInnen und von daher gar nicht an einer Begegnung interessiert.
~~~ Wer solche Abstürze nicht zu befürchten hatte, sah freilich im Brief die gleiche Chance, die uns die Literatur gewährt: uns aus dem Sumpf des Gewöhnlichen und Unzulänglichen mehr oder weniger emporzuziehen. Der Brief erzog. Meistens diente er ohnehin der Klärung und Selbstvergewisserung. Er zwang mich zu einer präzisen Mitteilung dessen, was ich will oder bin. Ein kritischer Kopf – war es Karl Kraus? – soll allerdings einmal bemerkt haben, gute Briefe zeichneten sich dadurch aus, daß aus ihnen vor allem etwas über ihre EmpfängerInnen hervorgehe. Vielleicht hatten ihn gerade Rilkes um 1920 verfaßte, selten gespreizte Briefe an eine junge Frau erbost. Im Vergleich dazu bot uns Umstandskrämer Stefan Zweig mit seiner Erzählung Brief einer Unbekannten (von 1922) geradezu eine Labsal dar. Sie hat lediglich den Schönheitsfehler, die »Unbekannte« zur Hündin des Briefempfängers zu machen – zufällig ein Schriftsteller, dem sie einmal eine Nacht versüßen durfte.
~~~ Der Brief an sich hat ebenfalls einen Schönheitsfehler, den ich nicht verheimlichen will: er hat keine Form. Selbst Essay und Roman sind reglementierter. Es ist wie bei gewissen Feuilletons. Es fehlt dieser »Form«, die keine ist, an Hürden, die den Autor daran hinderten, vom Hölzchen aufs Stöckchen zu kommen. Sie verführt zu Orgien der Abschweifung, des Ausweinens, der Beschimpfung. Ein Brief macht jeden Unfug mit. Wenn Sie da nicht standhaft sind! Jules Renard seufzte vor gut 100 Jahren (in seinem Tagebuch), mit all seinen nicht abgeschickten Briefen könne er ein ganzes Buch füllen. Aber er tat es eben nicht.
∞ Verfaßt 2012 / 2019
Wenn die Post nachts käme / und der Mond / schöbe die Kränkungen / unter die Tür: / Sie erschienen wie Engel / in ihren weißen Gewändern / und stünden still im Flur.
~~~ So Ilse Aichinger in ihrem Gedichtband Verschenkter Rat von 1978. Inzwischen sind 45 Jahre ins Land gegangen, und alles hat sich enorm verschärft. Heute finde ich keine Kränkungen in meinem Mailfach vor, vielmehr gähnende Leere. Die Leute antworten einfach nicht. Da ich als Nachforscher und Manuskriptanbieter vergleichweise viele Mails herausschicke, erfahre ich auf diese Weise Tag für Tag, was ich eigentlich schon wußte: Die Welt befindet sich im Krieg. Das erste Opfer ist die Wahrheit, das zweite die Höflichkeit.
~~~ Dummerweise reißt diese Ignoranz stets ein Riesenfeld von Fragen, Unterstellungen, Verdächtigungen, ja Verwünschungen auf. Deshalb ist sie in anarchistisch gestimmten Kommunen völlig unüblich. Dort bekommt man immer eine Antwort. Das Echo meines Gegenübers, und sei es die ganze Gruppe, läßt mich nie im Ungewissen. Es schiebt jenen Mutmaßungen einen Riegel vor. Der Mißachter meiner Mail dagegen reißt den Riegel erfreut zurück, aufdaß ich in ein Schwarzes Loch falle. Zugegeben, manchmal merkt er sein Zurückreißen gar nicht, weil er viel zu beschäftigt damit ist, andere Mails zu lesen oder an seinem Buch über Kommunikationsstörungen weiter zu arbeiten. Nicht selten reißt er den Riegel aber auch mit Lust zurück – wie ich ihm gern unterstelle. Er will, daß auch ich mich gekränkt fühle, nicht nur Ilse Aichinger.
~~~ Bezahlte mir jemand die Zeit, die ich schon über den Grund des Schweigens bestimmter Leute gerätselt habe, hätte ich Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn glatt die Dahlemer Villa abkaufen können, die ihm neuerdings so viele Anwürfe eintrug. Er hat sie gerade wieder verscherbelt, für 5,3 Millionen. Den Presseleuten erzählte er, zuletzt habe man es sogar gewagt, ihm »ein Paket mit Fäkalien« ins gediegene Haus zu schicken. An seiner Stelle hätte ich das Paket einfach elektronisch an Lauterbach, Habeck, Baerbock und noch ein paar Ungesinnungs-genossen weitergeleitet. Jedenfalls versichern mir IT-Experten, die Möglichkeit, ein Roboter könnte meine Mail unterwegs mutwillig oder aus Versehen gefressen haben, sei äußerst unwahrscheinlich. Die Leute wollen einfach nicht.
~~~ Gewiß, ich übertreibe. Ein paar wollen durchaus, nur nicht gleich oder nicht so bald. Sie lassen also gern auf ihre Antwort warten. Das ist ihre Antwort auf die Raketengeschwindigkeit der Elektropost. Drei bis 13 Tage Wartezeit sind nicht selten. Wie sich versteht, verweisen diese Gutwilligen auf die Fluten an Post, die sie zu bewältigen hätten. Die Redaktion des eher randständigen Monatsblatts Graswurzelrevolution versicherte mir einmal, im Schnitt bekäme sie 100 Mails am Tag. Setzt man für die Bearbeitung einer Mail lediglich fünf Minuten an, kommt man bereits auf gut acht Stunden, die sich täglich ein Mitarbeiter allein den eingegangenen Mails zu widmen hat. Auch an diesem Fall ist das Schicksal der »Erleichterungen« ablesbar, die uns der technische Fortschritt serviert: Sie fordern notwendig zur Aufblähung heraus und enden als neue Lasten.
~~~ Einmal gönnte mir ein namhafter Germanist zwar eine Antwort, ließ jedoch zunächst sein starkes Befremden über meine Unhöflichkeit durchblicken, in der Anrede seinen Titel zu unterschlagen. Er war selbstverständlich Doktor und Professor. Ich hätte ihn aufklären können, in Deutschland zählten derartige Titel von Amts wegen nicht zum Namen, sie stellten lediglich akademische Grade dar. Aber was hätte das genutzt? Der Mann war offensichtlich so stark von seiner Bedeutung durchdrungen, daß selbst die Schwaden aus einem Fäkalienpaket an seinem Panzer aus Eitelkeit und Minderwertigkeitskomplexen unwirksam abgeglitten wären.
~~~ Zuweilen hatte ich freilich auch die Empfindung, den Ignoranten seien lediglich Geringfügigkeiten gegen den Strich gegangen, etwa eine etwas offenherzige, unvorteilhafte Bemerkung zu einer bestimmten Arbeit von ihnen, meine altmodische Rechtschreibung oder mein Versäumnis, in meinem Blog nicht mit einem mich abbildenden Foto zu glänzen. Alles, was heute noch nach Eigenwilligkeit und Randständigkeit riecht, hat ungleich weniger Chancen, bei Spahn & Genossen anzukommen, als ein Fäkalienpaket. Von allem, was ihnen nicht ähnlich ist, fühlen sie sich unglaublich leicht beleidigt, bilde ich mir ein zu beobachten. Das scheint sicherlich meiner Behauptung zu widersprechen, wir befänden uns im Krieg. Aber der Anschein trügt. Der postmoderne Krieg wird von Hasenfüßen und Charakterruinen veranstaltet. Da gibt es wenigstens nicht mehr viel zu zerstören.
~~~ Ich möchte sogar die unbescheidene Vermutung wagen, zuweilen zögen die Leute nur deshalb den Schwanz ein, weil sie instinktiv spüren, sie wären der Überzeugungskraft meiner Argumentation oder Sprachbehandlung nicht so richtig gewachsen. Bei einigen Freunden gelte ich als ausgezeichneter Briefeschreiber. Doch die Leute haben in manchen Fällen auch Artikel von mir gelesen oder in meinem Blog geblättert, damit sie nicht auf den falschen Köder anbeißen. Und siehe da, sie sehen zum Beispiel: der Mann hat etwas gegen Autos, Nobelpreise, Hunde und so weiter. So einem werden wir doch nicht unter die Arme greifen! Wahrscheinlich hätte mir Adalbert Stifter auch nicht geantwortet, obwohl es zu seiner Zeit noch gar keine Autos und Nobelpreise gab. Sein Hätschelhund hieß Putzi.
∞ Verfaßt 2023
Wem wäre die östlich von Madagaskar gelegene Insel Mauritius einschließlich der einst dort ausgegebenen »ersten englischen Kolonialpostwertzeichen«, die später astronomisch hohe Preise erzielten, nicht bekannt? Na also. Ich wende mich deshalb der ersten Freien Post dieses Planeten zu. Sie wurde um 1900 in der Freien Republik Mollowina gegründet. Da dieses Schwarzmeerländchen das Geld abgeschafft hat, pflegen die Leute dort, rund 40.000, auch keine Briefmarken zu kaufen. Es gibt dort überhaupt keine Gebühren, folglich entfallen auch Briefmarken. Das soll freilich nicht heißen, die dort von den berittenen Postkurieren des Hauptstädtchens Kusmu dreimal wöchentlich beförderten Botschaften der RepublikanerInnen wären bereits von den Briefumschlägen her stinklangweilig. Sie sind im Gegenteil oft auf die reizendste und verblüffendste Art bemalt oder bekritzelt. Die einzige offizielle Vorschrift, wenn man sie so nennen darf, besteht in der Ermahnung, Anschrift und Absender einigermaßen deutlich aufzubringen, damit die Postkuriere keine Lupe bemühen oder erst einen Ermittlungsausschuß gründen müssen. Kusmu liegt ungefähr in der Mitte des Ländchens. Bald nach dem Umsturz (Junker- und Türkenherrschaft!) wurde die Republik für die Zwecke der Benachrichtigung nach Art von Blütenstrahlen in 12 Posttouren eingeteilt, die von den Kurieren, ab Kusmu Marktplatz, ohne Hetze in höchstens einem Tagesritt zu bewältigen sind. Dann liefern sie ihre Gäule wieder im einzigen Gestüt der Republik ab, das unterhalb des Städtchens am Kusufer liegt. Ihre Entlohnung besteht aus den Eindrücken, die sie im Verlauf ihrer Tour in den Dörfern empfangen und ausgetauscht haben, darunter manche Scherze und lächelnde Gesichter. Die neu zu versendenden Botschaften bringen sie ebenfalls mit nach Hause. Sie werden im Postbüro am Marktplatz sortiert. Botschaften an den Republikrat, beispielsweise eine Bitte um ein paar Spannschlösser oder einen Rüffel für die Bildungsrätin Aneta Pillat, gehen in der Regel sofort an das gegenüber liegende ehemalige Rathaus von Kusmu, in dem nun jener Republikrat sitzt. Auch die drei Bezirke des Hauptstädtchens werden als Dörfer bezeichnet und entsprechend verwaltet. Im ganzen teilen sich die RepublikanerInnen auf rund 50 Dörfer auf. Fundament eines jeden Dorfes und damit der gesamten Republik sind die sogenannten Grundorganisationen (GO‘s), meist zwischen 70 und 100 Köpfe stark, Kinder eingeschlossen. Wer es genauer wissen will, muß meinen Kurzroman Zeit der Luchse lesen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 25, Juni 2024
Mit dem österreichischen Politiker Christian Broda (1916–87) scheint sich einmal ein Lichtblick einzuzwän-gen. Gelernter Rechtsanwalt und SPÖ-Mitglied, habe er in seiner Eigenschaft als Justizminister (bis 1983) »sozialistische Grundauffassungen bei der Verabschiedung von Reformgesetzen (z.B. zum Straf- und Familienrecht) durchgesetzt, frohlockt Brockhaus. Heute überstrahlt der österreichische Sozialismus sicherlich schon das nördliche Alpenvorland. In Wahrheit dürfte Broda gelernter Klempner oder Bootsbauer gewesen sein, wenn ich an meine früheren Bemerkungen zum Zauberwort »Reform« erinnern darf. Er machte den kapitalistisch-militaristischen Kahn windschnittiger. So sägte er an der Stellung des Mannes als »Oberhaupt der Familie«, lese ich in der Deutschen Biographie. Heute haben kriegslüsterne Emanzen wie Von der Leyen und Baerbock das Ruder in der Hand. Broda betrieb ferner die »Entkriminalisierung« der Homosexualität. Jetzt müssen die schwulen Gesundheitsminister beim Liebesspiel mit ihren Freunden von der Pharmaindustrie keine Masken mehr tragen. Broda lockerte das Abtreibungsverbot, verdammte die Todesstrafe und sprach sich für mehr Geld- statt Gefängnisstrafen aus. Nebenbei »wurden in den 1970er Jahren nach einer Reihe von skandalösen Freisprüchen die Prozesse gegen NS-Verbrecher eingestellt«, was Broda heute freilich hier und dort verübelt werde. Dazu erläutert Wikipedia, die österreichischen Sozialdemokraten hätten das »möglichst geräuschlose Einstellen von Strafverfahren wegen NS-Verbrechen« für sinnvoll gehalten, weil nur so verhindert werden könne, daß »von Geschworenen-gerichten zu erwartende Freisprüche von des Massenmordes Angeklagten dem Ansehen Österreichs schadeten.« Ein bewährtes hinterhältiges Argument, auf das man allerdings erst einmal kommen muß. Dazu muß man eben Rechtsanwalt sein.
