Sonntag, 5. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 7
Blüher – Brautlacht

Blüher, Peter (1941–74), DDR-Fußballspieler. Ende Mai 1974 schlitzt Heidrun Blüher in Ostberlin-Friedrichshain, Lichtenberger Straße, einen Brief von der Kreisvolkspolizei in Lübben (Spreewald) auf. Sie zieht das Anschreiben sowie eine Telefonrechnung, zwei unausgefüllte Scheckformulare und einen Zahlungsabschnitt der Staatlichen Versicherung über 263 Mark hervor. Gezahlt oder nicht? Wofür? Etwa für den Wagen? Dies alles wird aus meinen Unterlagen nicht klar. So oder so dürfte sich die Witwe aber ziemlich bitter gesagt haben: Die nützt ihm jetzt nichts mehr, die Versicherung … Und dann hat sie vielleicht wieder geweint. Die Papiere hatte man im Wagen ihres 32 Jahre alten Mannes Peter gefunden, nachdem er in oder bei Lübben verunglückt und im dortigen Krankenhaus gestorben war. Er hatte auch seinen Personalausweis bei sich. Nur nicht sie, die Gattin.
~~~ Laut Totenschein tat der diplomierte Physiker und ehemalige Berufsfußballer Peter Blüher seinen letzten Atemzug am 18. Mai um 3 Uhr 15 in der Frühe. Vielleicht machte sich vor dem Krankenhausfenster gerade die erste Amsel singbereit. Der dunkelhaarige Pechvogel im Bett hatte unter anderem einen Schädelbruch erlitten. Von seiner stattlichen Torwart-Größe, 1,85, war möglicherweise nicht mehr viel übrig. Blüher, Sohn eines Landwirts und Müllers und einer Kontoristin, hatte seine ersten Meriten als jugendlicher »Balltöter« in seiner Heimatstadt Finsterwalde errungen, Bezirk Cottbus. 1961 wurde der kaum 20jährige vom SC Motor Jena verpflichtet. Ende 1965 schien er es »geschafft« zu haben, rief ihn doch kein Geringerer als der 1. FC Union Berlin, immerhin ein Hauptstadtclub, der 1968 sogar das DDR-Pokal-Finale gewann. Da lief Torwart Blüher freilich schon nicht mehr auf, wie von Dr. Hanns Leske zu erfahren ist. Zwar habe der Zugang aus Jena großen Anteil am ersten Oberligaaufstieg der Union gehabt, doch bereits nach einer Spielzeit habe ihm Rainer Ignaczak »den Rang abgelaufen«. Leske gilt als »Sporthistoriker«. Am Schluß seines großformatigen Prunkbandes über DDR-Fußballtorhüter* (der mich antiquarisch, mit Porto, 22 Euro gekostet hat) sind wir vielleicht von Leskes knapp dreiseitigem Literatur- und Quellenverzeichnis beeindruckt – nachdem wir in seinem Eintrag zu Blüher nicht einen Einzelnachweis entdeckt haben, schon gar nicht zu dessen ortlosem angeblichem »Motorradunfall«.
~~~ Im Internet wird wahlweise auch von Blühers Verkehrsunfall gesprochen. Ein Ort, sowohl des Unfalls wie des Sterbens, wird nirgends genannt. Das gilt selbst für das beliebte DDR-Wochenblatt Die neue Fußballwoche. Die Fuwo, wie sie oft nur genannt wird, ist sogar kaltblütig und höhnisch genug, in ihrer schwarz eingerahmten, verdammt kurzen, jedoch mit Porträtfoto illustrierten Todesmeldung** das genaue Datum des Unfalls oder Sterbens zu verschweigen. Dafür erfahren wir, nach Beendigung seiner aktiven Laufbahn habe sich der Diplom-Physiker bei der Union als Übungsleiter im Nachwuchsbereich betätigt. Wo er vielleicht ansonsten erwerbstätig war, erfahren wir nicht. Auch seine familären Verhältnisse werden nirgends angedeutet. Hier könnte die Botschaft lauten: Machen Sie sich keine Sorgen, liebe LeserInnen, er fehlt keinem.
~~~ Wie unter Umständen nicht jeder weiß, waren die Fußballhelden des ostdeutschen Sozialismus nur dem Schein nach Amateure. Faktisch wurden sie, zumal in der Oberliga, von staatlichen Betrieben, zuweilen auch Behörden ausgehalten. Ich glaube, die Recken des SED-Vorzeigeclubs Dynamo Berlin wurden unmittelbar von Erich Mielkes MfS, dem »Ministerium für Staatssicher-heit«, bezahlt. Sonderprämien, ob in Gestalt einer Waschmaschine oder einer Wohnung, waren gang und gäbe. Übrigens hatte diese Entwicklung just um 1960 in Jena eingesetzt***, als Blüher zu Motor ging. Ihr verdankte er vermutlich auch sein Auto. Die DDR war eben eine Leistungsgesellschaft, da mußte sie sich auch Unfallwagen leisten. Genauer war sie ein Papagei. Sie äffte als solcher getreulich alles nach, was es auf der einen Seite in Moskau und auf der anderen in Düsseldorf zu erspähen gab, etwa Autos, Rennboote, Fernsehgeräte und nuklear betriebene Armbanduhren. Über diese peinliche Nachäffung des Westens kann man sich gar nicht genug aufregen. Und nun wohne ich auch noch im Osten. Als ich nach meinem Herzug (2003) durch thüringische Städte wie Eisenach oder Mühlhausen ging, kam ich aus dem Kopfschütteln gar nicht mehr heraus. Während sich die Linienbusse im Wettstreit mit den modischen »Gelände«-Limousinen durch die engen Gassen zwängten, sah ich hier und dort noch einasphaltierte Straßenbahnschienen aufblinken. Am liebsten hätte ich mich verzweifelt hingeworfen und meine Zähne in die stillgelegten Schienen geschlagen. Das haben die ostdeutschen »Sozialisten« in den 1970er Jahren freiwillig, ja mit Begeisterung gemacht!
~~~ So manchem DDR-Bürger war es freilich immer noch zu wenig. Deshalb, aus dem Grund der Verlockung nämlich, begingen auch viele Sportler »Republikflucht«. Zwischen 1950 und 1989 soll sie, im ganzen, über 600 Spitzensportlern gelungen sein. Ob sich Blüher ebenfalls zeitweise oder gar zuletzt mit solchen systemfeindlichen Fluchtgedanken trug, kann ich natürlich nicht wissen. Es ist jedoch eher unwahrscheinlich. In einer schmalen, 1979 »abgelegten« Blüher-Akte****, die mir, auf Antrag, die Berliner Stasi-Unterlagen-Behörde (BStU) übermittelte, wird sogar hervorgehoben, der Fußballer habe, in seiner aktiven Zeit, häufig im Ausland, auch im »kapitalisti-schen«, zu tun gehabt – und dies offensichtlich nicht dazu genutzt, sich abzusetzen. Dann war er bei der Union ausgemustert worden und für den »Leistungssport« sowieso zu alt. Wie sich (für einen autoritär gestimmten Staat) versteht, war Blüher wiederholt vom MfS »überprüft« worden. Anhaltspunkte dafür, es habe Versuche gegeben, ihn fürs Ausspionieren zu werben, kann ich in der Akte nicht entdecken.
~~~ Nach verschiedenen Dokumenten, darunter zuletzt die Todesanzeige des Lübbener Krankenhauses, war der Diplom-Physiker bei der »IPH-Berlin« erwerbstätig. Möglicherweise war das bereits seit Jahren sein »Trägerbetrieb«, sein Sponsor also. Hinter dem Kürzel verbirgt sich, falls ich nicht irre, das Institut Prüffeld für elektrische Hochleistungstechnik. Man könnte argwöhnen, Blüher sei vielleicht West-Spion gewesen und nun, im Mai 1974, auf dem Weg in die Schweiz gewesen. Da Lübben ungefähr auf halbem Wege zwischen Berlin und Finsterwalde liegt, glaube ich aber eher, er war zu seinem Heimatstädtchen unterwegs, oder umgekehrt, von diesem aus zurück zur Frau. In der Akte des MfS wird Peter Blüher als intelligenter, umgänglicher, wenn auch eher unpolitischer Mensch beschrieben. Er sei im Privat- und Familienleben aufgegangen. Man zähle ihn »zu den Bürgern unseres Staates, die wenig Schwierigkeiten bereiten«, so jedenfalls im Dezember 1965. Trifft das Urteil zu, hätten wahrscheinlich auch unsere jüngsten Berliner Panikregierungen ihre Freude an ihm gehabt. Nebenbei wäre Blüher im harmlosen Falle nicht nur zu seiner Frau, sondern auch zu zwei Kindern zurückgekehrt. Die werden in der erwähnten Todesanzeige des Krankenhauses angeführt, wenn auch ohne Namen. Heidrun Blüher, geboren 1942, war nur geringfügig jünger als ihr Mann. Die Ehe wurde 1962 geschlossen. Das war recht früh, würde ich sagen. Es war kurz nach Blühers Einstieg bei Motor Jena.
~~~ Dies alles – was sich weder im Internet noch bei Herrn Dr. Leske fand – habe ich in Monaten mühsam zusammen getragen. Aber im Grunde ist es nur ein Klacks. Das Wesentliche fehlt noch immer. Und selbst der Unfallhergang ist eher undurchsichtig, wie ich finde. Das einzige dazu steht im Totenschein. Blüher sei mit einem Pkw von der Straße abgekommen und gegen einen Telefonmasten geprallt. Dadurch u.a. Schädelbruch, wie schon erwähnt. Keine Autopsie angeordnet. Gez. Oberärztin M. Ionascu. Von weiteren Betroffenen ist nicht die Rede. Auch die Möglichkeit, Blüher habe den (in der DDR am Fuß meist einbetonierten) Telefonmasten mit Absicht aufs Korn genommen, wird mit keinem Komma angedeutet. Es war eben ein Unfall. Warum hätte er sich auch umbringen sollen? Wegen der längst zu dicken Luft zu Hause? Wegen der 263 Mark? Wegen der alten Abfuhr bei Union – oder wegen der neuen auswärtigen Geliebten, die sich leider schon wieder sträubte? Alles Unfug.
~~~ Gewiß ließe sich die Wahrscheinlichkeit eingrenzen, wenn man wüßte, wer und wie die Person Blüher war. Aber gerade damit liegt es ebenfalls im Argen. »Sporthistoriker« Leske bringt es noch nicht einmal fertig, ein paar fußballerische Eigenarten / Schwächen / Stärken des Torhüters anzuführen. Zu dessen Charakter sagt er null. Ich fürchte, die Mutter des ganzen Werkes über die Magneten ist nicht gerade die Sorgfalt gewesen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Hanns Leske, Magneten für Lederbälle, 2014
** Nr. 22 vom 28. Mai 1974, S. 14
*** Michael Kummer, https://www.nd-aktuell.de/artikel/986447.wir-hiessen-eben-amateure.html, Neues Deutschland, 2. Oktober 2015
**** MfS Allg. P. 3847 / 79, jetzt wohl im Bundesarchiv




Böhmer, Auguste, Tod mit 15. Aber zunächst zu einer 1,77 großen österreichischen Modistin, die aus Jugoslawien stammte: Ena Kadić (1989–2015),, 1,77 groß. Sie hatte in Innsbruck, Tirol, eine Fachschule für Mode und Bekleidungstechnik besucht. 2013 gewann sie den jährlichen Miss Austria-Schönheitswettbewerb. Der anschließende schicke Rummel scheint ihr allerdings nicht behagt zu haben.* Sie entzog sich ihm und arbeitete als Verkäuferin in einem Innsbrucker Modegeschäft. Am 16. Oktober 2015 wurde sie am Innsbrucker Bergisel gesehen – und schwerverletzt unterhalb der Aussichtsplattform Drachenfelsen aufgefunden. Anscheinend war sie über rund 30 Meter in die Tiefe gestürzt. Drei Tage darauf starb sie. Auf dem Handy der 26jährigen fanden die ErmittlerInnen auch eine Textnachricht an einen Verwandten, in der sie einen Selbstmord ankündigte. Wie so oft, wollte es die Familie zunächst nicht glauben und brachte beispielsweise einen »Guru« der Modistin ins Spiel, den sie sogar nach dem Absturz noch angerufen hatte, wohl ein reuiger Hilferuf. Später machte sich allerdings selbst der Anwalt der Familie die Feststellung der Innsbrucker Staatsanwaltschaft zu eigen, nach den Ermittlungen sei Mord auszuschließen, Selbstmord sehr wahrscheinlich.*
~~~ Kadićs Motive bleiben undurchsichtig. Die Sache mit dem »Guru« erinnert an den wenig älteren »Fall« des 20jährigen Topmodels Ruslana Korschunowa, New York City. Hier nun wußte Gala (4. Februar 2016), Kadić habe »jede freie Minute« mit diesem Mann verbracht, der sie auch wiederholt akupunktiert habe. Dagegen habe er ihr »nach einem Hundebiß mit tiefen Wunden« die vom Arzt verschriebenen Antibiotika untersagt, woran sie sich auch gehalten habe. Man könnte natürlich argwöhnen, sie sei durch den Hundebiß in den Tod getrieben worden. Dadurch zöge man sich allerdings einmal mehr den Haß von ungefähr 70 Prozent der Menschheit zu.
