Samstag, 4. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 6
Bildende Kunst – Blitzstein
Bildende Kunst – Blitzstein
ziegen, 09:45h
Bildende Kunst
Der Düsseldorfer Maler und Jägersmann Friedrich Happel (1825–54) stammte aus Arnsberg im Sauerland, was seinen Wildstudien entgegenkam. Im dortigen Schloß Herdringen saß nämlich die Sippe der kunstfreundlich gestimmten Freiherren Von Fürstenberg, die Happel öfter ein Bett oder wenigstens einen Imbiß bot und ihm dadurch viele Streifzüge durch Wald und Flur ermöglichte. So gab er sich, wie im Leben, auch auf der Leinwand vorwiegend dem Wildbret und dem Waidmannsheil hin.* Verheiratet war er nicht. Sein Lieblingswild sollen Füchse gewesen sein. Man kann aber schlau sein wie man will, man wird selbst mit freundlichem Beistand der Düsseldorfer und Arnsberger Stadtarchive nicht herausfinden, warum nun Happel selber bereits mit 29 Jahren alle Viere von sich streckte. Das war Anfang Juli 1854 in Düsseldorf. Zu allem Unglück hatte es nur wenige Wochen vorher, Ende Mai, auch Friedrich Happels 41 Jahre alten Bruder Peter Heinrich Happel, einen Landschaftsmaler, in derselben Stadt erwischt. Dieser ältere Bruder war mit Amalie geb. Klein verheiratet. Beide Sterbeurkunden der Brüder lassen jeden Hinweis auf die Todesursache schmerzlich vermissen. Man könnte mutmaßen, sie hätten sich gegenseitig oder bei Dritten mit derselben tödlichen, vielleicht schon seuchenhaften Krankheit angesteckt – und weiß doch nur mit ziemlicher Sicherheit, Corona war es nicht.
~~~ Ist bei den Happels wenig zu holen, sollte ich mich vielleicht ersatzweise fragen, worin eigentlich der große Reiz bestehe, den Gemälde oder Grafiken auf fast jeden Menschen ausüben. Die Antwort liegt buchstäblich auf der Hand: In ihrer Überschaubarkeit. Das unterscheidet sie sowohl von der Realität wie von einem Roman. Das Stoffliche und Farbige an den Gemälden oder Grafiken könnte niemals ihre große weltweite Beliebtheit erklären. Die ungemalte Welt ist ja wahrhaftig stofflich und bunt genug. Nur übersichtlich ist sie eben nicht. Wobei uns das furchterregende Chaos in der Regel schon aus unserem Alltag und unserem Gemütshaushalt anspringt. Das Bild jedoch schafft Ordnung, Klarheit, Frieden in einem. Es hängt auch dann wie ein paradiesisches Südseeatoll an unsrer Wand, wenn es lauter leere Flaschen oder wütende Pinselhiebe zeigt, die der Künstler bestens aufzuräumen verstand. Hängt es gar noch in einem Rahmen, kann ihm nichts mehr etwas anhaben.
~~~ Das heißt … Wie ich von meiner Berliner Freundin U. weiß, gab der Grafiker und Maler Heinz Weisbrich im Unterricht gern die Geschichte eines Einbruchs zum Besten. Er zählte zu U.s Lehrern. Ein Professoren-Kollege von ihm besaß eine kleine Villa, in der etliche kostbare Gemälde hingen, darunter ein kaum hackbrettgroßer Vlaminck mit einem Vorstadthaus zwischen flammenden Bäumen. Voller Entsetzen habe der Kollege eines morgens die hellen Flecken an seinen Salonwänden gemustert. Dann fiel sein Blick auf das einzige Gemälde, das die Diebe verschmäht hatten. Es war sein einziger Weisbrich.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich_Happel#/media/Datei:Happel_Fr%C3%B6hlicher_J%C3%A4ger.jpg
Die Ader für Komik des rheinhessischen Künstlers Martin Kirchberger (1960–91) mündete in 28 Särgen. Er war Absolvent der Offenbacher Hochschule für Gestaltung. Bald darauf machte er sich einen gewissen Namen mit »Aktionskunst« und satirischen Kurzfilmen, vor allem der Sorte »Pseudo-Dokumentarfilm«, und gründete seine eigene Produktionsfirma Cinema Concetta. Dann kam der 22. Dezember 1991, Weihnachten, stand vor der Tür.
~~~ An diesem Tag ließ eine Meldung über einen Flugzeugabsturz bei Heidelberg die Redaktion der Rüsselsheimer Main-Spitze »zunächst nur kurz aufhorchen«, wie Ralf Schuster 20 Jahre später in einem Gedenkartikel erwähnt. Das ist die richtige Einstellung von Presseprofis, sage ich dazu. Dann habe sich aber schnell der bedeutsame lokale Bezug des Unglücks herausgestellt, fährt Schuster fort. Kirchberger, bei der Main-Spitze wohlbekannt, hatte zu Zwecken satirisch geprägter Dreharbeiten in Frankfurt/Main eine historische DC 3-Maschine mit seinem Team und einem Rudel LaienschauspielerInnen besetzt und in derselben das schöne Heidelberg angesteuert. Während des niedrig angesetzten, zunächst am Rhein orientierten Flugs wurde bereits gedreht. Nicht zum Film gehörte freilich ein Donnerschlag gegen 12 Uhr: die Maschine war bei dichtem Nebel unweit der Neckarstadt gegen den Hohen Nistler geprallt, einen knapp 500 Meter hohen Berg des südlichen Odenwalds, und an ihm zerschellt. Die mehr oder weniger zerfetzten Leichen, die anschließend im Wald herumlagen, waren teils geschminkt. Es gab vier verletzt Überlebende. Unter den 28 Toten befanden sich neben Kirchberger, 31, die beiden Piloten, sodaß sich später ein Gerichtsverfahren erübrigte. Einer behördlichen Untersuchung zufolge war die 50 Jahre alte Maschine mängelfrei gewesen. Dafür hätten die Piloten die Flüsse Rhein und Neckar verwechselt, während der Fahrt Interviews gegeben und, gleichfalls auf Drängen des Regisseurs, unzulässige Sichtbehinderungen durch Bekleben der Scheiben gebilligt.* Vielleicht hatten sie sich gedacht: wenn draußen sowieso schon Nebel ist …
~~~ Wie sich versteht, waren die BürgerInnen und KunstliebhaberInnen der Region bestürzt. Letztere hatten zunächst nichts Dringlicheres zu tun, als den durch Nebel verhinderten Film Bunkerlow des verstorbenen Regisseurs fertigzustellen; dann riefen sie die Cinema Concetta Filmförderung ins Leben**, auf die ich gleich zurückkomme. Worum es bei dem Film ging und geht? Es handelt sich um eine Satire auf Kaffeefahrten. Man bietet dabei Privat-Bunker feil, von deren Bombensicherheit sich die Kunden vom Flugzeug aus überzeugen können, wenn ich alles richtig verstanden habe. Das Transportmittel »Flugzeug« selber steht im Film anscheinend nicht zur Debatte.
~~~ Dieses Werk wurde also gerettet. Ob die Concetta-Stiftung dann auch die Rechnungen für 28 Särge, vier Krankenhausbehandlungen und mindestens 70 THW-HelferInnen und Polizisten beglich, die für mehrere Tage an der Absturzstelle tätig waren, ist mir nicht bekannt. Einer Selbstdarstellung zufolge** sieht die in Rüsselsheim ansässige, als »wohltätig anerkannte« und auch schon preisgekrönte Stiftung ihre Aufgabe darin, das Andenken an die Opfer zu wahren und, im Sinne Kirchbergers, »ähnliche Filmarbeiten mit weitestgehend satirischem Inhalt zu fördern«. Zum Andenken zählte möglicherweise ein Holzkreuz, das für etliche Jahre am Hohen Nistler stand. Da es allmählich verwitterte, wurde es Anfang 2014 durch ein Denkmal aus rotem Sandstein mit Inschrift ersetzt – von der Stadt Heidelberg.*** Ob die Stiftung wenigstens ein paar selbstkritische Erwägungen beisteuerte, die man nun dort im Walde von der Rückseite des Steins ablesen kann? Im ganzen Internet nicht eine Spur von dergleichen. Also weiter so, wohlan, Glück auf!
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Michael Abschlag, https://www.rnz.de/geschichte_artikel,-Die-Geschichte-Vor-25-Jahren-Toedliche-Verwechslung-am-Hohen-Nistler-_arid,242041.html (Rhein-Neckar-Zeitung), 17. Dezember 2016
** »Über die Cinema Concetta Filmförderung«, https://satirische-kurzfilme.de/de_DE/entstehung, Stand 2022
*** https://www.die-stadtredaktion.de/2014/02/rubriken/gesellschaft/geschichte-ressorts/hoher-nistler-gedenkstein-erinnert-an-den-flugzeugabsturz-von-1991/, 3. Februar 2014
Der nordhessische Heimatforscher und Sagensammler Karl Lyncker (1823–55), Sohn eines glücklosen Kasseler Kaufmanns, ist zunächst Schreiber des Justizamtes im nahen Städtchen Wolfhagen. Er büffelt Latein, betätigt sich aus eigenem Antrieb als Archivar und Heimatkundler und knüpft entsprechende Kontakte mit Historikern. Zur gedruckten Wolfhagener Stadtgeschichte leistet er entscheidende Vorarbeit. Ab 1844 ist er, zwecks Gelderwerb, wieder in Kassel, zunächst als Sekretär der Halberstadtischen Fräuleinstiftung, später als Buchhalter im Bankhaus Louis Pfeiffer. Er kann sich nun verstärkt seinen Forschungen widmen. 1854 erscheint (in Kassel) seine Sammlung Deutsche Sagen und Sitten in hessischen Gauen. Aber schon ein Jahr darauf, im Mai, erliegt Lyncker im Gefolge eines ungewöhnlich harten Winters der Lungenschwindsucht, 32 Jahre alt.
~~~ Laut Volker Schilling* war der Verstorbene Wander- und insbesondere Schmetterlingsfreund. Auch habe er hin und wieder Gedichte verfaßt. Von daher vermute ich, er sei Junggeselle und eher Mönch als Zechbruder gewesen. Ob er erzfromm oder radikaldemokratisch gestimmt war, wissen wir offenbar nicht. Verbürgt ist nur, daß er in jenem Winter zunehmend von Husten geschüttelt wurde. Ungünstig für Kontur.
~~~ Ich will mich ersatzweise an einem Schnellporträt der Stadt Kassel versuchen. Sie hat einige Dinge oder Ereignisse zu bieten, auf die sie nicht gerade stolz ist, weshalb sie möglichst selten davon spricht. Zu den ersten Synagogen, die im deutschen Herbst 1938 brannten, zählte die in der Unteren Königstraße. SS-Fürst → Josias aus dem nahen Barockstädtchen Arolsen ließ grüßen. Als Nazihochburg und »Stadt der Reichskriegertage« beschickte Kassel den Präsidentensessel des Berliner »Volksgerichtshofes« mit Roland Freisler. Er hatte sein Abitur auf dem heimischen Wilhelmsgymnasium gemacht. In den eigenen Mauern hatte Kassel die »Sonderrichter« Fritz Hassencamp und Edmund Kessler vorzuweisen, die den 29jährigen ungarischen Diplomingenieur Werner Holländer am 20. April 1943 wegen »Rassenschande« zum Tode verurteilten. Sie selber wurden sieben Jahre darauf mit jener bekannten Begründung freigesprochen, die nur von DDR-Bürgern nicht bemüht werden darf: da sie sich an damals geltende Gesetze gehalten hätten, stelle ihr grausamer Urteilsspruch wegen einiger Stelldicheins mit deutschen Mädels keine vorsätzliche Rechtsbeugung dar. Holländer war bei Henschel beschäftigt gewesen. Ob die lohnende Waffenschmiede gegen den Justizmord protestierte, ist nicht bekannt. Dagegen wissen wir, daß sich Kassel ihr und den Flugzeugwerken Fieseler zuliebe im Oktober 1943 von den Briten in Schutt und Asche bomben ließ.