~~~ Wie es aussieht, bemühte sich Broda im Gegenteil darum, möglichst vielen Ex-Nazis die Wiedereingliederung in ein ordentliches Karriereleben zu erleichtern. Um 1980 habe er sogar den berüchtigten Wiener »Euthanasie«-Arzt Heinrich Gross gedeckt, der zufällig ein Parteifreund Brodas gewesen sei, heißt es in Wikipedia. Ein kritischer Politologe habe Broda das Talent bescheinigt, das Recht gemäß der eigenen Absichten zurechtzubiegen, es somit auch »gegen seine Feinde als Waffe, für seine Freunde als Schutzschild« einzusetzen. Ich selber behaupte seit Jahren, nach den Schulen gehörten in einer echten alternativen Republik auch die Gerichte geschlossen und die RichterInnen in der Tat zu Klempnern oder Bootsbauern umgeschult. Die Streitfälle müssen von denen behandelt werden, die davon betroffen sind. Ein Amtsgerichtsrat Brautlacht oder ein Justizminister Broda sind doch von nichts betroffen. Sie maßen sich aber möglichst große Befugnisse an, weil ihnen die Macht schmeckt.
~~~ Die Stadt Wien* teilt mir soeben mit: »Der Christian-Broda-Platz im 6. Bezirk [seit 2008] wird klimafit gestaltet. 25 neue Bäume, erweiterte Grünflächen und eine helle Pflasterung sorgen künftig für mehr Aufenthalts-qualität.« Der Umbau begänne im kommenden Frühjahr (2024). Solche Verlautbarungen sind allerdings vollends geeignet, mir den Magen umzudrehen und mich dem Grabe noch näher zu bringen. Klimafit und aufenthaltsqualitativ! Man soll aber nie die Hoffnung aufgeben. Vielleicht wird der Platz noch in diesem Jahrhundert zu einem kleinen Amphitheater umgestaltet, in dem die AnwohnerInnen ihre Verfehlungen mikrofon- und ministerlos im Plauderton verhandeln. Dazu wahlweise Sachertorte oder Wiener Herzerl.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024
* https://www.wien.gv.at/mariahilf/christian-broda-platz, o.J., wohl 2023
Brunnen
Die elsässische Kleinstadt Oberehnheim (französ. Obernai, elsäss. Ewernah) liegt bei Straßburg, genauer am Fuß des Odilienberges, wie Brockhaus betont. Dieser Name kommt von einer adeligen Dame Odilia, die einst ein Frauenkloster auf den Berg setzen ließ. Die können wir schnell vergessen. Wie das Lexikon allerdings weiß, hat die Ewernahsche Altstadt (seit 1579) auch den Sechseimer-brunnen zu bieten. Bei diesem Namen runzelt man doch die Stirn und schwimmt eine Weile verunsichert im Internet umher. Abbildungen mit sechs am Brunnenfuß abgestellten Eimern finden sich jedenfalls nicht. Dafür kommt man schließlich auf den Trichter, sich die schwachsinnigen Blumenkübel wegzudenken, die einem Internetfoto zufolge neuerdings unter dem baldachinförmigen Dach des Ewernahschen Sechseimerbrunnens schaukeln. Dadurch gewinnen die drei Rollen aus Eisen an Gewicht, die das Foto ebenfalls zeigt. Über sie laufen oder liefen die Ketten. Es dürfte einst ungefähr so gewesen sein, wie sich einer alten technischen Zeichnung* entnehmen läßt. An jeder Kette hingen zwei Eimer; der untere zum Schöpfen, der obere im Wartestand. War der eiserne oder jedenfalls beschwerte Schöpfeimer voll, zog man ihn mittels der Kette hinauf, sodaß nun der leere Eimer absank und zum Schöpfen bereit war. Da jedoch drei Rollen zur Verfügung standen, kommt man mit Leichtigkeit im ganzen auf die namensgebenden sechs Eimer. Wie anstrengend das Fördern war, kann ich leider nicht sagen. Äbtissin Odilia wird es sich so oder so kaum zugemutet haben. Ein anderes Problem bestand wahrscheinlich in der Verunreinigungs- oder gar Seuchengefahr. Man liest aber auch, in den meisten mittelalterlichen Städten habe es diesbezüglich strenge Verordnungen und Überwachungen gegeben, obwohl man noch nicht wußte, was Keime oder Bakterien und gepanschte Impfstoffe gegen Corona sind.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 28, Juli 2024
* https://www.deutsche-digitale-bibliothek.de/item/YNCTJ4IPT6TTD5TMLOBKSAUPTCV33LQA
Buchstabengläubigkeit
Die Überschrift eines taz-Artikels vom 8. September 1980 lautete Ein neuerlicher Fall Unbefleckter Empfängnis. Ich kann den Artikel getrost zusammenfassen, weil er mir damals ohnehin viel zu lang geraten war. Eine liebenswerte Bergmannstochter hatte sich zu spät von mir scheiden lassen. Allerdings nur knapp; es ging lediglich um 48 Stunden. Wegen eines unerwarteten vorzeitigen Fruchtblasensprungs fiel die unschuldige, winzige Sara, die C. mit ihrem neuen Lebensgefährten M. gemacht hatte, mit jenen 48 Stunden in einen Zeitraum von 302 Tagen, den das BGB hinter sämtliche rechtskräftige Scheidungsurteile geschaltet hat, um gescheiterte Ehemänner für möglichen verspäteten Nachwuchs haftbar machen zu können. Sara war, im November 1979, schon nach 300 Tagen ausgeschlüpft. Somit hatte ich Taugenichts, der sich nur mühsam am Hals seiner Gitarre über Wasser halten konnte, unversehens eine Tochter namens Sara mit allen üblichen Rechten und Pflichten.
~~~ Verständlicherweise lehnte ich alles ab. Und da C. und M. auf meiner Seite standen, sah ich der Ausfechtung dieses Falles zunächst recht gelassen entgegen. Sie hatten eidesstattlich erklärt, Sara gemeinsam am Ufer der Ruhr gezeugt zu haben; C.s Ehemaliger H., seit Jahren wohnhaft in Westberlin, sei nicht zugegen gewesen. Außerdem meinte ich noch ein unschlagbares As in Form zweier Bescheinigungen im Ärmel zu haben, die mir im Herbst 1977 – zwei Jahre vor Saras Geburt – von einem niederländischen und einem Kreuzberger Arzt ausgestellt worden waren. Danach war ich in Amsterdam fachkundig »sterilisiert« und nachgewiesenermaßen zeugungsunfähig gemacht worden. Der Nachweis, den ich mir in einer Toilette jenes Kreuzberger Arztes abzuringen hatte, brachte mir übrigens als Nebenprodukt ein flottes Liedchen ein. In meiner Einfalt hatte ich mir weiter keine Gedanken darüber gemacht, auf welchem Wege sich wohl die Harmlosigkeit der nach wie vor in mir lauernden Samenflüssigkeit überprüfen lasse. Deshalb überrum-pelten mich die weiblichen Sprechstundenhilfen nicht schlecht, als sie mir ein leeres Glas in die Hand drückten und auf die Klotür nickten. Bei den Kneipenhinterzim-merauftritten von Trotz & Träume sorgte mein Titel »Verdammtes Spermiogramm« in der Regel für Heiterkeit.
~~~ Nur das Rudel aus Bochumer Gerichtskassenein-treibern und Richtern (beiderlei Geschlechts) zeigte sich von all dem über rund zwei Jahre hinweg nicht die Bohne beeindruckt. Sie setzten alles daran, mich trotz meiner Sterilität in Weißglut zu bringen. So hatte ich C. zuliebe zunächst das Sorgerecht an die Mutter abgetreten – prompt sollte ich auch noch Gebühren für diese Übertragung zahlen! An der grotesken Rechtslage rüttelte dieser Akt ohnehin nicht, wie mir bald dämmern sollte. Diesbezüglich beriefen sich meine WidersacherInnen selbstverständlich auf ihre Vorschriften, in diesem Fall die Paragraphen 1591–93 BGB. In einem Gerichtsbeschluß vom Sommer 1980 unterstrichen sie dabei die staatstragende Rolle der Buchstaben-, Fristen-, Zahlengläubigkeit: »Darauf, ob der Beteiligte zu 2.) [das war ich] tatsächlich der Erzeuger des Kindes sein kann, kommt es nicht an. Die kraft Gesetzes bestehende Vermutung seiner Vaterschaft kann nur durch ein im Rahmen eines Ehelichkeitsanfechtungsverfahrens ergehendes Feststellungsurteil beseitigt werden. Das gilt selbst dann, wenn sich alle Beteiligten über die Nichtehelichkeit des Kindes einig sind.«
~~~ Somit blieb mir nur der liebe Klageweg. Im Sommer 1982 sprach mich das Bochumer Amtsgericht von allen Verpflichtungen frei, weil ich wohl doch nicht für das Riesenbaby, das offenbar zwei Jahre lang in C.s Bauch eingekerkert gewesen war, verantwortlich gemacht werden konnte. Da Sara die Beklagte war und damals noch meinen Namen trug, kann ich mich heute immerhin damit brüsten, ich hätte schon einmal meine eigene Tochter vor Gericht gezerrt. Nach dem Urteilsspruch wurde sie standesamtlich umbenannt. Auch C. heißt seit Jahrzehnten nicht mehr R.