~~~ Bekanntlich ist die Beurteilung der ausschlag-gebenden »Todesursache« oft schwierig, zuweilen sogar müßig. Hier kommt Auguste Böhmer ins Spiel. Die 15jährige soll sich (1800) im Kurort Bad Bocklet die Ruhr geholt haben, also ein Bakterium, das meist für heftige Durchfälle, Fieber, Entkräftung bis hin zum Tod sorgt. Antibiotika standen noch nicht zur Verfügung. Also versuchte es »Naturphilosoph« Schelling, der neue Liebhaber von Augustes Mutter, mit Wein und Opium, was dem Konzept der »alternativen«, auch im nahen Bamberg gepflogenen medizinischen Schule des Brownianismus entsprach, für das sich Schelling erwärmt hatte. Die Dröhnung schlug fehl – oder eben die letzten Nägel in den Sargdeckel. Seitdem hat der Streit über Schellings Eingreifen und den Brownianismus allgemein schon viele Zeitungs- und Buchseiten gefüllt. Der Arzt Gerd Reuther läßt in seinem jüngsten Werk, einer aufschlußreichen kritischen Medizingeschichte**, kein gutes Haar an den Lehren John Browns, den er zu den »Scharlatanen« des 18. Jahrhunderts zählt. Brown starb 1788 – möglicher-weise just an Alkohol und Opium …

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Eva Kaiserseder, https://web.de/magazine/panorama/ena-kadic-miss-austria-beging-jahr-selbstmord-31958204, 14. Oktober 2016
** Heilung Nebensache, München 2021, S. 72–75




Der Schriftsteller Heinrich Böll hatte vier Kinder, alles Söhne. Der erste, Christoph, soll bereits in seinem Geburtsjahr gestorben sein, 1945. Raimund (1947–82) war der zweite – und man kann nicht gerade sagen, er sei beträchtlich älter geworden. Er studierte in Köln Bildhauerei, bekam just wie sein Erzeuger im Zuge der Baader-Meinhof-Hysterie einige Kübel Jauche über den Kopf, wich 1976 in die Schweiz aus – aber das hinderte den Krebs, wie man liest, nicht daran, auch in den Alpen an ihm zu nagen. Daran starb er mit 35, wohl Leukämie. Seine jüngeren Brüder René und Vincent, um 75, scheinen noch zu leben. Die Bildhauerschule, die Raimund in Hochwald (SO) betrieb, soll sich erklärtermaßen als »anthroposo-phische« Einrichtung verstanden haben. Somit war er Christ wie sein prominenter Vater. Auch das hat ihm offensichtlich nicht viel genützt. Aber dem werden sicherlich so manche LeserInnen widersprechen. Man könne die Schule des Leidens, auch Leben genannt, schließlich sowenig nach ihrem »Nutzwert« wiegen wie die eine oder andere Erlösung, die uns, vielleicht, nach ihrem Ende winkt.
~~~ Vom weltberühmten Vater kenne ich ein paar starke und ein paar schwache Bücher. Billard um halb Zehn hat mich nicht nur wegen des irreführenden Titels geärgert. Der Roman ist ähnlich langweilig und langwierig wie die angebliche Satire Ende einer Dienstfahrt, die jeden witzigen Einfall wie einen Streuselkuchenteich auswalzt – und sie hat so viele Einfälle wie Streusel. Als wahre Labsal dagegen stellte sich ein früher Roman von 1953 heraus. Das einzig nennenswerte Mißglückte an ihm ist gleichfalls der Titel, der meines Erachtens der Kurzangebundenheit und dem Sarkasmus des Romanes ins Gesicht schlägt: Und sagte kein einziges Wort. Der oft als »Eheroman« bezeichnete Text wird im steten Wechsel aus dem Blickwinkel der NachkriegskölnerInnen Käte und Fred erzählt, die verheiratet sind und Kinder haben, gleichwohl weitgehend getrennt leben. Zuweilen treffen sie sich und vögeln sich, in Parks oder in Stundenhotels. Fred hat ein kleines Monatsgehalt als Telefonist bei einer kirchlichen Behörde. Er reicht es überwiegend an die äußerst beengt wohnende Käte weiter; anonsten vertrinkt er es, spielt an Automaten, besucht Friedhöfe, steht zu seiner Melancholie. Aber er steht eben auch zu Käte. Zwischen den beiden herrscht mehr als Liebe; es ist Solidarität. Darüber beirren auch Streit und Kummer zwischen ihnen nicht. Es ist die Solidarität des armen, des ohnmächtigen, des verzweifelten und verlorenen, ja des überflüssigen Menschen.
~~~ Der Autor selber aber bringt, außer dem furchtbar feierlichen Titel, kein überflüssiges Wort. Die vom Klappentexter ausnahmsweise zurecht vorhergesagte »Erschütterung« des Lesers wird erträglich und unterstrichen durch den Galgenhumor der beiden Ich-ErzählerInnen. Das Schicksal der beiden und weiterer Randfiguren, die sich tapfer durch die großstädtischen Trümmerberge und die Wänste der scheinheiligen Kleriker schlagen, ruft Mitleid, aber keine Rührseligkeit hervor. Auch die Kinder werden ernst genommen. Und man fragt sich, womit sie nur dieses trübe Schicksal verdient haben, das sie bereits umstellt hat und das sie sehr wahrscheinlich über Jahrzehnte hinweg ersticken wird. Während Käte die freundliche, durch nichts zu entmutigende junge Imbißbudenbetreiberin mit dem Engelshaar und dem idiotischen kleinen Bruder beobachtet, die ihr Kaffee und den Arbeitern des Straßenbahndepots heiße Würstchen serviert, sieht sie sie schon des nachts: einem Mann geöffnet, den sie liebe; einem Mann, »der das Leben und den Tod in sie hineinschicken würde, die Spuren dessen, was er Liebe nannte, in ihrem Gesicht hinterlassend, bis es meinem gleichen würde: mager und gelblich gefärbt von der Bitternis dieses Lebens.«
~~~ Der einzige Grund, vor der Menschheit den Hut zu ziehen, wäre ihr Entschluß, ab sofort das Zeugen und Gebären von Nachwuchs einzustellen. Dieser Entschluß hätte sich vielleicht schon 1945 empfohlen. Selbst die verkommene Frankfurter Rundschau behauptete* bereits vor einem Monat: »Gaza hat eine der jüngsten Bevölkerungen der Welt: 47 Prozent der Menschen sind unter 18 Jahren. Entsprechend hoch dürfte die Zahl der getöteten Kinder im Gazastreifen sein. Meldungen gibt es von über 4.000 minderjährigen Opfern.« Ein Ende der Schlächterei ist nicht in Sicht.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024
* https://www.fr.de/politik/israel-krieg-gazastreifen-verluste-tote-zahlen-kinder-gesundheitsamt-hamas-zr-92662670.html, 11. November 2023




Bolotin, Jacob (1888–1924), blinder Arzt. Um 2007 schenkte mir ein Gartennachbar hübsche, leuchtend bunte Peperoni. Ich wusch sie in meiner Vogeltränke und dachte über das Pfannengericht nach, das ich mir vielleicht zubereiten könnte. Dabei rieb ich mir wohl unwillkürlich irgendeine Mißempfindung aus einem Augenwinkel, wie man es sicherlich dutzende Male am Tage tut. Aber schon meinte ich, in Flammen zu stehen. Ich knickte zusammen, wälzte mich im Gras und sah meinen Garten nur noch bruchstück- oder nebelhaft. »Wasser! Wasser!« durchfuhr es mich immerhin. Glücklicherweise mied ich die Vogeltränke, tappte stattdessen stöhnend zu meinem 5-Liter-Kanister auf der Hütten-Veranda, der noch halb voll war. Ich goß ihn nach und nach in meine Schüssel und wusch mir in den nächsten Minuten halbwegs das brennende Auge aus. Nach einer Viertelstunde hatte ich den Eindruck, mein Auge sei gerettet.
~~~ Seit diesem Denkzettel fällt mir die »Empathie« mit Einäugigen leichter – was es jedoch bedeutet, von Geburt an völlig blind zu sein und nicht schon als Knabe zu sterben, wie Kolja → Herzen, übersteigt nach wie vor mein Vorstellungsvermögen. Jacob Bolotin, Sohn von polnischen Einwanderern in Illinois, USA, erkämpfte sich damals, um 1900, sogar eine medizinische Ausbildung und, als erster nichtsehender US-Bürger überhaupt, die Zulassung als Arzt. Er soll sich große Verdienste erworben haben, schon durch sein Vorbild, ferner durch seine teils verblüffend treffenden Diagnosen, viele Vorträge, auch die Schaffung und Leitung einer ausschließlich aus blinden Knaben bestehenden Pfadfindergruppe.
~~~ Sein auffälliges Frühsterben scheinen die meisten Quellen zu übergehen. Selbst Deborah Kendricks Bemerkung dazu in ihrer Besprechung* einer Biografie riecht nach Ausflucht. Der blinde Mediziner habe sich anscheinend buchstäblich totgearbeitet – »maintaining such a rigorous schedule of seeing patients and giving speeches that his body wore out.« Zu Bolotins Liebesleben, falls vorhanden, sagt sie nichts. 5.000 Leute seien zu seiner Beerdigung erschienen. Vielleicht war Bolotin, mit 36, weder an Tuberkulose, Herzfehler, »Überarbeitung«, vielmehr an der Verzweiflung über das ihm verordnete Schicksal gestorben, für das es noch nicht einmal einen Hauch an Rechtfertigung gibt. Vielleicht versagten seine krampfhaften Selbstbeschwichtigungen, nicht seine Organe.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Deborah Kendrick, »The Blind Doctor«, Braille Monitor, Januar 2008: https://www.nfb.org//images/nfb/publications/bm/bm08/bm0801/bm080105.htm




Die Keramikerin, Segelfliegerin und Antifaschistin Cato Bontjes van Beek (1920–43) aus Worpswede bei Bremen wurde wegen ihrer Aktivitäten im Rahmen der sowjetfreundlichen Organisation Rote Kapelle mit 22 in Berlin-Plötzensee ermordet. Kopf ab für Plakate kleben, Juden verstecken, »Feindsender« abhören und ähnliches mehr. Nach dem Krieg wurde die Rote Kapelle zum »monströsen KGB-Spionagering« aufgeblasen, wie Katja Gloger 2004 in einem Wochenmagazin anmerkt.* Die Tänzerin und Malerin Olga Bontjes van Beek hatte 12 Jahre lang gegen das Land Niedersachsen zu prozessieren, bis sie eine Rehabilitierung ihrer Tochter Cato erwirkte.