~~~ Jetzt kommt das Aufbauende, das jeden Kasseläner stolz Machende. 1.) Die Sprach- und Märchenspezialisten Gebrüder Grimm, Zeitgenossen von Lyncker. 2.) Der noch ältere Herkules, eingeweiht von Landgraf Karl 1717. Es handelt sich um eine wuchtig aufgebockte riesige Bronze, die einen nackten Mann darstellt, der sich auf anderthalb Keulen stützt. Da das Bauwerk den Bergpark von Schloß Wilhelmshöhe krönt, beherrscht Herkules locker das gesamte Kasseler Becken. 3.) Die Treppenstraße (1953). Sie gilt als erste geplante und ausgeführte deutsche sogenannte Fußgängerzone. Neuerdings wird befürchtet, sie könnte, aufgrund der sattsam bekannten Regierungsnotstandserlasse, die der Ausrottung eines Virus‘ oder des Mittelstandes dienen, veröden. Wenn ja, wird sich 4.) Hans Eichel im Grabe umdrehen. Schließlich kämpfte er, Jahrgang 1941, dereinst, als Chef der Kasseler »Jungsozialisten«, mit dem Megaphon in der Hand gegen die damals recht umstrittenen »Notstandsgesetze«. Dann wurde er Oberbürgermeister (bis 1991), noch später Gerhard Schröders Finanzminister und damit zu einem der verschlagensten »Sozialreformer« der deutschen Nachkriegsgeschichte. Schließlich 5.) die berühmteste Messe der künstlerisch ambitionierten Windbeutel und SchaumschlägerInnen dieses Planeten, die Documenta, nach der die Stadt inzwischen auch heißt.
~~~ Ist die Moderne Kunst so wichtig, sollten wir vielleicht noch ein wenig bei ihr verweilen. 2013 nahm das FBI ein US-Kunsthändlerduo wegen des Verdachts zahlreicher Fälschungen fest, die zunächst von »Experten« überwiegend nicht erkannt, vielmehr als Jackson Pollock, Mark Rothko, Robert Motherwell und dergleichen ausgegeben worden waren, wie die FAZ berichtete.** Offenbar lagen die »HinterwäldlerInnen«, die um 1970 angesichts solcher modernen Werke naserümpfend knurrten Das kann mein Fünfjähriger auch, gar nicht so schief. Sie hatten jedoch den Dreh mit den Inszenatoren noch nicht durchschaut. Gerade bei der Modernen Kunst kommt es ja zu ungefähr 95 Prozent keineswegs auf diese selber, vielmehr auf ihre Inszenierung an. Für die wichtigsten Agenten des Kunsthandels, die sogenannten KunstkritikerInnen, bedeutet das, ein fragliches Kunstwerk nicht etwa zu beschreiben und vielleicht von seiner Eigenart her zu verstehen, vielmehr uns mitzuteilen, welche Meinung man von ihm haben muß, zu welchem Behufe es natürlich auch viel allgemeines Wissen und viel Phrasensondermüll in die Setzkästen zu gießen gilt. Anders ausgedrückt, es bedeutet »mit Engelszungen Inserate reden«, wie der Maler und Essayist Hans Platschek schon 1966 schrieb. Das läßt sich in seinem Buch Über die Dummheit in der Malerei von 1984 nachlesen.
~~~ Im selben Jahr erschienen zufällig Walter Kolbenhoffs Erinnerungen Schellingstraße 48, die eine hübsche Anekdote von der Dummheit in der Modernen Lyrik zu bieten haben. Damals Redakteur des Rufs, fanden nach dem Kriege in Kolbenhoffs Münchener Wohnung öfter »informelle« Dichterlesungen statt. In diesem Rahmen erlaubte sich Stammgast Günter Eich eines Tages einen listigen Scherz, ohne sich wahrscheinlich über dessen Rückschlagskraft im klaren zu sein. Um Vortrag gebeten, griff sich Eich im Nachbarzimmer ein schmales Bändchen heraus, kam zurück, schlug es auf und begann mit dem Vorlesen. Sofort andächtige Stille. Als Eich den ersten Text beendet hatte, war es noch einmal eine Minute still, ehe eine Frau seufzte: »Es war wunderbar, es war ergreifend ..!« Doch Eich winkte ab und erwiderte zwinkernd: »Ach, das könnt ihr auch. Ihr könnt ja lesen. Ich habe mir erlaubt, euch das Inhaltsverzeichnis dieses Gedichtbändchens vorzulesen. Von mir ist es übrigens nicht.«
~~~ Der russische Clown Karandasch, gestorben 1983, brachte das Phänomen der Inszenierung oder Zelebration von letztlich austauschbaren Windbeuteln in seiner Nummer mit dem Teller auf den Punkt. Er benötigt zunächst Minuten, bis er einen Stuhl zufriedenstellend im Sand der Manege aufgebaut hat. Beispielsweise muß ein Bein mit einer sorgfältig gefalteten Zeitungsseite unterfüttert werden. Dann noch einmal Minuten, um einen Teller und einen Hammer auf dem Stuhl zu drapieren, wobei beide als echt und einwandfrei in der Gegend herumzuzeigen sind. Weiter hat sich der Clown die Ärmel aufzukrempeln, den Hut zurechtzurücken und dergleichen mehr. Schließlich nimmt Karandasch die beiden Kultgegenstände entschlossen vom Stuhl, legte eine Kunstpause ein – und zerschlägt den Teller. Dann präsentiert er die Scherben, lüftet seinen Hut, verbeugt sich würdig und geht ab.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Volker Schilling, »Karl Lyncker / Der Verfasser der ersten Wolfhager Chronik«, in Geschichte erleben, ein Buch des Heimat- und Geschichtsvereins 1956 Wolfhagen, ebendort 2006, S. 165/66
** Niklas Maak, »Beltracchi auf Amerikanisch«, 21. August 2013: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunstfaelscher-skandal-in-new-york-beltracchi-auf-amerikanisch-12538461.html
Michel Majerus (1967–2002) war ein erfolgreicher luxemburgisch-Berliner Kunst-Maler und -Installateur. Anfang November 2002 von Berlin in die Heimat unterwegs, stürzt das Linienflugzeug des 35jährigen, den Vogue auch neun Jahre später noch »farbstark« nennt*, im Nebel beim Landeanflug auf Luxemburg-Stadt über freiem Feld ab und zerschellt: 20 Tote, zwei Überlebende. In der Propellermaschine Marke Fokker 50 sollen vorwiegend deutsche Geschäftsleute gesessen haben. Was Majerus angeht, war er 1998 auf der Luxemburger Manifesta 2 in die höheren Einkommensschichten »durchgebrochen«. Während ihn Die Zeit, ebenfalls 2011, als »genialen« Schöpfer eines »gemalten Kunstgoogle« ausgibt, also einer Art von aufgewärmtem Pichelsteiner Poptopf, erfaselte sich das Konkurrenzblatt FAZ in seinem Nachruf** als Majerus‘ »große Leistung« die Ermöglichung der Erfahrung, »den virtuellen, vollkommen emotionslosen Raum mit der Wahrnehmung des realen Betrachters zu konfrontieren« – ein ganz heißer Anwärter auf die Top-10 der gedruckten KritikerInnen-Dummheiten des neuen Jahrhunderts. 2000 bemalte oder verzierte der Konfronteur in Köln eine »Halfpipe«, wie sie von Skatern benutzt wird. Dieses beiderseits von der Erde weggebogene, 455 Quadratmeter große Werk nannte er if we are dead, so it is. Das wurde zwei Jahre später von jener Fokker unterstrichen. Der Untersuchungsbericht gibt die Hauptschuld dem Chefpiloten. Ausgerechnet dieser hat überlebt und bekommt nach Jahren, wegen Fahrlässiger Tötung, eine geringe Haftstrafe aufgebrummt. Seine von vielen Seiten ebenfalls kritisierten Vorgesetzten von der Luxair kommen straflos davon.***
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.vogue.de/people-kultur/kultur-blog/farbstark-die-gemaelde-von-michel-majerus-in-stuttgart, Nr. 29, November 2011
** Katja Blomberg, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/flugzeugunglueck-der-kuenstler-michel-majerus-unter-den-opfern-180509.html, 7. November 2002
*** Bernd Wientjes, https://www.volksfreund.de/nachrichten/region/rheinlandpfalz/rheinlandpfalz/Heute-im-Trierischen-Volksfreund-18-Sekunden-bis-zur-Katastrophe-Der-Luxair-Absturz-heute-vor-zehn-Jahren;art806,3334551, (Trier) 5. November 2012
Für das Literaturverzeichnis des Brockhaus-Eintrages Akt kam ich zu spät. Ich konnte meinen Essay »Die Kunst des Wartens« erst um 2000 in den Zeitschriften Muschel-haufen (Viersen) und Der Rabe (Zürich) veröffentlichen. Untertitel: Eine Meditation über das Aktmodell. Eine leicht gekürzte Fassung kann ich auf Wunsch verschicken. Ich vermute nämlich stark, bis zur Stunde wird man vergleichbare nennenswerte Arbeiten über die Schützen Arsch des Aktzeichnens oder Aktbildhauerns kaum finden. Gewiß ist mir diese knapp 10seitige Betrachtung damals im Tonfall etwas zu feierlich geraten, aber aufschlußreich und anregend dürfte sie nach wie vor sein.
~~~ Nach der Auflösung unserer Musikgruppe Trotz & Träume im Jahr 1982 ernährte ich mich (in Westberlin) 10 Jahre lang als hauptberufliches (»selbstständig tätiges«) Künstlermodell. Neben der Kunsthochschule wirkte ich auch an zahlreichen Volkshochschulen, einigen privaten Kunstschulen und am Lette-Verein. Ich wurde auch von Künstlern privat engagiert. Meine wichtigsten, mir liebsten Kunden waren Silke Kruse, Günter Scherbarth, Jo Hagège, André Bednarczik und Fritz Weigle, genannt F. W. Bernstein. Dagegen hatte ich mit Robert Gernhardt erst später in literarischen Belangen zu tun. Er hievte zum Beispiel jene »Meditation« in das renommierte Züricher Raben-Taschenbuch, weil er sie einfach für bemerkenswert hielt. Er war ja selber auch Zeichner und Maler. Den entscheidenden Anstoß zu einer essayistischen Auseinandersetzung mit meinem eher ungewöhnlichen Brotberuf, der mit allerlei Belastungen verbunden war, verdanke ich dem Lyriker und Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke, der damals zum Trotz & Träume-Freundeskreis gehörte.
~~~ Dem Finanzamt Wedding in Westberlin waren um 1980 lediglich die Modelle aus den 1-Zeilen-Inseraten von B.Z. oder Bild und die Modelle von Yil Sander oder Wolfgang Joop geläufig. Wir einigten uns darauf, ich sei als Künstlermodell tätig. Die gewaltigen Einkünfte aus meiner merkwürdigen »unternehmerischen« Tätigkeit beliefen sich auf durchschnittlich 1.200 Mark pro Monat. Mein Sachbearbeiter schüttelte den Kopf: »Davon kann keiner leben.« Das hätte er 20 Jahre später einmal den Millionen Opfern der staatlichen Erwerbslosen- und Rentenpolitik erzählen sollen – die rotgrüne Regierung hätte ihn sofort für einen Friedenseinsatz in Jugoslawien oder Afghanistan rekrutiert!