~~~ Jene zitierte Perle der Gerichtsprosa strahlt ja wohl unmißverständlich aus: falls es noch welchen hat, darf das Volk den gesunden Menschenverstand getrost in der Pfeife rauchen. Nur auf das Gesetz kommt es an. Folterknechte oder Soldaten dürfen auch sagen: auf den Befehl. Carl Zuckmayer erwähnt in seinen Erinnerungen, wie er sich bei Kriegsende 1918 als Leutnant mit der roten Armbinde des Arbeiter- und Soldatenrates in Begleitung seiner Mutter über Tage hinweg von ihrer Heimatstadt Mainz nach Bremen durchzuschlagen hat, wo Bruder Eduard schwer verwundet und bewegungsunfähig in einem Lazarett liegt. Dank ihrer Zähigkeit treiben sie sogar einen Arzt auf, der die dringend erforderliche Operation durchführt. Eduard wird gerettet. Als Pointe erfahren wir jedoch, der Zug, der Eduard von Frankreich nach Deutschland brachte, habe bei seiner schneckenhaften und für Eduard qualvollen Fahrt Richtung Bremen auch in Mainz Aufenthalt gehabt. Vom Bahnhof zu Eduards Elternhaus wären es mit der Trage keine fünf Minuten gewesen. Doch so sehr er die Sanitäter auch anflehte – sie weigerten sich ihn auszuladen, weil dafür »keine Order« vorlag.
~~~ Ein Kriegsende später wiederum kamen Tausende von Faschisten aller Ränge ungeschoren davon, weil sie sich ganz im Sinne dieser Buchstabengläubigkeit auf ihre »Befehle« berufen konnten. Die Frage von Gut / Böse / Willensfreiheit / Gewissen hatte weniger Bedeutung als ein Komma. Wer diese beschämenden Vorgänge nicht kennen, glauben oder sie einfach nur vergessen haben sollte, kann sie beispielsweise in Büchern des Bochumer Hochschullehrers Norbert Frei nachlesen, der sie »moralisch unerträglich, geradezu infam« nennt. Diese Lektüreempfehlung gilt auch für das dortige Amtsgericht.
∞ Verfaßt um 2007
Die Bremer Schusterstochter Lisbeth Kolomak (1907–24) dürfte eher eine Unschuld vom Lande gewesen sein. Doch von einer vermeintlichen Freundin und Prostituierten eben derselben Berufsausübung bezichtigt (Hure), wird das Mädchen – »anscheinend ohne Benachrichtigung, geschweige denn Erlaubnis der Eltern« – Anfang März 1924 in eine entsprechende Krankenstation verschleppt und dort aufgrund der Polizeiarztdiagnose »Syphillis im fortgeschrittenen Stadium« mit dem neuen, noch kaum erprobten Medikament Salvarsan behandelt. Drei Monate später war die knapp 17jährige tot. Heute gilt es als wahrscheinlich, daß sie keineswegs an der Syphilis, vielmehr an der »Kur« gegen diese verendete. Man habe jedoch damals nichts unternommen, um die Todesumstände aufzuklären, heißt es in einem dicken Buch über den Fall.* Die Sache kam ohnehin erst ans Tageslicht, als die empörte Schustersfrau, Elisabeth Kolomak, ein gefälschtes »Tagebuch« ihrer Tochter verfaßte und (1926) veröffentlichte, mit dem sie Lisbeth zu entlasten und die Behörden anzuklagen versuchte. Damit geriet der Fall zur berühmten Justizposse. Nun wird nämlich der Mutter (1927) ihrerseits der Prozeß gemacht – aber nicht etwa wegen Betrugs, vielmehr wegen »schwerer Kuppelei«, denn so sei es angezeigt worden. Im Ergebnis wird die Mutter zu acht Monaten Gefängnis verknackt. Es gibt Schlachten in der Presse, viel Gelächter und ein Berufungsverfahren. Dieses wird 1928 aufgrund eines drei Jahre alten Amnestiegesetzes eingestellt. Elisabeth Kolomak stirbt 1943 mit 57 Jahren.
~~~ In einem bissigen Weltbühne-Artikel** hob Carl von Ossietzky im Prozeßjahr vor allem die brutale Buchstabengläubigkeit der Justiz, den Rachedurst der Sittenpolizei und die Weltfremdheit gewisser RichterInnen hervor, die sowohl vom beengten Leben damaliger Arbeitermädel wie von deren Bedürfnissen keinen blassen Schimmer hätten. »Ein religiöses Jahrhundert hätte diese Frau: Elisabeth Kolomak vielleicht als Hexe verbrannt. Aber um sie mit dem Kuppeleiparagraphen zu justifizieren, dazu war schon der moderne Rechtsstaat notwendig.« Nebenbei kostete diese Justiz- und Presseposse wieder ein Heidengeld – und das Leben einer 17jährigen, um es nicht zu vergessen.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Eva Schöck-Quinteros und Sigrid Dauks (Hrsg), »Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr hatte?« / Der Fall Kolomak in Bremen 1927, Bremen 2010, bes. S. 223 + 239
** »Maß für Maß in Bremen«, im Ossietzky-Lesebuch (Reinbek 1989) S. 211–14
Bückeburg (Fürstenhaus)
Ein rund 90 Jahre altes »Mysterium der Luftfahrt« [siehe dort] kümmert heute so gut wie niemanden mehr. Mit allen übrigen Insassen war die weitgehend unbekannte »proletarische« Schriftstellerin und Filmemacherin Marie Harder (1898–1936) »unter bis heute ungeklärten Umständen« – so Ralf Husemann 2007 in der Süddeutschen Zeitung – einen Tag vor ihrem 38. Geburtstag auf mexikanischer Erde zerschellt und verbrannt. Meine Hauptquelle zu Harders Werdegang ist keineswegs Husemanns Buchbesprechung*, vielmehr ein karger Lexikon-Artikel**, der zwar keine Rätsel löst, aber besser als gar nichts ist. Danach war Harder, Tochter einer Dienstmagd und eines Arbeiters und zunächst in Hamburg Gefängnisfürsorgerin sowie gelegentlich Journalistin, ab 1929 Leiterin der Berliner Film- und Lichtbildstelle der SPD. Sie hatte sich besonders für den sowjetrussischen Film erwärmt und versuchte sich auch selber an vergleichbaren Werken. Ihr einziger (stummer) Spielfilm von 1930, Lohnbuchhalter Kremke, zeigt den Weg eines dünkelhaften Kleinbürgers, der nach dem Verlust seiner Stelle in Verzweiflung gerät, bis er sich umbringt. Harder selber erging es möglicherweise nicht ganz unähnlich. Zunächst verlor sie 1931/32 ihre Kulturämter bei der SPD – angeblich wegen »finanzieller Verfehlungen«, möglicherweise nur ein Vorwand. 1935 konnte sie, unter dem Pseudonym »Käte Kestien«, noch immerhin einen Roman veröffentlichen. Als die Männer im Graben lagen (Frankfurt/Main, Societäts-Verlag) soll die Lage der Frauen im Ersten Weltkrieg behandeln. Von Harders eigener Lage vorm Zweiten Weltkrieg erfährt man im Lexikon buchstäblich nichts. Man könnte nun mutmaßen, Harder habe sich im Frühjahr 1936 zur Emigration entschlossen, doch nach meiner zweiten, ungleich wichtigeren Hauptquelle aus der Feder des 1957 in Bilbao, Baskenland, geborenen und dort auch aufgewachsenen Rechtsanwaltes Alexander vom Hofe*** handelte es sich bei der verhängnisvollen Unternehmung, die für rund die Hälfte der Reisegesellschaft mit einem Flugzeugabsturz endete, eher um eine Vergnügungsreise.
~~~ Soweit ich sehe, ist Vom Hofe bislang der einzige Autor, der Aufschlußreiches über dieses Unglück eingeholt und veröffentlicht hat. Dabei lag ihm weniger Harders Wohl, vielmehr das seines Großvaters Heinrich Prinz zu Schaumburg-Lippe sowie sein eigenes am Herzen. Aber eins nach dem anderen. Nach Vom Hofe hatte die Hamburger Schiffahrtsgesellschaft Hapag eine Auslandsreise nach Mexiko und Mittelamerika angeboten. Mitte März 1936 traf die fragliche Touristen-Gruppe mit dem Dampfer Iberia vermutlich an der US-Ostküste ein. Am Vormittag des 26. März bestieg die Hälfte der Gruppe in Mexiko City ein dreimotoriges Charterflugzeug, das sie nach Guatemala bringen sollte, wie aus spanischen Presseberichten und Unterlagen der deutschen Gesandtschaft in Mexiko hervorgeht, die Vom Hofe anführt. Diese Maschine ging schon bald nach dem Start nicht weit vom berühmten, knapp 5.500 Meter hohen Vulkan Popocatépetl auf dem Hügel Zumpango nahe der Ortschaft Amecameca wieder zu Boden. Diesmal quoll das Feuer, das den ganzen, offenbar mit Pinien bestandenen Hügel verheerte, nicht aus dem »heiligen« Vulkan. Alle 14 Insassen der Maschine, darunter die vierköpfige Crew, kamen um.
~~~ Die Presse führte zunächst geringe Flughöhe und Windstöße ins Feld. Vom Hofe selber nimmt nach Gesprächen mit Fachleuten an, die Maschine sei eher »wie ein Stein« vom Himmel gefallen. Nach den Dokumenten war die Sicht gut. Der Chefpilot galt als ausgesprochen erfahren. Die Identifikation der Leichen gestaltete sich schwierig, erfolgte aber immerhin. Dafür verzichtete man merkwürdigerweise, wie Vom Hofe findet, auf eine Untersuchung des Wracks; vielmehr seien schon kurz nach der Bergung der Leichen nun auch die »wertlosen« Überreste des Flugzeuges noch verbrannt worden, durch Beauftragte der Compañía Mexicana de Aviación, wie in der Presse zu lesen war. Die drei Motoren seien nicht etwa abtransportiert, vielmehr auf dem Hügel »beerdigt«, nämlich vergraben worden … Die deutsche (faschistische) Gesandtschaft meldete in die Heimat, zwar habe sich die Absturzursache »nicht restlos« klären lassen, es »erübrige« sich jedoch, diversen Theorien nachzugehen, die darüber in Umlauf seien. Somit scheint man hier und dort schon damals Unheil gewittert zu haben. Was Vom Hofe angeht, hält er einen von der Naziführung veranlaßten Mord (durch Sabotage an den Motoren) für wahrscheinlich und bietet dafür etliche Anhaltspunkte auf, interessante zeitgeschichtliche Zusammenhänge eingeschlossen.