~~~ Im Sammelband Recht ist, was den Waffen nützt, herausgegeben von Helmut Kramer und Wolfram Wette 2004, wird eins der äußerst dünngesäten Verfahren gegen die faschistische Wehrmachtsjustiz erwähnt, nämlich gegen Generalrichter Dr. Manfred Roeder, mitverant-wortlich für mindestens 45 Todesurteile (von über 70 Todesurteilen?) gegen WiderstandskämpferInnen der Roten Kapelle, die ich ja eben als »sowjetfreundlich« bezeichnet habe. Das Verfahren wurde 1951 von der Staatsanwaltschaft Lüneburg eingestellt. In der ursprünglichen, nach öffentlichen Protesten etwas abgemilderten Begründung ist zu erfahren, diese Leute seien zu Recht zum Tode verurteilt worden, da Grundlage ihres Wirkens Landesverrat gewesen sei. »Landesverrat hat immer und zu allen Zeiten als das schimpflichste Verbrechen gegolten.« Darauf, was in dem betreffenden Lande geschieht, kommt es also nicht an. Dein Land kann ein Jauchefaß sein; es kann im Laufe von 30 Jahren 15 Vietnamkriege exportieren – solange es dein eigenes ist, darf es niemand ungestraft beschimpfen.
~~~ Ich komme noch einmal auf die Widerstands-kämpferInnen zurück. Gewiß schlug am 20. Juli 1944 im »Führerhauptquartier« Wolfsschanze ein Bomben-anschlag auf Hitler fehl, für den anschließend etliche hohe Amtsträger der zivilen oder militärischen Art mit ihrem Leben zu büßen hatten, darunter so junge Leute wie Major Egbert Hayessen (30) und Oberst Claus Schenk von Stauffenberg (36), die jedes Kind von Briefmarken oder Schulbüchern her kennt und für große Vorbilder hält. Waren sie also nur durch dumme Zufälle in diese führenden und viel Unheil anrichtenden Positionen des »Dritten Reiches« gerutscht, während ihnen an der Wiege doch bereits revolutionäre Lieder gesungen worden waren? Selbstverständlich nicht. Diese Leute, die unverschämterweise seit vielen Jahrzehnten den Widerstand gegen den deutschen Faschismus repräsentieren dürfen, gehörten von Hause aus einem reaktionären Club an, dessen Mitglieder alle Mühe hatten, vor dem Einwickeln der Bombe in Butterbrotpapier und deren Verstauung in einer speckigen Aktentasche ihren Ekel vor dem roten Pöbel, dem Bolschewistengesindel, den Pazifistenschweinen zu unterdrücken, mit denen sie möglicherweise, nach Hitlers Beseitigung, gemeinsame Sache zu machen hatten. Diese Aktentasche stellte lediglich ihre nebenbei dilettantisch angebrachte Notbremse dar. Sie bäumten sich in ihren Clubsesseln in letzter Minute auf, um nicht mit in den Abgrund gerissen zu werden. Näheres dazu hat Engelmann schon 1975 ausgeführt.**
~~~ Ähnliches gilt für den christlichen, etwas liberaler gesinnten »Kreisauer Kreis« um den Juristen und Mitarbeiter der Abwehr der deutschen Wehrmacht Helmuth James Graf von Moltke (mit 37 hingerichtet 1945). Dieser Club stand mit den Attentätern in Verbindung. Wenn ihn die Konrad-Adenauer-Stiftung auf ihrer Webseite kühn zur »führenden Gruppe des deutschen Widerstands« gegen den Faschismus erhebt (den sie freilich beschönigend »Nationalsozialismus« nennt)***, sind auf einen Streich »Hunderttausende«, wie Engelmann schätzt, aus Kreisen der Werktätigen und der linken Intelligenz vom Tisch gewischt, die im Sommer 1944 bereits seit mindestens 10 Jahren aufrichtig und mutig Widerstand geleistet hatten. Tausende davon kamen um.****

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Katja Gloger, https://www.stern.de/politik/geschichte/widerstandsorganisation-die-legende-von-der-roten-kapelle-526650.html, 8. Juli 2004
** Bernt Engelmann, Einig gegen Recht und Freiheit, Göttinger Ausgabe 2001, S. 282 ff. Neuerdings siehe auch Jutta Ditfurths Börries-von-Münchhausen-Biografie: Der Baron, die Juden und die Nazis, Hamburg 2013, bes. S. 299–306.
*** Wilhelm E. Winterhager, https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/kreisauer-kreis, o.J.
**** Ähnlich fragwürdig ist meines Erachtens der Rummel, der teils seit vielen Jahren um jung bis sehr jung ermordete Tagebuch-schreiberInnen gemacht wird, voran die allbekannte Deutsche Anne Frank, 15, ferner beispielsweise die Tschechin Věra Kohnová und die Ungarin Éva Heyman, beide 13. Da hat man plötzlich ein Herz für Kinder; im Straßenverkehr und bei Plandemien (Masken, Impfen) aber nicht.




Borstschagowski, Alexander. Nachdem mit Uwe Seeler (85) der berühmteste Kanonier des deutschen Wirtschaftswunders von uns gegangen ist (Sommer 2022), greife ich zielsicher Ihr größtes Spiel aus meinem Bücher-schrank. Die Wiederlektüre lohnt sich, denn Alexander Borstschagowski, der Autor, ist meines Erachtens ein ausgezeichneter Erzähler. Ich besitze die Ostberliner Ausgabe seines Romanes von 1960, Übersetzung Willi Berger. Leider verrät das Internet so gut wie nichts über Borstschagowski, der vermutlich Sowjetbürger war. Allerdings geht es in seinem Werk gegen die Deutschen. Die hatten nämlich 1941 die Ukraine überfallen und besetzt und damit auch den heimischen Fußballbetrieb lahmgelegt. Die von Borstschagowski verwertete Begebenheit soll im Kern historisch verbürgt sein. Einer gut 20 Jahre alten Darlegung* des Sportjournalisten Werner Skrentny zufolge hatten sich in der hauptstädtischen Brotfabrik 1 verschiedene begabte Fußballer zusammengefunden, vor allem von Dynamo und Lokomotive Kiew. Nach langer Erörterung erklärten sie sich bereit, an der neuen Stadtliga von Nazignaden teilzunehmen. »War es nicht Kollaboration, wenn man an dem unter der Besatzung organisierten Wettbewerb teilnahm, der in Kriegszeiten Normalität vorgaukeln sollte? Aber da war auch der Stolz auf Dynamo, die Liebe zum Sport und die Chance, die Moral der Einheimischen zu verbessern.« Der neue Club nennt sich Start. Anfang Juni 1942 debütiert er mit 7:2 gegen den streng antibolschewistisch gestimmten Rivalen Rukh. Es folgen etliche Siege, darunter auch gegen die bis dahin ungeschlagene deutsche Flakelf. Die zerknirschten BesatzerInnen halten sich zunächst zurück, um keine »Märtyrer« zu schaffen, doch mit der Siegesserie der »Roten« und der Verschärfung des Krieges schwillt die Verfolgung an: Schon auf dem Rasen Benachteiligung und Brutalität, ferner Prügel, Folter, Lagerhaft, Erschießungen. Bis Februar 1943 sind, laut Skrentny, nachweislich vier Start-Leute ermordet, darunter Torwart Nikolai Trusevich, der Kopf der Mannschaft. Er soll vor dem Hinrichtungs-schuß »Rotsport wird nie sterben!« ausgerufen haben. Nach dem Krieg setzten Ehrungen und Legendenbildung ein.
~~~ Borstschagowski eröffnet seine Geschichte mit der Chance einiger hinter Stacheldraht darbenden, mehr oder weniger kommunistisch geprägten Fußballer, für ein Jubiläumsspiel gegen eine aus Deutschland eingeflogene Spitzenmannschaft zumindest vorübergehend freigelassen zu werden. Man gewährt ihnen, kaserniert und bewacht, einen Monat fürs Training. Sie lassen sich darauf ein – flüchten können sie immer noch, denken sie. Nebenbei verschaffen sie dadurch auch angeblichen »Ersatzspielern« die Möglichkeit zur Flucht. Wie sich versteht, soll das Match den Besatzern zur Imagepflege und zum Nachweis der deutschen allseitigen Überlegenheit gereichen. Peinlicherweise liegt Legion Kondor zur Halbzeit mit 2:3 zurück. Die Deutschen auf den östlichen Rängen des großen Stadions (40.000 Plätze) murren; einige Offiziere schießen in ihrem Gram bereits auf die Anzeigetafel. Die ukrainisch oder russisch besetzten westlichen Ränge schöpfen Hoffnung, sofern sie nicht über Fragen der politischen Moral streiten. Hier fiebern auch der Ingenieur Rjasanzew, einst ein guter Stürmer und Trainer, und seine kleinen Söhne mit. Er ist kein Widerstandskämpfer, hat sich vielmehr in einer miesen Werkstatt vergraben, zumal er ernsthaft lungenkrank ist. Doch dann geschieht zweierlei. Der junge Torschütze Pawlik muß verletzt ausscheiden, und in der Umkleidekabine pflanzen sich zur Halbzeitpause die zuständigen Nazichefs auf um den Roten einzuschärfen, sie sollten sich einen Sieg gefälligst abschminken. Gingen sie nicht als Verlierer vom Platz, würden sie allesamt erschossen. Das spricht sich in Windeseile auf allen Rängen herum. Nun gibt es für Rjasanzew kein Halten mehr: Er schnürt sich Pawliks Fußballstiefel um und läuft als dessen Ersatzmann auf. Mehr noch, gelingt dem so oder so todgeweihten Ingenieur nur wenige Minuten vor dem Abpfiff sogar das Siegtor, wohl zum 5:4. Die Roten verlassen das Stadion von deutschen Soldaten flankiert – sehr wahrscheinlich Richtung Erschießungsplatz.
~~~ Der Autor stellt die russische Mannschaft keineswegs als einmütiges, in der Augustsonne glänzendes Heldendenkmal hin. Manche Spieler wären wohl bereit gewesen, die verlangte Niederlage zu liefern. Verteidiger Sedoi wird sogar als ausgesprochener Hasenfuß gemalt. Für andere wiederum stellt ein Spiel auf Sieg die berüchtigte Ehrensache dar. In der siebten Minute läßt Torwart Nikolai Dugin trotz Hechtsprung den ersten Treffer der Deutschen durch. Platt am Boden liegend, überflutet ihn brennende Scham. Der Blondschopf lugt unter dem Mützenschirm hervor, sieht »die reglosen Gestalten der Spieler, den grünen flauschigen Rücken des Fußballfeldes und die Tribünen, die tief eingesunken schienen wie ein Schiff auf hoher See.« Könnte man Iltis, den Schützen, kurzerhand vergessen – ja, die Deutschen überhaupt! Könnte man einfach »auf der Erde liegenbleiben, an eine Stelle kriechen, wo das Gras dichter war, sich auf den Rücken drehen und in den hohen, gewaltigen Himmel schauen!« Tatsächlich aber mausert sich Dugin im Lauf des Spiels zum sprichwörtlichen Rückgrat des roten Sieges. Weiter vorne machen vor allem Eisenbahner Sokolowski und der junge Mischa Skatschko Dampf. Diesem hatte man erst kürzlich die Braut genommen, Sascha. Um daraus Schärpen für die Spieler zu nähen, hatte sie in der Textilfabrik ein paar Meter roten Satins entwendet und sich um den Bauch gewickelt. Sie wurde beim Schichtwechsel ertappt und noch im Fabrikhof erschossen.