~~~ Er aber schob mir meine Steuerklärung mit der Aufforderung wieder zu: »Dann beweisen Sie das erst mal!« Den Trend zur Umkehr der Beweislast witternd, schob ich meine ausgefüllten Formulare selbstverständlich genauso prompt zurück – er könne mir gern beweisen, daß man von 1.200 Mark nicht leben kann. »Schlagen Sie mich zum Beispiel tot oder schicken Sie mir ein Rudel Schnüffler ins Haus, ich werde ihnen sämtliche Kleiderschränke öffnen.«
~~~ Wie sich versteht, hätten sie in meinem einzigen Kleiderschrank kaum etwas hängen gesehen. Trotzdem hätte ich mich nicht als »Aktmodell« registrieren lassen können. Zum einen nannten sich auch einige Huren oder Strichjungen Aktmodelle, zum anderen stand ich gar nicht so selten durchaus bekleidet Modell, etwa für Porträts, Bewegungsstudien oder Figurinen. Für die angehenden ModedesignerInnen zu arbeiten, entpuppte sich sogar als meine härteste Belastungsprobe. Da ich mir die jeweils hoffähigen Klamotten weder leisten konnte noch wollte, wurde ich vielbelächelt. Ich hielt mich an meiner anderweitigen Beliebtheit als Aktmodell fest. Ich hatte es nicht nötig, meine leibhaftige Erscheinung mit ihren aberwitzigen Fähnchen zu verbrämen. Man könnte hier mehr als nur Stolz wittern, nämlich Arroganz. In der Tat war ich nicht frei von ihr, wußte es aber immerhin. So hielt ich mich immer strenger dazu an, meine angenehme Gestalt und meinen Sinn für Bewegungsabläufe nicht etwa als mein Verdienst zu begreifen. Ich verdiente ein paar schäbige Mäuse mit Geschenken des Zufalls – mehr nicht. Wenn sich in meiner ganzen Persönlichkeit im übrigen das »Sparsame« (auch asketisch oder spartanisch genannt) immer stärker ausprägte, entsprach es nur dieser Haltung. Der schlichte Mensch – und der schlichte Text wurden meine Religion. Meine ersten nennenswerten literarischen oder journalistischen Arbeiten erschienen erst während meiner Zeit als Raumausstattergeselle, um 1998. Im Frühjahr 2000 begann dann meine Kommunezeit.
~~~ Nach meinem Wirken als angeblicher »Frontman« bei Trotz & Träume stand mein Draufgängertum zunehmend auf tönernen Füßen. Unruhe, Ängstlichkeit, Selbstzweifel und ein wachsendes Bewußtsein meiner Unzulänglichkeit trugen zu meinem Rückzug aus dem Modell-Geschäft bei. Ich wollte mich nicht länger ausstellen. Ich floh dem Brennpunkt geballter Aufmerksamkeit – es schmerzte zu sehr. Als Schriftsteller beobachte ich.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 2, November 2023
Unter »Brâncuși« erwähnte ich kürzlich die Kunst-wissenschaftler und Konzeptfritzen Kudielka und Gerz aus meiner Westberliner Künstlermodellzeit. Hier gesellt sich nun der Nordamerikaner James Lee Byars (* 1932) hinzu, den Brockhaus ins Spezialfach »individuelle Mythologie« steckt. 1986 habe er unserem Düsseldorfer Guro Joseph Beuys die Totenfeier ausgerichtet. Unverzüglich in Band 10 nachgeschlagen, was das sei, Individuelle Mythologie, werde ich belehrt, das Spezialfach wurde in der Stadt meiner Schulzeit, Kassel, gezimmert, nämlich 1972 auf der documenta 5. Es enthält den bekannten willkürlichen Installations-Krempel, der sich philosophisch gibt. Mit Materie belastet er sich nur noch so geringfügig wie möglich. Schließlich hat jede Nachkriegskunstakademie dem künstlerischen Nachwuchs die Ohren vollgetrommelt, er habe sich endlich »vom Gegenstand zu lösen«. Im Brockhaus taucht das immer mal wieder als Lobeswort auf: es gelang dem Betreffenden, die Höhen der Abstraktion, der Religion, des Nebulösen zu erklimmen. Aufs Schreiben bezogen, heißt es deshalb im selben Band 4 zum australischen Schriftsteller Peter Carey (* 1943), er habe sich »von der realistischen Erzähltradition gelöst«. Meiner Ansicht nach ist die durchgehende postmoderne Marschroute unübersehbar: Entkörperlichung. Abschaffung des Raumes – und erst damit auch der Zeit. Digitalisierung bedeudet nichts anderes. Letztlich handelt es sich um den aberwitzigen Versuch, den Tod zu überwinden, wie auch Erwin Chargaff wiederholt erläutert hat. Darüber möchte man auf der einen Seite gern lachen; auf der anderen wachsen freilich die vielfältigen Kosten der „Digitalisierung“ inzwischen ins Astronomische. Nach Corona- und Klimawahn ist es das größte Verlustgeschäft, das die Menschheit je angepackt hat. Die Pyramiden waren Kreiskegel des Brettspiels Fang den Hut! dagegen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 7, Januar 2024
Dem erfolgreichen Pariser Maler Alexandre-Gabriel Decamps (1803–60) wurde ein Pferd zum Verhängnis. Hoffentlich war es ein Araber. Das Pferd scheute an einem Sommertag des Jahres 1860 im Rahmen einer nach manchen Quellen »Königlichen« Jagd im Wald von Fontainebleau. Vielleicht hatte sein Pferd die Orientmeise erblickt. Es warf den 57jährigen ab, worauf er an Kopfverletzungen starb.
~~~ Die Orientmeise gilt den einen als Nachtigall, den anderen als Nervensäge. Decamps hatte sie in jungen Jahren von einer Reise durch Kleinasien mitgebracht und dadurch in die mitteleuropäischen Parkanlagen und Kunstsalons eingeführt. Plötzlich verlangte es alle mehr oder weniger gelehrten Schöngeister nach Zeichnungen oder Gemälden mit orientalischem Sujet und Kolorit. Sogar Brockhaus betont, Decamps habe zu den ersten Künstlern gezählt, die »den Orient für die romantische Malerei« entdeckt hätten. Dann wird es wohl ungefähr stimmen. Blogger Silvae, ein Kunstkenner, schrieb 2010, der Orientalismus habe sich spätestens seit Napoleons Ägypten-Abenteuer [um 1800] und Delacroix‘ Gemälden [1798–1863] breitgemacht. »Verdi schreibt seine Aida, Flaubert Salambo (auch ein Lokal auf St. Pauli nannte sich später so), Ingres malt Harems und selbst in Deutschland gibt es Orientmaler wie Gustav Bauernfeind, von Malern wie Makart ganz zu schweigen.« Ich füge hier noch Prosper Marilhat* und den schottischen Maler David Roberts hinzu.
~~~ Decamps selber ließ sich aber nicht einengen. Er malte auch gerne Hunde, Enten, Pferde und dergleichen, am liebsten natürlich welche im Rahmen der Jagd**, oder er malte Affen*** … Zu seinen Vorbildern zählte Rembrandt, zu seinen Verehrern Baudelaire, der ihm »die merkwürdigsten und unwahrscheinlichsten Licht- und Schattenspiele« bescheinigte. Decamps persönliche Verhältnisse finden sich leider in allen mir zugänglichen Quellen außerordentlich unterbelichtet. Um 1853 suchten ihn (und seine Arbeit) »nervöse Störungen« heim; bald darauf verkaufte er sein Pariser Atelier und zog sich aufs Land zurück. Immerhin, in den Sattel kam er da noch, und den Ruhm hatte er ja bereits in der Tasche. Irgendwo las ich, seine Werke seien schon zu seinen Lebzeiten viel gefälscht worden. Das müßte mir einmal passieren.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024
* https://en.m.wikipedia.org/wiki/File:Marilhat_Arabes_syriens_en_Voyage.jpg
** https://de.wikipedia.org/wiki/Alexandre-Gabriel_Decamps#/media/File:La_pattuglia_turca.jpg
*** https://www.wga.hu/art/d/decamps/monkey.jpg
Weiter oben nannte ich schon einige MalerInnen, die der Orientmeise huldigten, und für Brockhaus tat das der Franzose Eugène Fromentin (1820–76), der nebenbei auch als Schriftsteller hervortrat, sogar an führender Stelle. Zum Beweis druckt das Lexikon ein Wüstenbild des Franzosen ab, auf dem gerade mindestens fünf zu Boden gestreckte Leute, wenn ich richtig zähle, jämmerlich – und selbstverständlich mit eindrucksvollen Gebärden verdursten. Das könnten Laien als Flaggengruß an Géricaults Floß der Medusa mißverstehen, auf das wir in Kürze noch zurückkommen werden. Fromentins Wüstenstück aus dem Fundus des Louvre stammt von 1869. Sieben Jahre darauf starb auch sein Schöpfer, allerdings nur an einer »Krankheit von wenigen Tagen«, wie die französische Wikipedia sehr aufschlußreich mitteilt. Vorher hatte er bereits an einem Vollbart plus ausufernder Stirnglatze gelitten.
~~~ Mustert man im Internet ein anderes Gemälde des Meisters, Une rue a El-Aghouat, ergreift einen zunächst die Furcht, das Massensterben ginge weiter. Das wirkungsvoll komponierte Bild* gibt Einblick in eine teils in glühender Sonne, teils im Schatten liegenden Gasse. Während zur Linken eine Frau gerade eine Ziege oder ähnliches aus der ungesunden Sonne in einen Hausflur schiebt, winkt im Hintergrund, am Ende der Gasse, ein Stadttor, das freilich auch nur in die Wüste zu führen scheint, wo Schatten bekanntlich Mangelware ist. Aber zur Rechten herrscht eben wohltuender Häuserschatten, und in dem räkeln sich die wahrscheinlich sieben vorwiegend weißgekleideten Männer, die man zunächst für Todgeweihte gehalten hat. Einer lehnt sogar an der Hauswand, dösend wie alle. Sie halten also lediglich eine kleine Siesta, wenn ich mich nicht täusche.
~~~ Als Schriftsteller hatte Fromentin sicherlich auch die eine oder andere Geschichte auf Lager, die genaueren Aufschluß über diese Mittagspause gibt. Waren die Männer Bewohner der schattenspendenden Häuser, war es ihnen vielleicht drinnen zu stickig gewesen. Gehörten sie einer ausheimischen Karawane an, fehlten ihnen vielleicht die Waffen, um sich gewaltsam Einlaß in die Häuser zu erzwingen. Oder die Lust zum Gefecht, bei dieser Affenhitze. Daran könnte wiederum die erwähnte Ziege von der linken Gassenseite Zweifel wecken. Die Frau hatte sich vielleicht gesagt: tun wir Amelda lieber ins Haus, bevor sie von diesen durchreisenden Strolchen erlegt wird, von mir selber ganz zu schweigen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 13, März 2024
* https://www.kunstkopie.de/a/fromentin-eugene/une-rue-a-el-aghouat.html
Den ausführlichen Brockhaus-Artikel über Glas, Glasherstellung und Glaskunstwerke würde ich ganz gerne durch Würdigung einer Berliner Glasfabrik ergänzen – nur stößt mein Wunsch auf gewisse Schwierigkeiten. Zum Beispiel ist sie inzwischen gar keine Glasfabrik mehr. Aber eins nach dem anderen. Ich wurde auf das Objekt um 1990 aufmerksam, als ich im Doppeldeckerbus öfter zwecks Modellstehens in einer recht entlegenen Volkshochschule durch die Reinickendorfer Ollenhauerstraße schaukelte. Aus rotem Backstein und verständlicherweise viel Glas errichtet, lag diese Fabrik (Hausnummer 97) fast wie eine riesige Woge mit vorn aufspritzender Gischt am breiten Bürgersteig.* Der Architekt hatte die zur Straße gelegene ausgedehnte Fassade in der Längslinie kurzerhand gekrümmt oder ausgebuchtet! Das fand ich walfischstark, weil der ganze Klotz auf diese Weise in eine beinahe anmutige Bewegung geriet. Dummerweise versäumte ich es damals, mich vielleicht beim Pförtner nach dem Namen des Architekten zu erkundigen. Selbst der Firmenname fällt mir nicht mehr ein. Die Suche im Internet wird zum Schlag ins Wasser. Also schreibe ich den neuen Nutzer des Gebäudes an – die nächste Abfuhr: »Bei Fragen rund um das Bauwerk wenden Sie sich bitte an unseren Vermieter, die DIBAG Industriebau AG.« Mehr nicht.