~~~ Wie man sich denken kann, galt der Anschlag, sofern es einer war, nicht der Hamburger »proletarischen« Künstlerin Harder oder auch den vier weiteren, deutschen oder österreichischen »Fräuleins«, die sich unter den 10 Fahrgästen der Todesmaschine befanden. Möglicherweise hatte sich Harder wirklich nur eine Vergnügungsreise aus Anlaß ihres 38. Geburtstages gegönnt, vielleicht im Verein mit einer Freundin. Wir wissen es einfach nicht. Hatte sie sich dabei in erstaunlich erlauchter Gesellschaft befunden, war es, auf dieser Geschenkebene, wahrscheinlich kaum zu vermeiden. Neben zwei Baronen (aus München und Budapest) zählte vor allem ein beinahe echtes und ohne Zweifel auch zur Unglückszeit noch immer sehr gut betuchtes deutsches Fürstenpaar zu Harders UrlauberInnen- und Flugzeug-Gruppe. Das waren Adolf II. Fürst zu Schaumburg-Lippe (1883–1936) und dessen Gattin Elisabeth, auch Ellen genannt.
~~~ Die Sache ist, zumal der Adel beteiligt ist, verzweigt und verheddert wie so oft, und ich werde hier nicht versuchen sie aufzudröseln. Nur noch das folgende. Vom Hofe ist ein Großneffe Adolf II. Dessen »Fürstentum« erstreckte sich dereinst von Rinteln an der Weser und den Bückebergen bis zum sogenannten Steinhuder Meer. 1918 nicht ganz freiwillig abgedankt, residierte Adolf hinfort als Privatier bei München und in Italien. Wie es aussieht, waren er und seine ihm 1920 angetraute, vom Clan als bürgerlich, geschieden und spielsüchtig geschmähte Gattin den Nazis ein Dorn im Auge gewesen – selbstverständlich nicht, weil er aus dem Holze des angeblich (in der SU) ertrunkenen Rebellen Max Hoelz geschnitzt gewesen wäre. Für Vom Hofes Empfinden handelte es sich vielmehr darum, Adolfs überaus beträchtliches Vermögen in den Dienst des Faschismus und insbesondere der Kriegsanstrengungen stellen zu können. Zunächst ging dieses Vermögen dank jenes dummen Flugzeugabsturzes auf Adolfs Geschwister über. Nebenbei verzehrte sich Adolfs Bruder Wolrad, seit 1935 Parteimitglied, erklärtermaßen nach dem Fürstentitel, womit er auch Göring in den Ohren lag. Das sind keinewegs Erzeugnisse aus Vom Hofes Madrider Märchenstube. Selbst Ralf Husemann merkt an: »Drei Brüder des Fürsten arrangierten sich mit den Nazis (Friedrich Christian brachte es gar zum Adjutanten von Goebbels). Doch der vierte (Heinrich), der Großvater des Autors, hatte nicht nur mit den Nazis nichts am Hut, er gehörte auch noch einer (alsbald verbotenen) Freimaurer-Loge an.«
~~~ Zu Ehren dieses Großvaters also, Heinrich Prinz zu Schaumburg-Lippe (1894–1952), aber offensichtlich auch, weil er a) allgemein Gerechtigkeit schätzt, b) persönlich nichts dagegen hätte, auch noch von der nach wie vor üppigen Bückeburger Torte zu naschen, scheint sich Vom Hofe seit Jahren unter vielen Mühen und Ärgernissen mit der leidigen ungeklärten Angelegenheit zu befassen. Dabei ist ihm der Einblick in die Archive des Bückeburger Fürstenhauses aufgrund testamentarischer Verfügungen bis heute ausdrücklich und, wie er meint, zu unrecht verwehrt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Ralf Husemann, »Geschäft auf Gegenseitigkeit«, 5. März 2007. Der Artikel wird in diesem Blog-Beitrag (ganz unten) angeführt: https://www.vierprinzen.com/2012/02/sachdienliche-hinweise-zur-kleinen.html
** Hans-Michael Bock (Hrsg), CineGraph, ein Loseblatt-Lexikon zum deutschsprachigen Film, München, Lg. 23
*** Alexander vom Hofe, Vier Prinzen zu Schaumburg-Lippe und das parallele Unrechtssystem, Vierprinzen Verlag, Madrid 2006
Das ehemalige Fürstentum Schaumburg-Lippe erstreckte sich, zwischen der Weser und Hannover, von den Bückebergen im Süden bis zum Steinhuder Meer. Es war klein aber braun. Statt dies nun wenigstens anzudeuten, setzt uns Brockhaus über eine halbe Spalte hinweg die verwickelte, jedoch im Grunde unerhebliche Geschichte des Herrschaftsgebildes auseinander. Es lehnte sich schließlich (1866) an Preußen an, ehe es 1919 zum sogenannten Freistaat wurde. Die Herren und Damen, die darin das Sagen hatten, würdigt Brockhaus mit keinem Wort. Ernst Klee dagegen führt immerhin drei an, voran Friedrich Christian Prinz von Schaumburg-Lippe (1906–83), der sich ab 1943, also im »Dritten Reich«, auch SA-Standartenführer nennen durfte. Damit war er ungefähr einem Oberst vergleichbar. Außerdem war er zeitweise Goebbels Adjutant sowie Regierungsrat und Referent im Propagandaministerium, zuletzt freilich nur Panzergrenadier. Nach drei Jahren Internierung wand er sich als »Mitläufer« heraus und ernährte sich hinfort als Freier Schriftsteller, ohne seine Bräune je zu verleugnen. Das Fürstentum war ja mit dem Krieg verloren gegangen. Die ganze Adelssippe war übrigens mehr oder weniger mit dem Arolser Fürstenhaus verwandt, dessen Chef → Josias zu Waldeck und Pyrmont, unter Hitler & Himmler Höherer SS- und Polizeiführer, in meinen laufenden Texten schon fast einen Stammplatz hat.
~~~ Eine echte Überraschung ist Ingeborg Alix von Schaumburg-Lippe (1901–96). Wie man sieht, wurde sie steinalt. Die Gattin eines Prinzen Stephan usw., unter Himmler hohe SS-Funktionärin, tat sich laut Klee nach dem Zweiten Weltkrieg als Stille Hilfe für NS-VerbrecherInnen hervor, wobei sie unter anderem mit dem schwäbischen Landesbischof Theophil Wurm zusammen arbeitete. Für den erwähnten Josias machte sie sich ebenfalls stark. Er war immerhin ihr Schwager. Die gute Ingeborg starb auf einem norddeutschen Gutshof, wurde dann jedoch standesgemäß in das Clan-Mausoleum des Schloßparks Bückeburg geschafft.
~~~ Die Kleinstadt Bückeburg war bis zuletzt Residenz des Fürstentums. Das Eindruck schindende Schloß* scheint nach wie vor dem Clan zu gehören. Schloßherr soll gegenwärtig ein Prinz Alexander sein. Schloß, Park und Mausoleum dürfen teilweise vom Volk besichtigt werden. Das »Erlebnisticket« (zweisprachig) pro Tag und erwachsene Person kostet 14 Euro 50, schließlich will der Clan auch leben. Ich nehme allerdings an, in die Archive des Fürstenhauses darf das Volk nicht schauen. Das ist ja angeblich noch nicht einmal dem Rechtsanwalt Alexander vom Hofe gestattet, wie wir weiter oben erfahren haben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 33, August 2024
* https://www.bueckeburg.de/de/Tourismus-Kultur/Staunen-und-Erleben/Schloss-Bueckeburg
Bürokratie
Die erste Idee zu einer Pendeluhr stammt wahrscheinlich vom Italiener Galileo Galilei, der um 1640, kurz vor seinem Tod, entsprechende Skizzen anfertigte. Ein holländischer Kollege aus Den Haag, Christiaan Huygens mit Namen, schritt rund 15 Jahre später zur Tat. Auch er war Astronom, Mathematiker und Physiker in einem.
~~~ Huygens ging, möglicherweise zu Fuß, zum Uhrmacher Salomon Coster († 1659), der 1643 geheiratet und aus diesem Anlaß seine Werkstatt von Haarlem nach Den Haag verlegt hatte. Dieser Landsmann hatte schon um 1640 mit hochwertigen Reise- und Kutschenuhren auf sich aufmerksam gemacht. Nun baute er im Auftrag des Entdeckers des Mathematischen Pendels eine Pendeluhr mit einer Gangdauer von etwa acht Tagen, die von einer Feder angetrieben wurde – das Pendel sorgte ja »nur« für das exakte Vorrücken »der Zeit«. Für die Festigung jener Epoche, die man später aus taktischen Gründen Neuzeit statt Normzeit nannte, kam es freilich genau auf diese Steigerung der Exaktheit an. Gingen die Uhren bis dahin an einem Tage rund 15 Minuten nach, belief sich die Verspätung bei der neuen Pendeluhr auf 20 Sekunden. Schon am 16. Juni 1657 erhielt Coster von den zuständigen, vermutlich fürstlichen Behörden für 21 Jahre das Privileg, solche Uhren als einziger Mensch auf der Welt beziehungsweise im Machtbereich des spanischen Kaisers herzustellen und zu verkaufen. Allerdings hatten die Behörden es versäumt, ihm auch ein langes Leben zu garantieren. Es wurden deshalb lediglich rund 30 Pendeluhren, von denen sieben bis heute in Museen oder privaten Sammlungen überdauerten. Coster segnete im Dezember 1659 mit 37 jäh das Zeitliche – aus Gründen, die anscheinend nicht überliefert sind.
~~~ Somit konnte der begabte Uhrmacher seinen geschützten Eigenbau kaum noch eigenhändig »vermarkten«, wie man heute dazu sagt. Und das ist selbstverständlich der springende Punkt an diesen Uhren, nicht deren Pendel. Die sogenannte Freie Marktwirtschaft ist sicherlich auch ohne Pendel denkbar, nicht dagegen ohne Patente. Zwar hatten bereits die mittelalterlichen Zünfte Erfindungen aus ihren Reihen gegen Zunftfremde geschützt, aber ein nennenswerter allgemeingültiger und behördlich garantierter Erfindungsschutz kam erst um 1500 auf. Richtungsweisende Patentgesetze wurden 1624 (als Statute of Monopolies) von England, 1791 von Frankreich erlassen. Ja, die Französische Revolution mit ihrem Verarschungsorgan »Wohlfahrtsausschuß« an der Spitze brachte die Freiheit. Bismarck, maßgeblich von Werner von Siemens gepiekt, folgte 1877 mit dem ersten deutschen Patentgesetz, das in seinen Grundzügen noch heute gilt. Wahrscheinlich hatte auch Huygens für seine Pendeluhren-Pläne schon ein für den Bereich der Niederlande gültiges Patent erwirkt, das er sich dann mit Coster teilte.
