Freitag, 3. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 5
Balogh – Bienen
Balogh – Bienen
ziegen, 14:22h
Der süddeutsche Fußballer Fritz Balogh (1920–51), meist als torgefährlicher »Halblinker« aufgestellt, hatte seit Kriegsende beim Oberligisten VfL Neckarau gespielt, einem erfolgreichen Mannheimer Vorortclub. Mit eben diesem Verein am Abend des 14. Januar 1951 auf der Rückreise von einem Auswärtsspiel beim FC Bayern München, fiel (oder sprang) der 30jährige Stürmer aus unbekannten Gründen in der Nähe des Bahnhofs Nersingen (bei Ulm) aus dem fahrenden Zug und war vermutlich auf der Stelle tot. Nach einem Gedenkartikel* von 2011 hatte er einen Schädelbasisbruch erlitten. Man nahm zunächst einen von niemand beobachteten Unfall an, doch niemand weiß Genaues: Baloghs buchstäblicher Fall ist, zumindest für Scheerer, bis heute ungeklärt.
~~~ Leider gibt der Artikel des Sportredakteurs keinen Hinweis auf die damalige Gemütsverfassung des 30jährigen. Balogh habe zuletzt mit seinen Kameraden im Speisewagen gesessen und diesen (vielleicht zum Austreten) verlassen. Als sie ihn bald darauf, beim Eintreffen in Ulm, vermißten, setzte die Bahnpolizei eine Suche in Gang und fand nur noch Baloghs Leiche neben den Gleisen, etwa 700 Meter vom Nersinger Bahnhof entfernt. So blieb es bei der bekannten nichtssagenden Formel vom »tragischen Unfall«, über die, soweit ich sehe, auch die Mannheimer Lokalpresse zum Thema Balogh nie hinausgekommen ist.
~~~ Keine zwei Monate vor seinem Tod hatte Balogh die Ehre des ersten Länderspiels gehabt. Der kleingewachsene, aber enorm flinke und trickreiche, auch hübsche junge Fußballer, der in Neckerau mit Frau und Tochter lebte, war vor allem in Süddeutschland beliebt und gefeiert. Bundestrainer Sepp Herberger soll große Stücke auf ihn gehalten haben. Von daher kann Balogh kaum abgrundtief enttäuscht gewesen sein. In München hatte es allerdings, an jenem klirrend kalten Januartag, ein 3:5 gesetzt. Angenommen, Balogh hatte in München einen Elfer verschossen. Dann gab es im Speisewagen wahrscheinlich nicht viel zu lächeln.** Wäre das jedoch ein hinreichender Grund sich umzubringen? Diesbezüglich sollte man eher an Krankheit oder Familienunglück denken, ob das Herz oder den Geldbeutel betreffend. Nur schweigen Familien, nach allen Erfahrungen, in solchen Fällen wie ein Grab.
~~~ Was die polizeilichen Ermittlungen angeht, erwähnt Scheerer lediglich eine »pathologische Untersuchung«. Anscheinend wies sie den Schädelbruch nach – und sonst nichts? Daneben wüßte man natürlich gern, ob sich die Polizei zum Beispiel auch den Zug vornahm. Standen Fenster oder Türen offen? War eine Türverriegelung defekt? Gab es Zeugen? Selbst ein Mord ist ja nicht völlig ausgeschlossen. Möglicherweise hatte Balogh Feinde oder aber eine zufällige Begegnung im Zug, die zu einem handfesten Streit ausartete. Von alledem ist nirgends etwas zu hören. Sollten die Ermittlungen so schlampig erfolgt sein, wie zu befürchten steht, hätte der damals zuständige Staatsanwalt sicherlich keine Straße verdient.
~~~ 1949 hatte Balogh, der hauptberufliche Fußballer, gemeinsam mit seiner Frau im Hauptbezirk seines sportlichen Wirkens ein Toto-Lotto-Geschäft eröffnet. Dieser Familienbetrieb kann eigentlich nicht hoch verschuldet gewesen sein, denn er überdauerte bis heute.*** Ende 1982 zog Baloghs Tochter die Hülle vom Straßenschild des soeben gekürten Baloghwegs, wie sich einem Foto aus einem Mannheimer Blatt entnehmen läßt. Dieser Weg stößt in Neckarau rechtwinklig auf den Rhein. Wer sich wegen der erbärmlichen Entwicklung im Profifußball ertränken wollte, brauchte nur in den Baloghweg einzubiegen und immer geradeaus zu gehen.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Wolfgang Scheerer, »Das Rätsel um den Todessturz des Nationalstürmers«, Südwest Presse, 20. Januar 2011
** Porträtfoto bei 11 Freunde: https://11freunde.de/artikel/einer-flog-durch-neckarau/404401
*** Neckarau Almenhof Nachrichten vom 10. Juli 2009, Seite 10
BAM (Bund für die Abdankung der Menschheit)
→ Band 5, Erzählung Folgen eines Skiunfalls (mit Gründungsmanifest)
Bamberski, Kalinka (1967–82), mutmaßliches Mordopfer in Lindau am Bodensee. Hier war es, anders als etwas früher (1980/81) im Fall Anna → Bachmeiers, der Vater, der den Tod seines Kindes zu »rächen«, vielleicht auch nur »Gerechtigkeit« suchte. Ob ihn die Schüsse der Mutter Annas im Lübecker Gerichtssaal zu seinem immerhin nicht Tod bringenden Schritt der »Selbstjustiz« anregten, habe ich nicht herausbekommen. Im Gegensatz zu Marianne Bachmeier mußte er allerdings eine Riesengeduld aufbringen.
~~~ Die 14jährige Tochter Kalinka des Franzosen André Bamberski, eine hübsche, sportliche, langhaarige Blondine mit blauen Augen, hatte ihre letzten Sommerferien (1982) bei ihrem damals 47 Jahre alten Stiefvater Dieter K., einem Arzt, in Lindau am Bodensee verbracht. Dort starb sie, unter fragwürdigen Umständen von K. behandelt, angeblich in ihrem Bett. Krank war sie nicht gewesen. Bamberski, ihr leiblicher Vater, damals 45, wohnhaft in Toulouse, argwöhnte bald nach der Obduktion sexuellen Mißbrauch und, zwecks dessen Vertuschung, Mord. Auch bei der Obduktion, wahrscheinlich von Arzt K. nicht unbeeinflußt, war offensichtlich nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Dennoch ordnete die deutsche Justiz die Einstellung der Ermittlungen an und schmetterte auch ein Klageerzwingsverfahren von Bamberski ab. Nun war die groteske, wenn auch völlig normale Lage so, daß K. in Frankreich hätte verfolgt und verurteilt werden können, weil Kalinka Französin war. In der Tat kam es, auf Betreiben Bamberskis, zunächst (1985) zu einer zweiten Obduktion (bei der die Entfernung von Kalinkas Geschlechtsteilen aufgedeckt wurde!*), dann sogar zu Anklage und Verurteilung: 15 Jahre Gefängnis und hoher Schadenersatz – allerdings nur in Abwesenheit des Angeklagten, denn Deutschland hatte sich gehütet ihn auszuliefern. Das Urteil erging 1995, geschlagene 10 Jahre nach der zweiten Obduktion. Doch nun erkannten die deutschen Behörden auch dieses Gerichtsurteil insofern nicht an, als sie sich, mit üblicher spitzfindiger Begründung, zu seiner Vollstreckung außerstande erklärten. Dies alles zog sich hin und hin. Warum der zwielichtige Mediziner so beflissen und nachhaltig gedeckt wurde, kann auch Hammer nur mutmaßen.* Als sich K. schließlich (2008/9) mit Plänen zu tragen schien, nach Afrika zu entweichen, und zudem die Verjährung des französischen Urteils gegen ihn drohte, platzte dem inzwischen rund 70jährigen Buchhalter Bamberski der Kragen. Er heuerte Fachleute an, die den mutmaßlichen Mörder seiner Tochter nach Mülhausen im Elsaß entführten und im gefesselten und geknebelten Zustand sozusagen vor die Treppe des dortigen Zollamts warfen.* Prompt wurde K. nach Paris überstellt und erneut angeklagt. Das 2011/12 gesprochene Urteil gegen ihn blieb im wesentlichen das alte: 15 Jahre. Freilich ließ man auch den pensionierten Buchhalter und nebenberuflichen Freischärler Bamberski nicht völlig ungeschoren. Ein Mülhausener Gericht brummte ihm, wegen der Entfüh-rung, im Sommer 2014 ein Jahr mit Bewährung auf.**
~~~ Da möchte mancher vielleicht mit einem Schmunzeln zum nächsten Fall übergehen, doch ich will mir zwei Hinweise erlauben. Zum einen: Bei dieser Posse kam ein knapp 15jähriges Mädchen um. Wobei es wahrscheinlich auch noch gequält worden war. Stiefvater und Mediziner K. hatte sich übrigens während der 1990er Jahre noch mit weiteren Vorwürfen auseinander zu setzen, etwa wegen Vergewaltigung einer anderen Minderjährigen, Mißhandlung seiner ersten Ehefrau und jüngster illegaler Berufsausübung.* Er kam freilich auch in diesen Fällen glimpflich davon. Nebenbei ist er soeben, 202o, als 84jähriger aus Krankheitsgründen von der französischen Justiz auf freien Fuß gesetzt worden.
~~~ Zum zweiten: in einer wirklich freien Republik hätte sich die Tonnen an Kraft und Volksvermögen verzehrende Posse weitgehend erübrigt. Weder sogenannte Vorschriften und Amtswege noch eine sogenannte Staatsangehörigkeit spielen in dieser Republik, die mir vorschwebt, eine Rolle. Entscheidend sind die allgemeinen moralischen Grundsätze sowie die Betroffenen eines Falls, immer auch durchmischt mit Unbefangenen. Und selbstverständlich werden sie rasch bemerken, dieser Dieter K. hat keine saubere Weste und muß folglich zur Rede gestellt werden. Erhärtet sich der Verdacht bis hin zu dem Konsens aller Beteiligten, er habe eine schändliche Tat vollbracht, wird K. zur Besserung und Wiedergut-machung aufgefordert. Er zeigt sich allerdings hartnäckig uneinsichtig? Also kommen wir nicht umhin, die Republik vor ihm zu schützen. Ihn nach Frankreich zu jagen, wäre selbstverständlich eine Schweinerei, weil er dort über kurz oder lang das nächste Mädchen in die Falle locken wird. Einsperren verbietet sich aber ebenfalls, weil wir uns diese enormen Kosten der Bewachung und Versorgung gar nicht leisten können. Ergo ..?
~~~ Sollten sich ein paar der Beteiligten wohl oder übel zu einer Tötung gezwungen sehen, werden sie diese selbstverständlich so rasch und schmerzlos wie möglich vornehmen. Die Folterer, das sind zum Beispiel jene PolitikerInnen und Bürokraten, die jeden Tag 20 Gesetze über Staatszugehörigkeiten, Amtswege, Behörden-formulare und Strafmaße erlassen. All diese Hürden, die sie aufbauen, verfolgen im wesentlichen nur zwei Zwecke: denen, die an den Hebeln sitzen, das schöne Gefühl der Machtausübung zu ermöglichen; den Kleinen Leuten dagegen das Leben so sauer und schwer wie nur möglich zu machen. Zu diesen Hürden zählt letztlich auch der ganze Apparat demokratischer Rechts- und Gefangenen-fürsorge, wie ich betonen möchte. Vor allem entbindet er den »Staatsbürger« von jeder Eigenverantwortung. Sodann verwandelt er die Hürden, die zu antiken Zeiten immerhin noch zählbar waren, in einen undurchdring-lichen Dschungel, der restlos alles Leben erstickt. Auf diese heiklen Fragen werde ich unter → Recht ausführlich zurückkommen.
