Freitag, 3. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 4
Automobilisierung, Fischer – Balkon

Zu den 20 größten postmodernen Übeln dürften der Autoverkehr, die Berufspolitik und die Frauenbefreiung zählen. Veronika Fischer (1964–2012) verkörperte sie gleich im Strauß. Als sie am Sonntag den 6. Mai 2012 aus ihrer am Mayener Marktplatz gelegenen kleinen Wohnung getragen wurde, war sie tot. Da hatte sie die Übel immerhin schon 47 Jahre lang ausgehalten. Mayen, knapp 20.000 EinwohnerInnen, liegt westlich von Koblenz. Fischer (CDU) war die amtierende Oberbürgermeisterin der Eifelstadt gewesen. Sie hatte zwei halbwüchsige Kinder, lebte jedoch »seit einiger Zeit« von denen und deren Vater getrennt. Die gebürtige Westfälin stand in jeder Hinsicht auf eigenen Füßen. Sie war gelernte Juristin, ehrgeizig und sogar filmbar. Prompt mauserte sich das blonde »Frauchen« um 2000 zur »knallharten« Politikerin, wie es überall heißt. Indessen ahnten die Zeitgenossen auch vielerorts, daß Fischer »innen« eher einer empfindlichen Schwimmblase glich. Schon am Samstag als vermißt gemeldet, war sie anderntags in ihre bereits durchsuchte Wohnung zurückgekehrt, wo sie abends nur noch tot vorgefunden wurde. Die Art des Selbstmordes wird nirgends genannt. Kummer mit Nahestehenden wird zwar gemutmaßt. Wahrscheinlich habe Fischer aber vornehmlich unter dem von ihr mitgeschaffenen Arbeitsklima gelitten: den meist versteckt vorgebrachten Angriffen auf diese »Chefin« also, die es angeblich liebte, ihre Kollegen im Stadtrat entweder stundenlang an die Wand zu reden oder mit knappen bissigen Kommentaren an derselben aufzuspießen. Das Magazin Focus wußte auch, Fischer hatte erst Ende März einen »schweren« Autounfall gehabt, bei dem ihr Wagen in Brand geriet; sie habe sich freilich noch aus diesem retten können. Denkbare andere brennende oder nicht brennende Unfallopfer übergeht das Magazin. Diesen Crash überstand sie also glimpflich. Bald darauf, am 8. Mai, war der Regionalpresse zu entnehmen, die größere Katastrophe habe die zierliche Frau, die so gern Machthaberin war, wenige Tage vor ihrem Tod geahnt, als sie seufzte: »Dieser Job bringt einen um.«
~~~ Liegt Martin Randelhoff von der TU Dortmund (2019) richtig, leistet sich die Welt jährlich 1,35 Millionen, täglich rund 3.700 Straßenverkehrstote. Tag für Tag wird also ein traditionsreiches Städtchen wie Freyburg an der Unstrut ausradiert, nur möchte es keiner sehen. Bei Kindern sei der Straßenverkehr bereits die häufigste Todesursache. Die jährlichen Verletzten schätzt Randelhoff auf 50 Millionen. Da die Autos inzwischen Panzern ähneln, landen heutzutage nicht mehr ganz soviele Leute im Sarg oder im Rollstuhl. Zukünftig nur mit einem Daumen und dem eingebrannten Schrecken zu erwachen, ist allerdings auch nicht gerade ermunternd. Hätte Randelhoff seine Zahlen den Corona-Viren unterbreitet, hätten sich diese totgelacht. Stellte man ähnlich überraschend, wie kürzlich eine sogenannte Pandemie ausgerufen wurde, die weltweite Produktion von Autos ein, bräche wohl mehr als nur Freyburg an der Unstrut zusammen.
~~~ An das Unglück, die UNO nähme plötzlich die postmoderne Befreiung der Frau zurück, darf man gar nicht denken. Keine Tesla-Managerinnen mehr, keine Soldatinnen und Kriegsministerinnen, keine Bischöfinnen, Fernsehintendantinnen und Oberbürgermeisterinnen und so weiter und so fort. Für jeden männlichen Schandtäter, der wohlweislich erst einmal Gras über sein Verbrechen wachsen lassen will, findet sich in der Postmoderne auf der Stelle weiblicher Ersatz. Bleibt nur noch zu hoffen, Fischers Kinder, einerlei welchen Geschlechts, hätten mehr Glück als die Mutter.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