~~~ Man halte sich einmal die materiellen, finanziellen, nervlichen, ökologischen – also kurzum die gewaltigen volkswirtschaftlichen Aufwendungen = Verluste vor Augen, die allein mit der Vorbereitung und Verabschiedung von nur einem Gesetz verbunden sind. Neben den Schmiergeldern, die im Hause Siemens bis heute wichtiges Treibmittel der Profitrate sind, sollte man dabei auch die Vergiftung des innenpolitischen Klimas durch einen »Meinungsstreit« berücksichtigen, der vor keiner Intrige, keiner Verleumdung und keiner Ermordung fraktionszwangssprengender Abgeordneter Halt macht. Nun kommen noch die ganzen Patentämter, Verordnungen, Fachbücher, Konferenzen, Rechtsanwälte sowie die Polizeibeamten hinzu, die die Patentämter, Verordnungen, Fachbücher, Konferenzen und Rechtsanwälte schützen sollen. Dies alles bleibt Gesellschaften erspart, die verteilen statt verkaufen. Was hätte ich von einem Patent auf eine Pendeluhr oder auf sogenannte Zwerglieder, die Allgemeingut wären? Die jeder sowohl benutzen wie herstellen kann? Es könnte mir lediglich meinen Erfinderstolz bescheinigen. Aber das wäre mir eher peinlich. Schließlich ist jedem gesunden Menschenverstand klar, daß alles einen Anfang und seine Zeit braucht – es muß »in der Luft liegen«. Auf ein Objekt dieses allgemeingültigsten Gesetzes stolz zu sein, wäre demnach idiotisch. Andernorts erwähnte ich einmal jenen Scheich, der die Einladung zu einem Pferderennen ausschlug. »Ich weiß schon, daß ein Pferd schneller als das andere läuft. Welches, ist mir egal.«
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Stellen Sie sich einmal die Katastrophe vor, es gäbe in unserer Gesellschaft keine Ehe! Die Verluste sind kaum aufzählbar. Die Arbeitsplätze, die in diesem Fall in zahlreichen Branchen fortfielen, also nicht nur bei Rechtsanwälten, Scheidungsrichtern und Eheberatungsliteraten, zögen wahrscheinlich schon fast ein Viertel unserer Volkswirtschaft ins Verderben. Der schwindende Ärger machte auch die Hälfte aller Seelenärzte und Beruhigungspillenfabrikanten arbeitslsos. Die nicht mehr austeilbaren Ohrfeigen an Kinder und Gatten erwähne ich nur am Rande. Am schlimmsten wäre Brockhaus in seinem Band 6 (1988) geschädigt, denn allein durch diese Katastrophe hätte der Band gut 10 Druckseiten eingebüßt.
~~~ Jetzt stellen Sie sich alternativ eine Gesellschaft aus meinen utopischen Erzählungen vor. Sie fußt weder auf Ehen noch Familien, vielmehr auf 70 bis 105 Köpfe umfassenden Grundorganisationen (GOs), die gerade so wie die Dörfer, Kleinstädte und die Republik im ganzen, neben persönlicher Habe, ausschließlich Gemeineigentum kennen. Wenn sich da ein Liebespaar streitet oder entzweit, zittert nicht ein Stein des Hofpflasters. Knut wechselt vielleicht zu einer GO drei Dörfer weiter: da ist der Hof ebenfalls gut gepflastert. Ein Feilschen um Geld ist unmöglich, weil das Geld abgeschafft worden ist. Wo die gemeinsamen Kinder bleiben, geht vor allem diese selber an. In so einer »Kommune« haben sie immer jede Menge Freunde und erwachsene »Bezugspersonen« – aber auch die GO drei Dörfer weiter hat dergleichen zu bieten. Es wird auch überall für alle gekocht, getröstet oder gescherzt. Sie glauben es nicht? Lesen Sie einmal jene Erzählungen, es kann Ihnen auch sonst nicht schaden.
~~~ Mir ist bei diesem Eintrag wieder etwas deutlicher geworden, worin ein Hauptübel der kapitalistischen, auch noch zunehmend aufgeblähten Demokratie liegt: in der Bürokratie. Sie regelt alles, bis alles totgeregelt ist. Dafür wirft sie Unmengen an volkswirtschaftlicher Potenzen zum Fenster heraus. Die persönliche Verantwortung und Erfindungskraft des einzelnen Bürgers wird so lange abgewürgt, bis der Bürger dem Draht gleicht, an dem die Marionetten schaukeln. Wie schwillt jedoch sein Stolz, wenn er wieder einmal alle Vorschriften erfüllt oder 50 Prozent der Vorschriften überlistet hat! Seine Computermaus könnte sich nicht besser fühlen als er.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 10, Februar 2024
Siehe auch → Anarchismus, Das anarchistische Lager + Gewerbefreiheit → Deilmann Günther (bei Bad Salzungen)
Der Doktor Johannes Carion (1499–1537) aus Bietigheim bei Stuttgart war als Gelehrter und Trunkenbold stark. Brockhaus übgeht diese Zwittrigkeit. Geboren als Sohn des Zimmermanns Nägele und kaum die Universität in Tübingen absolviert, wurde der Schwabe schon 1518 beim Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg als »Hofmechanikus« angestellt, also mit bestenfalls 20 Jahren. Joachim war einerseits Gegner der Reformation, andererseits Bruder jenes Erzbischofs Albrecht von Brandenburg, der den zunehmend aufmüpfigen Ulrich von Hutten förderte. Auch Carion stand mit Reformatoren wie Philipp Melanchthon, Luther und Georg Sabinus auf durchaus gutem Fuß. Er lehrte am Spandauer Hofe Mathematik und Astrologie, befaßte sich auch mit Medizin und mauserte sich rasch zum engsten Berater und Vertrauten des galligen Kurfürsten.
~~~ Zu Carions Tübinger Lehrern hatte der zeitgemäß endzeitgestimmte Johannes Stöffler gezählt. Im Sommer 1524 ging Joachims Vertrauen bereits so weit, daß er sich von Carion davon überzeugen ließ, die Sündflut, die Stöffler schon für den Februar des Jahres vorausgesagt hatte, werde nun am St.Heinrichs-Tag eintreffen, nämlich am 15. Juli. Die Angelegenheit gestaltet sich spannend, geht aber glimpflich aus – so jedenfalls beim Schriftsteller Werner Bergengruen in seinem 1940 erschienenen Roman Am Himmel wie auf Erden. Erstaunlicherweise wurde dieser Roman von den Nazis geächtet, obwohl er im Grunde Staatstreue, Volksgemeinschaft und Schicksalsergebenheit von vorne bis hinten predigt. Carion thronte mit in dem Boot, das andere über die Spreekanäle zu treideln hatten. Er wird überall als ausgesprochen trink- und tafelfreudig geschildert. Einem um 1530 entstandenen Ölgemälde von Lukas Cranach dem Älteren zufolge stand er dem Umfang von Bergengruens detailreichen 800-Seiten-Wälzer kaum nach. Da hatte sich der Feinschmecker, damaligem Antikisierungs-Brauch gemäß, ohne Zweifel einen treffenden Namen ausgesucht, leitet sich doch »Carion« von griech./lat. Caryophyllon ab, womit das indische Gewürz »Nußblatt« gemeint war, bei uns »Gewürznägelein«, später (schwachsinnigerweise) »Gewürznelke«.
~~~ So weit ich sehe, ging am besagten St.Heinrichs-Tag, nach der Welt, auch das Vertrauensverhältnis zwischen Joachim und Carion nicht unter. Der Kurfürst verwendete den trotz seiner Leibesfülle »gewandten und weltkundigen« Doktor selbst für diplomatische Missionen, darunter die Anbahnung einer zweiten Ehe seines Sohnes und Thronfolgers Joachim II., nämlich mit Hedwig von Polen. Da diese Hochzeit (1535) erst zwei Jahre vor Carions Tod begangen wurde, dürfte er bis zuletzt in kurfürstlichem Dienst gestanden haben. Dieser gewährte ihm anscheinend genug Freiraum, um sich auch erfolgreich als Schriftsteller zu betätigen. Seine populären astrologischen Schriften, darunter etliche »Prognostiken« (Voraussagen), wurden damals viel gelesen. Da für den »gemeinen« Mann gedacht, schrieb der Ex-Nägele sie auf deutsch. Mit seinem Hauptwerk, 1532 in Wittenberg veröffentlicht, konnte er allerdings erst posthum hervortreten, nachdem es von Melanchthon und Caspar Peucer überarbeitet worden war: einer an der Bibel orientierten Weltgeschichte. Das überarbeitete Werk erschien 1572 als Chronicon Carionis und blieb für Jahrzehnte das beherrschende Kompendium für den universalgeschichtlichen Unterricht. Es erlebte auch außerhalb des Reiches zahlreiche volkssprachliche und lateinische Drucke.
~~~ Was Carions Hausstand an der Spree, vielleicht auch an der Elbe in Magdeburg, und gar sein Gemüts- und Liebesleben angeht, zeigt sich auf mein Nachhaken hin (2014) selbst der langjährige Bietigheimer Stadtarchivar Stefan Benning überfragt. Die Quellenlage ist das Gegenteil einer Überschwemmung. Nebenbei wurde dem Hofastrologen, dem einige Kollegen eine ausgeprägte nekromantische Neigung ankreideten, die Doktorwürde (als Mediziner), laut Johannes Schultze (1957) und entgegen der Unterstellung Bergengruens und anderer Autoren, erst 1535, nämlich durch Sabinus verliehen. Einig sind sich die ForscherInnen immerhin über Carions »lasterhafte« Trunksucht, so Luthers Rüge. Ihr soll er auch am 2. Februar 1537 mitten bei der Ausübung (in Magdeburg) zum Opfer gefallen sein. Die erstaunlich weihelos und launig verfaßte Grabinschrift hält fest: »Dr. Johannes Carion, Vertilger ungeheurer Weinkrüge, Wahrsager aus den Gestirnen, hochberühmt bei Machthabern, ist beim Gelage im Wettkampf erlegen. Christus verzeihe gnädig dem so plötzlich aus dem Kreise der Zechenden Zusammengebrochenen.« Benning nahm zunächst an, sie stamme von Georg Sabinus, aber laut Wikipedia ist diese Zuweisung fragwürdig. Das räumte Benning 2009 in einer kleinen »Ehrenrettung« ein.*
~~~ Wie gesagt, in erotischer Hinsicht ist der dicke Doktor ein unbeschriebenes Blatt für uns. Vielleicht hätte er sich mit Begeisterung die sogenannte Madonna mit dem langen Hals, entstanden 1534/35, übers Bett gehängt**, wenn er bereits davon gewußt hätte. Sie war dem in Parma, Oberitalien, wirkenden Meister des Manierismus Francesco Mazzola, genannt Parmigianino, gelungen, der seinen Pinsel aufgrund einer nicht genau überlieferten Krankheit 1540 für immer sinken ließ. Mit 37 war er nicht älter und nicht jünger als der Weinkrug-Vertilger Carion gewesen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024
* https://www.geschichtsverein-bietigheim-bissingen.de/?page=texte/berichte/2009_carion.html
** https://de.wikipedia.org/wiki/Madonna_mit_dem_langen_Hals
Vermutlich büßte die junge Marokkanerin Touria Chaoui (1936–56) aus Casablanca ihr Leben aufgrund ihrer damals sicherlich ungewöhnlichen Rolle in der Gesellschaft ein. Als Tochter eines arabischen, jedoch französisch sprechenden führenden Journalisten und Theatermannes in Fès geboren, hatte sie eine Flugschule besuchen dürfen, die eigentlich der französischen Elite des Landes vorbehalten war. Sie erhielt die Fluglizenz bereits mit 16 – womit sie die erste Pilotin in Marokko und im arabischen Kulturkreis überhaupt geworden war. Was Wunder, wenn sie rasch zu einer »Ikone« der marokkanischen Unabhängigkeitsbestrebungen wurde, die in Chaouis Todesjahr, 1956, ihren formalen Höhepunkt und Abschluß erreichen sollten. Sie verpaßte dieses historische Datum, den Tag der Unabhängigkeit, lediglich um wenige Stunden. Chaoui war zuletzt als Co-Pilotin bei einer kleinen Fluggesellschaft beschäftigt. Doch am 1. März 1956 ereilte sie der Tod, als sie gerade mit ihrem grünen Morris Minor vor ihrem Elternhaus in Casablanca vorfuhr. Unter den Augen ihres 11jährigen Bruders Salah Eddine, der sie begleitet hatte, sowie ihrer auf dem Balkon stehenden Mutter erhält die kleine, dunkelgelockte 19jährige noch durchs geöffnete Wagenfenster aus nächster Nähe zwei Schüsse in den Kopf. Der Täter, ein Marokkaner mit zurückgekämmtem Haar, flüchtet zunächst zu Fuß. Die Mutter bricht in Schreie aus.