~~~ Ich höre den Einwand, die Ächtung der Todesstrafe in vielen postmodernen »Demokratien« sei doch auch der erwiesenen Gefahr des Irrtums und der Unwiderruflichkeit des Todes geschuldet. Aber dieser Einwand ist nur auf den ersten Blick stark. Ich glaube nämlich daran, in einer Freien Republik überschaubaren Ausmaßes wäre die Gefahr des Irrtums viel geringer, weil die Republikaner-Innen erheblich aufgeklärter, sorgsamer und lebensklüger wären als die Bande der Bürokraten und Rechtsverwe-serInnen, mit der man es in Molochen wie Deutschland und Frankreich zu tun hat. Ihr gegenüber muß man sicherlich an der Ächtung der Todesstrafe festhalten. Diese Bande ist zu allem fähig. Im übrigen sind die Rechtsauffassungen, die ich hier einzuschieben wage, ohnehin rein spekulativ, weil »Freie Republiken überschaubaren Ausmaßes« nur in den Sternen stehen. Greift ein Untertan des Molochs zur »Selbstjustiz«, hat es weder Methode noch stellt es eine vorbildliche Lösung dar. Es ist seine aus Knechtschaft und Gewissensnot erfolgte persönliche Verzweiflungstat. Hammer beschreibt ziemlich gut, was Bamberski durchzumachen hatte. Nebenbei hätte ihn sein Widerstand auch in finanzieller Hinsicht fast ruiniert.
~~~ Gewiß werden zuweilen noch heute PolitikerInnen oder RichterInnen des Molochs dafür gelobt, sie hätten ein Problem erfreulich »unbürokratisch gelöst«. Aber auch das wird sich in wenigen Jahrzehnten erübrigt haben. Es wird dann nämlich keine PolitikerInnen und RichterInnen mehr geben, vielmehr nur noch Roboter – also Computer-programme, die den Drahtziehern des Ganzen hörig sind. Diese Roboter werden dann entscheiden, ob ein Begehren des Staatsbürgers den Vorschriften entspricht oder nicht. Sie lachen vielleicht? 2050 sprechen wir uns wieder.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Joshua Hammer, »The Kalinka Affair«, The Atavist Magazine, no. 13, März 2012: https://magazine.atavist.com/the-kalinka-affair
** Stefan Brändle, https://www.derstandard.at/story/2000002123831/fall-kalinka-vater-in-mulhouse-wegen-selbstjustiz-verurteilt, 18. Juni 2014
Als Objekt der Begierde solcher Geistesgrößen wie Karl Marx, Michail Bakunin, Alexander Herzen hätte ich mich bereits beim ersten Kuß mit Grausen von ihnen abgewandt. Ihre Gesichter bestanden im wesentlichen aus Gestrüpp, genannt Vollbart. Das ist Brockhaus keineswegs unbekannt: im Vormärz, um 1830, seien Gestrüppe im Gesicht »Zeichen revolutionärer demokratischer Gesinnung« gewesen. Allgemeiner habe der Bart schon immer als Zierde, Symbol der männlichen Kraft oder als Herrschaftszeichen gegolten. Nur die Mode, wie man ihn trug oder nicht trug, wechselte wie Ebbe und Flut. Sogenannte Würdenträger trugen ihn in der Regel. »Noch im Mittelalter schwor man beim eigenen Bart wie der Muslim beim Bart des Propheten.« Neben jenen Störungen des zärtlichen Miteinanders fehlt Brockhaus freilich auch der Blick für den Bart als Versteck oder auch nur Tarnung. Ich habe schon Frauen ausgeschimpft, weil sie zwar Sonnenbrillen haßten, nicht jedoch Bärte. Ich pflege mit solchen muslimisch verhüllten Zeitgenossen schon seit Jahrzehnten kein Wort mehr zu sprechen. Deshalb bin ich so einsam …
~~~ Erstaunlicherweise sind die Techniken der Verweigerung uralt. »Schon der steinzeitliche Mensch verwendete entsprechende Feuersteingeräte zur Abnahme und Pflege des Bartes.« Na also. Schlägt man freilich in Band 18 unter »Rasieren« nach, sitzt man hinsichtlich der entsprechenden Kriminalgeschichte noch immer auf dem Trockenen. Das Rasiermesser hat noch nicht einmal ein eigenes Stichwort. Dabei füllt es, in Mörderhand betrachtet, sicherlich schon ganze Bibliotheken. Und was Selbstmorde angeht, fallen mir allein aus dem 19. Jahrhundert auf Anhieb drei angeblich bedeutende Personen ein, die sozusagen über das Rasiermesser stolperten.
~~~ Der britische Marineoffizier und Naturwissenschaftler Robert FitzRoy (1805–65) soll bereits auf dem Forschungsschiff HMS Beagle, das durch Charles Darwin berühmt wurde, ein Ekel gewesen sein. Er war der Kapitän. Als schon gebrechlicher 59jähriger schließlich, im Londoner Marineministerium bei der Postenvergabe übergangen, auch im Meteorologischen Amt unter Druck geraten und wegen seiner unhaltbaren Wettervorhersagen geradezu gehänselt, verfiel er wieder einmal jäh in Trübsinn – und »Raserei«, wie Darwins Biografen Adrian Desmond / James Moore* behaupten. »Am Sonntag, dem 30. April [1865], schnitt er sich in einem Anfall von Verzweiflung im Badezimmer die Kehle durch.«
~~~ Den streng genommen nur mutmaßlichen Rasiermesser-Selbstmord des ansonsten eher langweiligen österreichischen Malers und Schriftstellers Adalbert → Stifter (1805–68) habe ich erst kürzlich im Zusammenhang mit seiner früh verstorbenen Stieftochter Juliane gestreift.
~~~ Damit noch zu einem weiblichen Rasiermesser-Opfer. Die Pariser gelernte Malerin aus wohlhabendem Hause Constance Mayer (1775–1821) war, nach einigen Ausstellungserfolgen, um 25 Förderin, Schülerin, Partnerin und Geliebte von Pierre Paul Prud'hon, einem 17 Jahre älterern Künstlerkollegen geworden, der von seiner Gattin getrennt lebte. Mayer bahnt ihm nun Wege zu Napoleons Kaiserhof, wodurch er zum gefragten Porträtisten betuchter, meist blaublütiger Leute wird. Das »revolutionäre« Jakobinertum hatte sich der unpolitisch gestimmte Prud'hon, soweit ich weiß, ohnehin nie auf die Fahnen geschrieben. Als seine Gattin um 1800 wegen (angeblichem) »skandalösem Verhalten« in einer Irrenanstalt landet, kümmert sich Mayer auch um Prud'hons fünf Kinder und den Haushalt. Sie haben Atelierwohnungen im selben, staatseigenen Gebäude der Sorbonne und können so, als »Kollegen«, die Form wahren. Gleichwohl wird meist angenommen, Mayer wäre gern offiziell Frau Prud'hon geworden. Doch der prominente Maler sträubt sich; er heiratet sie selbst nach dem Tod seiner weggesperrten Gattin nicht. Wahrscheinlich hatte Mayer zudem ihr Schattendasein als Künstlerin erbittert, firmierte doch ihre beträchtliche künstlerische Mitarbeit zumeist unter »Prud'hon«, weil das einträglicher für die gemeinsame Kasse und den Ruhm ihres Geliebten oder Gebieters war. Ferner heißt es in einigen Quellen, auf Betreiben kirchlicher Kreise habe das Kultusministerium Prod'hon oder beiden Künstlern, um 1820, das Atelier gekündigt.
~~~ Wer sich auf Mayers grauenvolle Weise umbringt, muß jedenfalls verzweifelt sein. Nach allen Quellen hinterließ die 46jährige anscheinend keine Erklärung, als sie sich an einem späten Vormittag im Mai 1821 nach Verabschiedung einer Schülerin in ihrer Atelierwohnung mit Prud'hons Rasiermesser, wie die englische Wikipedia versichert, die Kehle durchschnitt, während Prud'hon sogar im selben Hause weilte. Knapp zwei Jahre darauf, mit 64, stirbt dieser ebenfalls – ob an gebrochenem Herzen oder schlechtem Gewissen ist umstritten. Allerdings halte ich es auch nicht für ausgeschlossen, schon Mayer habe ihrerseits unter Gewissensbissen gelitten: wegen der erwähnten Abservierung von Prud'hons Gattin, über die sich keine näheren Angaben finden.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023
* Desmond / Moore, Darwin, 1991, hier deutsche Ausgabe Reinbek 1994, S. 599
Barta, Max († 1990) und Toni. Wanderkarten von Nordhessen kennen ihr Haus genau – Haus Rübezahl. Es liegt als einziges festes Gebäude auf dem rund 300 Meter hohen Wartberg, der mit einigen schroffen Basaltfelsen vor bürstigem Gehölz gen Fritzlarer Dom schaut. Ihm vorgelagert ist ein stärker bewaldeter Hügel mit dem Gruselnamen Leichenkopf, an dessen Fuß ich Bott zuliebe die »Kommune Emsmühle« angesiedelt habe. Zu ihr unterhält mein Snooker spielender Zeitungszusteller aus Gudensberg gute Beziehungen. Einmal ist er dem Kasseler Landrichter, Jäger und gutbetuchtem Reaktionär Horst Kallenbreuer auf den Fersen. Ihn quartierte ich schweren Herzens im Haus Rübezahl ein. Später, in meiner Erzählung »Schnitzeljagd mit Leichenschmaus«, durfte es, angemessener, das Domizil der Kunstmalerin Ortrun Kramm abgeben.
~~~ Das schlichte eingeschossige Haus mit überdachter Terrasse und einem Walmdach, das unterhalb jener Felsen aus hohen wildwachsenden Hecken lugt, war um 1950 von zwei bitterarmen Leuten errichtet worden, die es sich buchstäblich vom Mund abgespart hatten: Toni und Max Barta. Das Ehepaar stammte aus Mähren. Ich lernte es im Gefolge meiner Mutter als Knirps kennen. Max war ein Hüne mit kantigem Schädel. Lachte er wiehernd, galoppierten seine buschigen, blonden Augenbrauen. Trotz seiner blauen Augen und seines Mutes hatte er nichts Herrisches. Im Gegensatz zu ihrem Gatten war Toni Barta ziemlich dick. Sie hatte einen Kropf und Wasser in den Beinen. Schlurfte sie durchs Erdgeschoß ihres unfertigen Hauses – Keller und Dachgeschoß betrat sie nie – nahm sie stets die Möbel, Wände, Türklinken als Geländer. Sie atmete schwer, seufzte und wehklagte viel – aber niemals hätte sie sich mit ihrer hohen, singenden Stimme über den lieben Gott beschwert.