Der damalige Geschäftsführer der sächsischen NPD-Landtagsfraktion Uwe Leichsenring (1967–2006) leistete sich im letzten Sommer seines Lebens ein besonders leckeres »Kavaliersdelikt«. Zwischen Pirna und seiner Heimatgemeinde Königstein auf der Bundesstraße unterwegs, setzte der massige, gedrungene Volksvertreter mit seiner Mercedes-Limousine zum Überholen einer Autokolonne an, prallte jedoch auf einen ihm entgegen kommenden Lastwagen. Leichsenrings Fahrzeug wurde in zwei Teile gerissen; der Lastwagen geriet in Brand. Während Leichsenring, erst 39, noch an der Unfallstelle starb, wurde der Lkw-Fahrer mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus geflogen. Vielleicht wußte es der Verletzte bereits: Im Hauptberuf war Leichsenring, seit 2000, selbstständiger Fahrlehrer gewesen.
~~~ Wo bleiben die Linken? Wie erfüllen wir die Frauenquote? Wir schmuggeln einen »Maßstab« ein. Am Abend des 16. Januar 2002 per Autobahn von Bremen nach ihrem Wohnort Bremerhaven unterwegs, entschloß sich die Rechtsanwältin und SPD-Politikerin Hilde Adolf, Mitglied der bremischen Landesregierung, einen Lastwagen zu überholen. Wikipedia meint, dabei habe die 48jährige »aus ungeklärter Ursache bei einer Geschwindigkeit von etwa 160 km/h die Kontrolle über ihren Dienstwagen verloren« … Der von Adolf gelenkte, nun schleudernde Wagen flog aus der Bahn und prallte gegen mehrere Bäume. Auch sie starb noch am Unfallort. Gespräche mit dem Lkw-Fahrer und Untersuchungen sowohl des Fahrzeugwracks wie des Leichnams ergaben, laut Pressemeldungen, keine Anhaltspunkte für ungünstige äußere Einflüsse (Wetter eingeschlossen)*, technische Defekte oder »Vorerkrankungen«. Heute läge somit der starke Verdacht nahe, Adolf sei an Corona gestorben. Sie hatte zuletzt das Amt der Bremer Senatorin für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales bekleidet. »Hilde bleibt der Maßstab«, überschrieb die Bremerhavener Nordsee-Zeitung am 9. Dezember 2010 einen Artikel, der eine soeben erschienene Biografie über die flotte Senatorin vorstellte. Im Raum Bremen sind ein Preis und mehrere Örtlichkeiten nach ihr benannt. Da sieht man, wie Leistung und Leichtsinn sich lohnen.
~~~ Der Chor der Trauernden ließ sämtliche friesischen Pappelhaine und Windradmasten erzittern, und ich stimme nachträglich ein. Vielleicht hätte Rechtsanwältin Adolf heutzutage noch nicht unbedingt für Zwangssterilisationen plädiert, aber eine energische Vorkämpferin des Maskenzwangs wäre sie mit hoher Wahrscheinlichkeit gewesen. Die Maske erstickt ja nicht nur die Viren, sondern auch das lästige, von bestimmten Gesichtszügen hervorgelockte Mitgefühl. Kapuze auf, Kopf ab, zack – das wußten schon so manche herzöglichen Henker oder Leibgardisten Allahs zu schätzen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Nobis / Frischemeyer, https://www.welt.de/print-welt/article369348/Tragischer-Unfalltod-der-Bremer-Sozialsenatorin.html, 18. Januar 2002