~~~ Mir selber geht das Heldentum wahrscheinlich mehr als Borstschagowski ab, zumal ich weder Bolschewist noch Anthroposoph bin, also nicht an Wiedergeburt glaube. Ich hätte mir und meinen Kameraden gesagt: Auf den Rängen wissen doch sowieso alle, welches Faulspiel hier läuft. Die Einheimischen werden es uns wohl kaum krumm nehmen, wenn wir unseren Frauen den Ernährer und dem Widerstand ein paar Maulwürfe retten. Also spricht nichts dagegen, wenn Dugin am Ende notfalls einen strammen Fernschuß oder einen Elfmeter durchgehen läßt, damit uns die Faschisten – vielleicht – verschonen … Hasenfuß Sedoi versuchte es übrigens. Er zitterte um sein Leben. Folglich nahm er den Ball im Getümmel vorm eigenen Tor sogar mit der Hand auf, wodurch er den Deutschen zu einem Strafstoßtor verhalf. Aber bald darauf schlug Rjasanzew zu. Ihm gelang »ein gewaltiger Schuß aus etwa zwanzig Meter Entfernung, ein Schuß in die Torecke, knapp unter die Latte.« Dagegen waren selbst die Bakterien in seiner ausgepumpten Lunge machtlos.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Werner Skrentny, https://www.tagesspiegel.de/sport/toedliches-spiel/269270.html, 8. November 2001




Um Menschen zu bedauern, die gleichsam stets ihren Berg dabeihaben, muß man den Göttinger Professor Lichtenberg nicht unbedingt kennen. Randolph Bourne tut‘s auch. Ich fürchte allerdings, Sie haben noch nie von dem ähnlich kleinwüchsigen linken US-Essayisten (1886–1918) gehört. Er hatte wegen Wirbelsäulen-Tuberkulose von Kind auf unter einem entstellten Gesicht und einem Buckel zu leiden. Er maß lediglich fünf Fuß, um 1 Meter 50. Auch sonst war seine Kindheit kein Deckchensticken.* Der Vater verarmte und tauchte unter. Der verkrüppelte Sprößling konnte jedoch Klavier erlernen und nutzte dies zum Broterwerb. Max Eastman, der Redakteur der Masses, schrieb sogar, Bournes Pianovortrag habe einem Tränen sowohl der Freude wie des Mitleids in die Augen getrieben.**
~~~ Schon während eines Studiums an der Columbia-Universität in NYC schrieb Bourne für mehr oder weniger linke Blätter. 1913/14 unternahm er eine Europareise. Er brach sie ab – wegen Kriegsausbruch. Präsident Wilsons Friedens-Tiraden empfand er als Heuchelei. Bourne vertrat kosmopolitische und antimilitaristische Standpunkte, wies auf die Symbiose von Aufrüstung und Staat hin und warnte folgerichtig auch vor dem Kriegseintritt (1917) der USA. Was Wunder, wenn er selbst von liberalen und linken Blättern zunehmend geschnitten wurde. Kaum hatte er das Kriegsende begrüßt, raffte ihn, 32 Jahre jung, angeblich die gewaltige Welle der sogenannten Spanischen Grippe dahin. Ich kann es kaum überprüfen.
~~~ In der Belletristik schätzte Bourne die Romane Sinclairs und Dreisers. Sein Aufsatz über Freundschaft von 1912 liest sich gut***, doch die wahrscheinlichen Erschwernisse des Krüppels lassen sich hinter diesem wohlgesetzten Lobpreis der Freundschaft nur schwer vermuten, von Liebschaft ganz zu schweigen. Davon erfährt man in allen Internet-Quellen buchstäblich nichts. Möglicherweise würde man in einer Biografie fündig, die Bruce Clayton 1984 unter dem Titel Forgotten Prophet: The Life of Randolph Bourne veröffentlichte.
~~~ Da sich die Mär von der Friedensbringerin USA nach wie vor peinlich gut hält, will ich mir noch einen knappen historischen Abriß gestatten. In Wahrheit war die USA von Gründung an (um 1780) eine rücksichtslos ausbeuterisch und eroberungswillig gestimmte Nation. Das bekamen die Briten und Franzosen, dann vor allem die IndianerInnen und die schwarzen Sklaven zu spüren. 1845 stand das US-Militär bereits vor Mexiko; es ging um Texas, das von den Vereinigten Staaten einkassiert worden war. Im Ergebnis schoben diese ihr Territorium bis zur Pazifikküste vor. Befördert von »innerer Festigung«, wozu es (um 1860) eines blutigen Bürgerkrieges bedurfte, streckten sie dann ihre Finger auch gen Alaska, über den Pazifik und in die Karibik aus (Hawai, Kuba). Spanisch-Amerikanischer (1898) und Philippinisch-Amerikanischer Krieg (Sieg 1902) brachten der USA eine Vormachtstellung in der Karibik und geradezu ein deftiges Kolonialreich im Pazifik ein. Hunderttausende an Leichen, dazu an Vertriebenen und Gedemütigten pflasterten ihren Weg. Die einzige Rücksichtnahme, die sie für geboten hielt, war die Zurhilfenahme höflicher Kriegsvorwände (Februar 1898 Explosion der USS Maine vor Havanna) und abgrundtiefer Scheinheiligkeit. Laut Brockhaus (Band 23 von 1994, S. 176–79) verkündete die sogenannte »Monroedoktrin« von 1823 »die Überzeugung von der 'offenbaren Bestimmung' der USA, ihr freiheitlich-demokratisches System über den ganzen nördlichen Kontinent auszudehnen«, und um 1900 strebte sie bereits »einen Platz unter den Weltmächten« an. Gott wollte es so. Aber es war keine himmlisch-irdische Vetternwirtschaft, keine Begünstigung des Lieblingskindes Gottes; es geschah der Ausbreitung der Demokratie zuliebe. 1902 marschierte die USA in Venezuela ein, 1904 riß sie sich die Kanalzone in Panama unter den Nagel. »Zahlreiche Interventionen in Lateinamerika« folgten.
~~~ Im Lichte dieser Linie, Agitprop-Muster eingeschlossen, muß man auch den Eintritt der USA in den Ersten Weltkrieg sehen, vor dem nicht nur Bourne warnte. Dieser Schritt konnte 1917 erst nach Überwindung großer Widerstände in der eigenen Bevölkerung erfolgen. Präsident Woodrow Wilson gab ihn selbstverständlich als »Kreuzzug für die Demokratie« aus. Seine PR-Leute stellten das kaiserliche Deutschland gerade so als preußisches Untier hin, wie man später – und bekanntlich bis zur Stunde – den roten russischen Bären an die Wand malte. Aber selbst Brockhaus räumt ein, daß dahinter nicht nur »missionarisches Denken mit universalem Anspruch« stand. Vielmehr sei es auch um enorme Rüstungslieferungen an die Alliierten und die Absicherung der dafür von der USA gewährten Kredite sowie um die Einsicht gegangen, ohne Kriegsteilnahme käme die USA bei einer günstigen Gestaltung der weltweiten »Friedensordnung«, also beim Wettlauf der imperialistischen Mächte, entschieden zu kurz. Damit kam auch noch die Gesundung diverser US-Konzerne an der Ausrüstung der eigenen, in Übersee kämpfenden Truppen hinzu. Das ganze Moralin-Gesäusel der gewinnsüchtigen und machthungrigen KriegstreiberInnen kann man getrost in die Schuhwichsdosen ihrer Soldaten stecken, immer und überall. Ich erinnere nur an den Überfall auf Jugoslawien von 1999 und an die angebliche, mit riesigen Dollar-Beträgen geschmierte „Revolution“ von 2014 in Kiew.
~~~ Selbstverständlich lief es im Zweiten Weltkrieg grundsätzlich ganz genauso. Wie Albert Norden darlegt und auch belegt****, halfen die USA bereits in der Weimarer Zeit nach Kräften, das mißratene und bös gestolperte Deutschland wieder aufzurüsten – vor allem gegen jenen roten russischen Bären, der ein riesiges Reich bewohnte. Die Yankees sahen in den postmodernen Germanen stets den vorzüglichsten Rammbock gegen Moskau. Neuerdings tut ihnen eben die grüne Frau Baerbock den Gefallen, sie in dieser Auffassung restlos zu bestätigen. Damals waren angelsächsische Konzerne genauso an der Mästung Francos wie an der Mästung Hitlers beteiligt. Selbst in den berüchtigten faschistisch geprägten Frankfurter Firmen IG Farben und Metall AG hatten sie beträchtlichen finanziellen und personellen Einfluß. Hitlers Raubzug gen Wien, Prag und Warschau ließen sie (heimlich) gern geschehen, diente es doch der Umklammerung und Erwürgung jenes verhaßten Bären. Erst als die Faschisten im Osten versagten und im Westen nicht weichen wollten, ging es diesen selber ans Fell. Im Juni 1944 landeten die Alliierten in der Normandie. Somit sind kriegsgeile Völker beziehungsweise Regierungen immer ein doppelt gutes Geschäft. Man päppelt sie zunächst emsig für den Krieg auf, um ihnen dann, im Interesse des Friedens, umso wirkungsvoller in den Arm fallen zu können. Die Angelsachsen triumphieren über die faschistische Schweineherde! Ein fetter Happen und ein gewaltiger PR-Erfolg. Und die eisernen Antikommunisten Adenauer und Schumacher gabs noch als Nachtisch dazu.
~~~ Behaupten einige kritische Köpfe, der Dritte Weltkrieg laufe bereits, könnten sie sogar richtig liegen. Vielleicht zieht er sich diesmal länger als der Zweite hin. Schließlich geht es um nichts Geringeres als die überall – und überall anders – beschworene »Neue Weltordnung«. Am 9. November erschreckte mich die Junge Welt mit der Meldung, US-Admiral Charles A. Richard habe vor Militärs und Rüstungsindustriellen gemeint, die Gefechte in der Ukraine seien lediglich »ein Aufwärmen« für den unvermeidlichen Schlag gegen Konkurrent China. Dem widersprach Thierry Meyssan nicht unbedingt, wenn er am 22. November (auf VoltaireNet) zu meiner Überraschung versicherte, in einigen Monaten sei Präsident und Großmaul Selenskij weg vom Kiewer Fenster, weil ihn die USA gerade fallen ließen. Wahrscheinlich fänden bereits heimliche Gespräche zwischen Washington und Moskau statt. Man müsse dies vor dem Hintergrund der nordamerikanischen Ahnung sehen, dem Weltpolizisten Nr. 1 drohten inzwischen überall die Felle wegzuschwimmen. Dazu paßt ein Artikel, der vier Tage später, am 26. November, auf den NachDenkSeiten zu lesen war. Danach haben zwei hohe US-Militärs, nämlich der oberste Militärberater des Weißen Hauses, General Mark Milley, und der ehemalige Pentagon-Berater Colonel Doug Macgregor öffentlich vor der maßlosen Selbstüberschätzung der USA gewarnt. Weder seien die Staaten in der Lage, die Russen zu besiegen, noch stellten sie länger die stärkste Militärmacht auf Erden dar. In dieser Hinsicht belögen sich die Yankees seit mindestens 20 Jahren selbst. Führend darin seien übrigens Zivilisten, also PolitikerInnen und Wirtschaftsbosse, und nicht etwa Offiziere. Die beiden raten zum Eingeständnis der eigenen Schwäche – und entsprechend zu Verhandlungslösungen.