~~~ Obwohl im Haus Rübezahl ständig Geldnot herrschte, glaube ich nicht, daß sich die Bartas jemals ernsthaft stritten. Vielleicht erhielten sie eine kleine Rente. Jeden überzähligen Groschen steckten sie in ihr bescheidenes Heim, das über Jahrzehnte hinweg einer Baustelle glich. Bis zuletzt fehlten hier Scheuerleisten, dort Kacheln; im Dachgeschoß auch die Zimmertüren. Für elektrischen Strom mußte ein Generator sorgen. Fehlte das Geld für dessen Reparatur, brannte in der Küche eine Petroleumlampe. Überall Unaufgeräumtheit und Armseligkeit. Seine Besorgungen und Aufträge erledigte Max mit Hilfe eines klapprigen Fahrrades, das er sicherlich mehrere tausend Male den Wartberg hinaufschob. Allerdings konnten die Bartas einen gewissen Teil ihrer dürftigen Einkünfte stationär erzielen, nämlich durch einen kleinen Ausschank. Max hielt Limonade, Kekse, auch Flaschenbier bereit; Toni backte Kuchen und kochte Kaffee. Es handelte sich dabei keineswegs um eine richtige Gastwirtschaft. Aus den umliegenden Dörfern kam mal ein Bekannter auf ein Bier vorbei; aus Fritzlar, Warburg, Kassel machten die eingeweihten Wandervögel bei den Bartas Rast.
~~~ Tatsächlich steht der Wartberg schon seit Jahrzehnten unter Naturschutz. Zum Beispiel hat er die winzige, pinkfarbene Heidenelke, den stolzen Rotmilan und manchen Neuntöter zu bieten. Der Panoramablick über die Herzgegend des Chattengaus kommt hinzu. Die Chatten waren die ersten Hessen. Sie saßen zwischen Gudensberg und Niedenstein. Auf dem Wartberg hätten sie, wenn es nach mir gegangen wäre, die Flagge Vergeßt die Nationen! Nie wieder Krieg! gehißt. Max Barta hätte das Fahnentuch bemalen können. Geboren 1900, hatte er in Wien Maschinenbau und Gebrauchsgrafik studiert. Vor dem Zweiten Weltkrieg soll er zu den führenden mährischen Werbegrafikern gehört haben, wie Wikipedia zu entnehmen ist. Verwundet aus Breslau gerettet, hielt sich Max vor allem als Schildermaler und Schaufenstergestalter über Wasser. Als Künstler versuchte er sich auch. Er schnitzte Bergschrate aus Holz und malte schlesische Tannen oder nordhessische Dorfkirchen in Öl. An der östlichen Giebelwand seines Hauses gravierte er – wie hätte es anders sein können – einen überlebensgroßen Rübezahl in den weißen Verputz. Mit dickem Knotenstock und wehendem rotem Bart stapft der Sagenumwobene zu Tale. Hat er den Fritzlarer Dom angepeilt – oder wird er bereits bei den Anarchisten in der Emsmühle einkehren?
~~~ Bei aller unkonventionellen Lebensweise waren die Bartas doch sehr fromm. Von daher erklärt sich auch ihr letzter betrüblicher Schritt, ihre Bleibe, bevor sie (1989/90) starben, nicht meiner Mutter, vielmehr der Katholischen Kirche zu vermachen. Meine Mutter Hannelore hatte davon geträumt, Haus Rübezahl in ein kleines Wohnheim für Geistig Behinderte zu verwandeln. Den Bartas war sie über Jahrzehnte eine Art Tochter gewesen, die half, wo sie konnte, aber auch umgekehrt manchen Trost empfing. Auf ihr Betreiben hatte Max Barta natürlich auch das riesige Schild gemalt, das unser Geschäft am Gudensberger Untermarkt unübersehbar machte. Rot auf Gelb, vielleicht auch umgekehrt, zog sich da Rudolf Reitmeier / Rundfunk & Fernsehen über die Ladenfront. Jedenfalls hat es sich im Lauf meiner Kindheit in ein rotes Tuch verwandelt.
~~~ Meine Mutter trennte sich von ihrem Mann, als ich acht oder neun war. Sie kam, mit ihren beiden Söhnen, bei ihren Eltern in Kassel-Bettenhausen unter. Gelegentliche Besuche der Söhne beim Vater erübrigten sich bald, war es doch offensichtlich, daß er sich nicht gerade brennend für sie interessierte.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Bashkirtseff, Marie (1858–84), Hundeliebhaberin, Malerin und Schriftstellerin aus südrussischem Landadel, sucht Linderung in Frankreich, stirbt aber dort, erst 25, an Tuberkulose, von der sie seit Jahren geplagt worden ist. Ihr Tagebuch gilt als »Kultbuch«. Zu den Bewunderern der möglicherweise leicht prunk- und ruhmsüchtigen Dame* zählen vor allem Frauen, aber auch Schriftsteller wie der Londoner Zoologe und MS-Kranke Barbellion. Ich kann ihr literarisches Werk nicht beurteilen, räume aber gerne ein: höre ich »Kultbuch«, sträuben sich mir automatisch die Haare wie einem Dachs, der statt eines Wachtelgeleges einen Sack mit Eierkohlen wittert. Als Malerin gelangen Bashkirtseff wahrscheinlich ein paar Treffer, etwa das in ihrem Todesjahr entstandene Ölgemälde Das Treffen.** Jedenfalls strahlt dieses Werk, auf dem ein paar Knirpse vor einem Bretterzaun irgendeine wichtige Frage erörtern, mehr Poesie aus als beispielsweise → Degenhardts Roman über einen antifaschistischen Kinderclub Zündschnüre. Im übrigen sollte man bei frühverstorbenen Künstlern grundsätzlich auf der Hut sein – eben, weil ihnen die Lebenskürze gern bedeutungssteigernd angerechnet wird. Mögen sie selbst Stümper sein: das in statistischer Hinsicht weggefallene Leben reißt ihr Stümpertum mit in den Abgrund. Für Glanz sorgt dann ihr Ruf – den zu schaffen sie selber leider nicht mehr die Zeit fanden.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Mausoleum in Paris: https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Bashkirtseff#/media/Datei:Bashkirtseff-grave.jpg
** https://de.wikipedia.org/wiki/Marie_Bashkirtseff#/media/Datei:Bashkirtseff_-_The_Meeting.jpg
Bastian, Gert → Kelly
Begich, Nick → Luftfahrt, Mysterien
Behälter
Der Instrumentenbauer und Erfinder Hippolyte Pixii (1808–35) wirkte in Paris, wo er allerdings aus überall eisern verschwiegenen Gründen schon als 26jähriger seinen Geist aufgegeben haben soll. Ein Bildnis zeigt ihn mit enormem Backenbart als Ausgleich für seine gewaltige Stirnglatze – hier nutzten ihm somit seine Talente nichts. Hippolyte gilt vor allem als Schöpfer des Urtyps brauchbarer elektromagnetischer Generatoren. Abbildungen seiner ersten Ausführungen dieser Maschine erinnern verdächtig ans Fallbeil: als »Guillotine« bekanntlich die Mordmaschine der kaum verstrichenen Französischen Revolution. Hoffen wir, der Instrumenten-bauer erlitt keinen tödlichen Arbeitsunfall – nach dem Muster »Die Revolution frißt ihre Kinder«. Hier deutet sich also der sowohl mörderische wie selbstmörderische Charakter moderner Technik überhaupt an. Da muß man aber sofort eine Beteuerung einflechten – gerade so, wie zahme KritikerInnen der Corona-Notstandsregime stets versichern, sie nähmen das Virus durchaus ernst; die Gefahr sei furchtbar. Unfug ist sie. Die Gefahr sind die verlogenen Notstandsregime. Man hat also gefälligst zu beteuern, man sei nicht grundsätzlich gegen Technik. Sie habe auch ihr Gutes.
~~~ Wenn mich das Virus verschont, nehme ich vielleicht noch in diesem Jahrzehnt eine umfangreiche Kultur-geschichte der Behälter in Angriff. Man unterschätzt die Rolle der Behälter oft. Jost Herbig wies zum Beispiel auf den revolutionären Akt des Frühmenschen hin, Tragbeutel zu erfinden. Damit konnten Nahrungsmittel nicht nur bevorratet, sondern auch besser ver- und geteilt werden. Mit dem Anthropologen Owen C. Lovejoy nimmt Herbig sogar an, die Herausbildung des Aufrechten Ganges verdanke sich wesentlich dem Wunsch, die Hände zum Tragen frei zu bekommen.* Man sieht daran, Herbigs Blick war nicht auf das Militärische, sondern auf das Soziale geheftet. Aber die sogenannten WissenschaftlerInnen gruben weiterhin begeistert die Faustkeile und Bronzeäxte aus. Beutel, aus Rinde oder Leder, hätten sie auch schwerlich ausgraben können: die waren längst verrottet.
~~~ Lewis Mumford stellte die wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritte heraus, die zwischen 1100 und 1800 allein durch die Herstellung zweckmäßiger Behälter erzielt worden seien. Es handele sich sowohl um Behälter »für den Hausgebrauch, wie Töpfe, Pfannen, Säcke und Tonnen, als auch solche für kollektiven Gebrauch, wie Kanäle und Schiffe. Daß Behälter Kraft übertragen können, wie ein Mühlengraben, oder Kraft nutzbar machen, wie ein Segelschiff«, sei gleichfalls weithin übersehen worden.** Somit erstreckt sich der Bereich der Behälter für Mumford über die in allen mir bekannten Nachschlagewerken anerkannten Kisten und Krüge hinaus. Ich würde in meinem Werk sogar noch weiter gehen. Für mich stellen auch Mietshäuser, Flugzeugträger, ganze Städte, Nationen oder sogenannte Vaterländer, aber auch Begriffe, wissenschaftliche Systeme und Vorurteile Behälter dar. Man könnte dem Menschen geradezu ein zwanghaftes »Behälterdenken« bescheinigen; ohne alles und jedes in seinen vorschriftsmäßigen Behälter zu stecken, finde er sich offenbar nicht in der Welt zurecht. Möglicherweise ein echtes »tragisches« Unterfangen, wenn man die Ambivalenz aller Behälter bedenkt. Sie behüten ihren Inhalt; beengen, fesseln, verbergen ihn aber auch. Im Falle von Atomreaktoren verbergen sie ihn so lange, bis er explodiert. Entsprechend bieten Formen uns Außenstehenden an, sie zu bewahren oder sie zu zerstören. Krieger und Dadaisten haben das schon immer gewußt.
~~~ Die gängigen kosmologischen Vorstellungen sperren gleich das gesamte Universum ein – es gibt ja auch dehnbare Behälter, siehe jenen Tragbeutel aus Leder. Andererseits übersteigen unfestgelegte Phänomene wie »Unendlichkeit« oder »Ewigkeit« entschieden unser Fassungsvermögen. Wir sind das abgrenzende Tier. Wir sind das sich selbst fesselnde Tier.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Jost Herbig: Im Anfang war das Wort, 1984, Ausgabe München 1986, bes. S. 41 und 52
** Lewis Mumford: Mythos der Maschine (Originalausgabe 1966/1970), 2. deutsche Ausgabe Frankfurt am Main 1977, S. 499/500
Angeblich trat Marion Zioncheck (1901–36), studierter Jurist, Rechtsanwalt, »demokratischer« US-Politiker, Kongreßmitglied in Washington D.C., vor allem für die Kleinen Leute ein. Wie sich versteht, unterstützte er denn auch die beschäftigungspolitischen New-Deal-Maßnahmen des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt. Sie waren der »Großen Depression« des stets von Krisen geschüttelten Kapitalismus geschuldet. Ich nehme an, 1941 hätte Zioncheck auch den Kriegseintritt der Staaten befürwortet, der letztlich die wirkungsvollste New-Deal-Maßnahme Roosevelts darstellte. Allerdings machte sich auch Zioncheck Feinde. Zwar war der gebürtige Pole ein dunkelhaariger Smarter mit gewinnendem Auftreten, doch bei manchen Kollegen und Journalisten, die noch keinen Riecher für das rotgrüne Entertainment haben konnten, kam er schlecht an, weil er sich »links« gebärdete und sich manche Eskapaden leistete. So soll er betrunken in öffentlichen Springbrunnen getanzt haben und mit seinem Wagen über den geheiligten Rasen des Weißen Hauses gefahren sein. Zionchecks lokaler Wirkungskreis lag in Seattle, Washington. Dort hatte er an einem Fenster im 5. Stock eines Bürogebäudes oder Hotels, in dem er residierte, am 7. August 1936 spätnachmittags seinen letzten Auftritt: der 34jährige sprang kopfüber aus dem Fenster.