Seit dem Heraufkommen der Massengesellschaften zählen Statistiken zu den wirksamsten Lügen- und Betrugsmitteln der jeweils herrschenden Cliquen. Das leuchtet fast unmittelbar ein, weil Massen eben eine gleichsam natürliche Vorliebe für große Zahlen haben. Dagegen war den winzigen »proletarischen Vorhuten«, die wir auch in Deutschland hatten, schon um 1970 klar, die Statistiken der Arbeitsämter werden grundsätzlich beträchtlich gefälscht. Inzwischen gibt es derart viele Sorten von »Unterbeschäftigung«, daß die Behörden- und Fernsehchefs nach Belieben mit ihnen jonglieren können. Die Massen fressen es. Wahrscheinlich erregen auch die Statistiken über die jährlichen Opfer des Straßenverkehrs wenig Anstoß. Schließlich gibt es kaum ein Mitglied der Masse, das unmotorisiert wäre, und die Motorisierten haben den verständlichen Wunsch, sich sicher zu fühlen. Deshalb fahren sie diese gepanzerten Wagen mit den scheunenbreiten Mäulern. Zwischen 1970 und 2017, lese ich erfreut bei destatis.de*, haben wir in Deutschland einen unablässigen und starken Rückgang der Verkehrstoten zu verzeichnen, von 21.000 auf 3.000. Das gibt gute, beruhigende Zeitungsüberschriften. Bei den Verletzten soll der Rückgang allerdings schon deutlich weniger stark ausgefallen sein, von knapp 600.000 auf knapp 400.000. Das paßt nicht mehr so gut in die Zeitungsartikel. Denn viele dieser Verletzten sind einäugig oder einbeinig, rollstuhlfahrend oder Selbstmord-kandidaten. Dies lebendig an die Wand zu malen, können wir von der Statistik wohl kaum verlangen. Sie tötet jeden Einzelfall.
~~~ Vorausgesetzt, die Leute vom Statistischen Bundesamt sind die Redlichkeit in Person, könnte man sich immer noch fragen, woher sie das alles, was sie uns erzählen, eigentlich wissen. Und ob der Bürger im Zweifelsfall eine Möglichkeit hätte, die Quellen und die Darstellung seiner Bundesamtsleute zu überprüfen? Da sehe ich ziemlich schwarz. Schon die ersten Glieder der Informationskette, die MelderInnen und ErfasserInnen von Verkehrsunfällen, sind nur Menschen. Sie haben ihre Interessen und Schwächen und machen zuweilen Fehler. Dies dürfte gewaltig verstärkt erst recht für die aufgeblasene Plandemie gelten, die uns neulich verordnet worden ist. Viele kritische Stimmen behaupten, auch von den jüngsten »Impfschäden« erreichten uns nur Bruchteile, weil sie, aus Kosten- oder Gehorsamsgründen, von den Ärzten gar nicht erst gemeldet oder spätestens in den maßgeblichen Instituten umfrisiert würden. Übrigens erläuterte der wohlbestallte Statistiker Gerd Bosbach bereits im Frühjahr 2020, welches Ausmaß an Unklarheit und Willkür beim Operieren mit Zahlen von Infizierten, Verstorbenen, Bedrohten am Werke ist.** Viel komme auf die Kriterien an, und die seien oft unterschiedlich. Schon an der Frage, ob ein alter Mensch mit oder an Corona gestorben sei, scheiden sich bekanntlich die Geister. Ferner arbeiten die Schürer der Panik gern mit Hochrechnungen, nämlich durchaus ungesicherten Annahmen, ohne dies jedoch einzugestehen. Ähnliches gilt »natürlich« für die Temperaturmessungen und Alarmmeldungen der angeblichen KlimaschützerInnen und für tausend andere Bereiche. Hier ist immer höchster Argwohn angebracht.
~~~ Um noch einmal auf die Impfschäden zurück zu kommen, steht uns nach Ansicht der bekannten kritischen US-Mediziner Joseph Mercola und Ryan Cole geradezu eine erdweite Springflut in Haus. Ihre Darstellung*** klingt eigentlich glaubhaft. Aber in den Leidmedien werden sie verleumdet. Die beiden behaupten, seit den jüngsten Impfungen nähmen vor allem diverse Krebs-, ferner Autoimmun-Erkrankungen, Schlaganfälle, Unfruchtbarkeit und anderes auffällig zu, dabei selbst unter jungen Menschen. Sie stützen sich dabei auf Aussagen vieler Ärzte, eigene Laborerfahrungen und sogar Daten aus der renommierten Defense Medical Epidemiology Database (DMED), die auch vom Pentagon benutzt wird. In der Tat hatte nämlich ein Whistleblower des Militärs »gesungen« und die alarmierenden Daten für eine öffentliche Anhörung zu Verfügung gestellt. Kurz darauf habe das Pentagon den Zugang zu DMED gesperrt – und als es ihn nach einer Woche wieder freigab, seien die »Spitzen« des alarmierenden statistischen Verlaufs plötzlich entschärft gewesen. Cole entkräftet die Ausreden des Pentagons und spricht von einem Betrug auf Watergate-Niveau.