~~~ Laut Josh Shoemakes gründlicher Spurensuche* hatte Chaoui, die unübersehbar westlich, aufgeklärt und selbstbewußt wirkte, gleichermaßen in islamischen wie in französischen Kreisen zunehmend Feinde. Es gab Attacken auf ihren Wagen und auf ihr Elternhaus. Auch durch die Aufdeckung von Unregelmäßigkeiten in wohltätigen Clubs, denen sie angehörte, machte sie sich unbeliebt. Das Land wurde von Unruhen geschüttelt. Als Sultan Mohamed Ben Yousef im November 1955 aus dem Exil zurückkehrte, ließ Pilotin Chaoui aus einer Cessna kiloweise papierne Willkommensgrüße auf seinen Palast regnen. Anderntags wurde sie von einigen Zeitungen als neue Freiheitsheldin gefeiert.
~~~ Ob ihr Hauptfeind der Marrokaner Ahmed Touil war, ist ungeklärt. Shoemake zufolge war der Mann ein befehlsgewaltiger und machthungriger Gangster, zeitweise in Diensten des französischen Geheimdienstes. Hartnäckige Gerüchte** nennen ihn als Mörder Chaouis, aber das habe er stets bestritten. Oft kann das freilich nicht gewesen sein. Laut Shoemake geriet Touil nämlich schon einige Monate nach dem Mord in derselben Stadt Casablanca in einen Hinterhalt der neugegründeten marokkanischen Polizei. Dabei sei sein Wagen geradezu durchsiebt worden. Er kam also offenbar um. Trifft das zu, konnte er jedenfalls nicht mehr vor Gericht plaudern. Nach jenen Gerüchten soll er eine Affäre mit Chaoui gehabt und sie, wegen eines französischen Piloten, aus Eifersucht getötet haben. Dies alles hält Bruder Salah, bei Shoemakes Besuch in Vichy, Frankreich, inzwischen schon 70, für gleichermaßen lächerlich wie ehrabschneidend: chauvinistischen Marokkanerhirnen entsprungen, die es gerne hätten, die emanzipierte junge Frau sei selber schuld gewesen.
~~~ Ferner werden der Gatte einer empörten Dame der Gesellschaft Casablancas – und die Franzosen als Täter gehandelt. Das letzte hält der Bruder, der Kunstmaler wurde, für das Wahrscheinlichste. Wie immer auch, dürfte der sozialpsychologische Hintergrund dieses brutalen Mordes auf der Hand liegen: der Haß auf weibliche Herausforderungen, die ja damals** in Wüstenstaaten noch echte Sakrilege waren.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://narratively.com/the-amazing-aviatrix-of-wartime-casablanca/, (New York City) 16. Februar 2015
** Latifa Babas, https://en.yabiladi.com/articles/details/62569/touria-chaoui-morocco-s-first-female.html, (Casablanca) 8. März 2018
Der Biochemiker und Essayist Erwin Chargaff, 1905 im österreichischen Kaiserreich geboren, lehrte und lebte in New York City. Für seine düstere Weltsicht erreichte er ein erstaunlich hohes Alter. Er starb 2002 mit 96 Jahren. Zuletzt litt er an Parkinson, ohne viel von seiner Scharfzüngigkeit einzubüßen. In Interviews war der erbitterte Gegner der sogenannten Gentechnik immer mal wieder mit dem bekannten Argument konfrontiert worden, sie trage doch auch zur Befreiung der Menschheit von allerlei vererbbaren Gebrechen bei. Chargaff kontert, Gesundheit sei so wenig ein Rechtsanspruch wie beispielsweise Reichtum – beide seien lediglich angenehm. Der Konter ist geistreich, aber für mein Empfinden zu schwach. Hinter ihm steckt ein berühmter Biochemiker, der gern ein wenig frömmelt – die Schule Einsteins vielleicht. Chargaff will das Leben unangetastet wissen; er will »Ehrfurcht« vor der »Schöpfung«. Dadurch werden die haarsträubenden Mißgriffe der Schöpfung allerdings nicht schöner. Wichtiger erscheint mir, wenn Chargaff nicht müde wird, auf unser Unwissen hinzuweisen. Insofern lautet das entscheidende Argument: setzen wir vor den Genen keine Grenze, werden alle Dämme brechen, ohne daß wir im geringsten einschätzen könnten, welche Sturmfluten auf uns zukämen.
~~~ Chargaff erforschte seit den 40er Jahren schwerpunktmäßig die Nukleinsäuren der DNA. Er entdeckte ihre Basenpaarung. Um 1950 spitzte sich ein »Wettrennen« um die Enthüllung der genauen Gestalt unserer Gene zu, das vor allem zwischen Linus C. Pauling (USA) und den in Großbritannien stationierten Nachwuchsforschern James D. Watson / Francis Crick ausgetragen wurde. Es mußte eine Gestalt sein, die die vollständige Übertragung des äußerst verwickelten Erbgutes bei Zellteilung gewährleistete. 1953 war es so weit: das Duo »machte das Rennen« durch Präsentierung seines Modells der Doppelhelix, das heute vermutlich jedes Schulkind kennt. Dafür wurden die beiden jungen Leute (und Maurice Wilkins) 1962 mit dem Nobelpreis für Medizin bedacht. Kurz vor ihrem »Sieg« hatte Erwin Chargaff in Cambridge, GB, zu tun; die beiden nutzten das, um ihn nach seinen DNA-Erkenntnissen zu befragen. Wie es aussieht, entblößten sie dabei einige Lücken in ihren Grundkenntnissen. Watson berichtet in einem anderen »Renner«, nämlich seinem 1968 veröffentlichten Buch Die Doppelhelix, von dem prominenten Besucher aus den USA sei ihnen, neben dem erwarteten Sarkasmus, vor allem Verachtung entgegengeschlagen. Als Watson ihm wenig später noch einmal in Paris über den Weg lief, habe ihn Chargaff nur eines sardonischen Lächelns gewürdigt. Immerhin, Chargaff hatte dem Duo – wie er im Feuer des Heraklit schreibt – »alles gesagt, was ich wußte«. Sie jedoch hatten in ihren ersten Doppelhelix-Verlautba-rungen weder Chargaffs noch Oswald Averys wichtige Vorarbeiten erwähnt. Für Chargaff lag die Verachtung in jenem Cambridger Gespräch woanders: »Es war mir klar, daß ich [mit Watson/Crick] einer völligen Neuheit gegenüberstand: enormer Ehrgeiz und Angriffslust, vereint mit einer fast vollständigen Unwissenheit und Verachtung der Chemie, dieser realsten aller exakten Wissen-
schaften …«
~~~ Als ich Watsons oft gelobtes »Meisterwerk« Die Doppelhelix vor einigen Jahren las, war ich recht unvoreingenommen, weil mir gewisse rassistische Entgleisungen des alten »Meisters« noch nicht zu Ohren gekommen waren. Sie werden in Wikipedia erwähnt. Für mich war Watsons Schilderung seines Weges zum Nobelpreis – von Wilma Fritsch für Rowohlt übersetzt – eine beklagenswerte Dürre ohne jede Sinnlichkeit. Es sei denn, man hält es für sinnlich, daß offenbar alle bahnbrechenden wissenschaftlichen Diskurse beim Essen & Trinken stattfinden. Aber mit »Mangel an Sinnlichkeit« ist das Desiderat vielleicht noch zu harmlos benannt. Man spürt bei Watson wenig Leidenschaft, geschweige denn Ergriffenheit, für und von großen Aufgaben, Dingen, Menschen. Er kam mir eher als unreifer Karrierist vor. Wahrscheinlich hätte er sich genauso gut ins Hirn setzen können, an Stelle von Kissinger Berater Gouverneur Rockefellers zu werden oder einen zukünftigen Star wie Bob Dylan zu entdecken. Prahlhans ist er auch – seine »coole« Ausdrucksweise kann das mitnichten verbrämen. Watson kokettiert gern (zum Beispiel mit der Dekadenz) und beleidigt seine LeserInnen auf jeder zweiten Seite mit einem banalen Witz. Was seine alten Tage angeht, kann ich mir gut vorstellen, auf dem Beistelltischchen seines Lieblingssessels stapeln sich Bücher von Stephen King oder Matt Ruff. Und sein zweites, 2002 veröffentlichtes autobiografisches Werk braucht unsereins weißgott nicht mehr zu lesen – der Titel (der deutschen Ausgabe) genügt: Gene, Girls und Gamow. Erinnerungen eines Genies.
~~~ Ich komme auf die Medizin zurück, der ja angeblich auch Watson/Crick gedient hatten. 1997 brachte die Berliner Zeitung ein Gespräch Mathias Greffraths mit Chargaff. Darin* behauptet der greise Skeptiker, Ziel aller Leute, die an den Genen herumpfuschten, sei »die Abschaffung des Todes« – und das sei »die sicherste Methode, die Spezies auszurotten«. Leitend sei die »sture Angst« des Menschen. Gegen sie wende sich überhaupt die »Sucht nach Innovation«, die im voll entfalteten Kapitalismus zu beobachten sei; »die Notwendigkeit, ständig Neues zu finden.« Das leuchtet wohl ein, steht doch vorm Tod das Altern. Dieses erscheint in erheblich milderem Licht, wenn ich mir jedes Jahr das blinkende neuste VW-Golf-Modell kaufe. Warum jedoch nennt Chargaff die sogenannte Entschlüsselungsarbeit Pfuscherei? Habe ich richtig verstanden, dann deshalb, weil sie gar nicht zum Schlüssel führt. Sie führt bestenfalls zu einem letzten Loch. Oder zu einem letzten »Text«, wie so oft gesagt wird. Der Witz besteht natürlich darin, daß wir uns mit diesem »Text« den Hintern abwischen können, weil er sowieso nicht entzifferbar ist. Was soll er? Was will er? Wo kommt er her? Nichts davon wird uns die angebliche »Erbinformation« verraten. Damit ist all unser Eingreifen lediglich Interpretation, um nicht zu sagen Spekulation – und entsprechend gefährlich.