~~~ Nach verschiedenen Quellen, darunter die englische Wikipedia, schlug er genau vor einem parkenden Wagen auf, in dem Rubye Louise Nix saß. Das war die fesche 21jährige, die er erst vor gut drei Monaten geheiratet hatte. In dieser kurzen Frist war es bereits zu einigen Zerwürfnissen und Versöhnungen zwischen den beiden gekommen, durchsetzt mit Aufenthalten Zionchecks in Irrenanstalten Marylands, denen er aber schließlich, nach einer Flucht, mit Verweis auf seine Abgeordneten-Immunität einen Riegel vorschieben konnte. Dann suchte er also wieder sein Büro in Seattle auf. Manche Quellen behaupten, er habe sich zuletzt auch von seinem Kumpel und Rivalen um den Kongreßsitz, dem Staatsanwalt Warren G. Magnuson, hintergangen gewähnt. Die Ärzte hatten, je nach dem, von »Überarbeitung«, »aufreibendem Lebensstil«, »manisch-depressiver« Neigung gesprochen. Andere hielten ihn kurzerhand für endgültig durchgedreht. Zioncheck selber zog eine politische Grundsatzerklärung vor, wie einem Zettel zu entnehmen war, den er immerhin zum Abschied auf seinem Schreibtisch hinterlassen hatte. Darin behauptete er, die einzige Hoffnung seines Lebens sei es gewesen, das »ungerechte« US-Wirtschaftssystem lasse sich begradigen. In dieser Hoffnung sah er sich anscheinend enttäuscht. Von seinen eigenen Fehlern oder Schäden, gar von seinen Ängsten sprach er lieber nicht.
~~~ Jemand mag Reformist oder Anarchist sein: in nahezu sämtlichen Fällen macht er zeitlebens einen Bogen um die letzte Systemfrage, die metaphysischer Natur ist, wie ich einmal sagen möchte. Es ist die Frage nach dem Sinn der ganzen Veranstaltung. Sie quält umso mehr, als die Veranstaltung offensichtlich haarsträubende Ungerechtigkeiten und das entsprechende Leid mit sich bringt. Der eine ist hübsch, der andere häßlich; der eine von Kind auf krank, der andere nicht – daran rütteln kein Kapitalismus und kein Gemeinbesitz in libertärer Hand. Es ist die Frage, wo die Welt herkommt, was sie soll, wie sie endet – niemand weiß es. Alles andere wäre auch erstaunlich, stehen wir doch nicht über der Welt. Vielmehr stecken wir bis über beide Ohren in ihr und sind entsprechend befangen. Diese Befangenheit ist wahrscheinlich sogar die schlimmste Seuche. Bei so manchem Selbstmord mag sie, als Motiv, mitschwingen, ob es der Betreffende nun äußert oder nicht. Es ist das Gefühl hoffnungsloser Unterlegenheit. Und vielleicht der Protest dagegen.
~~~ Der Einwand, mit unserem Geist könnten wir doch prima in die Ferne schweifen, unterliegt einem Trugschluß. Denn die Ferne, das ist bereits unsere Kategorie. Als Instrument einer objektiven Untersuchung taugt sie gar nichts. Wo finge sie denn an und wo hörte sie denn auf, die Ferne? Undenkbar. Leider versagt unsere Vorstellungs-kraft sowohl vor der Endlichkeit wie vor der Unendlichkeit. In beiden Fällen stürzt sie uns gleichsam in den Sog eines Schwarzen Lochs, von dessen Beschaffenheit wir ebenfalls nicht das geringste wissen. Daher die Angst vor dem Tod. Die Angst gilt nicht der Aussicht, keine Brötchen mit Butter und Feigenmarmelade mehr essen oder nicht mehr besoffen in Springbrunnen tanzen zu können; sie gilt der Ungewißheit.
~~~ Das Wissen um den Zusammenhang fehlt uns. Den Plan, den manche kritische Köpfe den Clubs der Superreichen unterstellen, die damit den Kapitalismus zu sanieren oder den ganzen Planeten umzukrempeln gedächten, hätte ich gerne für alles. Wieviele Weltalle umfaßt alles? Warum sollte es in Weltallen organisiert sein? Ginge es vielleicht auch ohne Organisation? Muß es überhaupt etwas geben? Und wenn es nichts gäbe – was gäbe es dann? Wer diese Fragen aufmerksam verfolgt und nachvollziehen kann, wird erkennen, wie hoffnungslos wir dem Behälterdenken ausgeliefert sind. Unsere Gehirnschale möchte auch für alles ein Gefäß. Für Legionen von Astrophysikern und ihre NachbeterInnen tut es notfalls sogar ein punktförmiges Gefäß, das bereits alles enthält – bevor es sich mit einem grandiosen Urknall entfaltet …
~~~ Wie bereits angedeutet, gehen diese astro- und metaphysischen Fragen so gut wie jedem Menschen – um es proletarisch auszudrücken – schlicht am Arsch vorbei. Ich glaube, diese Menschen regieren sogar die Gespräche, Diskurse, Staaten, Börsen, Bankhäuser dieser Welt. Zuweilen schmücken sie sich mit dem Prädikat der Demut, doch für mich gehören sie zu dem Heer der GegenaufklärerInnen. Denn die Antwort, warum mich die angeführten Fragen nicht in Ruhe lassen, liegt auf der Hand. Dazu läßt sich durchaus etwas sagen. Als libertär gestimmter Mensch lehne ich undurchschaubare Verhältnisse grundsätzlich ab. Denn die graue Sphäre der Undurchschaubarkeit ist der ideale Nährboden für Herrschaft. Das geht von den Betriebsgeheimnissen meines Chefs, der kaum ein Dutzend Leute beschäftigte, über den Vatikan und die Bilderberg-Konferenzen bis über das uns bekannte Universum hinaus. Sagt eine angeblich anarchistische Kommune einer Bewerberin, über den Zweck, die Entscheidungsstrukturen und die Mitgliederzahl der Kommune werde bislang nur gemunkelt, dürfte sie auf dem Absatz kehrt machen. Poche ich aber dem alles gegenüber auf die entsprechenden Auskünfte, verunglimpft man mich als Traumtänzer oder Spinner.
~~~ Mein Makel ist es, als ein Teil der Welt auf einem Mitbestimmungsrecht an ihr zu bestehen. Der Rebell verlange nicht das Leben, sondern die Gründe des Lebens, formuliert Camus einen der wenigen Sätze seines Buches Der Mensch in der Revolte, die würdig sind angeführt zu werden. Ich fordere die vielzitierte Transparenz, weil ich andernfalls nur im Dunkeln tappen kann. Eine nicht offengelegte Schöpfung stempelt mich zum Vollidioten oder zum Kind. Davon verstehst du nichts. Sie tritt meine Menschenwürde mit Füßen, die möglicherweise in einigen Milliarden Lichtjahren Entfernung angehoben werden. Ich bin ihr Untertan.
~~~ Vielleicht ginge es noch an, wenn wir nur dazu verdonnert wären, mit dem Rätsel der Welt zu leben. Aber ich sagte es schon: sehr oft haben wir auch daran zu leiden. Und dann haben wir, früher oder später, auch noch mit dem Rätsel der Welt zu sterben. Das finde ich das Schlimmste. In einem Sarg mit der Ungewißheit – widerlich!
~~~ Dieses Grundsatzreferat, zu dem mich Marion Zioncheck verführte, dürfte dem einen oder anderen Leser einsichtig machen, warum ich mich in meinem gesamten Schreiben an oberster Stelle um Klarheit bemühe.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
Siehe auch → Anarchismus, Mahmud
Sollte der Komponist Hans → Rott, für Brockhaus selbstverständlich Luft, von Johannes Brahms umgebracht worden sein, wie einige Quellen glauben, dann hießen die Mörder der schwedischen Schriftstellerin Victoria Benedictsson (1850–88) Georg und Edvard Brandes – jedenfalls in den Augen einiger Feministinnen. Der zuerst genannte Bruder war ein angesehener dänischer Gelehrter und Schriftsteller, den jeder Literaturwissenschaftler kennen muß. Die Bonner Dramaturgin Barbara Damm behauptet* allerdings, Benedictssons 1886 veröffentlichter Roman Frau Marianne sei keineswegs nur von dem Starkritiker gerügt worden, der zugleich, für eine kurze, brüchige Zeit, ihr Geliebter war. Benedictssons »unglückliche Liebe« zu Georg Brandes erwähnt Brockhaus sogar; zudem ihren Selbstmord. Im übrigen war das Echo auf den Roman durchaus geteilt. Nur den »Progressiven« im Lande Schweden dünkte er harmlos und rührselig – ein klarer Rückfall, wie sie fanden. Zwei Jahre später war die Autorin tot.
~~~ Die Tochter eines verbürgerlichten schonischen Landwirts hatte sich erst mit 30, um 1880, im Gefolge einer langwierigen Beinerkrankung (Reitunfall) aus den Fesseln sowohl ihres freudlos-frommen Elternhauses wie ihres mehr als doppelt so alten Gatten Christian freigestrampelt, der im südschwedischen Hörby Postmeister war und bereits fünf Kinder in die Ehe »eingebracht« hatte. Sie wäre lieber Malerin geworden. Jetzt aber wurde die zweifache Mutter von ihrer ausgedehnten Bettlektüre zum Schreiben verführt. Darin war sie von einem freigeistigen US-Amerikaner namens Charles de Quillfeldt und ihrem neuen jungen Vertrauten Axel Lundegård, Sohn des örtlichen Pastors, ermutigt worden. Schon ihre erste größere Veröffentlichung, noch unter männlichem Pseudonym vorgenommen, die Sammlung wirklichkeitsnaher Erzählungen aus dem südschwedischen Volksleben Från Skåne (Aus Skåne) von 1884, erntete viel Beifall. Ein Jahr darauf erzielte sie mit dem Roman Pengar (Geld) ihren größten Erfolg. Diese jüngste Prosa spiegelte eben ihren Befreiungskampf wieder – einen weiblichen also. Gleichwohl läßt sich in ihrem Tagebuch der Verdacht lesen, sie sei »womöglich eine Frauenhasserin«. Ein antipatriarchaler Vampir war sie jedenfalls nicht, wie ja dann auch Frau Marianne bekräftigte. Fotos verleiten dazu, auf eine kantige und spröde schonische Bäuerin zu schließen. Nach Übersetzer Johannes Wanner** hängten ihr manche Publizisten den Makel der »frigiden Hysterikerin« an.