~~~ Das Gebäude wurde 2005 von der Staatlichen Münze Berlin bezogen. Dort prägt sie jetzt, solange Bargeld noch nicht verboten ist, unsere Euro-Stücke, stellt deren VorläuferInnen im eigenen Museum aus – und wimmelt Neugierige wie mich ab. Ich finde die zitierte kurzangebundene Antwort auf meine freundliche architekturgeschichtliche Anfrage doch recht befremdlich. Wenn eine Münzbehörde nicht weiß, in was für einem schönen Gebäude sie eigentlich sitzt und wem das zu verdanken sei, sollte sie vielleicht in Zukunft lieber gedörrte Backpflaumen prägen und unter die Leute werfen, keine Zwei-Euro-Stücke.
~~~ Allerdings bezieht sich mein Befremden überdies auf den Mieter-Status der Behörde. Wie man sich denken kann, schrieb ich nun auch dem genannten Vermieter – der nicht im Traum daran dachte, höflicher als die Münzbehörde zu sein, im Gegenteil. Er schwieg also. Daraus schloß ich: entweder bin ich diesem Unternehmen nicht wichtig genug, oder es läßt sich grundsätzlich ungern in die Karten schauen – und am Ende noch als „Haifischfirma“ beschimpfen. So oder so bedrängt mich die Frage, warum sich die Staatliche Münze Berlin vor knapp 20 Jahren nicht einfach eine neue Wirkungsstätte kaufte. Fehlte es ihr an dem, was sie dauernd herstellt, nämlich an Geld? Oder kannte Regierungsrat Y zufällig einen Immobilienmanager Z, der an einem fetten Mietgeschäft interessiert war? Denn der Staat hält ja immer die Kühe, die sich am ergiebigsten und beständigsten melken lassen.
~~~ Das ist ein heikles Geschäftsfeld, zu dem mir sicherlich das geeignete geheimdienstliche Zeug fehlt, zumal ich im tiefsten Thüringer Wald sitze. Also wandte ich mich zuletzt an den erfahrenen, dazu namhaften »linken« Berliner Journalisten X. Vor Jahren waren wir sogar zeitweise im selben Blatt mit Beiträgen vertreten. Ich schlug ihm vor, der Sache vielleicht einmal nachzugehen und im Idealfall einen Artikel zu veröffentlichen, auf den ich mich dann wiederum in dieser Risse-Folge stützen könnte. Aber er eiferte der DIBAG nach: er schwieg. Daraus schloß ich auf sein geringes Interesse an diesem Thema und auf seine gewaltige Höflichkeit.
~~~ Manchmal verliert man wirklich die Lust, sich überhaupt noch mit irgendwelchen Anliegen oder Vorschlägen an erwachsene MitbürgerInnen zu wenden. Stattdessen sehnt man sich in die Kindheit zurück. In einem Städtchen wie Gudensberg fanden sich immer zwei oder drei Nachbarskinder, denen ein paar verlockend bunt-marmorierte Glasmurmeln in der Hosentasche klimperten und die einem kleinen Spielchen keineswegs abgeneigt waren. Jedes Fleckchen Erde an Zäunen oder Scheunen war dazu geeignet. Hatte man Pech, verlor man selber das eigene Kapital restlos und mußte sich um Rückerstattung oder wenigstens Kredit prügeln. Aber das war am nächsten Tag schon wieder vergessen. Für die Berliner Münze wären Murmeln vielleicht gar keine schlechte Alternative zu den Backpflaumen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 15, April 2024
* https://www.berlin.de/museum/3130096-2926344-museum-der-staatlichen-muenze-berlin.html
Marbot --- Um 2000 – ich war noch als Raumausstatter in einem südhessischen Handwerksbetrieb beschäftigt – tappte ich mit verrenktem Hals durch ein riesiges Würz-burger Treppenhaus, um das größte zusammenhängende Deckenfresko der Welt zu bestaunen. Der Kenner weiß Bescheid: Tiepolo in der Residenz. Zu meinen vielen Vorläufern zählte der Brite Andrew Marbot, von dem ich damals allerdings nichts wußte. Ich habe Hildesheimers Biografie über ihn erst um 2010 gelesen. Marbot war ein wohlhabender Müßiggänger. 1825 nach Italien unterwegs, legt er Abstecher nach Weimar, Kassel und Würzburg ein. In Weimar erwirkt er eine Audienz beim Dichterfürsten und die Liebesgunst von dessen Schwiegertochter Ottilie von Goethe. In Kassel bewundert er Rembrandts Gemälde.
~~~ Wie mein Zwerglied Künstlerglück beweist*, habe ich die MalerInnen stets um die Möglichkeit beneidet, jederzeit von ihrer Staffelei aus sieben Schritte zurückzutreten, um sich ihr werdendes Werk einmal aus gehöriger Distanz anzuschauen. Das nützt bei Manuskripten oder Computern nichts. Wie ich jedoch durch Marbot sehe, ist dieses Glück auch den Schöpfern von Deckengemälden versagt. Da hat der alte Tiepolo für mehrere Jahre, außer im kältesten Winter, Tag für Tag auf einem turmhohen Holzgerüst auf dem Rücken zu liegen, um die ausgedehnte, weiße Fläche Quadratmeter für Quadratmeter (im ganzen 677) mit den Ausgeburten seiner Phantasie zu bedecken, ohne jemals mehr als 60 oder 80 Zentimeter Abstand zu haben. Wie will man bei dieser Malweise die Proportionen der Figuren und die Ausgewogenheit des gesamten Freskos wahren? Weder Marbot noch sein Biograf Wolfgang Hildesheimer (1916–91) verraten mir den Trick.
~~~ Vielleicht ist diese Unterlassungssünde noch verzeihlich. Schlimmer finde ich die vollständige Abwesenheit dessen, was der Weimarer Schriftsteller und Maler Armin Müller vermutlich die Soziale Frage genannt hätte. Marbot hat weder Geldsorgen noch einen Blick für die Nöte zahlreicher Mitmenschen. Politik interessiert ihn keinen Pfifferling. Sein ganzes Denken kreist um Kunst-werke und die sie hervorbringenden Gemütsregungen – die stets in luftleerem Raume stattzufinden scheinen. Das Milieu der KünstlerInnen beläuft sich auf Kulisse. Man könnte es austauschen; Marbots Nabelschau bliebe die gleiche. Gewiß, die Blutschande mit seiner Mutter bewegt ihn ebenfalls, aber auch sie hat keine soziale Dimension, sieht man von der Befürchtung Was sollen die Leute von uns denken? ab, die sich bekanntlich durch alle Klassen und Jahrhunderte zieht. Für mich ist Marbot ein Taugenichts, eine Null – zumal die »Blutschande«, mit der er sich ziert, auf mich wenig glaubhaft wirkt. So würde er sich denn auch nicht zu Unrecht von Kind auf bis zu seinem Selbstmord als Versager fühlen. Es ließe sich einwenden, so war er eben. Dafür könne ja der Biograf nichts, daß dieser Marbot ein Windbeutel gewesen sei. Doch der Einwand geht im Falle dieses Buches von 1981 fehl, weil Hildesheimer seinen Romantiker namens Marbot, diesen angeblichen Zeitgenossen und Bekannten von Leuten wie De Quincey, Lord Byron, William Turner, Delacroix, Leopardi und eben auch Goethe, von vorne bis hinten erfunden hat.
~~~ Seltsamerweise warf ich diese merkwürdige Prosaarbeit nicht etwa nach 20 oder 50 Seiten in die Ecke. Man ist ja vorgewarnt: eine fiktive Biografie. Zudem zeigt sich rasch, sie ist keinewegs glänzend geschrieben. Sie mutet uns manche Holprigkeiten und Verschrobenheiten (ihres Autors) zu. An vielen Stellen können wir dem Biografen »nicht ganz folgen«. Gleichwohl lesen wir mit Neugier, Verblüffung, Schmunzeln und sogar Hochachtung weiter. Es stellt nämlich eine beinahe unglaubliche Leistung dar, eine solche Biografie von hieb- und stichfestem Wahrheitsgehalt zu erfinden. Warum macht sich Hildesheimer nur diese Mühe, fragt man sich in einem fort ungläubig. Warum tüftelt er all diese »nachprüfbaren« Dokumente, Ereignisse, Daten aus? Was gibt ihm die Kraft und die Disziplin, diesen Windbeutel Marbot durch ein ganzes Buch zu führen? Das Buch hat einen rundum absonderlichen Charakter – und durch sein streng »wissenschaftliches« Gebaren wird das nur unterstrichen. Darin liegt seine nicht unbeträchtliche Komik, nehme ich an.
~~~ Brockhaus erwähnt es übrigens lediglich mit dem Titel in der Fußnote. Vielleicht herrschte gerade Bier- und Lachverbot in der Redaktion, wie später das Niesverbot wegen Corona. Was mir lediglich vorübergehend gefiel, war Marbots Haltung zum Tod. Er empfindet ihn ausdrücklich als demütigend. Mit Leopardi, den er in Italien trifft, ist er sich darüber einig, man sollte doch erwarten, die Anhäufung von Lebenserfahrung führe zu irgendeiner Krönung – stattdessen halte sie diese Schmach der Abdankung für uns bereit. In der Überzeugung, durch den Freitod könne ihr entgegen gewirkt werden, will ihm Leopardi allerdings nicht mehr folgen. Das erachtet Marbot als inkonsequent. Obwohl es ihm nichts mehr zu bieten habe, hänge Leopardi offensichtlich noch am Leben. »Wahrscheinlich hat er nicht den Mut, den letzten Schritt zu tun. Er ist zu feige.« Marbot selber tut diesen ernsten Schritt wenig später, mit knapp 30.
~~~ Für mein Empfinden ist allerdings schon das Wort Freitod ein Witz. Wie kann etwas frei sein, das im Zusammenhang mit diesem »lebenslänglichen Erpreßtwerden zum Tode« steht, wie Kreuder es einmal nannte, also der denkbar größten Nötigung? Gar nichts ist auf Erden frei. Weder habe ich um Großmäuligkeit oder Jähzorn, noch hat Leopardi um Feigheit gebeten. Den Drang am Leben zu bleiben – oder die Angst, es zu verlieren – kennt so gut wie jeder, möge er selbst keine Arme und keine Beine mehr haben. Entschließt sich einer zum Selbstmord, dann in der Regel aufgrund großer Verzweiflung. Die nähme man vielleicht noch Marbots Mutter ab (die mit ihm »Blutschande« trieb), doch Marbot nicht. Sein Selbstmord wirkt aufgesetzt, obwohl sich Hildesheimer bemüht, seinen Helden als Versager hinzustellen, freilich nicht aus den von mir genannten Gründen. Für ihn versagt Marbot, weil er es nie bis zum eigentlichen Kunstschaffen bringt. Marbots Sache ist das Zuschauen.