~~~ Allerdings dürfte es ein Einfaltspinsel sein, der nun glaubt, die angeschlagenen Yankees zögen die Uniform des Weltpolizisten zähneknirschend freiwillig aus. Ihre Kapital- und Machtinteressen werden ihnen eher Amokläufe diktieren. Die einzige Hoffnung sind Widersprüche im eigenen Lager, aber auch diese kosten stets eine Menge Blut. Meine Lieblingsvorstellung geht auf eine Neuauflage des nordamerikanischen Bürgerkriegs, bei der sich die Yankees gegenseitig restlos selber auslöschen. Die dünn gesäten dortigen antikapitalistisch gestimmten BürgerInnen hätten vorher nach Mexiko oder Uruguay auszuwandern. Nur ringe ich noch mit mir, was man dann mit Baerbock macht. Bourne hätte jedenfalls darauf gewettet, sie würde in diesem betrüblichen Fall sofort eine Nachzüchtung der Yankees einleiten, zunächst in Ramstein, dann im Kosovo vielleicht.

∞ Verfaßt 2022
* Jeff Riggenbach, »The Brilliance of Randolph Bourne«, 27. Mai 2011: https://mises.org/library/brilliance-randolph-bourne
** John Simkin für Spartacus Educational, 1997/2020: https://spartacus-educational.com/USAbourne.htm
*** https://monadnock.net/bourne/friendship.html
**** Albert Norden, So werden Kriege gemacht!, erweiterte, 4. Auflage Ostberlin 1968




Brain, Dennis (Musiker) → Automobilisierung, Bugatti



Eingeweihte kennen Walter Brandorff (1943–96) als wichtigen österreichischen »Fantasy«-Autor, Hauptfach Horror. Die Webseite seines Verlages preist »ein Werk voller Gräßlichkeiten und Boshaftigkeiten, schnörkelloser Humor vom Feinsten«. Trifft das zu, hatte Brandorff natürlich völlig recht, wenn er sich weigerte, im Bett zu sterben. Er verbrannte vor rund 25 Jahren in der Nähe seines Wohnhauses in einem Hubschrauber. Das war sein letztes Gruselstück.
~~~ Robert N. Bloch zufolge* liegt das Haus abgeschieden an einem Hang bei Wolfsberg in Kärnten – der kleinen Stadt, in der Brandorff, Sohn eines Vermessungsinge-nieurs, auch aufwuchs. Seine Mutter war wenige Tage nach der Geburt gestorben. Der Halbwaise besucht eine heimische, zuchtvolle Klosterschule und studiert Jura. Zwar geht er nebenbei den unterschiedlichsten, möglicherweise eindrucksstarken Hilfsarbeiten nach, doch am Ende steht, teils in der Landeshauptstadt Klagenfurt, eine Bilderbuchkarriere des »Doktors« als Gerichts- und Finanzbeamter. 1980 hat er es bereits zum Leiter des Wolfsberger Finanzamtes gebracht. 1991 ernennt ihn der Bundespräsident zum Wirklichen Hofrat. In das alte, jedoch instandgesetzte Bauernhaus am Hang zieht Brandorff mit Frau und Sohn 1993. Zwischenzeitlich überwindet er eine lebensbedrohliche Krebserkrankung – nüchtern wie er war, hatte sich der (heimliche) Horror-Schriftsteller bereits von seinen Kollegen im Amt und der Welt überhaupt verabschiedet, aber er wurde geheilt. 1995 ließ er sich pensionieren. Allerdings war er noch, neben dem Schreiben, »im Vorstand einer Privatstiftung« tätig, so Blochs Bezeichnung. Den Aufgabenbereich der angeblichen Stiftung erfahren wir nicht. Jedenfalls seien öfter »Inspektionsflüge« angefallen, und so auch am 8. August 1996, als sich bei Wolfsberg, kurz nach dem Start, wegen Nebels der angedeutete Hubschrauberabsturz ereignet habe. Die Presse habe ausführlich über den spektakulären Unfall berichtet. »Man sieht Fotos der Verunglückten. Nur einer fehlt: Walter Brandorff. Noch im Tod bleibt er unnahbar.«
~~~ Soweit Bloch, soweit es den Unfall betrifft. Die Anzahl der Verunglückten nennt er nicht. Aber die Sache mit den Fotos stimmt. Jedenfalls trifft es auf die vielgelesene österreichische Kronen Zeitung zu, die mir freundlicherweise zwei Artikel geschickt hat, die am 9. und 10. August 1996 erschienen. Nach dieser Darstellung herrschte am Unglückstag im Bezirk Wolfsberg in der Tat dichter Nebel, überdies starker Regen. Um seine fünf Fahrgäste, eine Abordnung der in St. Andrä ansässigen Firma Kostmann, plangemäß ins östliche Ungarn zu befördern, riskierte der Pilot des Hubschraubers offenbar einen Blindflug, geriet dabei schon im engen Lavanttal zu tief, schlug unweit der Südautobahn, der Stadt Wolfsberg und deren großer Nachbargemeinde St. Andrä eine 100 Meter lange Schneise in den Wald und endete in einer »Flammenhölle«, wie das Blatt schreibt. Von den im ganzen sechs Insassen starben fünf, darunter der Pilot der Klagenfurter Firma Goldeck-Flug, die mit der Firma Kostmann verbandelt sei. Der Pilot habe als erfahren gegolten. Die Abordnung bestand aus Spitzenmanagern und Geschäftsfreunden des Bau-, Rohstoff- und Transportunternehmens Kostmann. Es beschäftigte damals immerhin 180 Leute. Der mißglückte Flug nach Ungarn galt, laut Kronen Zeitung, einem »firmeneigenen Schotterwerk«. Ja, um Schotter scheint es in der Tat nicht unwesentlich zu gehen, werden doch die beiden Mitverstorbenen Hubert Wiesenbauer (67) und Dr. Walter Heinz Brandorff (53) ziemlich unmißverständlich als »Finanzberater« bezeichnet. Der einzige Überlebende, wenn auch schwerverletzt, war Ingenieur.
~~~ Ich lasse dahingestellt, wem oder welchen Beweggründen wir Blochs »objektiv« schonende Darstellung der Unglücksumstände zu verdanken haben. Immerhin scheint sie dem Wesen seines Gegenstandes zu entsprechen. Bloch zufolge muß der Finanzbeamte und Schriftsteller aller Welt gegenüber, Frau und Sohn eingeschlossen, ein wahres Buch mit sieben Siegeln gewesen sein. Seine Frau A., laut Bloch eine Malerin, versichere allerdings, sie habe sich an der Wortkargheit und Verschlossenheit ihres Mannes nie gestoßen. Sie nennt ihre Ehe mit Brandorff »glücklich«. Von seinem Schreiben weiß sie angeblich so gut wie nichts. Sogar Fotos sind kaum vorhanden – was Wunder, wenn selbst die Kronen Zeitung in dieser Hinsicht ins Leere griff … Einmal sieht man Brandorff unscharf als Urlauber an einem Biertisch: mit Kinnbart, wohlgescheitelt, goldrandige Sonnenbrille, Zigarette rauchend – ein Spießbürger wie all die anderen Wolfsberger SpießbürgerInnen, deren Geheimnisse ihm freilich als Finanzamtsvorsteher bestens bekannt waren, wie sogar Bloch anmerkt. Darin liegt schon ein erheblicher Unterschied.
~~~ Bloch schätzt Brandorff als mißtrauischen Zeitgenossen ein, der sich selbst – und seine ihn bedrückenden bitteren Erfahrungen oder Alpträume – lieber in literarischem Gewande einer anonymen Leserschaft vorstellte, als sich handfester Nähe und Geselligkeit auszusetzen. Kommerzielle Interessen habe er dabei nicht verfolgt. Wahrscheinlich sei er noch nicht einmal auf »Publicity« und Nachruhm aus gewesen. Das würde ihn denn von Berufskollegen wie Stephen King unterscheiden, den Brandorff anscheinend schätzte. Aber in sonstiger moralischer Hinsicht dürften ihn keineswegs Welten von dem Großverdiener und Zyniker aus den USA getrennt haben. Oder von unseren Ministern, die ihre Entlassungsurkunden regelmäßig noch am selben Tage in die Stechuhren von Unternehmen der Privatwirtschaft stecken, mit denen sie sowieso schon seit Jahren zu tun hatten, in ihrem Öffentlichen Amt.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Robert N. Bloch, »Walter Brandorff – ein bitterer Erzähler des Grauens«, Beitrag im ARCANA. Magazin für klassische und moderne Phantastik, Nr. 1 (2002), Lindenstruth-Verlag, Gießen




Brandt, Willy

Im Jenseits angekommen, durfte sich der junge Rebell rühmen, der erste zu sein. Man wußte natürlich gleich, worauf er anspielte: der erste von verschiedenen »gefallenen« Demonstranten der neuen und zukünftigen BRD. Eine Polizeikugel hatte ihn am 11. Mai 1952 in Essen bei Protesten gegen die westdeutsche Wiederbewaffnung getroffen – tödlich. Da war der aus München angereiste Eisenbahnarbeiter Philipp Müller (1931–52) erst 21 gewesen. Obwohl die Stadt im Verein mit dem Landes-innenministerium die Proteste unter fadenscheinigen Begründungen gleichsam in letzter Minute verboten hatte und dadurch die Anreisewilligen verwirrte und einschüchterte, waren es wahrscheinlich immer noch rund 30.000 Antimilitaristen, die die Kruppstahl-Metropole »unsicher« machten. Diese Zahl nannte sogar der Staatsanwalt.
~~~ In Wahrheit ging die »Unsicherheit« jede Wette von den Ordnungskräften aus. Bonn und Düsseldorf wünschten Krawalle, zwecks Verleumdung der antimilitaristischen Bewegung, und boten deshalb Polizei in furchterregenden Mengen, vermutlich auch schon die bis heute beliebten Lockspitzel auf. Nach der gründlichen Darlegung eines linken Journalisten*, der damals vor Ort war, flogen zwar Steine, doch bei sämtlichen 283 festgenommenen Demonstranten wurde nicht eine Pistole gefunden. Vielmehr sei das Feuer nach einem entsprechenden Befehl des Kölner Kommissars Knobloch von der Polizei eröffnet worden. Dabei erwischte es zufällig Müller – ob von vorn oder hinten, ist so umstritten und ungeklärt wie die Frage, ob er bei seinem rohen Abtransport womöglich noch lebte. Drei andere Demonstranten, aus Kassel, Münster und Pinneberg angereist, wurden überdies durch Polizeikugeln verletzt. Nach der amtlichen Version hatten jedoch die Demonstranten zuerst geschossen. Als diese Lüge nicht mehr zu halten war, erläuterte der Düsseldorfer Ministerpräsident und Parteifreund Adenauers Karl Arnold sinngemäß, der Andrang der Menge sei derart gewalttätig gewesen, daß er allein durch Schlagstock-gebrauch nicht hätte gebrochen werden können. Entsprechend billigte das Landgericht Dortmund den Polizisten im Oktober 1952 Notwehr zu. Auch dies wurde von etlichen Augenzeugen widerlegt, die zum Teil ihrerseits von der Polizei verprügelt worden waren, um ihre Aussagefreudigkeit zu dämpfen. Statt also auch nur einen Uniformierten zu belangen, wurden gegen 11 Jugendliche wegen Aufruhrs und Landesfriedensbruch zusammen genommen 76 Monate Knast verhängt.
~~~ Wie sich versteht, ereiferten sich die herrschenden Kreise über die Umtriebe einer SED/FDJ-gesteuerten »kleinen radikalen Minderheit«. Die systemfeindlichen Kräfte hätten auch keine Bedenken, Jugendliche »mit Schußwaffen auszurüsten«, wie die vielgelesene Tageszeitung Die Welt, laut Nelhiebel, gleich am 12. Mai gegeifert hatte. In Wahrheit waren Kriegsmüdigkeit und Antimilitarismus damals noch weit verbreitet. Obwohl Bonn im April 1951 das Verbot einer unter Führung von Pastor Martin Niemöller geforderten Volksabstimmung zur Wiederbewaffnung verfügt hatte, sprachen sich bis zum März des Folgejahrs mehr als neun Millionen BRD-Bürger gegen die Remilitarisierung aus.** In dieser Hinsicht waren es schöne Zeiten. Keine 50 Jahre später flogen »rotgrün« lackierte Bomber selbst unter dem Beifall zahlreicher »linker« Prominenz gegen Belgrad.