~~~ Leider lernt sie in den literarischen Kreisen von Stockholm und Kopenhagen, in die sie nun eintaucht, auch Georg Brandes kennen. Damm stellt ihn als einen »brillanten Herold der neuen Literatur und verheirateten Lebemann« vor, der sich mit einem Bündel »positivistischer Essays« in ganz Europa berühmt geschrieben habe. »Obgleich Brandes schriftstellerisch durchaus ebenbürtig, hängt Victoria Benedictsson bald als aufmerksame Schülerin und Geliebte an seinen Lippen.« Das ist 1886 der Fall. Doch verschiedenen Quellen zufolge nimmt Brandes sie weder als Geliebte noch als Autorin wirklich ernst. Sie ist eine Anregung für ihn, mehr nicht. Die Enttäuschung mit dem »Rückfall« Frau Marianne kommt hinzu. Brandes‘ Bruder Edvard, ebenfalls Schriftsteller, hatte in seiner eigenen Kopenhagener Tageszeitung Politiken eine vernichtende Kritik veröffent-licht. »Das Todesurteil über meine Schriftstellerei, vielleicht über mich selbst«, trug Benedictsson dazu in ihr Tagebuch ein. Vermutlich war sie rundum verunsichert, beschämt, gekränkt. Im Januar 1888 unternahm sie einen ersten Selbstmordversuch.
~~~ Der Umstand, daß sie sich allerdings auch nicht von Georg Brandes lösen konnte, machte sicherlich einen beträchtlichen Teil ihrer Verstörung aus. Eine Paris-Fahrt aufgrund eines Stipendiums der Schwedischen Akademie half ihr nicht auf die Beine. Selbst ihr Mentor Lundegård wußte keine Mittel mehr gegen ihre Lebensmüdigkeit. Im zweiten Anlauf brachte sich die inzwischen 38jährige Schwedin im Juni 1888 in einem Kopenhagener Hotel um. Angeblich durchtrennte sie ihre Halsschlagader mit einem Rasiermesser. Guardian-Autorin Germaine Greer erinnert*** an Prud'hons Geliebte Constanze Mayer, siehe oben, und behauptet zudem, man habe Benedictsson in demselben Hotelzimmer aufgefunden, wo Brandes sie dereinst »verführt« hatte. Der oder die nächste wird uns versichern, auch das Rasiermesser stammte von Brandes.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023
* Barbara Damm, http://parapluie.de/archiv/ohr/ausgegraben/ (2005)
** Johannes Wanner, http://www.achius.ch/literatur/achius_benedictsson.htm (2003)
*** »Death and the maiden«, https://www.theguardian.com/stage/2007/jul/26/theatre3, 26. Juli 2007
Bergsteigen
Ein vergleichsweise glimpflich ausgehendes Sommergewitter ruft mich (2022) auf, an den kühnen schweizer Bergbauern und Bergführer Samuel Brawand (1868?–1902) zu erinnern. Am 20. August 1902 wurde er auf dem Gipfel des Wetterhorns (rund 3.700 m) kalt erwischt, und zwar von einem Gewitter. Der wackere Mann fiel durch einen Blitz. Er war erst 34. Sein vierjähriger Sohn war erfreulicherweise noch nicht dabei. Dafür kamen, neben Brawand, dessen Berufskollege Fritz Bohren (31) und beider Schützlinge Robert (31) und Henry Fearon (29) aus Irland um.* Der schreckliche Vorfall trug allerdings nicht zur Erleuchtung von Brawand jun. bei, der ebenfalls Samuel getauft worden war. Junior wurde zunächst Bergführer wie Papa und heftete sich einige alpenländische »Erstbesteigungen« an den Filzhut. Dann stieg er, als Sozialdemokrat, zum National- und Regierungsrat auf. Er starb erst 2001 mit 103 in Grindelwald.
~~~ Angesichts vieler Alpen-Akrobaten, die keine Bergbauern sind, und freilich auch angesichts der bekannten, furchterregenden Berge an Corona-Toten darf ich mir vielleicht die Bemerkung erlauben: Liebe »ExtremsportlerInnen«, Ihr seid nicht allein auf der Welt, wenn Ihr euch, als BergsteigerInnen, auch gern auf einem Gipfel so vorkommt! Jeder von euch nimmt mit den guten Aussichten auf ein frühes Ende leider auch die Lasten in Kauf, die er seinen sogenannten Lieben sowie dem Gesundheits- und Rettungswesen aller betroffenen Länder aufbürdet. 2019 fielen allein in Österreich beim Bergsteigen oder Bergwandern, Skifahren, Klettern, Mountainbiken, Jagen 304 Tote an, falls dem dortigen Kuratorium für Alpine Sicherheit zu trauen ist.** Ein paar willentliche SelbstmörderInnen sind eingeschlossen. Dazu fielen knapp 8.000 Verletzte an. Die dürften beispielsweise schon wieder für 200 Rollstühle gut sein. Jeder Bergunfall setzt eine kostspielige Rettungsmaschinerie in Gang. Wollte man diese Kosten schätzen, käme man bereits, weltweit betrachtet, auf etliche Milliarden Dollar jährlich. Nähme man das Rettungswesen aller übrigen Unfallsorten hinzu, würde einem von der Endsumme jede Wette schwindelig.
~~~ Leo Maduschka (1908–32) hätte mir wahrscheinlich nur zugeknurrt, dies alles ginge ihm flott am Arsch vorbei. Er hatte 1932 mit seiner Zeitschriftenserie Bergsteigen als romantische Lebensform aufhorchen lassen. Just im selben Jahr, Anfang September, rückte der 24jährige bayerische Bergsteiger, Nietzsche-Anhänger, Einsamkeits-Apostel und Schriftsteller der Civetta Nordwestwand der Dolomiten, Italien, auf den Leib – wo er aufgrund eines Wettersturzes, in einen Felsspalt verkeilt, über Nacht erfror.
~~~ Trotzdem fragen sich hartnäckige Feinde des »Bergsports« immer mal wieder: Warum machen die das? Da zu befürchten steht, Maduschkas damalige Apologie übersteige ihr Begriffsvermögen, will ich diesen Nörglern mit dem Politiker, Bankier und Alpinisten Ruedi Schatz (1925–79) aus St. Gallen antworten. Schatz erläuterte es am Beispiel seines mit 34 am Säntis (Ostschweiz) verunglückten Landsmanns Seth Abderhalden (1926–60): »Er lebte für die Berge.« Wahrscheinlich wachsen sie dadurch besser. Laut Wikipedia gilt Abderhalden als »Pionier des Extremkletterns«. Schatz selber schaffte 20 Jahre mehr. Dann »bezwang« ihn die Urnäsch. Das ist ein appenzeller Flüßchen, das just am Fuße des Säntis entspringt. Im »Wildwasser« dieses Flüßchens kam der 54jährige Alpinist beim Kanufahren um.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Fritz Balmer, »Vier Leben auf einmal gefällt«, https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/21608/, (Thun) 19. August 2002
** https://www.alpin.de/home/news/38376/artikel_oesterreich_zahl_der_toedlichen_bergunfaelle_gestiegen.html, 16. Januar 2020
Und wieder hat Brockhaus einen kleinen Mann übersehen, der hoch hinaus wollte. Vermutlich war der südtiroler Alpinist, Steilwandskifahrer und Fachjournalist Heini Holzer (1945–77) bereits als Hirtenbub statt Heinrich verkleinernd Heini genannt worden, und dabei blieb es auch. In der Tat wurde er nie größer als ungefähr 1 Meter 50, die Angaben schwanken. Was Wunder, wenn er dann den Lehrberuf des Kaminfegers ergriff, an dem er angeblich auch noch festhielt, nachdem er als Seilpartner von Berühmtheiten bekannt geworden war. Seit 1960 übte er seinen Brotberuf im Dorf Schenna bei Meran aus, wo er dann auch begraben wurde. Natürlich kam er bei seiner Zwerggestalt auch hervorragend durch die Kamine, die in unbewohnten Gebirgen zu finden sind. 1970 begann er sich allerdings auf Steilwandabfahrten per Skiern zu spezialisieren. Eben bei diesem besonders selbstmörde-rischen Treiben kam er im Juli 1977 als 32jähriger um, als er den Versuch, die Nordostwand des knappen Viertausenders Piz Roseg (Graubünden, Schweiz) hinabzusausen, mit einem gewaltigen Sturz bezahlte.
~~~ Holzers frühe Ehe war schon eher zerbrochen, aus verständlichen Gründen. Neben seiner wagemutigen Besessenheit werden so manche weibliche Seilpartner-innen angeführt, die er bei seinen eigenständigen Klettereien bevorzugt hatte. Zur Begründung hatte er auf deren geringes Gewicht als der idealen Entsprechung zu seiner eigenen Leichtgewichtigkeit verwiesen. Er hatte keine 50 Kilo gewogen. Einem Gedenkartikel von 2007 zufolge* verabscheute der Stiefsohn eines Trunkenboldes Alkohol, nahm stattdessen vorwiegend Milch zu sich. Was ihm an Hünenhaftigkeit fehlte, machte er nach anderen Quellen durch schier unwiderstehlichen Charme wett. Zwar sei er ein eigensinniger Mensch und ein Eigenbrötler gewesen; gleichwohl habe er erstaunlich viele Freunde gehabt – so Alpinist Toni Hiebeler in einem Nachruf auf Holzer, bevor er selber (1984 per Hubschrauber) in Slowenien zu Tode stürzte.
~~~ Holzer hatte übrigens sowohl das Profitum wie den Rückgriff auf motorisierte »Aufstiegshilfen« a lá Sessellifte oder eben Hubschrauber abgelehnt. Der Hirtenbub war Naturbursche geblieben. Er pflegte seine Abfahrten stets gewissenhaft vorzubereiten und notfalls auch zu verschieben. Gleichwohl blieben sie Wahnsinn, was sich womöglich LeserInnen, die wie ich nie Fernsehen gucken, gar nicht richtig klarmachen. Seine letzte Abfahrt hatte ein Gefälle von über 50 Grad. Nachdem er auf dieser Schrägen aus unbekannten Gründen, wenn auch von einer Berghütte aus beobachtet, gestrauchelt war, stürzte er nach Feststellung der Kantonspolizei 55o Meter tief an den Fuß der betreffenden Gebirgswand. Er soll auf der Stelle tot gewesen sein, kein Wunder.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 18, Mai 2024
* Dorfzeitung Schenna, Nr. 8, 28. August 2007, S. 9
Berufskünstlertum
Der griechischer Maler Konstantinos Panorios (1857–92) wuchs wahrscheinlich auf der Ägais-Insel Sifnos auf, studierte in Athen und München. Laut griechischer Wikipedia hatte er ein Stipendium des Geschäftsmannes A. Papudov erhalten. Er blieb über 10 Jahre in Deutsch-land. Als er um 1890 in sein Heimatland zurückkehrte, soll er bereits verstört gewesen sein. Warum, dürfen Sie mich nicht fragen. Zuletzt soll er, »geisteskrank«, in der hauptstädtischen »Klinik« Dromokaiteio gesessen haben, wo er eines Tages (1892) tot aufgefunden worden sei. Mehr teilen die griechischen Lexikografen nicht mit. Allerdings verweist der Artikel auf ein von Nikos Zias 2005 veröffentlichtes, 12 Seiten langes Porträt, in dem unter Umständen Genaueres steht.