~~~ Nun gut: da schwindet die Neugier irgendwann – bis man sich aus Überdruß und Langweile umbringt. Diese raren SelbstmörderInnen bewundere ich. Sie bringen sich nicht aus Not, vielmehr der Tugend zuliebe um.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* kuenstlerglueck (mp3, 1,268 KB) (Aufnahme 2012)
Weiter oben streifte ich Hans Platschek (1923–2000). Für ihn hat Brockhaus nur wenige Zeilen, obwohl er ein »Multitalent« war, nämlich Maler, Essayist, Hochschullehrer und einer der letzten unverbesserlichen RaucherInnen. In seinen mittleren Jahren hatte der vielgereiste Künstler so manchen Kollegen, der sich nicht der jeweils gerade angesagten Malmasche versagte, mit einer Reihe von Aufsätzen vor den Kopf gestoßen, die 1984 gebündelt im gelb eingeschlagenen Suhrkamp-Taschenbuch Über die Dummheit in der Malerei zu lesen waren. Im gehobenen Ton des Feuilletons gehalten, sprachen sie zwar streckenweise in Rätseln und auf Verdacht Dinge aus, die etwa Robert Gernhardt (möglicherweise von Platschek angeregt) schlichter und überzeugender sagte, pochten dabei aber gleichfalls und erkennbar auf handwerkliches Können gepaart mit kritischer Haltung. Diese angriffslustigen Ausfälle konnten weder Platscheks berufliche Laufbahn durchkreuzen noch sein Älterwerden verhindern. Im Spätsommer 1999 gelang es dem erheblich jüngeren Kunsthistoriker Christian Demand, »nach vielem Drängen« von dem 76jährigen zu Hause empfangen zu werden. Platschek lebte seit 1970 vorwiegend in Hamburg, dabei zuletzt in einer Atelier-Wohnung am Grindelberg, die ihm der Senat mietfrei zur Verfügung gestellt hatte. Bei seinem dortigen Besuch sei nicht nur Platscheks körperliche Hinfälligkeit offensichtlich gewesen, so Demand; der vielgelobte Essayist habe auch Mühe gehabt, sich zu artikulieren, und öfter den Faden verloren. Als dann »ein Pfleger« das Abendbrot brachte, zog sich Demand wohlweislich zurück, wie er 2013 im Merkur berichtet.*
~~~ Sich auf diesen Besuch einzulassen, dürfte bereits der erste Fehler Platscheks gewesen sein. Der zweite war dann die Zigarette. Wenige Monate später wurde er in seiner Wohnung tot aufgefunden, wie dem Hamburger Abendblatt am 11. Februar 2000 zu entnehmen war. Die Polizei habe Spuren eines vermutlich durch eine Zigarette ausgelösten Schwelbrandes entdeckt. Anscheinend sei Platschek, inzwischen knapp 77, erstickt. Da werden wohl einige Nachbarn aufgeatmet haben: weil ihnen das Schicksal – um nicht von gewissen malenden und schreibenden Moralisten zu sprechen – keine Feuersbrunst zugemutet hatte. Nebenbei hat sich die Zigarette im Laufe der Jahre in eine Zigarre verwandelt, genauer in Platscheks »geliebte Havanna«, wie ich diesmal der Hamburger Morgenpost entnehme.**
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 29, August 2024
* Christian Demand, http://www.merkur-zeitschrift.de/2013/05/02/kurzer-nachtrag-zu-hans-platschek/, 2. Mai 2013
** Ute Gebauer, https://www.mopo.de/rausgehen/plan7/ein-genialer-unbequemer-geist-hans-platschek-ausstellung-in-hamburg/, 23. Juni 2024
Man kann gar nicht oft genug dazu auffordern, dem Ruhm und der angeblichen Unersetzbarkeit sehr vieler Kunstwerke mit mehr Vorbehalten zu begegnen. Das reicht von ägyptischen Grabbeigaben bis über Piet Mondrians meist farbenfroh gemalte Knastfenstergitter hinaus. Brockhaus macht uns die Ruinen auf dem 120 Meter hohen Inselberg Sigiriya schmackhaft, der auf Sri Lanka zu finden sei. Aber es sind Ruinen eines »befestigten Königspalastes« vom Ende des 5. Jahrhunderts. Brockhaus schwelgt besonders von Wandmalereien, die »himmlische Nymphen« zeigten, die den herrschenden Königstrotteln Blumensträuße überreichen.
~~~ Aber sie seien doch wunderschön? Bedenken Sie bitte folgendes. Im Gegensatz zur Natur hat die Kultur eine soziale Dimension. Sollten Sie also einen Spinnen-Ragwurz (seltene heimische Orchidee) liebreizender als die weißblühende Ästige Graslilie empfinden, ist es nicht weiter verwerflich, solange der Kommerz aus dem Spiel bleibt. Dagegen werden die meisten Kunstwerke für die Eliten aller Epochen von begabten Speichelleckern geschaffen, die von dem Geld bezahlt werden, das den Kleinen Leuten vorenthalten worden ist. Sollten sie Schönes liefern, dann nur, um uns von dem Häßlichen in den gesellschaftlichen Verhältnissen abzulenken. In der Kunst gibt es keine einheitlichen Werte, die weltweit für alle gelten. Es gibt vielmehr unterschiedliche Klassen oder Völker, gegensätzliche Kriegsparteien und Ungerechtigkeit in rauhen Mengen. Erwähnt Brockhaus also lobend, die ganze Anlage auf jenem asiatischen Inselberg sei von der UNESCO zum »Weltkulturerbe« erklärt worden, betreibt er die übliche Augenwischerei. Es handelt sich vielmehr um ein Erbe weniger Könige.
~~~ Eine weitere Konsequenz wäre, nicht entsetzt zu sein, wenn im Eifer revolutionärer Umstürze Stuckdecken in Schlössern wie dem in Friedrichswerth an der Nesse oder kostspielige »Informelle Gemälde« in einem Erfurter Museum kurzerhand zerschlagen werden. Für diese Gebilde haben die entstehenden Freien Republiken ohnehin keine Verwendung. Ihre Rühmung und ihre Beschützung würde nur das Geld kosten, das die Freie Republik ohnehin nicht mehr hat. Die Freie Republik schaffte das Geld nämlich gleich nach dem Umsturz ab. Sie bezahlte nur noch ein paar verstockten Kuratoren und Konservatoren die Überfahrt nach Sri Lanka.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
Der US-Großkünstler Robert Smithson (1938–73) starb im Dienst. Allerdings könnten manche die Sinnhaftigkeit seines Dienstes anzweifeln. 1970 legte er beispielsweise in einem Salzsee in Utah einen unter Experten berühmten 500 Meter langen Damm in Form einer Spirale an, genannt Spiral Jetty. Das Farbfoto, das Brockhaus davon bringt, ist mehr als spaltenbreit. In seinem 8-Zeilen-Eintrag dagegen hatte das Lexikon nur für die eingeklammerte Bemerkung »Flugzeugabsturz« Platz. Die meisten Internetquellen verfahren in dieser Hinsicht kaum aufschlußreicher.
~~~ Smithson galt als Star unter den damals aus dem Ring von Stonehenge, GB, wiederauferstandenen »Landartlern«. Was nun seinen finalen Absturz (aus den Wolken, aber keineswegs aus dem Ranking) betrifft, wählt die Webseite seiner Witwe Nancy Holt eine Art Mittelweg.* Sie erwähnt sowohl das Unglück wie die Namen zweier Mitsterber, nämlich den Piloten Gale Ray Rogers und den Fotografen Richard I. Curtin. Dabei beläßt sie es allerdings und murmelt nur noch ein paar gelehrt klingende Zauberformeln. Offenbar hält sie den Vorfall für einen zufälligen, kaum vermeidlichen Schicksalsschlag. Dazu bedarf es schon starker Nerven und eines vermutlich fetten Erbes.
~~~ Kratzt man verschiedene spärliche Angaben zusammen, kreisten die drei Männer am 20. Juli 1973 vormittags in einer Beechcraft E 55 Baron rund 25 Kilometer nordwestlich von Amarillo, Texas, wie ein Weißkopfseeadler über einer bereits von Smithson vorbereiteten Fläche für eine neue große Erdskulptur, Durchmesser über 40 Meter. Ausgerechnet bei diesem Inspektions-Rundflug lief etwas schief, wodurch das Flugzeug abstürzte. Dadurch kam der 35jährige Großkünstler nebst Dienerschaft um. Laut Suzaan Boettger** waren Rogers und Curtin 26 und 23 Jahre alt. Alle drei seien auf der Stelle gestorben. Die englische Wikipedia erwähnt die Mitsterber namenlos und führt anstelle eines Maschinenschadens einen »Pilotenfehler« ein. Der Mann habe die erforderliche Geschwindigkeit nicht eingehalten und sich außerdem ablenken lassen. Danach könnte es so ähnlich wie (1991) beim Filmemacher Martin Kirchberger gewesen sein, siehe weiter oben.
~~~ Ob nun technisches, menschliches oder kollektives Versagen: die Kunst ging weiter, darin sind sich alle Quellen einig. Die Witwe und weitere Kollegen vollendeten nämlich die Amarillo Ramp. Sie dürfen sie jederzeit besuchen. Wer werkgerecht anreisen will, benutzt ein atomgetriebenes Unterseeboot.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 35, September 2024
* https://holtsmithsonfoundation.org/amarillo-ramp (Stand 2024)
** Suzaan Boettger, Earthworks, University of California Press, 2002, S. 234
Siehe auch → Fotografie → Raumfahrt, Custer (Jackson Pollock) → Scherbarth (Berliner Grafiker) → Band 5, Erzählung Absturz eines Orthopäden, Kap. 6 (abstrakte Kunst) → Band 4, Mollowina, Pingos, Kap. 4 + 6 + 7 (revolutionäre Kunst)
Ein ungebildeter Schriftsteller ist ärgerlich und, vor allem für ihn selber, oft peinlich. Aber wie kommt man zu Bildung? Durch ein Studium der Germanistik oder Philosophie oder Geschichte oder gleich alles zusammen? Nie und nimmer. Das bewirkt eher das Gegenteil. Man stopft sich den sogenannten Kanon oder den Sermon des bereits aus Funk & Fernsehen bekannten Professors in die Birne und wundert sich vielleicht später, als Ruheständ-lerIn zurückblickend, über die matschige Beschaffenheit der angeblich eigenen Laufbahn.
~~~ Jedenfalls kommt man bestimmt nicht über nacht zur Bildung. Als mich Gudrun vor Jahrzehnten mit den Unfrisierten Gedanken des Polen S. J. Lec (1909–66) bekannt machte, war ich von solchen knappen Aphorismen verblüfft und begeistert. »Einsamkeit, wie bist du übervölkert!« So etwas kannte ich noch nicht. Wieder einige Jahre später fand ich genau dieselbe verblüffende Kürze in einem Buch von Jule Renard (1864–1910) wieder – nur lag der Franzose schon seit 1910 in der Kiste. »Das Beben des Wassers unter dem Eis«, las ich da gleich auf den ersten Seiten (15).* Schließlich noch Lichtenberg. Als ich neulich wieder einmal zu seinen Aphorismen griff**, mußte ich ihn zähneknirschend als Vorläufer oder Vater von Lec und Renard beziehungsweise die beiden als Papageien anerkennen. »Theorie der Falten in einem Kopfkissen.« Auf solche knappen Sätze (S. 447) belaufen sich etliche Einträge Lichtenbergs. Der Physiker und Verfasser sogenannter »Sudelbücher« starb an seinem Lehrort Göttingen 1799.