~~~ Nach dem ermordeten Philipp Müller (dessen frischangetraute Frau Ortrud, geborene Voß, nebst einem Säugling in Ostberlin lebte) waren in der DDR zahlreiche Straßen oder Einrichtungen unterschiedlichster Art benannt worden. Auch in Halle gab es eine Philipp-Müller-Straße – allerdings nur bis 2012. Seitdem heißt sie Willy-Brandt-Straße. Der Unterschied zwischen hochherzigem und schäbigem Siegerverhalten war der Stadtratsmehrheit von Halle vielleicht nicht bekannt. Oder wollte man hier eine »klammheimliche« Verbindung nicht nur zu Brandts sogenanntem Radikalenerlaß, sondern auch zum Ende Benno Ohnesorgs herstellen? Damals, 1967, war Brandt in Bonn Außenminister und Vizekanzler gewesen. Sein Radikalenerlaß führte übrigens zu großangelegter Schnüffelei im Öffentlichen Dienst und mindestens 2.000 Berufsverboten – selbstverständlich ganz überwiegend gegen Linke ausgesprochen. Den Vietnamkrieg duldete Brandt. Gleichwohl werden gewisse Internet-Portale nicht müde, Brandts Status als sozialdemokratischer Säulenheiliger besonders mit der Behauptung zu verteidigen, er habe großartige »Entspannungspolitik« betrieben. Die kann dem Weißen Haus kaum verhaßt gewesen sein, heißt es doch in Tim Weiners umfangreicher CIA-Geschichte von 2007, die Yankees hätten während des ganzen Kalten Krieges »heimlich« [antikommunistisch gestimmte] Politiker in Westeuropa geschmiert – darunter »der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt« …

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Kurt Nelhiebel, »Anatomie eines Lügenkomplotts / Über die Erschießung von Philipp Müller – fünfzehn Jahre vor Benno Ohnesorg«, in: Conrad Taler, Gegen den Wind, Geschichten und Texte zum Zeitgeschehen 1927–2017, Köln 2017: https://web.archive.org/web/20181225125933/https://www.kurt-nelhiebel.de/images/downloads/K_Nelhiebel_Lgenkomplott.pdf
** Hubert Reichel, »Ein Schießbefehl aus Bonn«, Ossietzky 8/2002: https://www.sopos.org/aufsaetze/3cd2de4556292/1.phtml.html



Zum Schaffen des koreanisch-stämmigen Komponisten Isang Yun (1917–95), zuletzt Professor an der Westberliner Musikhochschule, teilt Brockhaus mit, er habe westliche avantgardistische Techniken mit chinesisch-koreanischen Traditionen verschmolzen. »Im Zentrum seiner Klangfarbenkompositionen steht das Ideal des fließenden Klangstroms, das er aus dem Geist des Taoismus verstanden wissen will. Dabei werden die Tonhöhen nicht wie in der westlichen Tradition als melodiebildende Intervalle, sondern als Teile eines in den Einzeltönen bereits angelegten Ganzen begriffen und in ständigen Wiederholungen akkordisch zum Hauptklang entfaltet.« Das klingt in meinen Ohren nicht unbedingt danach, Yun habe sich gottseidank dem zeitgemäßen groben Unfug der melodie- und gestaltfeindlichen »Neuen Musik« entzogen – aber ich will diesen künstlerischen Gesichtspunkt vernachlässigen. Brockhaus ist nämlich kritisch und mutig genug, eine politische Katastrophe zu erwähnen, die um 1967, also eher am Beginn seiner Laufbahn, über Yun hereinbrach. Das Lexikon verzichtet lediglich auf Nennung jener führenden westdeutschen PolitikerInnen, die die Katastrophe zumindest duldeten, wenn nicht sogar förderten. In dieser Hinsicht nimmt jedoch der Rechtsanwalt Heinrich Hannover kein Blatt vor den Mund. Er war damals Interessenvertreter des verfolgten Komponisten und schilderte den Fall später ausgiebig in seinen Erinnerungen.*
~~~ Es begann mit einem echten Geheimdienstcoup. 1967 wurden fast schlagartig 17 in Westdeutschland lebende Koreaner mit Arglist, Bedrohung und Gewalt aus ihren Wohnungen gelockt, darunter Yun. Er hatte in Paris und Westberlin studiert und bereits einen gewissen Namen. Dann wurden die Gekaperten, von Behörden unbehelligt, in verschiedene Flugzeuge und nach Seoul, Südkorea, verfrachtet. Es lag auf der Hand, ohne Zuarbeit des deutschen Geheimdienstes wäre dieser Coup unmöglich gewesen. In Seoul eingesperrt, warf man den Entführten kommunistische Umtriebe vor, darunter die anrüchigen »Kontakte« nach Nordkorea oder wenigstens nach Ostberlin und also den beliebten »Landesverrat«, und quälte und folterte sie entsprechend. In der Tat erpreßte man so die üblichen »Geständnisse« von ihnen. Nebenbei war Yun schwer herzkrank und sah sich mehr als einmal dem Tode nahe. Überdies hatte man auch seine Gattin nach Seoul verschleppt, um die er nun zu bangen hatte.
~~~ 1968/69 wurden gegen die mehr oder weniger demokratisch gesinnten Landsleute Prozesse inszeniert. Wie Hannover nachweist, taten die deutschen Behörden und Regierungsstellen unter der Hand alles, um wirkungsvolle Einsprüche und die Rückführung der Entführungsopfer zu verhindern. Letztlich war hier Sozialdemokrat Willy Brandt hauptverantwortlich, damals Bundesaußenminister. Hannover führt auch den Legationsrat Dr. Bassler aus dem Außenministerium und den damaligen Bundesanwalt Kammerer namentlich an. Bonn war eben eine bedeutende antikommunistische Bastion der Westlichen Wertegemeinschaft im »Kalten Krieg« und konnte es sich nicht leisten, das Weiße Haus – oder auch nur den südkoreanischen Staatschef Park zu verärgern, dem der unselige Bundespräsident Lübke gerade das Bundesverdienstkreuz umgehängt hatte. Allerdings gab es damals breite Proteste gegen die Entführungen und die Bonner Vertuschungspolitik. Für Yun setzte sich auch jede Menge Prominenz aus dem Musikleben ein. Wahrscheinlich nur deshalb raffte sich Seoul im März 1969 zu »Begnadigungen« auf. Ursprünglich waren ein Todesurteil und lange Haftstrafen verhängt worden. Nun wurde auch Yun, nach 21 Monaten übelster Haft, aus dem Gefängnis entlassen. Man hatte natürlich alle zum »Stillschweigen« verpflichtet. Andernfalls hätten es Angehörige und Freunde auszubaden, wurde ihnen bedeutet. Yun kam erst nach Jahren einigen Schriftstellern gegenüber auf seinen Leidensweg zurück. Nebenbei kommt es schon fast einem Wunder gleich, wenn der geängstigte und geschundene herzkranke Mann unter diesen Umständen noch fast 80 Jahre alt geworden ist.
~~~ Für Hannover steht außer Zweifel: Bonn hatte sich zahlreiche Demütigungen durch Seoul vor allem deshalb gefallen lassen, weil deutsche Stellen, die eigenen Leute also, an den Entführungen beteiligt gewesen waren. Es hatte Dreck am Stecken, es war erpreßbar. Deshalb keinen nachdrücklichen Rücküberstellungsantrag, deshalb keine Streichung von Entwicklungshilfe. Gleichwohl hätte eine Unabhängige Presse zumindest nach der Freilassung der Entführungsopfer auf diverse TäterInnen und Hintermänner des Verbrechens weisen müssen. Aber Pustekuchen. Das Bonner Justizministerium hatte alle wesentlichen Akten mit Geheimvermerk versehen – und die Unabhängige Presse hütete sich, auf Herausgabe zu pochen. »Inzwischen ist den Deutschen«, so Hannover abschließend im Jahr 2005, »der vorauseilende Gehorsam, der mit dem Wort Staatsgeheimnis eingefordert wird, mehr und mehr zur Gewohnheit geworden, so daß es kaum noch strafrechtlicher Sanktionen bedarf, um Schweigen über staatliches Unrecht zu erzwingen. So ist auch der Fall Isang Yun sang- und klanglos in Vergessenheit geraten.« Den Opfern des jüngsten Corona- und Kriegswahnes wird es nicht anders ergehen. Die Ampel-VerbrecherInnen gehen in Frührente und wienern emsig an ihren sauberen Biografien herum.
~~~ In jenem »funktionierenden Rechtsstaat«, der auch Hannover zeitlebens vorschwebte, hätte Willy Brandt einen fetten Prozeß und mindestens lebenslänglich Haft bekommen. Nebenbei hätte er sich als Kiesingers Nachfolger auf dem Kanzlerthron (1969) die nächste Ohrfeige eingefangen. Statt dessen jedoch erzählen Wikipedia und Albrecht Müllers NachDenkSeiten aller Welt, Brandt sei der bedeutenste und ehrenvollste SPD-Politiker des 20. Jahrhunderts gewesen. Brandt war vor allem Karrierist, strammer Antikommunist und Knecht des Weißen Hauses. Bei Tim Weiner** könnte Müller auf Seite 400 lesen: »Den ganzen Kalten Krieg über hatte die Agency heimlich Politiker in Westeuropa mit finanziellen Zuwendungen unterstützt. Auf der Liste fanden sich der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der französische Premierminister Guy Mollet und jeder italienische Christdemokrat, der aus einer Landeswahl siegreich hervorgegangen war.« Hätte sich Kenner Weiner diese Vorwürfe aus den Fingern gesogen, hätte der SPD-Parteivorstand den S.-Fischer-Verlag schon längst auf Richtigstellung und Entschädigung verklagt. Geld können diese feinen Genossen immer gut gebrauchen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 40, Oktober 2024
* Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht, 1998/99, einbändige TB-Ausgabe Berlin 2005, S. 188–213
** Tim Weiner, CIA, New York 2007, deutsche Ausgabe bei S. Fischer Ffm 2008, S. 400 + 779/80 (Anmerkungen). Hier noch ein jüngerer Kandidat zum Verklagen: Sebastian Sigler, https://www.theeuropean.de/gesellschaft-kultur/so-wurde-willy-brandt-von-us-diensten-bezahlt, 23. September 2016.




Bratt, Alfred (1891–1918), Berliner Theatermann und Erzähler. Das vielberedete und vielgeforderte Bedingungslose Grundeinkommen wurde 1916 von Bratt eingeführt. Es bewährte sich allerdings nicht so richtig. Es endete in blutigem Aufruhr und im Wiederaufblühen der bekannten kapitalistischen, wölfischen Weltwirtschaft.
~~~ Damit möchte ich nicht den Eindruck erwecken, mit seinem »utopischen« Roman Die Welt ohne Hunger, erschienen 1916, sei Bratt ein überragender Wurf gelungen. Er hat seine Schwächen. Vor allem ergeht er sich, besonders im ersten Teil, in etlichen Längen, weil Bratt das Poetisieren, In-Rätseln-sprechen, Mystifizieren liebt. Die Knappheit hat Bratt nicht erfunden. Die Indirekte Rede auch nicht, sonst wären uns manche Konjunktionen der Sorte daß erspart geblieben. Aber in dramaturgischer Hinsicht hat er gleichwohl einiges drauf; man wird das Buch nicht aus der Hand legen, bevor man nicht erfahren hat, wie die Angelegenheit endet. Ich habe es bereits angedeutet. Und sie hat Witz, obwohl der Autor nie scherzt. Man könnte auch am Ende noch nicht beschwören, es habe sich entweder um einen Beitrag zur Theorie des Klassenkampfes und des Totalitarismus (heute »Globalisierung« oder »Großer Neustart« genannt) oder aber um eine Schnulzen- und Schauerparodie gehandelt – etwa auf Dr. Mabuse, der 1916 noch gar nicht geschrieben war.