~~~ Immerhin wird Panorios in meinem Buchmanuskript Zeit der Luchse von 2019, Handlungszeit 1904, erwähnt, siehe Band 4. Redakteur Charly führt die beiden neuangekommenen Journalisten aus der Schweiz durch das Rathaus von Kusmu, dem Hauptstädtchen der Freien Balkan-Republik Mollowina. Im Büro einer abwesenden Rätin deutet der dicke Redakteur auf ein hochformatiges Ölgemälde*, von dem die Gäste sofort gefangen genommen werden. In milden Tönen gehalten, überwiegend Braun, zeigte das Werk ein betörendes, möglicherweise schmollendes oder verlegenes kleines Mädchen, wohl in ländlicher, arbeitsbereiter Tracht. Es blickte zur Seite. Diese ungeahnte Aufmerksamkeit für Cosette, wie es laut Charly hieß, war zuviel für das kleine Mädchen. Der Redakteur erklärt:
~~~ »Das Gemälde wurde uns neulich von einem Athener Kunstprofessor verehrt, der die Republik schon zum zweiten Male besuchte. Der Mann war mit Konstantinos Panorios, dem 1892 frühverstorbenen Schöpfer des Werkes, befreundet gewesen.«
~~~ Als die drei Herren kurz darauf zum Ausruhen in der Bücherei sitzen, kommt Sean auf das eindrucksvolle Gemälde zurück. Vermutlich repräsentiere es einen hübschen Batzen Geld? Dazu kann Charly nichts sagen; er zuckt nur mit den Achseln. Aber nach einer Weile schimpft er:
~~~ »In der sogenannten Zivilisation wird die Kunst grotesk überschätzt. Überall, seit vielen Jahrhunderten, aber im Kapitalismus besonders. Die verhängnisvolle Paarung zwischen Kunst und Kommerz ist schlicht ekelhaft. Oder finden Sie nicht?«
~~~ Sean stimmt ihm zu und erwähnte William Butler Yeats‘ hohe Meinung von der Volkskunst. Der »Dichter« und Dubliner Theatermann sei leider nur etwas ruhmsüchtig und nebelwerferisch veranlagt, aber da sei er ja nicht der einzige.
~~~ »Mit der Volkskunst hat Ihr Landsmann unbedingt recht!« befindet Charlie. »In der Mollowina werden Sie nicht einen Berufskünstler finden, ob Mann oder Frau. Der künstlerische Ausdruck muß Hand in Hand mit den übrigen, gewöhnlichen Lebensäußerungen gehen, sonst kommen nur Krämpfe und Hochmut dabei heraus.«
~~~ Vielleicht zum Glück seiner Gäste schlug in diesem Augenblick die Glocke der Kathedrale an. Danach war es inzwischen 16 Uhr. Charly schien regelrecht zu erschrecken und hievt sich aus seinem Sessel. Er war nämlich zum Unkrautjäten im Garten seiner GO verabredet. Drückte er sich davor, konnte es ihn unter Umständen sein Seelenheil kosten.
~~~ Soweit der Schlenker. Stellt man sich jenes Kind Cosette mit Corona-Gesichtsmaske vor, könnte man rasend und zum Mörder werden. Aber nicht zum Mörder des Kindes.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://de.wikipedia.org/wiki/Konstantinos_Panorios#/media/Datei:Cossette_by_Konstantinos_Panorios.jpg
Der italienische Schriftsteller Vasco Pratolini (1913–91), offenbar ursprünglich Antifaschist und nie Avantgardist, wird ungewöhnlicherweise gleich eingangs als »Autodidakt« eingeführt. Damit wissen wir, er war von Hause aus schreibbehindert, also gewissermaßen krank. In der Regel nimmt Brockhaus die Unterscheidung zwischen Eigenständigen und Schulmäßigen nur im Falle von Bildenden Künstlern vor. Bei denen weiß man ja, sie sollen gefälligst bei Rembrandt in die Lehre oder auf die Düsseldorfer Kunstakademie gehen (zu Joseph Beuys). Aber was erwartet Brockhaus nun von einem angehenden Schriftsteller? Soll er zu Grass in die Lehre oder wenigstens auf eine Handelsschule gehen, wegen des Schreibmaschinen-Unterrichts? Selbstverständlich nicht. Vielmehr soll er Germanistik oder Publizistik oder wenigstens Sprachwissenschaft studieren. In der Tat dürfte der Löwenanteil aller SchriftstellerInnen von AkademikerInnen gestellt werden. Trifft das zu, wundert es mich nicht, wenn ich gerade das Zeug von denen niemals freiwillig zur Hand nehme. Was lernen sie denn auf der Hochschule? Die Professoren erklären ihnen, was man zu lesen, wie man zu schreiben – und letztlich, wie man zu denken hat. Heraus kommt entweder gelehrter Einheitsbrei, oder aber, aus Trotz, gezierte, mutwillig avantgardistische Belanglosigkeit. Mir sind Leute lieber, die sich eigenständig zu dem Stil vorarbeiten, der ihrem Naturell entspricht. Das gestaltet sich natürlich oft langwierig. Man irrt auf soundsoviele Umwege ab, doch umso überzeugender hält man später an der persönlichen Leitplanke fest, die sich dabei herauskristallisiert. Die anderen dagegen sind sich meist noch im hohen Alter ihrer selbst nicht sicher. Sie ahnen zumindest, seit Jahrzehnten auf einem fremden, schwankenden Misthaufen zu thronen. Aber sie sind mit dem Georg-Büchner-Preis dekoriert.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024
Siehe auch → Spezialisierung
Beschleunigung → Zeit
Für Brockhaus ist nur das berühmte Dokument interessant, das der führende hessische Nazi Werner Best 1931 von Parteigenossen auf dem nahe Bürstadt gelegenen Boxheimerhof erörtern ließ. Darin hatte Best seine Vorstellungen vom Umsturz und den anschließenden drakonischen antikommunistischen »Maßnahmen« niedergelegt. Als die Öffentlichkeit davon Wind bekam, beeilte sich die Parteileitung erfolgreich, von einem privaten Alleingang Bests zu sprechen. Man werde sich selbstverständlich an die demokratischen Spielregeln halten. Ein »Hochverratsverfahren« gegen Best wurde im Herbst 1932 eingestellt.
~~~ Der Boxheimerhof soll im frühen Mittelalter Klostergut gewesen sein. Näheres zu erfahren, hindern mich die neuartigen »Bezahlschranken« im Internet. Also schreibe ich (am 11. Dezember 2023) das Bürstädter Stadtarchiv an. Die Antwort? Nicht etwa eine Gebührenordnung, vielmehr gar nichts. Ich könnte mir allerdings denken, es wäre den Verantwortlichen nicht so lieb, die Leute, die zu Bests Zeiten das Gut betrieben und das vielleicht auch heute noch tun, in Verlegenheit zu bringen. Schließlich dürften es damals, 1931, mindestens Bekannte der Nazis, vielleicht sogar Kameraden gewesen sein, die sich durch solch eine geheime Tagung geehrt fühlten. Um 1997 streifte ich das abgeschieden am Waldrand liegenden Anwesen einmal ferienweise mit dem Fahrrad. Täuscht mich meine Erinnerung nicht, beeindruckte es mich nicht sonderlich. Es gab lediglich eine witzige, winzige Gutskapelle, die ich gern besichtigt hätte, aber sie war verrammelt. Inzwischen hat man sie offensichtlich aufgehübscht* und vermutlich gleichfalls mit einer Bezahlschranke versehen.
~~~ Ich kehre zu Werner Best zurück. Der Jurist und SS-General brachte es im »Dritten Reich« zu einem noch deutlich höheren Tier. Er gilt, neben Himmler und Heydrich, als Hauptorganisator der Geheimen Staatspolizei. An der mörderischen Judenverfolgung war er auf unterschiedlichen Posten stark beteiligt. So hat er zahlreiche Polen auf dem Gewissen. Zuletzt wirkte er als Reichsbevollmächtigter im besetzten Dänemark. Ein Kopenhagener Gericht verurteilte ihn nach Kriegsende zunächst zum Tode, doch das angelsächsich-bundes-deutsche Verzeihungswunder sorgte für Abmilderung: Umwandlung in Haftstrafe, vorzeitige Entlassung bereits 1951. Im folgenden warb er unermüdlich für »Generalamnestie« aller NS-Täter und half vielen Beschuldigten aus der Patsche. »Demokratische« Firmen und Parteien beschäftigten ihn als juristischen Berater. Seine eigene Bestrafung konnte er mit den üblichen Schlichen und mit Hilfe der Bereitschaft der westdeutschen Justiz, sich verarschen zu lassen, bis zum letzten Atemzug unterbinden. Der Südhesse starb 1989 mit knapp 86 Jahren in Mülheim an der Ruhr.
~~~ Allerdings wird behauptet, selbst der kühn kalkulierende Intelektuelle Best sei kein unangreifbares Ungeheuer gewesen. 1947 von seiner Gattin Hilde in der dänischen Haft besucht, habe er Beruhigungsmittel geschluckt, sich an Gesprächszettel geklammert, in wiederholten Weinkrämpfen von Selbstmord als der besten Lösung gejammert, lese ich im Spiegel 23/1996. Hilde habe ihn jedoch angeherrscht, er habe die Haft »hart und biegsam wie Stahl« durchzustehen. Da scheint auch ein bewährter Dialogschreiber aus Hollywood im Besuchszimmer gesessen zu haben.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 6, Januar 2024
* https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:B%C3%BCrstadt,_Kapelle_Boxheimerhof.jpg
Bevölkerungsfrage
Wer wollte die Opfer von Vulkanausbrüchen zählen und würdigen? Allein der berühmte Ausbruch des Vesuvs bei Neapel am 24. August 79 n.Chr., der mehrere antike Städte verschüttete, darunter das bekannte Pompeji, kostete im ganzen um 5.000 Tote. Ich nenne nur noch den Ausbruch des Mont Pelée auf Martinique am 8. Mai 1902, wahrscheinlich der verlustreichste im 20. Jahrhundert, mit geschätzt 30.000 Toten. Laut Wikipedia führte er zu gründlichen Untersuchungen und Überwachungen, die den Beginn der modernen Vulkanologie bezeichnen. Die scheint auch nicht ganz ungefährlich zu sein. Die Todesrate unter Vulkanologen soll sogar die von Bombenentschärfern und Löwendompteuren übersteigen. Man wird vielleicht einwerfen: Ja sicher, die opfern sich, um zahlreiche Tote zukünftiger Vulkanausbrüche zu verhindern! Aber da bin ich, wie immer, skeptisch. Diese in die Krater Starrenden dürften von einer jeweils anders zusammengesetzten Wolke aus Gemeinnützigkeit, Wahrheitssuche, Abenteuerlust und Profilierungssucht getragen werden. Profitstreben lasse ich einmal weg: das können wir für die sogenannten Klimawissenschaftler-Innen und Epidemiologen beziehungsweise deren Sponsoren reservieren.