~~~ Man darf hier wohl weitergehend behaupten, unsere gesamte Kernforschung sei nicht nur gefährlich, sondern auch reichlich grotesk. Als Durchmesser der Doppelhelix werden ungefähr 20 Angström angenommen. Ein Angström ist der zehnmillionste Teil eines Millimeters. Können Sie sich also den Platz vorstellen, auf dem eine »Doppelhelix« in ihrer Nukleinsäure dümpelt oder auf ihrer Abschußbase schwankt? Oder anders angesetzt. Nach landläufiger Vorstellung sind die kleinsten Bausteine des Universums die Atome. Doch in die Hand nehmen können Sie sie leider nicht. Sie können auf einer Länge von einem Zentimeter 100 Millionen Atome aneinander reihen, wie uns der Brockhaus versichert. Also angetreten und vorgestellt? Und jetzt die Bitte an einen Atomkern, noch einmal eigens herauszutreten? Diese absolute Unvorstellbarkeit namens Atomkern, die sich übrigens im Verein mit unzähligen Genossen auch in festen Stoffen wie etwa einer Tischplatte aus Buchenholz oder eines Planeten namens Erde in ständiger Bewegung befindet, wird laut Brockhaus von »enormen Kräften« zusammengehalten. Aha! Von Muskeln? Magnetismus? Elektrizität? Information? Einbildungskraft? Oder gleich von einem Zirkelschluß? Aber die ehrgeizigen Nachkommen von Hahn, Oppenheimer, Heisenberg, Watson ficht unser Nichtwissen nicht an. Für sie stellen Klein- und Größenwahn ebenfalls eine begrüßenswerte Doppelhelix dar. Sie stecken Unsummen in gigantische »Teilchenbeschleuniger«, mit deren Hilfe sie ihren winzigen Schimären so lange hinterher jagen, bis der Teilchenbeschleuniger (und die Stadt Genf) platzt.
~~~ Das Explosive soll mir willkommenes Stichwort sein, die Tirade abzubrechen, um mit Chargaff einen Schlußpunkt zu setzen. Sowohl aus seinem Feuer des Heraklit wie aus einer Erinnerungsbroschüre von Chargaffs Landsmann Walter Kappacher** geht hervor, der verdiente Biochemiker von der Columbia Universität fühlte sich von Watson/Crick betrogen. Ob auch um den Nobelpreis, bleibt dabei unklar. Ich sage: Gott sei Dank! Bedenken Sie einmal, mit wievielen Megatonnen Dynamit und Leichenbergen das Preisgeld zusammengehäuft wurde und an wieviele Schurken es bereits vergeben worden ist. Hätte Chargaff den Nobelpreis angenommen – was ich fast befürchte – wäre er in meiner Achtung ohne Zweifel stark gesunken. Insofern hat er Glück gehabt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* »Nichts verschwindet in der Welt«, 5./6. Juli 1997
** Walter Kappbacher, Hellseher sind oft Schwarzseher, Warmbronn 2007
Cibulka, Hanns → Weinheim
Cienfuegos, Camilo → Luftfahrt, Mysterien
Clandenken
Der bei seinem frühzeitigen Ableben wahrscheinlich höchstens 25 Jahre alte Graf von Maden Werner III. († 1066), ein erstaunlich mächtiger, einflußreicher Germane, war auch Reichssturmfähnrich, nämlich ein ausgezeichneter Lehnsmann des Reiches und in der Tat ein enger Vertrauter des noch jüngeren Königs Heinrich IV. Das war der Tropf, dem noch der »Gang nach Canossa« bevorstand, 1077. Übrigens steckte Heinrich dem lieben Werner 1064 Gut und Dorf Kirchberg (bei Fritzlar) zu, was nicht nur den Mönch, Geschichtsschreiber und späteren Abt Lambert von Hersfeld mit den Zähnen knirschen ließ, hatte der Flecken doch just dem Hersfelder Kloster »gehört«. In diesem Stammland der Chatten, heute Nordhessen, damals Grafschaft Maden-Gudensberg, trieben sich fast 1.000 Jahre später die Anarchisten der »Kommune Emsmühle« und der aus Erfurt geflüchtete Ex-Polsterer Bott herum, wie einigen Erzählungen von mir zu entnehmen ist.
~~~ Während Bott in einer Dachstube auf halber Höhe des Gudensberger Schloßbergs haust, hatte Graf Werner zumindest zeitweilig gerade über Botts Kopf auf der Obernburg gesessen. Doch der Graf, häufig (vor allem von Lambert*) als Wüterich geschildert, besaß auch verschiedene Immobilien im süddeutschen Raum, wohl überdies Gelüste sie zu mehren. Am 24. Februar 1066 soll er in Ingelheim (bei Mainz) im Rahmen einer Schlacht zwischen seinen plünderlustig gestimmten Gefolgsleuten und ortsansässigen Mönchen oder Bauern durch einen Keulenhieb in das Reich der Nibelungen eingegangen sein.** Möglicherweise fiel er »unglücklich«, nämlich beim Versuch zu schlichten. Chronist Lambert war ja voreingenommen. Heute gelten sogar Werners genaue Lebensdaten als ungesichert.
~~~ Worauf man dagegen bis zur Stunde schwören kann, das ist die ungebrochene weltgeschichtliche Rolle des Clandenkens, wie ich es zuweilen nenne. Ob Graf oder Tagelöhner, der typische Werner pflegt seinen Sprößlingen und sonstigen »Angehörigen« jeden Wunsch von den Augen abzulesen, für die Interessen Dritter dagegen eher blind zu sein. Das Glück »der Seinen« ist der höchste aller Werte. Was ihnen gut tut, tut auch dem Selbstwertgefühl ihres Erzeugers, Ernährers oder Knechters gut. Nach einer bündigen Feststellung aus Alains Betrachtungen Über die Erziehung ist der Familiengeist zutiefst barbarisch. Er ist eben Clandenken. Indem es Zufälle wie Geburt (»Blutsverwandtschaft«), Sympathie, Nation über das Menschenrecht stellt, geht das Clandenken weit über Vetternwirtschaft hinaus. Es betrifft vor allem die seelische Existenz. Liebe, Besitzerstolz, Leidenschaft entscheiden hier alles. Das Kind lernt das Buhlen um Gunst von der Pike auf. Wer gefällt, hat Erfolg. Wer meinen Clan mit Schmutz bewirft, bekommt die Pike ins Gesäß. Das gilt leider auch für Kommunen oder Basisgruppen – und sei es, sie müßten sich zu diesem Zwecke erst einmal selber spalten. In diesen Fällen werden die Fraktionen zu neuen Clans.
~~~ Franz Schandl spricht hier vortrefflich vom kollektiven Wahn der An- und Zugehörigkeit, die stets Hörigkeit einschließe. Jeder Clan ist der beste Clan der Welt. Damit alle anderen Clane daran glauben, herrscht Krieg. Vor den Schwertern werden die Keulenworte geschwungen, heute beispielsweise Corona-Leugner, Impfverweigerer, Populisten. Die gleiche Waffe ist in den Händen des eigenen Clans eine Ananas oder ein Schoßhündchen, in den Händen des fremden dagegen eine Granate oder ein Kampfhund. Somit bilden Clandenken und Doppelmoral siamesische Zwillinge.
~~~ Eigentlich sind freiwillige Zusammenschlüsse von Menschen unterschiedlichster Abstammung, etwa in anarchistisch gestimmten Kommunen, gerade deshalb erfunden worden, um das Clandenken auszuhebeln. Aber man kämpft hier mit einer Fleischgabel gegen einen Felsbrocken. Zur Puppenfabrikkommune zählte zu meiner Zeit Dieter, wie ich ihn einmal nennen will. Da er von Kind auf Angst vor Hunden hatte, verbat er sich jeden Hund auf dem Hof. Immer wieder biß die Hundelobby der Kommune bei ihm auf Granit. Es galt ja das Konsensprinzip: sobald auch nur einer sein Veto einlegt, ist der betreffende Vorstoß abgeschmettert. Eines Tages verliebte sich jedoch Dieters 15jährige Tochter in Hündin Lucy. Und da sie unbedingt mit dieser zusammenleben wollte, wurde Dieter binnen weniger Tage ein anderer. Plötzlich beherrschte Lucy Dieters Wohngemeinschaft und lief frei in Treppenhaus und Hof umher. Aß die Kommune im Hof, strich Lucy ungerührt und unbehelligt um die Beine der Tische oder meine. Dies alles wäre vorher undenkbar gewesen. Eine öffentliche Erklärung, etwa auf dem Plenum, gab es nicht. So kamen meine lieben MitstreiterInnen um einen Vortrag von mir über jenen Alainschen »Familiengeist« herum. Aber ich zog mich dann sowieso bald zurück.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Ludwig Friedrich Hesse / Wilhelm Wattenbach, Die Jahrbücher des Lambert von Hersfeld, Ausgabe Leipzig 1893, Jahrbuch von 1064, S. 65: https://archive.org/stream/diejahrbcherdes00wattgoog#page/n104/mode/2up
** Jahrbuch von 1066, S. 76: https://archive.org/stream/diejahrbcherdes00wattgoog#page/n116/mode/2up
Siehe auch → Atria (Mafia)
William Colby
Kommt einem zu Ohren, ein hochrangiger Geheimdienst-ler habe einen tödlichen Unfall erlitten oder Selbstmord begangen, dürfte es grundsätzlich kaum verfehlt sein, mit geschlossenen Augen darauf zu tippen, er sei entweder von der Konkurrenz oder aber von den eigenen Leuten umgebracht worden. Schließlich kennt so ein Typ naturgemäß viele unschöne Geheimnisse und hat sich in seinem langen, erfüllten Berufsleben vielleicht bei zwei Präsidenten beliebt, aber bei Tausenden, die weder Präsident der USA noch Direktor der CIA waren, unbeliebt gemacht. Eben hier liegt in Colbys Fall das Problem: in der Länge. Der alte Haudegen war nämlich schon 1976 als oberster US-Schlapphut abgesetzt worden und inzwischen 76 Jahre alt, als er Ende April 1996 unweit seines Marylander Wochenendhäuschens das Zeitliche segnete. Mit anderen Worten, GegnerInnen von Mordtheorien wird es in diesem Fall leicht gemacht auszurufen, der gute Greis habe doch sowieso schon mit einem Bein in der Kiste gestanden!