~~~ Was Rychner in Auswahl von Lichtenbergs Gesudele präsentiert, kommt mir allerdings heute merklich schwächer als vor rund 25 Jahren vor, dabei oft zu flüchtig, unsauber und entsprechend oberflächlich. Das deutet bereits auf das Problem der Zeit, nämlich des Lebensalters eines bestimmten Lesers hin. Meine Verehrung für Renard bekam sogar schon um 2005 Kratzer, wie ich aus meinen Unterlagen ersehe. Notiert er beispielsweise »Der Tod ist der Normalzustand. Wir bauen zu sehr auf das Leben« (301), ist das ohne Zweifel ein starker Gedanke – nur die Formulierung kam mir nun doch zu schwach vor. Ich schlug vor: Wenn man bedenkt, wie lange einer tot ist, wird man das Leben nicht mehr überschätzen. Renards bekanntestes und angeblich auch bestes Buch Rotfuchs (Übersetzung Walter Widmer, Zürich 1946) las ich um 2010. Es verärgerte mich geradezu, weil weder die Charaktere noch die Komposition des episodenhaft erzählten »Romanes« schlüssig sind. Die komposito-rischen Mängel scheint sogar Renard selber noch während der Schlußredaktion (Herbst 1894) in seinem Tagebuch eingeräumt zu haben, wie ich Hanns Grössels Nachwort zu den Ideen entnehme (350). »… ein schlechtes Buch, unvollständig, schlecht gebaut, weil es mir nur schubweise gekommen ist ..(..).. man könnte es beliebig kürzen oder verlängern …« Und so etwas wurde nun schon zu Renards Lebzeiten in »unzähligen Auflagen«, wie Widmer im Vorwort versichert, in die Buchläden gepumpt. Die Pumpstationen dürften bekannt sein. Einige Kurzprosastücke, mit denen Renard in der Manesse-Anthologie Vögel in der Weltliteratur (1986) vertreten ist, kommen mir inzwischen ebenfalls reichlich blaß vor. Offenbar war der Mann nicht so gut, wie ich einst dachte. Aber »Weltliteratur«, das war und ist er gleichwohl. Einmal dazu erklärt, gibt es kein Zurück mehr.
~~~ Obwohl unser Leben gewöhnlich vorwärts verläuft, bringen Renard/Ronte einen Satz, der die Teleologie zu durchkreuzen scheint. »Jeden Tag bin ich Kind, Mann und Greis«, lautet ein Eintrag auf S. 307. Das Gefühl, das hinter diesem Gedanken steckt, ist mir keineswegs fremd. Aber ich weiß auch, daß Rom nicht an einem Tag erbaut worden ist. Wahrscheinlich verdankt sich »Reifung«, wie man den Prozeß ja auch nennen könnte, mindestens zwei Bedingungen, die nicht immer Hand in Hand gehen müssen: der Zeit und der Tiefe. Manche begabten Leute erbohren sich in wenigen Wochen soviel Einsicht, wie sie Oskar Maria Graf selbst durch Wiedergeburt nicht erlangt hätte. In der Regel genügen wenige Wochen allerdings nicht. Lesen, lesen, lesen, das ist für gute Schriftsteller-Innen schon die halbe Miete. Was dafür entfällt, hat freilich auch seinen Preis: Verzicht, Verzicht, Verzicht. Vor allem auf sogenannte Geselligkeit = Öde und Geschwätz …
~~~ Hinter jener »Reifung« verbirgt sich nebenbei ein Riesenhindernis im allgemeinen Befreiungskampf, das oft unterschätzt wird. Es ist die gleichsam natürliche Spaltung der Gesellschaft in Lebensalter und Grade der Bildung oder Einsichtsfähigkeit. Die darin liegenden Unterschiede und Widersprüche werden sich wahrscheinlich immer ins Gehege kommen, auch in meinen schönen Zwergrepu-bliken. Lasse ich die vorwitzigen und unreifen Vorschläge in meiner Erinnerung aufscheinen, die ich mir als 20- oder 30jähriger leistete, geht die Schamröte in meinem Antlitz auf. Gottseidank haben das die Schlapphüte damals noch nicht gescannt und gespeichert. Zu allem Unglück war die Angelegenheit in meinem persönlichen Fall auch noch mit ungewöhnlicher Begriffsstutzigkeit gepaart, von Mitschülern oder Kampfgenossen gern »lange Leitung« genannt. Um dieses mutmaßliche Naturell zu erkennen, meine Langsamkeit also, benötigte ich allerdings, ab 30, noch einmal zwei bis drei Jahrzehnte. Das war der letzte Beweis.
~~~ Renards Rotfuchs war ein Knabe. Ein Fuchs jedoch, wie er hin und wieder um die hiesigen Hühnergehege schnürt, ist etwas ganz anderes. Seine Welpen hängen ihm vielleicht für ein paar Monate am Hinterbein, und dann wissen sie, wozu Hühner gut sind. Mehr brauchen sie auch nicht zu wissen. Sie sind nach wenigen Monaten fertige Füchse. Jetzt halten Sie die langwierige und oft vertrackte Kindheit der Sorte »Mensch« dagegen! Ein Wahnsinn. Und dann noch für Jahrzehnte von einer Falle in die andere tappen, bis man begriffen hat, das so mancher Kanon Kanonen entspringt.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Ideen, in Tinte getaucht, München 1986, Auswahl und Übersetzung (aus Renards umfangreichem Tagebuch) Liselotte Ronte. Das Wählerische hat Ronte übrigens nicht daran gehindert, Renard oder sich selber Dutzende von Wiederholungen durchgehen zu lassen.
** G. C. Lichtenberg, Aphorismen, Hrsg. Max Rychner, Manesse-Verlag 1958
Birnbaum, Carl (1803–65). Kaum war die Eisenbahn erfunden, wurde sie auch von Lebensmüden als Beförderungsmittel entdeckt. In Tolstois berühmtem Roman Anna Karenina, geschrieben um 1875, wirft sich sogar die Titelheldin vor einen Zug. Damit war sie so bequem und fortschrittlich wie möglich im Jenseits gelandet. Ihre NachahmerInnen sind bis zur Stunde Legion. Statistisch betrachtet, können Sie sicher sein, daß sich an dem Tag, an dem Sie diese Zeilen lesen, wieder ein bis zwei MitbürgerInnen auf die Schienen geworfen haben, denn allein Deutschland verzeichnet jährlich rund 700 (erfolgreiche) Selbstmorde dieser Art. 2008 und 2009 hatten sogar zwei ganz prominente Mitbürger keine Bedenken, dem Personal und den Fahrgästen des erwählten Zuges mindestens Traumata, höchstens den Mittod zuzumuten. Der 74jährige Industrielle und Spekulant Adolf Merckle warf sich in Blaubeuren (bei Ulm), der 32jährige Fußballtorhüter Robert Enke nahe Hannover vor einen Zug. Die Trauer war riesig, der Tadel verschwindend gering. Eine Autobahn wäre vielleicht eine gleichwertige Alternative zum Bahndamm gewesen – Irrtum! Schließlich kann der Lebensmüde am Bahndamm oder in einem U-Bahnhof auf einen Schlag viel mehr MitbürgerInnen in Mitleidenschaft ziehen. Zeitungen oder Blogs, die an der Zurechnungsfähigkeit der betreffenden SelbstmörderInnen zweifeln, kann man wirklich mit der Lupe suchen, wie ich aufgrund meiner ausgedehnten Nachforschungen zu Frühverstorbenen versichern möchte. Insofern stellen die unkritischen Journalisten, Angehörigen und Fans noch das größte Ärgernis dar. Während sie bewußt dem Trend folgen, neigen die Lebensmüden ja häufig gleichsam von Natur aus zu extremen, unverantwortlichen Handlungen, was sie vielleicht entschuldigt.
~~~ Ich teile nun eine schillernde Geschichte aus dem Jahr 1865 mit, die ich einem erstaunlich gediegen ausgestatteten Werk des Stuttgarter Theatergeschichtlers Adolf Palm verdanke.* Im betreffenden Abschnitt geht es um das Ende des Schauspielers Carl Birnbaum, geboren 1803. Der hatte vornehmlich, zuletzt in Kassel und Stuttgart, in komischen Rollen geglänzt. Aber er war vom Pech verfolgt. Zunächst ließ sich seine 1837 geborene Tochter Auguste, selbstverständlich ebenfalls Bühnenkünstlerin, auf den ältesten Sohn des Kasseler Kurfürsten ein. Der Sprößling hieß Friedrich Wilhelm, wohl schon damals Prinz oder Fürst von Hanau. Er versprach seiner Angebeteten das Blaue vom Himmel und machte sie schon einmal zur »Gräfin« – nur hatte er kaum noch einen Taler in der Tasche, weil sein Alter wegen der unstandesgemäßen, in England geschlossenen Ehe die Geldzufuhr gesperrt hatte. Vater Birnbaum, ohne Zweifel geschmeichelt, half zunächst aus der Klemme. Er steckte den Frischvermählten Summen zu, die ihn um ein Haar ruiniert hätten, wie uns Palm versichert. Aber nach wenigen Ehejahren war der Adelsspuk zuende: der Prinz kroch beim Alten in Kassel zu Kreuze, die »Gräfin« durfte sehen, wo sie blieb. Natürlich schlich sie nach Hause, zu Vater Birnbaum in Stuttgart also. Dort kam sie »gebrochen, zerschlagen an Körper und Seele« an, offensichtlich sterbenskrank. Als ihr Vater sie in Cannstatt begraben mußte, war sie noch keine 25 Jahre alt. Das war im Sommer 1862. Doch Gram und Schmach machten auch vor dem Vater nicht halt. Noch im selben Jahr starb Birnbaums eigene Gattin Maria. Vom Intendanten der Stuttgarter Hofbühne Ferdinand von Gall fühlte sich der Komiker zunehmend geschnitten und gekränkt. Er biß die Zähne zusammen. Dann kam es zur Stuttgarter Erstaufführung der Karlsschüler von Heinrich Laube. Das war Anfang 1865. Birnbaum war erst kürzlich 61 geworden. Für diese Produktion hatte man ihm die Rolle des schwäbischen Serganten Bleistift zugeteilt, »jener armen gehudelten Unterthanenseele, in welcher er ein Stück seines eigenen Duldens, seines eigenen verpfuschten Daseins ausgeprägt fand«. Entsprechend sorgfältig habe sich Birnbaum mit der Rolle vertraut gemacht. Ihren Glanzpunkt hat sie in Bleistifts Erzählung aus seinem traurigen Vorleben, plaziert im zweiten Akt. Über diesen Akt kam die Erstaufführung des 10. Februars nicht hinaus.
~~~ Birnbaum hatte seine Erzählung durchaus eindrucksvoll über die Bühne gebracht; »stürmischer Beifall«. Er ließ sich bereits auf der Hinterbühne erschöpft auf irgendeiner Kiste nieder. Plötzlich vernahm der Inspizient Birnbaums Aufschrei. Er sprang hinzu und fing den Taumelnden in seinen Armen auf. Dann lag der blauberockte »Sergant Bleistift«, jäh vom »Schlagfluß« getroffen, auch schon als geschminkte Leiche lang auf den Brettern, die ihm die Welt bedeutet hatten, während auf der Vorderbühne die Tabak rauchenden und Punsch trinkenden Karlsschüler lärmten. Palm zufolge wurde der zweite Akt noch zu Ende gespielt, das Stück im ganzen jedoch nicht. Birnbaums Mitspieler Grunert, »Herzog Karl«, setzte das Publikum ins Bild und schickte es nach Hause.