~~~ Den 30jährigen US-Vulkanologen David A. Johnston (1949–80) erwischte es nur zwei Jahre nach seiner Promotion. Er hatte »bis zuletzt« auf seinem Beobachtungs- und Meßposten in gut neun Kilometer Entfernung vom 2.500 Meter hohen Mount St. Helens im Süden des US-Bundesstaates Washington ausgeharrt. Am Morgen des 18. Mai 1980 »war es soweit«. Johnston setzte noch eine entsprechende Meldung an seine Kollegen ab; dann wurde er, sehr wahrscheinlich, von einer Art Sturmflut aus Asche, Lava und heißen Gasen geradezu weggeschwemmt. Seine Leiche wurde nie gefunden. Im ganzen forderte die Kastrophe, obwohl Evakuierungen angeordnet worden waren, 57 Menschen das Leben, dazu vielen Tausend Tieren. Die angerichtete Verwüstung betraf ein keilförmiges Gebiet von ungefähr 20 mal 30 Kilometern. Man hatte die voraussichtliche Stärke des Ausbruchs erheblich unterschätzt. Laut Spiegel Online (7. Oktober 2004) war die Energie von 500 Hiroshima-Atombomben freigesetzt worden.
~~~ Bei diesem Unglück an der nordamerikanischen Westküste hatte Johnstons junger Kollege Harry Glicken (1958–91) Glück. Allerdings hatte er auch Schuldgefühle, weil er kurz vorm Ausbruch den Platz mit Johnston getauscht hatte. Glickens Stunde kam am 3. Juni 1991, als er 33 war, in Japan – und leider nicht nur seine. Auf der dortigen Insel Kyushu brach der Vulkan Unzen aus und schickte einen »pyroklastischen« Strom aus, dem sage und schreibe 42 WissenschaftlerInnen, Journalisten und Feuerwehrleute zum Opfer fielen. Sie hatten offensichtlich mit dem Feuer gespielt. Der fragliche, selbstverständlich ziemlich heiße Strom meint eine Lava, die hohen Gasanteil hat. Angeblich kann er bis 700 km/h erreichen; am Unzen soll er mit knapp 100 durch das Lager der Beobachter-Innen geflossen sein. Jedenfalls war er schneller als sie.
~~~ Laut Focus* räumte Stanley Williams von der Arizona State University einmal ein: »Ich bin mir der Gefahr bewußt. Aber irgendwie wird man danach süchtig.« Von Hubertus Breuer, Spiegel 24/2001, ist zu erfahren, der bekannte Experte Maurice Krafft aus Frankreich habe davon geträumt, eines Tages in einem hitzefesten Kanu einen Lavastrom hinabzufahren. Krafft und Gattin kamen ebenfalls am Unzen um. Ohne Kanu.
~~~ Das »Spiel mit dem Feuer« dürfte tiefe Wurzeln und eine große Kragenweite haben. Soweit ich weiß, fürchten oder vermuten die meisten Paläontologen, vor der Ära des Faustkeils sei unser Primatengehirn geradezu explodiert. Na sehen Sie: das war der erste »anthropogene« Vulkan. Schaut man sich dann die auffällige Neigung der Menschheit zum Explosiven an, wundert einen gar nichts mehr. Ich nenne aufs Geratewohl Feuerbohrer, Flitzebogen, Schießpulver, Dampfmaschine, Benzinmotor, Kernspaltung, Bevölkerungsexplosion, Klima-Klimax … Man denke auch an den beliebten »Urknall« – einen Unfug, der sich in wenigen Jahrzehnten schon fast von einer Theorie in eine Tatsache verwandelt hat. Hier liegt es unsittlicherweise sehr nahe, einen Bogen vom erwähnten Primatengehirn zum Unterleib des Zweibeiners zu schlagen. Jeder zünftige Geschlechtsakt ist ein Vulkanausbruch. Die Frau stellt den Krater, der Mann die sogenannte Ejakulation.
~~~ Die verblüffende Hartnäckigkeit, mit der sich Geflohene nach wenigen Wochen oder Monaten zu ihrem Vulkan zurückbegeben, um sich erneut an dessen Fuß anzusiedeln, ist bekannt. Damit deutet sich das Bindeglied von all dem Verrückten an. Es ist der Stolz. Der Stolz des Menschen auf seine Einzigartigkeit duldet weder Niederlagen wie beispielsweise Flucht/Vertreibung, noch Impotenz. Offenbar ist er vom Wunsch des Überlebens, des Sichtfortpflanzens, des sogenannten Wachstums, des Siegens um jeden Preis heillos besessen. Die Welt mag ein Jammertal, ausgehungert, verseucht sein – der Mensch darf nicht untergehen.
~~~ Und warum die Besessenheit? Woran hängt nun das Bindeglied wiederum? Ich nehme an, am Tod. Es ist die Angst vor der Vergänglichkeit, vor der drohenden Vernichtung. Oder sagen wir umfassender: es hängt an der Leere. Viele Menschen ahnen die quälende Sinnlosigkeit unseres Daseins – und dieses gähnende Schwarze Loch wird emsig mit Kindern zugestopft. Uns zu erhalten, die Gattung zu schützen, Kinder hochzuziehen und so den Wahnsinn zu stützen, das ist schließlich auch ein Sinn.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Martin Kunz, »Amerikanische Wissenschaftler schicken …«, https://www.focus.de/wissen/natur/vulkane-dante-auf-dem-weg-ins-inferno_aid_148547.html, 13. November 2013
Pöhsnick oder Die Republik dankt ab --- Kees ist tot. Somit hat er diesen fragwürdigen Himmelskörper, den womöglich schon bald kein Schwanz mehr kennen wird, vor mir verlassen. Dabei war er, mit 71, sogar zwei Jahre jünger als ich. Eine Botin, die gleich noch jemanden in Frahm, unserem Dorf, besuchte, überbrachte mir seinen letzten Gruß. Er war mein engster Freund gewesen. Die Botin, Raskilde, kenne ich nur flüchtig. Sie kommt wohl ebenfalls bald dran. Dürr wie eine entkernte, vertrocknete Bananenschale, glaubte man ihre Knochen klappern zu hören, als sie auf ihrem Gaul angezockelt kam. Sie stieg gar nicht erst ab. Kees hätte heftiges Fieber bekommen, gekotzt wie ein Wasserfall und buchstäblich nichts mehr zu sich genommen, erzählte sie. Anscheinend haben sie noch einen alten Arzt in Rotten, wo Kees der GO Streifenhörnchen angehörte. Der Mediziner habe von einer mit Darmgrippe gepaarten Lungentzündung gesprochen. Aber sie selber, Raskilde, glaube eher, Kees sei an Gram gestorben. Er hätte im Fieber auch das Bübchen von Maja und Runzeck beklagt, falls ich mich noch an den Vorfall erinnerte. Vim habe das Bübchen gehießen, half sie mir auf die Sprünge. Dabei äugte sie mich auch noch scheinheilig an, dieses reitende Knochengerüst. Selbstverständlich erinnerte ich mich. Jeder hier tut das, soweit es hier noch Leute gibt. Vim war damals keine drei Monate alt – und Kees hatte ihn wohl oder übel erschlagen. Das entsprach dem berüchtigten Abdankungsbeschluß.
~~~ Hätten es diese einleitenden Zeilen geschafft, Sie zum Weiterlesen zu ködern? Wenn nicht, macht es auch nichts. Ich werde den Roman sowieso nicht schreiben. Sie können mir allerdings die Idee zu ihm abkaufen – 50.000 Euro, falls Sie außerstande sind nachzuweisen, es handle sich dabei nur um abgestandenen Schimmelkäse, der bereits mehrmals anderen Autoren mißlungenen sei. Bislang bilde ich mir ein, es sei keiner. Gewiß hat es auf Erden schon den einen oder anderen Massenselbstmord gegeben. Ich nenne nur die ungefähr 1.000 SiedlerInnen im Dschungel von Guayana, die sich 1978 von ihrem Sektenchef Jim Jones dazu anstiften oder zwingen ließen, ihrem Planeten endlich ade zu sagen. Aber meine Geschichte spielt gar nicht auf dem Planeten Erde. Und die Leute auf Pöhsnick, wie ich meinen eigenen Planeten kurzerhand taufte, bringen sich keineswegs um, vielmehr fassen sie eines Tages den schon erwähnten Abdankungsbeschluß. Der besagt nicht mehr und nicht weniger als: Ab sofort werden keine Kinder mehr in die Welt gesetzt. Wir sterben aus freien Stücken aus. Damit war das Ende menschlichen Lebens auf Pöhsnick abzusehen. Die Frist betrug allenfalls ein Jahrhundert.
~~~ Wie eingangs angedeutet, setzt meine erwogene Erzählung erst ein, als bereits die letzten Jahrzehnte angebrochen sind. Freilich gibt der Ich-Erzähler etliche Rückblenden, denn er muß oder will ja klarmachen, wie es »soweit« kommen konnte. Auch das Wo drängt natürlich nach näherer Erläuterung. Der Planet Pöhsnick ist lediglich in einer fruchtbaren Mulde von rund 80 Kilometern Durchmesser besiedelt. Sonst Mondlandschaft. Die Pöhsnicker Bevölkerung – zum Zeitpunkt des epochalen Beschlusses ungefähr 70.000 Köpfe – nimmt allgemein an, ihre Mulde sei in grauer Vorzeit als Krater eines fremden Himmelskörpers zurückgeblieben. Durch den Einschlag seien gleichsam Keime intelligenten Lebens übertragen worden. Man könnte sogar sagen: auch von Klugheit. Stießen nämlich in der Pöhsnicker Vergangenheit Leute mit kühnen Projekten der Umgestaltung oder Ausweitung vor, wurden sie bald, von nachfolgenden Generationen, zurückgepfiffen. Im großen und ganzen sah man ein, es wäre töricht, den beschränkten Lebensraum auf Pöhsnick zu überreizen. So gab es bis zuletzt kaum Industrie, wohl auch keine Elektrizität. Für den Verkehr genügten Pferde und Fuhrwerke. Selbst die »wilde« Tierwelt nimmt sich schmal und sanftmütig aus. Dafür bietet die Mulde einige äußerst ergiebige und nahrhafte Pflanzen à la Banane, Maniok, Pirijao. Das ist eine Palme. Fleisch wird nicht verzehrt. Raskilde wird von ihrem Klepper jede Wette noch überlebt.
~~~ Der Erzähler vermutet selbstverständlich nicht zu unrecht, Raskilde sei schon damals, vor rund 40 Jahren, gegen den Beschluß gewesen. Sie habe nur, wie manche andere, auf ein Veto verzichtet, um den erforderlichen Konsens nicht zu blockieren. Die meisten PöhsnickerInnen begrüßten den Vorstoß, nachdem vor allem Uro, damals Landesschiedsrätin und entsprechend angesehen, auf den Dörfern flammende Reden gehalten hatte. Sie habe die Nase voll, hob sie immer an. Pöhsnick hatte gerade den »Fußballkrieg« überstanden.* Soweit sie zurückdenken könne beziehungsweise Dokumente vorlägen, sei es ein ums andere Mal zu Streitigkeiten gekommen, und sie seien nur selten nicht mit Gehässigkeiten und Leid verbunden gewesen. Das habe auch die gefeierte Republikgründung (50 Jahre früher) nicht wirklich abzustellen vermocht, wie man ja gerade wieder gesehen habe. Am übelsten stoße ihr jedoch immer wieder der »Kleinkrieg« auf. Als Landesschiedsrätin begegne ihr die betrübliche Unfähigkeit zu Eintracht und Glückseligkeit in fast jeder GO, ihre eigene (Marabu im Dorf Glitter) eingeschlossen.