~~~ Angeblich hatte ihn am frühen Abend des 27. April die Lust überkommen, vorm Schlafengehen noch eine kleine Nachtwanderung mit seinem Kanu zu unternehmen. Colbys eher bescheidenes Häuschen lag rund 50 Meilen südlich von Washington D.C. am Zusammenfluß von Wicomico- und Potomac-River in Rock Point, und zwar unmittelbar am Wasser. Es ist ein Freizeit-, Segler- und Jäger-Paradies. Gleich gegenüber hatte Colby Cobb Island vor der Nase, wo sein Segelboot im Yachthafen lag. Er fuhr diese kleine Insel stets mit seinem Kanu an. Eben dieses Kanu fand sich am 28. April nur ein paar Hundert Meter von Colbys Häuschen entfernt am Ufer der Bucht – während Colby selber einstweilen fehlte.
~~~ Nimmt man alle per Internet erreichbaren Quellen zusammen, steht man vor einem Muschelgericht, das aus ungefähr 50 Arten von Insekten, Fischen und Säugetieren besteht. Ich werde mich deshalb im folgenden an eine Darstellung der Tatbestände oder der angeblichen Tatbestände halten, die Zalin Grant 2011 aufgrund einer eigenen, und wie mir scheint, recht sorgfältigen Untersuchung vorgelegt hat.* Das ist nicht ohne Wagnis, weil es sich bei Grant um einen durchaus CIA-freundlichen Autor handelt. Er war Agent dieses Clubs zu Vietnamzeiten und mit Colby persönlich bekannt. Er schildert diesen als freundlichen, ordnungsliebenden, etwas farb- und humorlosen und eher scheuen, wenn auch willensstarken Mann. Colby habe jede Menge Feinde gehabt, auf allen Seiten, doch er habe es immer abgelehnt, sich zu verbarrikadieren. Sogar die beiden Türen seines Landhäuschens seien an jenem Samstag, da er verschwand, unverschlossen gewesen. Der 76jährige hatte auf Cobb Island sechs Stunden an seinem Segelboot Eagle Wing II gearbeitet und konnte eigentlich nur müde sein. Aber er ging nicht ins Bett; er lag neun Tage später unweit der Stelle, wo man sein Kanu entdeckt hatte, mausetot im Uferkraut. Der Autopsiebericht sprach von einem Herzinfarkt oder Schlaganfall, der den alten Mann ins Wasser kippen ließ, wo er ertrunken sei. Es sei ein Unfall gewesen. Grant dagegen sagt, als das im Radio kam, habe er es schon 1996 nicht geglaubt.
~~~ Es gab von Colbys Verschwinden weder Augenzeugen noch Menschen, die von der Absicht eines abendlichen Paddelausfluges gewußt hätten. Colbys zweite Gattin Sally Shelton, erheblich jünger als er, hielt sich gerade zu einem Besuch in Houston, Texas, auf. Mit ihr hatte er ungefähr um 19 Uhr telefoniert. Auch seinem Gärtner Caroll Wise, mit dem er wenig später kurz plauderte, erzählte Colby nichts dergleichen. Für 20 Uhr 30 war die Dunkelheit zu erwarten. Als der einheimische Handwerker und Seemann Kevin Akers am Sonntagmittag das Kanu fand, lag es auf der Seite und war halb mit Sand gefüllt. Paddel und Schwimmweste fehlten. Dafür war am Bug erstaun-licherweise ein Abschleppseil befestigt. Akers schleppte das Kanu in den nächsten Yachthafen. Unabhängig davon verständigte eine argwöhnische Nachbarin, die Colbys Gewohnheiten kannte, am Nachmittag die Polizei. Wie schon erwähnt, war das Haus nicht verschlossen. Radio und Computer liefen. In der Küche lag Colbys Brieftasche mit Geld und zahlreichen Ausweisen. Dafür fehlte das Kanu. Von Colbys Vergangenheit wußte die Polizei nichts. Sie tippte auf den üblichen betagten Selbstmörder. Entsprechend lässig fielen die ersten Untersuchungen aus. Der Eßtisch in der verglasten Veranda, mit geöffneter Flasche Wein, sah nach Unterbrechung einer Abendmahlzeit aus – das erweckte zunächst keinen Verdacht. Die systematische Suche nach Colby begann erst am Montagmorgen. Über Tage hinweg erblickte man weder den Ex-Agentenchef noch dessen Schwimmweste, die er stets im Kanu mitzuführen pflegte. Verblüffender-weise wurde Colbys Leiche am darauffolgenden Montag kaum 4o Meter entfernt von der Fundstelle des Kanus entdeckt. Dieser Uferstreifen war per Auto erreichbar. Taucher hatten ihn längst abgesucht, und die Hubschrauber hatten ihn in der verstrichenen Woche x-mal überflogen. Zudem wurde Grant von Akers auf einen ortsbekannten Strudel aufmerksam gemacht, der Colbys Kanu unweigerlich mit an Land gespült hätte, wenn er wirklich auf der Höhe ins Wasser gekippt wäre, wo nun seine Leiche lag. Akers hielt die Sache für faul.
~~~ Nach Grants Berechnung hatte sich Colby am verhängnisvollen Samstagabend ungefähr um 20 Uhr 30 zum Abendmahl niedergelassen. Eben da war es gerade Nacht geworden. Nach dem Autopsiebericht war er ein bis zwei Stunden nach seiner Mahlzeit von dem Herzanfall ereilt worden und ertrunken. Grant zufolge hat aber niemand von der angeblichen Gefährdung der Gesundheit Colbys gewußt, auch seine Frau nicht. Im Gegenteil, der alte Mann sei erstaunlich rüstig gewesen. Zudem hält Grant viele Aussagen und Formulierungen des Autopsieberichtes, nach Rücksprache mit diversen Fachleuten, für fragwürdig. Selbst ein Beteiligter, John Smialek, habe ihm bestätigt, aufgrund der Untersuchung der (neun Tage alten) Leiche könne weder mit Sicherheit gesagt werden, er habe einen Herzanfall erlitten, noch er sei ertrunken. Dafür hätten Grant mehrere Befragte versichert, eine neun Tage alte Wasserleiche sähe weitaus schlimmer aus als die von Colby, wie sie auf Fotos zu sehen war. Sie tippten auf höchstens zwei Tage Aufenthalt im Wasser. Das deckte sich mit Akers Überzeugung, aufgrund der bekannten Gezeiten- oder Strömungsverhältnisse wäre hier ein Ertrunkener schon in kurzer Zeit an Land gespült worden, nicht erst nach neun Tagen.
~~~ Nach Grants Theorie wurde Colby an jenem Abend per Auto entführt, andernorts möglichst spurenlos ermordet und erst nach einer guten Woche zum Strand geschafft. Das Kanu brachten die geschätzt vier bis fünf MörderInnen mit eigenem Boot zum vermeintlichen Unfallort. Das Tau vergaßen sie. Hätten sie Colby an der Bucht getötet, hätten sie kaum den Befund des Autopsieberichts vortäuschen können, der nach Bootsunfall (oder Selbstmord) ausssah. So ließen sie die Leiche erst einmal eine Woche verwesen, was ja die Untersuchung erschwerte und sozusagen einen verwässerten Befund versprach.
~~~ Über die mutmaßlichen Motive der TäterInnen, Zeitpunkt eingeschlossen, verliert Grant kein Wort. Er beläßt es bei der erwähnten allgemeinen Versicherung, Colby habe es wahrlich nicht an Feinden gemangelt. Man fragt sich allerdings, warum RächerInnen oder ZeugenbeseitigerInnen den guten Colby erst 76 Jahre alt werden lassen und erst auf sein arbeitssames Vorbereitungswochende der Segelsaison 1996 warten, ehe sie ihn um die Ecke bringen. Einige Quellen werfen einen anderen UnFall ins Spiel, den ich hier lediglich streifen will. 1953 soll der 43jährige Biochemiker und Mitarbeiter von US-Army und CIA Frank Olson durch die Scheibe eines geschlossenen Fensters des New Yorker Wolkenkratzers Hotel Statler freiwillig in den Tod gesprungen sein. Auch dieser Mann, Tage vor seinem Tod seinerseits heimlich unter LSD gesetzt, hatte viel und vielleicht zuviel gewußt, vorzüglich über Folter und den Einsatz von »Wahrheitsseren« in diversen »Kalte-Kriegs«-Aktionen oder jedenfalls Programmen der CIA. 1994 ergaben sich bei einer von einem Sohn Olsons erzwungenen Exhumierung der Leiche Anhaltspunkte für ein Gewaltverbrechen. Die erwähnten Quellen behaupten nun, daraufhin habe der New Yorker Staats- oder Rechtsanwalt Stephen Saracco die Einberufung einer »Grand Jury« für 1996 durchgesetzt, vor der auch Colby erscheinen sollte – weshalb er schleunigst beseitigt worden sei. Die englische Wikipedia behauptet freilich im Gegenteil, Saracco habe erklärt, die Argumente oder Beweismittel seien zu schwach, um eine solche Jury zu beantragen. Diesem Wirrwarr gehe ich einstweilen nicht auch noch nach.**
~~~ Selbstverständlich glaube ich gern, Colby sei auch im Fall Olson ein gewichtiger Mitwisser gewesen. Damals, nach dem Zweiten Weltkrieg also, hatte Colby von Stockholm und Rom aus tüchtige Agentenarbeit geleistet, dabei auch für die berüchtigte geheime Nato-Mörderbande Gladio, die er mitaufbaute. Er war ein führender »Kalter Krieger«, dem sogar Kollege Grant ein eher geringes Maß an menschlicher »Wärme« bescheinigt. Später war Colby, wie Grant, in Saigon stationiert (Vietnamkrieg), und schließlich, von 1973 bis 1976, Direktor der CIA. Anschließend machte er ein eigenes Rechtsanwaltsbüro auf und gab sich seiner 24 Jahre jüngeren zweiten Ehefrau oder seiner Segelyacht hin. Über Colbys Gemütsverfassung »im Ruhestand« macht sich Grant verständlicherweise so wenig Gedanken wie über Mordmotive: gar keine. Nebenbei versäumt er es mitzuteilen, ob der alte Segler am Ende Nichtschwimmer war. Es mag ja sein, der Pensionär legte Hand an sich selbst, weil diese doch gar zu blutbefleckt war und zu sehr auf sein Gewissen drückte. Dafür ließ er sogar gut die Hälfte seines Lieblingsgerichtes Venusmuscheln und ein kaum angerührtes Glas Wein auf dem Eßtisch in der Veranda stehen. Dann begab er sich mit einem Röhrchen Tabletten, dafür ohne Schwimmweste, zu seinem Kanu. So ähnlich sollen es in der Tat ein paar BeobachterInnen sehen, darunter, wen könnte es verwundern, Colbys Sohn Carl. Bringen wir Nachsicht auf, er ist eben ein guter Sohn. Zalin Grant dagegen muß als Verschwörungstheoretiker bezeichnet werden – er hält es allen Ernstes für wahrscheinlich, Oberverschwörer Colby sei ermordet worden!
∞ Verfaßt 2015
* »Who murdered the CIA chief?«, 2011: http://www.pythiapress.com/wartales/colby.htm
** Mehr zu Olson unter → Spitzel
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