~~~ Keine Panik bitte, die Pointe kommt noch. Dafür sorgte das Gericht, als es die Papiere des Verstorben durchsah. Es zog einen Zettel hervor, den Birnbaum erst kürzlich handschriftlich bekritzelt hatte: »Morgen, am Tage nach der ersten Aufführung der Karlsschüler wird man meinen hoffentlich rasch und tödtlich zerrissenen Leichnam auf den Eisenbahnschienen zwischen Feuerbach und Kornwestheim finden. Ich bitte um freundliches Angedenken und um ein stilles, einfaches Grab an der Seite meines geliebten Kindes. Es bedarf keiner Inschrift.« Für Palm ist damit klar, Birnbaum hatte bereits mit dem Leben abgeschlossen, als er sich in der Garderobe zum Serganten Bleistift schminkte. Nur habe ihm »ein letzter Strahl von Schicksalsgunst« das Los erspart, »im fröstelnden Grauen eines Februarmorgens auf dem harten Lager der Eisenbahnschienen« zu liegen. Das verhinderte Grauen verschiedener Bediensteter und Fahrgäste der Eisenbahn dagegen liegt jenseits des Palmschen Horizonts.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Adolf Palm, Briefe aus der Bretterwelt, Stuttgart 1881 (Verlag Adolf Bonz und Comp.), S. 182–87
Wie der bekannte schweizer Fotograf Werner Bischof (1916–54) so früh zu Tode kam, deutet Brockhaus mit keinem Komma an. Jedenfalls lag er nicht im Bett. Durch seinen Militärdienst im Zweiten Weltkrieg war der durchaus erfolgreiche Mode- und Werbefotograf auf ein anderes Sujet gestoßen: das Leid bedrohter oder verelendeter Menschen. Er veröffentlichte nun dokumentarische Fotos in der Presse, ab 1949 im Rahmen der engagierten Pariser Bildagentur Magnum. Bischofs eindringliche Bilder von diversen Kriegs- und Hungerschauplätzen fanden weltweite Verbreitung. Allerdings standen sie mit ihrer gekonnten Ästhetik oft im Widerspruch zu dem Elend, das sie zeigten – ein grundsätzliches Problem. Ab 1953 durchstreifte der zukünftige »Klassiker der Schwarzweißfotografie« den amerikanischen Kontinent. Gefechte in Indochina hatte Bischof überlebt, aber hier, in den peruanischen Anden, traf den 38jährigen das Unfallpech. Am 16. Mai 1954 in einem Chevrolet Station Car mit dem Geologen Ali de Szepessy-Schaurek und dem einheimischen Chauffeur Luis Delgado unterwegs*, kam der Wagen am Cerro Peña del Aguila (bei Cajamarca) in einem Ort namens »Adlernest« von der Straße ab und stürzte in eine Schlucht. Alle drei starben. Wie es aussieht, nahmen sie die näheren Umstände dieses Straßenverkehrsunfalls mit ins Grab. Oder sollte jemand in dem Dörfchen nach Augenzeugen gefahndet haben? Wenige Tage nach dem Unglück gebar Bischofs Frau Rosellina, wohl in Zürich, ihren zweiten Sohn Daniel. Der erste, Marco, heute Bischofs Nachlaßverwalter, war damals knapp vier. Auf der sogenannten offiziellen Webseite zu Bischof werden dessen Mitsterber nicht erwähnt. Dito in der deutschen Wikipedia. Sie waren zu unwichtig.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024
* NZZ 15. Mai 2004, »Der Unvergessene«, online https://www.nzz.ch/article9JOYF-ld.301261?reduced=true
Bliss, Philip Paul (1838–76), US-Erweckungskompo-nist. Am 29. Dezember 1876 kämpfte sich der Pacific Express von Erie aus durch die verschneiten Bundesstaaten Pennsylvania und Ohio. Aber der Schnee war noch nicht das Schlimmste. Vor dem Städtchen Ashtabula, damals 2.000 EinwohnerInnen, führte eine erst vor rund 10 Jahren errichtete schmiedeeiserne Fachwerkbrücke über die Schlucht des Ashtabula Rivers, Spannweite 47, Höhe im Schnitt 20 Meter. Als der mit rund 150 Personen besetzte Zug sie befuhr, brach sie aufgrund von Konstruktions- und Baufehlern, wie sich später herausstellte, zusammen und riß den Zug mit sich in die Tiefe. Wegen der Öfen in den Waggons ging er sofort in Flammen auf. Die Hitze des Infernos ließ selbst die Eisdecke des Flusses schmelzen; etliche in den Trümmern eingesperrte Insassen ertranken. Andere verbrannten oder brachen sich das Genick.
~~~ Im ganzen wurden wahrscheinlich 92 Menschen getötet, über 60 verletzt. Den für Bau und Wartung der Brücke verantwortlichen Chefingenieur der Lake Shore & Michigan Southern Railway, Charles Collins, fand man drei Wochen später mit einer tödlichen Schußwunde am Kopf in seinem Bett auf. Man sprach von Selbstmord aus Gewissensnot. Allerdings wiesen der Tatort und andere Umstände einige offensichtliche Ungereimtheiten auf, die die New York Times noch knapp zwei Jahre später veranlaßten, ein »foul play« zu vermuten, also einen vertuschten Mord.* Vielleicht hatte jemand den Racheengel gespielt oder versucht, Enthüllungen vor dem amtlichen Untersuchungsausschuß zu verhindern. Collins‘ Vorgänger Amasa Stone, Mitkonstrukteur der Brücke und dann zum Direktor der Eisenbahngesellschaft aufgestiegen, brachte sich 1883, knapp sieben Jahre später um. Beide Männer – juristisch nie belangt – sollen in der Tat stark an Schuldgefühlen und Selbstzweifeln gelitten haben.
~~~ Zu den Todesopfern aus dem Zug zählten der 38jährige Komponist und Evangelist Philip Paul Bliss und dessen Frau Lucy Jane, geb. Young, 35. Mister Bliss aus Pennsylvania, ein Sohn der Unterschicht, hatte sich in seiner Jugend ziemlich zeitgleich für Musik und Religion erwärmt. Nun zog er schon seit etlichen Jahren mit methodistischen oder presbyterianischen Erweckungs-predigern im Nordosten umher, schrieb viele fromme Lieder, teils auf eigene Texte. Als sein Waggon über die Brücke ratterte, hatte er vielleicht gerade über so etwas wie »Eine feste Burg ist unser Gott« nachgedacht. Den Gospelsong »Hold the Fort«, von Erzählungen des Majors Daniel Webster Whittle aus dem Bürgerkrieg angeregt, hatte er bereits geschrieben. Oder er beugte sich im Abteil gerade zu einem Kind vor, deutete mit dem Daumen auf seine eigene Brust und erklärte dem Kind unter Kopfnicken: »Jesus Loves Even Me«. So der Titel eines anderen Bliss-Liedes. Dann krachte es.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* NYT, 24. November 1878: https://query.nytimes.com/mem/archive-free/pdf?res=990CEED9153EE63BBC4C51DFB7678383669FDE
Blitz (Gewitter)
An dem hohen Lob, das der französche Maler Achille Etna Michallon (1796–1822) schon früh einheimste, hatte er keine lange Freude. Er war vor allem Landschafter. Von den unumgänglichen Reisen gen Süden abgesehen (Rom und Sizilien), arbeitete Michallon in Paris. Ein vom wenig älteren Berufskollegen Léon Cogniet geschaffenes Porträt zeigt einen Sinnenfreudigen mit zerzaustem dunklem Schopf – der ebendort, in Paris, mit knapp 26 einer Lun-genentzündung zum Opfer fiel. Cogniet dagegen wurde 86.
~~~ Ein undatiertes Ölgemälde Michallons, das heute im Louvre hängt, zeigt einen mächtigen knorrigen Laubbaum an einem Seeufer. Beim näheren Hinschauen stellt sich zweierlei heraus: der Baum wurde an einer Stelle zersplittert – und unter dieser Bruchstelle, dicht am Stamm, liegt eine weißgekleidete menschliche Gestalt mit weggestreckten Armen rücklings auf der Erde. Um die Theatralik voll zu machen, stehen auch noch zwei Männer bei ihr, die sich mit verzweifelten Gebärden gegenseitig die Härte dieses Schicksalsschlages bescheinigen. Das Werk wird meist La femme foudroyée genannt, Die vom Blitz getroffene Frau. Wer gern wettet, kann sein vergrabenes Bargeld darauf setzen: das Grüppchen war für Michallon nicht mehr als ein Vorwand, den Baum, das Licht und all das andere zu inszenieren, dem das Menschenlos völlig schnuppe ist.
~~~ Mit Bergführer Samuel Brawand kann ich natürlich nicht mithalten. Ihn traf der Blitz (1902) auf dem Gipfel des Wetterhorns. Ich erinnere mich aber gern an zwei eindrucksvolle Gewitter, die mir in der Literatur begegnet sind. Sie toben unweit einer Mühle in Horst Langes Roman Schwarze Weide, ferner in Tschechows Erzählung Steppe. Beim geringsten Gedanken an das letztgenannte Werk setzt der windige Vorbote des Gewitters die Laufdisteln in Gang. Man kennt sie vielleicht aus Italo-Western.
~~~ Mein Korbacher Erlebnis von 2002 ist allerdings auch nicht ohne. Ich saß wie jetzt beschäftigt am Tisch, damals noch per Schreibmaschine. Das Gewitter hatte sich unmittelbar über der Altstadt und damit meiner winzigen Kellerwohnung zusammengebraut. Durch die Finsternis krachten die ersten Donnerschläge. Plötzlich sah ich inmitten des Zimmers einen bläulichen Lichtpunkt vibrieren, wobei ein Knistern wie beim Abbrennen einer Wunderkerze zu hören war, nur erheblich kürzer. Gleich darauf krachte es wieder gewaltig. Doch sowohl meine Tischlampe wie mein Lebenslicht waren nicht erloschen.
~~~ Die »Blitzesschnelle« des Vorgangs hatte mir jede Angst erspart. Das wäre ein schöner Tod gewesen. Ich hätte ihn ohne Zweifel dem Dahinsiechen mit einer Lungenentzündung vorgezogen. Nach Jule Renards Eintrag vom 8. August 1899 wäre ich sogar ehrenvoll auf dem Schlachtfeld gefallen: des Schreibtischs. Meine Vermieterin hätte meine Manuskripte, einige freundliche Musterbriefe von Verlagen und die sogenannte Rentenerwartung, die mir damals noch jährlich von der Bundesversicherungsanstalt unterbreitet wurde, in die Altpapiertonne verfrachtet, damit nichts von mir verloren geht.
~~~ Brockhaus zufolge bin ich in Korbach einem Kugelblitz begegnet. Kugelblitze seien schon in etlichen Farben und in Größen zwischen Clementine und Kohlkopf beobachtet worden. Verschwänden sie nicht geräuschlos, könnten sie mit lautem Knall explodieren, ohne jedoch beträchtlichen Schaden anzurichten. Eine unstrittige Erklärung dieses Phänomens stehe noch aus.
~~~ Bedenken Sie allerdings, daß der Frühmensch, dem auch Michallon in diversen Ruinen nachspürte, überhaupt keine Erklärung solcher gewaltigen Wettererscheinungen besaß, ob die Blitze nun die Brandenhochburg der RentenräuberInnen zu spalten suchten oder wie tobsüchtige Schildkröteneier durchs Neandertal schossen. Es konnte sich nur um ein auf ihn gemünztes Strafgericht handeln. Schlauberger Kain lenkte es später mit Hilfe seiner Bronzeaxt kurzerhand auf Abel ab. Falls er schon eine besaß.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Siehe auch → Band 5 Vor der Natur, Lichtenberg
Obwohl er ein paar Zeilen im Brockhaus hat, ist der US-Komponist Marc Blitzstein (1905–64), wie ich fürchte, in Deutschland kaum bekannt. Sein krasses, vergleichsweise frühes Ende klammert das Lexikon aus. Blitzstein wuchs in einem gutbürgerlichen, wenn auch sozialkritisch gestimmten jüdischen Hause in Philadelphia an der US-Ostküste auf, studierte Klavier und Komposition, zum Teil in Europa, und lebte dann vorwiegend in New York City. Für etliche Jahre war er Mitglied und Aktivist der Kommunistischen Partei seines Landes und teilte deren SU-Hörigkeit, etwa den »Hitler-Stalin-Pakt« betreffend. Andererseits war der gutaussehende, dunkelhaarige Künstler mit dem kleidsamen Oberlippenbart zu klug und lebenslustig, um schon in seinen besten Jahren zu verknöchern. Einen Schwerpunkt seines Schaffens bildete das Musiktheater, wobei er sich unverhohlen an Brecht/Weill, Hanns Eisler, Clifford Odets und ähnlichen linksstehenden Erneuerern orientierte. Gleichwohl fand Blitzstein zu einer bemerkenswerten Originalität, die sich, neben Opern oder Musicals, auch in einigen Klavier- und Orchesterstücken ohne Gesang niederschlug. Seinen »Durchbruch« erzielte er 1937 unter dem Titel The Cradle Will Rock mit klassenkämpferisch-melancholischen Szenen aus »Steeltown«, zu denen er sowohl die Musik wie das Libretto und die Songtexte schrieb. Daraus stammt ein Lied, das im Internet sogar, unter anderem, mit der partitur-gerechten Orchesterbegleitung zu haben ist, eine nadelkratzende Rarität. Sie stammt aus einer Rundfunksendung von 1960. Der Song heißt Nickel Under the Foot und wird von der Straßendirne »The Moll« vorgetragen, in jenem antiquarischen Fall gesungen von Tammy Grimes.