~~~ Bratts Held heißt Bell. Der Chemiker und »Weltbeglücker« (S. 86, 107, 158)* glaubt eine in die Form eines kleinen Würfels preßbare, nahrhafte Substanz gefunden zu haben, die den Planeten schlagartig vom Hunger und von der Spaltung in Arm und Reich befreien würde – sofern es ihm nur gelänge, die erforderlichen Geldgeber für eine großangelegte Produktion dieser Art Maggi-Würfel zu gewinnen. Man tut ihn jedoch als Phantasten ab. Erst in London – das er von Dover aus per blitzender Einschienenbahn erreicht – gerät er an einen geheimnisvollen, häßlichen Sonderling, der die rechtlosen und verelendeten Vorstadtmassen, denen es schließlich auch zugute kommen soll, für das »Präparat« zu erwecken verspricht. Doch Bell fühlt sich bald mißbraucht. Er überwirft sich mit Schebekoff, sorgt bei seiner Flucht per Flugzeug für den Tod einer niedlichen, blonden Tochter des Fleischtrustbosses Graham, an die er sowieso nicht herangekommen wäre – und landet im Weißen Haus, Washington. Und der Präsident erkennt das gewaltige, stimmenfördernde Kaliber von Bells Projekt. Er setzt den Erfinder als Chef des neuen Bundesernährungspro-grammes ein und läßt damit die Produktion anrollen. Binnen weniger Wochen ist Bell weltberühmt.
~~~ Interessanter-, für manche vielleicht auch ärgerlicherweise erfährt man auf den 380 Seiten nie, worin die Nahrhaftigkeit des Wunder-»Präparates« eigentlich bestehe. Selbst eine angebliche Erprobung seines Nährwertes durch unabhängige Fachleute täuscht Bratt (248) im Grunde nur vor. Aber dann behauptet er kurzerhand, es mache die arbeitslosen Yankees tatsächlich rundum satt – denn für die ist die Pille gedacht. Sogar die unzufriedenen Stahlarbeiter halten wegen ihr zunächst ihren Streik durch. Denn die Pille ist kostenlos. Sie ist Streikgeld in Natura. Ob sie vielleicht ungut schmeckt und dem Körper so manchen sinnvollen Betätigungsdrang sperrt, steht bei Bratt nicht zur Debatte. Hauptsache, umsonst. Was den Generalstreik und die ihm antwortende Aussperrung schließlich trotz des Wunder-Präparates durchkreuzt, sind die erwachenden Frauen der Arbeiter. Das hat mir gefallen, obwohl es in den betrüblichen alten Trott zurückführt – nur diesmal ohne den fingerhutgroßen braunen Wunderwürfel. Aber Volksgemeinschaft hat man ja so oder so.
~~~ Aufgrund seines frühen Todes war Bratt lediglich ein Roman vergönnt, doch der erwies sich in der Lotterie des hauptstädtischen Literaturbetriebes auf Anhieb als Haupttreffer. Laut einem jüngsten Neuaufleger erzielte Die Welt ohne Hunger »rasch 11 Auflagen und wurde in 12 Sprachen übersetzt«. Zwei Jahre nach dem Einschlag soll der 27jährige Romancier einer schweren Lungen-entzündung erlegen sein. Das mag zur gesunden Auflage gerade noch beigetragen haben. Gleichwohl liegt das größte Rätsel in diesem Fall nicht in dem Roman, vielmehr in seiner verblüffenden Wirkungsgeschichte. Man bedenke, es war mitten im Krieg. Da hungerten die Leute wohl kaum nach Utopien, die bei strenger Prüfung wie ein Küchentisch mit vier unterschiedlich langen Beinen wackeln. Andererseits genoß Verleger Erich Reiß einen hohen Ruf – und das, die Reiß‘sche Gunst, war vielleicht schon die halbe Miete für den schrägen, streckenweise ausufernden Suppenwürfelroman. Oder sollte Reiß, zum Beispiel, in Bratt einen günstigen Schwiegersohn gewittert haben, wenn Bell schon nicht Vivian Graham kriegt? Nach den bedauerlich dürren biografischen Notizen des Internets stammte Bratt aus Wiener Juristemhause, faßte um 1910 in Berliner linken Literatenkreisen Fuß, verdiente seine Brötchen als Schauspieler, Dramaturg und just Verlagslektor im Reiß-Verlag und verfaßte und veröffentlichte seit 1912 auch eigene Geschichten. Ihn selber scheint das Damoklesschwert der Kriegsteilnahme verschont zu haben – warum, wissen wir so wenig wie den Grund seiner Lungenentzündung beziehungsweise seines Sterbens daran. In diesem Fall ist eben vieles rätselhaft.
~~~ Vielleicht darf ich noch einmal kurz auf das Bedingungslose Grundeinkommen zurückkommen. Obwohl wir nicht wissen, was Bells Würfel eigentlich enthält und ob er auch irgendeinen Geschmack hat, scheint ihm doch eine gewisse Sinnlichkeit zu eignen. Man kann ihn anfassen, man kann ihn sogar essen! Versuchen Sie das zweite einmal mit Geldscheinen … Aber was schallt mir neuerdings aus dem Magazin Rubikon entgegen? Es ist ein Hohn: da bemüht sich unsereins seit Jahren auf reichlich verlorenem Posten, die Notwendigkeit der Abschaffung des Geldes möglichst gut zu begründen und in Ehren zu halten – und jetzt werden wir, nicht ganz zu unrecht, vom Reformisten vom Dienst** aufgefordert, die Abschaffung des Bargeldes zu verhindern! Ich soll das Bargeld retten! Der Mann denkt ersichtlich ausschließlich im Banne des »Kleineren Übels«; er trauert der Sinnlichkeit des Bargeldes nach, als hätte sich Marx nie über die Leere des Tauschwertes ausgelassen; er führt den würdelosen, peinlich defensiven Abwehrkampf, den alle Reformisten predigen. Sollten sie noch irgendetwas von der Aufklärung übriglassen, werden es am Ende die Impfpäpste mit ihren Robotern und ihren Milliarden telefonierenden Meßdienern oder Chorknaben wegfegen. Man sollte Alfred Bratt beglückwünschen: diesen Ekel muß er nicht mehr erleben.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* antiquarisch: Erich Reiß Verlag, Berlin, 7. Auflage 1916, hergestellt vom Hofbuchdrucker Julius Sittenfeld, Berlin W 8, sogar fadengeheftet
** Hansjörg Stützle, https://www.rubikon.news/artikel/das-unhygienische-bargeld, 22. Oktober 2020




Im Austausch gegen den Germanistikprofessor Wilhelm Braune könnte man an Rudolf Braune (1907–32) erinnern. Der Mann war zunächst Buchhändlerlehrling in Dresden, dann kommunistisch gestimmter Schriftsteller in Düsseldorf. In der Regel ist er nur Fachleuten bekannt. Dabei trat er ab 1926 in etlichen linken oder liberalen Blättern mit Feuilletons und Erzählungen hervor und verfaßte in seinem kurzen Leben überdies zwei Romane. Das Erscheinen des ersten Romans, Das Mädchen an der Orga Privat, erlebte er noch (1930), und das Echo bei der Kritik war für einen Erstling durchaus stark. Beide Romane spielen im großstädtischen Milieu Kleiner Leute. In Düsseldorf war Braune für etliche Jahre ständiger Mitarbeiter der kommunistischen Tageszeitung Freiheit, wenn es auch streckenweise Reibereien oder gar Zerwürfnis mit ihm gab, wohl weil er nicht immer ganz 100-prozentig parteilich war und sich auch, vielleicht durchaus »opportunistisch«, wie Biograf Martin Hollender anmerkt, die Veröffentlichung in mehr oder weniger »bürgerlichen« Blättern erlaubte (S. 63).* Zu Braunes Grab in Düsseldorf wurde der Rhein. Angeblich, vielleicht sogar wahrscheinlich, erlitt der 25jährige einen recht verbreiteten Schaden, nämlich einen Badeunfall.
~~~ Allein in Deutschland kommen jährlich um 400 Menschen durch Badeunfälle um. Weltweit sind es, laut WHO, um 250.000 Tote. Die meisten Badenden oder Wasserschöpfenden ertrinken, nehme ich an. Der weltweite Verkehr ist freilich noch fruchtbarer: er sorgt jährlich für rund 1,35 Millionen Tote. Soweit ich weiß, fallen sie zu über 90 Prozent im Straßenverkehr an, dabei Fußgänger und Radfahrer eingeschlossen. Leider macht sich die bekannte Lust an der Ungenauigkeit auch in der bedenkenlosen Vermengung der Begriffe »Verkehr« und »Straßenverkehr« im gesamten Internet, dabei selbst in amtlichen Verlautbarungen geltend, was ohne Zweifel auch manche Texte aus meiner Feder schädigt. So oder so hat die WHO wegen der angeführten und zahlreicher ähnlich gearteter Opferbranchen, darunter das Militär, bislang noch nie eine sogenannte Pandemie ausgerufen, falls ich mich nicht sehr irre.
~~~ Was Braunes Badeunfall angeht, scheinen wir allerdings ziemlich auf dem Trockenen zu sitzen. Nach Hollender trug er sich am Sonntag den 12. Juni 1932 nachmittags in Düsseldorf-Niederkassel zu. »Vor den Augen seiner jungen Freundin« sei der schwimmende Braune »in den Strudel des Buhnenkopfes« geraten und abgetrieben. Jetzt zitiere ich etliche Sätze einer seltsamen Sekundär-Prosa lückenlos: »Eine Weile werden die Freundin und die Umstehenden bestürzt dagestanden haben, man wird auf das nur selten eintreffende Wunder eines 500 Meter entfernt unversehrt grinsend auftauchenden Schwimmers gewartet haben. (Eine Mutprobe Jugendlicher, vergleichbar mit dem 'S-Bahn-Surfen' der neunziger Jahre, sei in jenen Jahren das absichtliche Schwimmen in Strudelnähe gewesen, erfuhr [der Leipziger Literaturwissenschaftler] Friedrich Albrecht später von einem Zeitzeugen). Dann wird die Polizei gerufen worden sein, die nüchtern konstatiert haben wird, daß man abwarten müsse; gewöhnlich gebe der Rhein seine Opfer erst nach einigen Tagen frei. So geschah es denn auch …« (S. 72)
~~~ Demnach gab es also durchaus einige Zeugen des Unfalls – aber sie werden in dieser Biografie nicht deutlich namhaft gemacht oder sonstwie hinreichend beschrieben. Möglicherweise zählte ein gewisser Ostberliner Robert Büchner zu ihnen; er nämlich soll Albrecht 1969 die Sache mit der Freundin bestätigt haben: »Vor ihren Augen ertrank er (durch Herzschlag) im Rhein« (72). Ob diese Freundin jene »Braut Berti« aus Frankfurt am Main war, die Hollender früher einmal erwähnt (59), oder eine andere Frau namens Dagmar Horstmann, die Hollender zum Phänomen des Strudels an der Buhne anführt (69, 72, 76), bleibt für mein Empfinden gleichfalls unklar. Im Zusammenhang mit Berti beklagte der Biograf jedenfalls vorsorglich, die Spur von Braunes »Freundin« habe Forscher Albrecht bereits 1969 »nicht mehr nachvollziehen« können (59). Vorausgesetzt, der Dichter und Agitator hatte nicht etwa zwei oder mehrere »Freundinnen«, wäre es selbstverständlich keineswegs unwahrscheinlich, wenn die betreffende Dame im Faschismus oder im Weltkrieg zu Tode gekommen wäre. Oder wenn sie gute Gründe gehabt hätte, sich den Nachforschern gegenüber bedeckt zu halten. Geborene ErzählerInnen könnten beispielsweise über einen akuten Kriegszustand des badenden Liebespaares und den Entschluß Braunes nachdenken, sich angesichts dieser verfahrenen Lage lieber dem nächsten Strudel anheim zu geben – freiwillig.