~~~ Uro vermied es damals, auf die Jugend einzuhacken. Leuten wie Kees und dem Erzähler war das Problem der Klüfte und Reibereien zwischen den Generationen allerdings sonnenklar. Wie es aussah, ließ es sich auch in der egalitärsten Gesellschaft (gleichberechtigt, gebildet, frei) nie beheben. Die Klüfte schienen sozusagen natürlich zu sein. Die Jugend war stets neugierig, tatendurstig und ihrer verständlichen Unreife zum Trotz vorwitzig und leichtsinnig. Einige jungen PöhsnickerInnen hatte sogar schon von Eisenbahn, Flugzeug, Telefon, Fotografie, Radioteleskop und dergleichen geträumt. Ältere wie der Erähler und Kees konnten das freilich nicht restlos verdammen. Sie hätten selber zu gern gewußt, was die ganze Veranstaltung »Leben« eigentlich solle – und diesbezüglich konnten ja Fernrohre oder Raumschiffe unter Umständen nützlich sein. Gleichwohl hielten sie den Abdankungsbeschluß immer hoch. Für sie stellte »der Mensch« keinen Wert-an-sich dar. Ganz im Gegenteil. Auch der republikanische Pöhsnicker hatte zeitlebens Ärger und Verzweiflung auf dem Buckel. Das Ungemach aus Mäuse- oder Mückenplage, Krankheiten, Unfällen, ungleichen Veranlagungen, Häßlichkeit und den Tod nicht zu vergessen schlug gerade so in der Mulde zu wie einst der fremde Himmelskörper – wenn auch immer schön häppchenweise, nämlich über die Jahre gestreckt und die Leute verteilt. Es war die reinste Willkür. Nur wußte man nicht, von wem, sonst hätte man ihn, diesen Schurken und Folterer, gern anstelle von Vim erschlagen.
~~~ Einige Monate nach dem Beschluß tauchten Maja und Runzeck, frisch verliebt, in der erwähnten Mondlandschaft unter. Sie wollten unbedingt ein Kind. Sie hatten ein paar HelferInnen, die sie mit Lebensmitteln und Nachrichten versorgten. Vim kam zur Welt. Aber nach wenigen Wochen war »der Sabotageakt« durchgesickert und zudem lokalisiert. Kees, der Erzähler und die Schiedsrätin aus dem Dorf, aus dem Maja und Runzeck verschwunden waren, erklärten sich bereit, der Sache nachzugehen und sie möglichst zu beheben. Das Versteck erreicht, kam es zu einem Streit, bei dem Vim erschlagen wurde. Die Eltern rannten schreiend, wie die Besessenen, fort. Sie stürzten sich von nahegelegenen Felsen in eine heiße Quelle.
~~~ Kees litt damals wochenlang. Es war nicht ohne Ironie, daß die angespannte Situation in dem Versteck gerade ihn zum »Totschläger« machte. Ich könnte mir nämlich denken, er und der Erzähler verkörpern im Gespann einen Gegensatz, den man zuweilen auch geballt in nur einer Person antrifft: den zwischen Demut und Hochmut. Während der Erzähler zur Verachtung neigt, wobei er sich selber nicht ausnimmt, hat Kees eher Mitleid mit den Menschen, die ja wahrlich an ihrer heiklen Lage unschuldig sind.
~~~ Interessant dürfte ferner das Problem der Vergreisung sein. Wie bewältigt der schrumpfende Club der Alten seinen Alltag? Gibt es da neue Konflikte? Immerhin, die paar Alten, die noch die Stellung halten, müssen weder Kraftwerke noch die Staatsregierung in Gang halten. Es droht auch kein Übergriff von als Russen verkleideten Angelsachsen. Aber zumindest diese unaufhaltsame, zunehmende Entvölkerung »der Mulde« dürfte »mental« nicht so leicht zu verkraften sein.
~~~ Vielleicht findet sich beim Erzähler ein Kränzchen aus Alten zusammen, die gleichsam bis zum letzten Atemzug die Philosophie der Abdankung, mit allen ihren Gesichtspunkten und Widersprüchen, um- und umwälzen. Gab es vielleicht doch so etwas wie den natürlichen »Todestrieb« des Menschen, der ihn zeitlebens in Aggressivität hielt? Warum immer wieder streiten, wenn doch die klimatischen und geologischen Verhältnisse in der Pöhsnicker Mulde so günstig sind? Die Mühsal ständiger oder stumpfsinniger Arbeit für den Lebensunterhalt hatten sie auf Pöhsnick nie. Aber vielleicht hatten sie zuviel Langweile? Sie könnte am Ende sogar den Hauptfeind des Menschen darstellen. Die Langweile mit der blockierten oder nie zu stillenden Neugier gepaart. Mit anderen Worten: die Sinnlosigkeit drückt. Die Ungewißheit nagt. Was soll dieser ganze Kinderkram überhaupt?, bohrt als Frage in jedem, der zwei Beine und keinen Strohkopf hat. »Das Sichfortpflanzen ergibt jedenfalls keinen Sinn!« stellt Rosa, eine flachbrüstige Greisin von knapp 80, im Brustton der Überzeugung fest. »Nicht unter diesen undurchschaubaren und aufgezwungenen Umständen! Von daher waren der Abdankungsbeschluß und unser beharrliches Festhalten an ihm goldrichtig, ihr Lieben …«
∞ Verfaßt 2022
* Den Fußballkrieg hatte ich einst für ein anderes Romanvorhaben skizziert. Er entwickelte sich zwischen den dortigen drei oder vier kommunitär verfaßten Dörfern auf Anstiftung eines auf der Schweinsblaseninsel bruchgelandeten Fußballtrainers, der prompt auch Prämien, also Geld, einführt, beispielsweise Luchsfelle.
Siehe auch → Seßhaftigkeit → Städte → Band 5, Erzählung Folgen eines Skiunfalls (mit BAM-Manifest)
Bienen zählen zum Zuchtvieh des Menschen, sind aber beliebter als Kühe, weil sie Honig geben. Wie lange noch, steht auf einem anderen Blatt. Der Sparkasse von Waltershausen in Thüringen, die in einem mächtigen Jugendstilgebäude aus hellem Sandstein residiert, waren sie jedenfalls vor Zeiten wichtig genug, um in einem ovalen, buntverglasten Fenster verewigt zu werden. Vermutlich hatten die Bankiers das Honighorten und den sprichwörtlichen Fleiß der Bienen im Auge. Dabei kam ihnen entgegen, daß die Bienen im Gegensatz zu den Ameisen keine Läuse zwecks systematischen Melkens halten – sonst wäre vielleicht Verdacht aufgekommen.
~~~ In Deutschland gibt es weit mehr als 100.000, vorwiegend nebenberufliche ImkerInnen, die über ungefähr 800.000 Völker herrschen. Dadurch entsteht ein Jahresertrag von mindestens 22.000 Tonnen Honig – so geballt, allerhand. Wilhelm Buschs Knabe Eugen war begierig genug auf den süßen Stoff, um dem schnarchen-den Dorfimker einen Honigtopf vom Schlafzimmerbord zu stehlen. Die räubernden NeandertalerInnen lebten gefährlicher: sie hatten die Waben wilder Bienen mit einem Stock aus Astlöchern zu stochern. Zu weiteren Feinden der Bienen zählt eine Kröte, die in D. H. Lawrence‘ funkelnder Erzählung Die Jungfrau und der Zigeuner vorm Strohkorb hockt, um die ausfliegenden Bienen wie von der Wäscheleine zu pflücken. Offenbar schmeckten die Bienen vor rund 100 Jahren noch.
~~~ Der slowenisch-wienerische Hofimkermeister Anton Janša, auch Maler und Grafiker, wirkte deutlich früher als der britische Schriftsteller. Zwar hatte Janša bereits im ländlichen Elternhaus an zahlreichen Bienenstöcken geschnuppert, doch er neigte zunächst zur Bildenden Kunst und ließ sich an der Wiener Akademie zum Kupferstecher ausbilden. Plötzlich suchte das Kaiserhaus einen Hofimker. Der Slowene aus der Oberkrain bewarb sich, wurde (1769) angestellt und erwies sich, als Forscher, Lehrer, Organisator und Fachschriftsteller der Bienenzucht, rasch als Volltreffer. Beispielsweise hellte er die Befruchtung der Königin in der Luft auf und regte dazu an, auch Bienen zielstrebig »auf die Weide zu treiben«, wie ein slowenisches Lexikon schreibt. Auch die kastenför-migen, leicht stapelbaren Bienenstöcke mit entfernbaren Stirnwänden und Bodenbrettern sollen sich ihm verdanken. Nur die Frage, warum sich Janša schon 1773, mit 39 Jahren, ein »Hitziges Fieber« zuzog*, das ihn in den Sarg warf, scheint bislang niemand aufgeklärt zu haben. Die auf den Neuerer selber gerichtete Forschung wirkt wie ein von modernen Landwirten emsig mit Pestiziden besprühter Magerrasen. Nach Martin Mißfeldt (!) war Janšas Vater Bauer gewesen; von der Mutter wisse man aber überhaupt nichts.** Das gleiche gilt offensichtlich für sein Wiener Privatleben, falls er eins hatte. Ein jämmerliches Bild.
~~~ Stößt man beim Stöbern im Internet auf den Bienenwolf, darf man sich nicht einschüchtern lassen. Diese sogenannte Grabwespe nutzt Honigbienen als Säuglingsnahrung. Ungleich schädlicher dürfte die Chemieindustrie sein, wie selbst Amazon-Zuarbeiter Mißfeldt anzudeuten wagt. Die mit Insektiziden von Firmen wie Bayer Cropscience gebeizten Raps-, Sonnenblumen- und Maisfelder sorgen unter Bienenvölkern bereits für ganze Leichenberge. Statt ihre Gifte vom Markt zu nehmen, tüfteln diese Weißkittel inzwischen an »jungfernfrüchtigen« Pflanzen, die nicht mehr bestäubt werden müssen. Somit wird es demnächst ohne Bienen und bald darauf auch ohne Menschen gehen. Das würde den Imkern immerhin die Schleier und den anderen die Mund-Nase-Masken ersparen. KritikerInnen werden von den Weißkitteln schon heute so erbittert bekämpft, daß der Einsatz von Insektiziden oder Impfstoffen auch an dieser Front nur noch eine Frage der Zeit ist.
~~~ Wie wir jedoch gesehen haben, hatten die Bienen auch immer Freunde. Einer der merkwürdigsten war der nachkaiserliche Salzburger Imker und Schriftsteller Georg Rendl. Er brachte es fertig, in seinem Bienenroman von 1931 auf 200 Druckseiten nicht einen Imker und auch sonst keinen Menschen vorzuführen. Der Roman spielt ausschließlich unter Bienen. Verfolgt man freilich, wie Rendl jede einzelne Biene im Volksganzen auf- und untergehen läßt, weiß man, woher damals der Wind wehte. Bis Berchtesgaden war es nicht weit.
∞ Verfaßt 2022
* https://www.meinbezirk.at/event/leopoldstadt/c-brauchtum-kultur/tag-des-denkmals-2022-augartengold-auf-den-spuren-des-hofimkermeisters-anton-janscha_e871657
** Martin Mißfeldt, https://www.lichtmikroskop.net/geschichte/anton-janscha.php, Stand 2022
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