~~~ Bei der Premiere des Musicals am Broadway (16. Juni 1937) war die Orchesterbegleitung aufgrund »höherer Gewalt« ausgefallen. Die staatlich subventionierten Produzenten hatten nämlich, von den Proben her, kalte Füße bekommen und die Eingangstür des gemieteten Theaters kurzerhand mit einem Vorhängeschloß versehen. Daraufhin organisierten die Einrichter des bissigen »stage cartoons« (so Blitzsteins Bezeichnung vier Jahre später), John Houseman und Orson Welles, telefonisch das nahegelegene Venice Theatre sowie ein Klavier und zogen mitsamt den genarrten Schauspielern und Zuschauer-massen ein paar Blocks weiter, um das Stück zu retten – und aus der Not eine Tugend zu machen, wie sich herausstellen sollte. Komponist Blitzstein bemühte sich selbst auf den Klavierhocker, während es dem Ensemble erspart blieb, Kulissen oder Instrumentenkoffer zu schleppen und Kostüme anzuziehen: sie lagen in dem verrammelten Theater. So unterschieden sich die KünstlerInnen äußerlich nicht im geringsten von dem mit arbeitslosen Musikern angereicherten Publikum, das ohnehin hart an der Rampe saß. Die mit einiger Verspätung begonnene Aufführung gewann eine knisternde Eindringlichkeit, die sich am Ende in »standing ovations« entlud.
~~~ In den zahlreichen Inszenierungen von The Cradle, die durch die Jahre folgten, wurde das schmucklose Muster aus der Premiere fast immer beibehalten. Eine davon (1939) sah am Piano den jungen Leonard Bernstein, mit dem sich Blitzstein für Jahrzehnte anfreundete. Andere enge Freunde waren die Kollegen Aaron Copland und David Diamond – alle drei homosexuell. Blitzstein selber hat aus seiner starken schwulen Neigung zumindest unter Verwandten und Bekannten nie einen Hehl gemacht, obwohl er es in seinen letzten Lebensstunden, mit 58 Jahren übel zusammengeschlagen in einem karibischen Krankenhaus liegend, möglicherweise unwillkürlich vorzog, Vizekonsul William Milam zu bitten, Blitzsteins Schwester Jo von einem »Autounfall« zu benachrichtigen, was dann zunächst auch in der Presse zu lesen war. Dies und vieles andere läßt sich Howard Pollacks umfangreicher und sorgfältig gearbeiteten Biografie von 2012 entnehmen. Man bedenke die Verhältnisse zu Blitzsteins Zeit – an schicke »Homoehen« war damals noch nicht zu denken. Dies dürfte auch zumindest ein Grund für Blitzstein gewesen sein, sich 1933 mit der Schriftstellerin Eva Goldbeck zu verheiraten. Ansonsten hatte Blitzstein, Pollack zufolge, im Laufe der Zeit etliche feste Liebhaber, ohne deshalb nun als Schwuler monogam zu leben. Allerdings trug dieser Umstand zur Verkürzung seiner Zeit bei, wie wir noch sehen werden.
~~~ Die 1901 geborene, jüdischstämmige Kritikerin und Übersetzerin Eva Goldbeck aus New York City hatte den charmanten Komponisten 1928 in einer Künstlerkolonie getroffen. Sie gab ihm in der Folge wesentliche künstlerische Anregungen, kam freilich mit eigenen erzählerischen Arbeiten nie zum Zug. Im Gegensatz zu Blitzstein, dem erklärten Schwulen, war Goldbeck, nach Pollack, offenbar geradezu undefinierbar gestimmt. Sie starb 1936 bereits mit 34 Jahren in einem Bostoner Krankenhaus. Die zierliche, braunhaarige, ausgesprochen gewissenhafte Schriftstellerin und starke Konsumentin von Kaffee, Zigaretten und Alkohol war seit mindestens 10 Jahren immer erschreckender abgemagert, litt zudem an Brustkrebs. Nach Einschätzung ihres Kollegen und Freundes Lewis Mumford und dessen Freund Henry Murray, bei dem sich Goldbeck 1935 in psychologische Behandlung begeben hatte, stand sie unter einer dicken zweiendigen Knute aus Narzismus und Masochismus, die sie gleichsam in die Selbstzerstörung trieb. Die unerreichbare Hauptquelle ihrer Enttäuschung und Gespaltenheit sei dabei vermutlich in ihrer Mutter Lina Abarbanell zu sehen. Die US-deutsche Opernsängerin (Sopran), die als Schönheit galt, soll gnadenlos in sich selbst verliebt und die entsprechende Rabenmutter für ihr einziges Kind gewesen sein. Die Tochter habe ihre ignorante Mutter zunehmend gehaßt – und dann in der Folge wohl das Weibliche in sich selber. Zuletzt habe es Goldbeck sehr wahrscheinlich auf einen »suicide from spite«, aus Trotz also angelegt, vermutet Murray. Zweck der Übung: die anderen, die einen nie genug beachtet und geliebt haben, sollen schuld sein.
~~~ Kommen wir auf Blitzstein zurück. Vor gut 20 Jahren wurde das unterhaltsame Drama um die New Yorker Cradle-Premiere auch von Tim Robbins ausgenutzt, der darüber oder daraus einen Kinofilm machte: Cradle Will Rock (deutsche Fassung: Das schwankende Schiff), USA 1999. Ob sich Robbins‘ Schilderung einigermaßen an die Tatsachen und den Geist von 1937 hält, kann ich nicht beurteilen, wenn ich auch von PJ Harvey her nur das Schlimmste befürchten kann. Die damals 30jährige britische »Alternative«-Sängerin steuerte zu diesem Werk, vermutlich auf Betreiben des für die Filmmusik verantwortlichen Ko-Produzenten David Robbins, eine Darbietung bei, die meisterhaft demonstriert, wie sich ein hochkarätiger Song mit einfachsten Mitteln dürftig und flach machen läßt. Obwohl das vordringlich eine Frage der Musik, der Gesangskunst und der Stimme ist, gebe ich bei dieser Gelegenheit den Text des Songs wieder, wobei ich mir keine Übersetzung zutraue. Ich nehme freilich an, Molls beißende Seufzer kreisen, mit dem Groschen unter dem Fuß (ein starkes Bild), um den vielgefächerten »Willen zur Macht«, der ja leider nicht nur Fabrikanten, PolitikerInnen und Mafiabosse, vielmehr alle Welt beherrscht, selbst Vergnügung suchende Seeleute in karibischen Hafenstädtchen.
~~~ >Maybe you wonder what it is / Makes people good or bad / Why some guy, an ace without a doubt / Turns out to be a bastard / And the other way about / I'll tell you what I feel / It's just the nickel under the heel. // Oh you can live like hearts and flowers / And everyday is a wonderland tour / Oh you can dream and scheme and happily put / And take, take and put / But first be sure / The nickel's under your foot. // Go stand on someone's neck while your takin' / Cut into somebody's throat as you put / For every dream and scheme's depending on whether / All through the storm / You've kept it warm / The nickel under your foot. // And if you're sweet then you'll grow rotten / Your pretty heart covered all over with soot / And if for once you're gay and devil-may-careless / And O so hot / I'll know you've got / That nickel under your foot.<*
~~~ Tatsächlich wurde der Urlauber Blitzstein nebenbei auch beraubt, nachdem er sich am Abend des 21. Januar 1964 auf der Suche nach Drinks und anderen Vergnügen ins Hafenviertel von Fort-de-France, Martinique, begeben hatte. Die drei jüngeren einheimischen Seeleute, die er aufgegabelt hatte, nahmen ihm in einer dunklen Seitenstraße Geldbörse und Uhr weg. Da sie ihm dafür einen tüchtigen »Denkzettel« verpaßt hatten, fand er sich im Krankenhaus der Inselhauptstadt wieder. Dort erlag er anderntags seinen schweren Verletzungen. Die Diebe und »fahrlässigen Totschläger«, die ihrem Opfer möglicherweise auch auf den »neck« getreten hatten, wurden gefaßt und kamen später mit wenigen Jahren Gefängnis davon. Nach Pollack hatte der Komponist schon immer betont »männliche« Liebhaber und den entsprechenden »harten« Sex bevorzugt, sodaß jetzt natürlich einige sagten: selber schuld. Andere sprachen von »Ironie«, sei der Komponist doch ausgerechnet »Typen« (bei Moll »Bastarde«) zum Opfer gefallen, für die er sich in seinen Werken, darunter (1954) eine sehr erfolgreiche englische Fassung von Brecht/Weills Dreigroschenoper, zeitlebens eingesetzt habe. Pollack hält dem entgegen, ein Grundzug des gesamten Schaffens und Wirkens von Blitzstein liege gerade im Protest gegen Brutalität in jeder Form.
~~~ Makabererweise wurde 1967 auch der Regisseur Jack Landau, den Blitzstein knapp 10 Jahre zuvor mit Musik zur Inszenierung zweier Shakespeare-Stücke beliefert hatte, von einem sehr ähnlichen Ende wie der Komponist ereilt. Man fand den erst 42jährigen in seiner Bostoner Wohnung erstochen und erdrosselt vor. Soweit ich erfahren konnte, war er »a hustler« zum Opfer gefallen, einem Stricher also. Doch für Blitzstein zählte mit Sicherheit auch der profitorientierte Betrieb von Baumwollspinnereien in Alabama (um 1900) zu jener Brutalität. Diese Fabriken tauchen in seiner bemerkenswerten, nach einem Stück von Lillian Hellman geschriebenen Oper Regina auf, wobei das Libretto auch einen an den Rollstuhl gefesselten »Gründervater« zu bieten hat, den die Titelheldin, seine Gattin, endlich loswird, indem sie ihm im rechten Augenblick die Arznei gegen seine Herzattacke verweigert. Wer hier an Seifenoper denkt, liegt nicht völlig falsch. Trägt Tochter Alexandra, im heiratsfähigen Alter, ihre Arie »What will it be for me« vor, möchten einem gleichzeitig Tränen der Belustigung und der Ergriffenheit kommen. Im Vergleich zu diesem Kleinod, das zum millionsten Male die große erste Liebe besingt, stellen sich Wagners »Winterstürme wichen dem Wonnemond« (aus dem Ring) als plumpes Wanderlied dar. Das ganze Werk ist eine Opernparodie, die sich auf höchstes Opernniveau schwingt. Zwar zieht Blitzstein dabei alle ihm je zu Ohren gekommenen Musikstile heran, vom Wiener Walzer über Polka und Ragtime bis zum Rap (1949!), doch er versteht es irgendwie, sie gerade wie in einer cotton mill zu einem homogenen eigentümlichen und betörenden sound zu verweben, den es bis dahin noch nicht gegeben hat. Tatsächlich sagte er zwei Jahre vor seinem Tod, in einer Fernsehsendung von 1962, wenn er irgendetwas sei, dann ein »amalgamator, a kind of musical amalgamator.«
~~~ Doch ich drohe mich zu verzetteln. Das letzte und beste Wort hat Patti LuPone als „Moll“ aus einer von John Houseman geleiteten Cradle-Produktion der Acting Company von 1985. Rufen Sie im Internet https://www.youtube.com/watch?v=KqzeTwrWA8M auf, die Mühe lohnt sich.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024
* Mein Wortlaut folgt dem (angeblichen) Original-Manuskript von 1936, Szene 7, dem offenbar auch LuPone treu bleibt, von ihrem letzten »the nickel« abgesehen.
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