~~~ Krimiautoren werden sich zumindest fragen: Hat die Polizei damals »die Freundin und die Umstehenden« unter Umständen befragt, und wenn ja, mit welchem Ergebnis? Wir erfahren es nicht. Braunes Leiche wurde vier Tage später, am 16. Juni, in Duisburg-Walsum angeschwemmt. Ist diese Leiche obduziert worden? Wir erfahren es nicht. Immerhin wurde sie eingeäschert. Braunes per Zug aus Dresden eintreffende Eltern sollen die Urne gleich in ihr Reisegepäck verstaut haben. Aber selbst die Nachlaßlage ist, nach Hollender, bis heute erstaunlich ungeklärt. Offenbar weiß niemand, ob sich womöglich die eine oder andere Freundin Braunes oder aber Braunes Eltern, mit denen er allerdings auf schlechtem Fuße stand, um den Nachlaß gekümmert haben. Hollender vermutet, jemand – etwa auch ein Kollege von der Freiheit – habe sich am Rheinufer flugs der Kleider und damit des Schlüsselbundes Braunes erbarmt und dann einmal in dessen Wohnung nachgesehen, wie es eigentlich um Braunes noch unveröffentlichte Manuskripte bestellt sei. Jedenfalls sorgte jemand dafür, daß Braunes zweiter Roman Junge Leute in der Stadt noch am Ende des Todesjahrs im Wiener Agis-Verlag, später auch noch, neben anderen Braune-Werken, in der SU und in in der DDR erschien (76–86). In der DDR wurde Braunes literarisches Schaffen, trotz mancher Bedenken, geradezu geachtet und gepflegt. Federführend bei den dortigen Aktivitäten zu Braune war der erwähnte Friedrich Albrecht – ein »Prof. Dr.«, wie Hollender wiederholt betont. Sogar ein gewisser Otto Gotsche machte sich für Braune stark (84). Der Mann war nicht nur Schriftsteller, sondern über rund 20 Jahre hinweg auch Ulbrichts persönlicher Referent beziehungsweise der leitende Sekretär des sogenannten Staatsrates der DDR.
~~~ Hollenders 174 Seiten starkes Buch (von 2004) klingt in einem Anhang mit einigen kürzeren Feuilletons oder Erzählungen des wahrscheinlich Ertrunkenen aus. Danach kann Braune trotz seiner gelegentlichen klassen-kämpferischen Nervensägerei kein Stümper gewesen sein. Am besten hat mir sein Bericht von einem Besuch im Mannesmann-Röhrenwerk, Düsseldorf-Rath, gefallen. Den Abschluß bildet eine 1930 veröffentlichte »Flußgeschichte«, bei der man verblüfft glauben könnte, Braune habe sie als Generalprobe für sein eigenes Ende – beziehungsweise für das vom Krimiautor erwünschte Ende geschrieben. Auch hier bleibt das Mädchen namenlos. Während Hans bereits abgetrieben wird, Richtung »Strudelgebiet«, schwingt sich das schlanke, tropfende Mädchen auf den Schleppkahn und räumt Hansens Kumpels gegenüber ein, es habe sich bloß verstellt. »Ich wollte sehen, ob er wirklich Mut hat. Er wird schon wieder herauskommen, er ist doch Ihr bester Schwimmer. Ein feiner Kerl, der Junge.« Acht Tage später trieb er bei Arnheim ans Land. Natürlich als Leiche.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024
* Martin Hollender, »eine gefährliche Unruhe im Blut …« / Rudolf Braune, Düsseldorf 2004




Ein Kollege von Rudolf Braune? Laut Brockhaus trat Erich Brautlacht (1902–57) mit »Erzählprosa aus dem niederrheinischen Kleinstadtmilieu« hervor. In der Fußnote machen mehrere im »Dritten Reich« veröffentlichte Werke hellhörig, aber das Lexikon bedeckt die entsprechenden Jahreszahlen mit Schweigen. Ein Antifaschist oder gar Kommunist kann der gelernte Jurist jedenfalls kaum gewesen sein. Leider überschreitet der Eintrag bei Wikipedia die zwei Brockhaus-Zeilen nur geringfügig. Jene Erzählprosa sei humorvoll, idyllisch gewesen. Aber jetzt kommt der Ernst des Lebens: Von 1934 bis 1953 sei Brautlacht Richter am Landgericht Kleve, anschließend, durch Beförderung, Direktor des Klever Amtsgerichtes gewesen. Diese Angaben stellen sich freilich bald als ungenau heraus. Nach Theodor Brauer* war Brautlacht 1934 Amtsgerichtsrat** in Kleve geworden, vorher dagegen, wohl ab 1929, als Assessor am Landgericht in Duisburg tätig gewesen. Bei Wikipedia fehlen Einzelbelege. Dafür führt der Eintrag auch ein paar Hörspiele an, die der Justizbeamte vor seinem Tod in der Sendereihe Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück des Hamburger Rundfunks unterbringen konnte. Warum oder woran er (in Kleve) als 55jähriger starb, wird weder im Internet noch in etlichen Presseveröffentlichungen verraten, die mir freundlicherweise das Klever Stadtarchiv schickte. Diese Abteilung bewahrt allerdings auch Sterbeurkunden auf. Danach sei Brautlacht im Klever St.-Antonius-Hospital einem Darmkrebs erlegen.
~~~ Die einstige Residenzstadt Kleve, nur einen Steinwurf von Holland entfernt, war schon im »Dritten Reich« Kreisstadt. Damals hatte sie um 20.000 EinwohnerInnen. Rund 1.000 davon bissen bei schweren Luftangriffen 1944/45 ins Gras. Dabei wurden ingefähr 80 Prozent der Stadt in Schutt und Asche gelegt, wie auch Brockhaus weiß (Band 12). Den Richter Brautlacht verschonten diese Luftangriffe offensichtlich. Brauer teilt jedoch mit, am 7. Oktober 1944 seien sowohl Brautlachts Wohnung wie der Amtssitz auf der Schwanenburg durch Bombenangriff zerstört worden. Nach dem Kriege habe der dichtende Richter seinen Posten als Amtsgerichtsrat wieder eingenommen. 1953 wurde er zum Direktor befördert, was er bis zu seinem Tod auch blieb. Die trutzige Schwanenburg war übrigens zusätzlich die Herberge des (übergeordneten) Landgerichts und eines Gefängnis‘ gewesen. Neben diversen Möbeln habe Brautlacht überdies einen nach Leipzig ausgelagerten, anscheinend beträchtlichen Teil des Verlagsvorrates seiner Bücher durch Bomben verloren, wie Ludger Distelkamp 1982 in der Rheinischen Post (Düsseldorf) verrät. Die Quellen erwähnen eine Tochter und einen Sohn des Ehepaars Brautlacht. Vermutlich überlebten sie jenen Krieg, für den »Innere Emigranten« wie Erich Brautlacht nichts konnten. Nach Brauer übergab Dr. Jürgen Brautlacht den Nachlaß seines Vaters 1996 dem Klever Stadtarchiv.
~~~ Wo hat der Vater selber eigentlich in den Kriegsjahren gesteckt? Mit der Ausnahme Brauer wird das in allen Quellen sorglos oder taktvoll ausgespart. Brauer formuliert kongenial humorig, später sei der dichtende Richter »zu ‚vaterländischen Ehren‘ in den Hitlerkrieg« einberufen und dadurch aus seinem Schaffen gerissen worden. Das ist reichlich verwaschen, aber besser als gar nichts. Brautlacht kann Etappenschreiber oder Frontkämpfer gewesen sein. Wie er mit solchen Rollen umging, sollen wir nicht erfahren. In der NRZ nennt ihn seine Gattin Claire (1967) einen Träumer und Freund des Wanderns. Ausgiebigem Familienleben habe er das Schreiben vorgezogen. Mehrere Quellen bescheinigen ihm eine Vorliebe für Sonderlinge, Käuze. Alle betonen seinen Humor, seine Güte, seine christliche Frömmigkeit. Als Richter auf der alten Schwanenburg erwerbstätig, habe er sich lediglich als »Pförtner der Gerechtigkeit« begriffen, las ich irgendwo. Nach Heinz Köster (KKL 1982) scheinen System- und Klassenfragen selbst in Brautlachts justiziell geprägter Anekdoten- und Novellensammlung Der Spiegel der Gerechtigkeit, erschienen 1942, keine Rolle zu spielen. Aber was sage ich da »selbst«! Wenn doch, hätte es ihm schließlich leicht den Kopf gekostet. Ich fürchte, in seiner Stellung mußte er verharmlosen. Diese Stellung war so harmlos nicht. Bei Verbrechen oder Vergehen dürfen die einzeln urteilenden Amtsrichter (oder deren Schöffengericht) immerhin bis vier Jahre Gefängnis verhängen. Erst die Mord- und Totschlagsachen scheinen in der Regel ans Landgericht zu gehen. Und was »Verbrechen oder Vergehen« sind, entscheidet die sogenannte Gesetzgebung und Rechtsprechung des jeweiligen Systems. Hier und dort kann es zum Beispiel schon ein Verbrechen sein, den Arm mit der flachen Hand nicht zu strecken oder die Virenschutzmaske in der Arschkippe verschmutzen zu lassen.
~~~ Unter meinen Quellen taucht auch ein Martin Hollender auf – ich nehme stark an, das ist just der Biograf von Braune, siehe oben. Hollender gibt*** den Dichter Brautlacht als »bodenständigen, glaubwürdigen und integren Menschen« aus, »der es inmitten seiner Heimattreue verstand, Kitsch und völkischem Pathos zu widerstehen«. Den Richter Brautlacht erwähnt er zwar, hütet sich jedoch, ihn zu beurteilen. Der hohe Posten verschaffte ihm »literarische Muße«. Schließlich habe er Brautlacht die Existenz gesichert und ihn vom »Erfolgszwang des freiberuflichen Dichters« entbunden. Jeder Weltanschauung habe er entsagt. Seine Werke verkörpern »eine unpolitische Welt fernab des Dritten Reichs«.
~~~ Ein Nachrufer der Zeitschrift Der Niederrhein rühmt Brautlacht (in Heft 1/2 1958) zunächst wie üblich als »tief religiöse Natur«, gütig, humorvoll … Dann schlüpft Erich Bockemühl jedoch eine etwas befremdliche, unter Umständen sogar Gänsehaut erzeugende Erinnerung heraus. Brautlacht »habe, wie er einmal sagte, kein Recht, sich über den Verirrten und Verbrecher zu erheben, aber die Pflicht, ihn aus der menschlichen Gesellschaft, in der er ein Schädling sei, möglichst zu entfernen.«

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024
* Theodor Brauer, »Erich Brautlacht, Richter und Dichter am Niederrhein«, Kalender für das Klever Land (KKL) 2002, vor allem Werkverzeichnis
** Früher führten Richter am Amtsgericht grundsätzlich die Bezeichnung »Amtsgerichtsrat« oder »Oberamtsrichter«. Ihr Chef darf sich noch heute »Direktor« nennen. Hat es auch Brautlacht (1953) zum Amtsgerichtsdirektor gebracht, wurde er also für seine Anpassungsfähigkeit nicht etwa bestraft, vielmehr belohnt. Sie wenden vielleicht ein: Was sollte er denn machen? Verhungern? Hätte er in der Tat »Pförtner« der Schwanenburg werden sollen? Wie hätte er dann die Promotion seines Sohnes finanziert?
*** Martin Hollender, »Niederrheinische Nettigkeiten«, neues rheinland Nr.7/2000, Seite 45

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