∞ Verfaßt 2022
* https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressekonferenzen/2018/Verkehrsunfaelle-2017/pressebroschuere-unfallentwicklung.pdf?__blob=publicationFile
** »Solchen Wissenschaftlern würde ich gerne Kamera oder Mikrofon entziehen«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=59617, 26. März 2020
*** https://www.rubikon.news/artikel/todlicher-gesundheitsschutz-2, 4. August 2022



Der Schüler Tobias Przemek Ropel (1984–2001) wurde nur 16 Jahre alt. Von dem Foto auf der »Gedenkseite«, die Freunde eingerichtet haben, blickt uns ein hübscher Bursche etwas herausfordernd an – das hat auch Charme und läßt sich unmöglich mit einer Kriegserklärung verwechseln. Noch geht der Jugendliche auf die Korbacher Louis-Peter-Schule. Er denkt an irgendeine Lehre bei den hiesigen Gummiwerken, die von besagtem Louis Peter dereinst gegründet worden, später der Conti zugefallen sind. Er ist gesellig, stets für einen Scherz zu haben, sicherlich auch für einen Umtrunk, aber alles im harmlosen Rahmen.
~~~ Der Rahmen wird erst im Juli 2001 beim Korbacher Altstadtfest gesprengt. Da verlassen einige Jugendliche, unter ihnen Tobias, um Mitternacht das Festzelt auf dem Obermarkt, legen sich mit einigen Mitgliedern des Motorradclubs Bandidos an – oder umgekehrt. Alle sind mehr oder weniger angetrunken. Der Club hatte sich im Zelt bereits mit dem Wirt gestritten. Jetzt greift ein tätowierter 41jähriger mit Zopf den 16jährigen Schüler an, der ihn zuvor beschimpft haben soll, packt ihn am Kragen und sticht ihm ein Klappmesser in den Bauch. Die Messerklinge ist 10 Zentimeter lang. Tobias stirbt gegen Morgen im Krankenhaus. Die BürgerInnen, die beim Frühstück Radio hören, sind entsetzt. In ihrer Stadt! Richter Heinz-Volker Mütze wird dem Täter ein Jahr darauf einen »absolut nichtigen« Anlaß für das Ziehen seiner Waffe bescheinigen. Und selbstverständlich habe solch ein Messer nichts auf einem Sommerfest zu suchen. Immerhin, am Nachmittag stellt sich der zunächst geflüchtete Täter der Polizei. Er habe sich angegriffen gefühlt, aber keine Tötungsabsicht gehabt. Mütze nimmt ihm das schließlich ab, zumal die Frau des in Vöhl am Edersee wohnenden Täters vor dem Kasseler Landgericht versichert, er habe zu Hause voller Reue geweint. Seine Kleidung hatte sie, nach den Feststellungen der Kriminalpolizei, anderntags Bekannten gegeben – zum Verbrennen. Der Regionalpresse zufolge wurde der Angeklagte, der zuletzt als Aushilfe in einem Korbacher Tatoo-Studio gearbeitet hatte, im April 2002 wegen vorsätzlicher Körperverletzung mit Todesfolge zu einer Haftstrafe von vier Jahren und drei Monaten verurteilt. Nach drei Jahren ist er wieder frei. Die Gedenkseite für sein Opfer steht noch im Internet.
~~~ Korbach, früher Hansestadt, ist die Hauptstadt des nordhessischen Landkreises Waldeck-Frankenberg. Im Schnitt kommen in diesem Landkreis jährlich ungefähr acht Menschen bei Straßenverkehrsunfällen um – mal junge, mal alte. Zugegeben, es waren schon einmal mehr.* Da die Autos auch und gerade im Waldeckschen, dank der Conti-Reifen beispielsweise, »sicherer« geworden sind, beläuft sich der Rest, nämlich an Nichttoten (um 200 Schwerverletzte bei jährlich rund 3.900 Verkehrsunfällen im Landkreis), inzwischen auf verkrüppelte, am Tropf hängende oder von Alpträumen heimgesuchte Beteiligte. Dieser Befund ist im Landkreis noch niemals Anlaß zu öffentlicher Bestürzung gewesen.

∞ Verfaßt 2022
* »3.916 Unfälle im Kreis«, lokalo 24 / Eder-Diemel-Tipp (Kassel), 31. Mai 2020: https://www.lokalo24.de/lokales/waldeck-frankenberg/3916-unfaelle-waldeck-frankenberg-wild-vielfach-eine-gefahr-13781344.html



Ich nehme an, im großen und ganzen sind die deutschen Flüsse so sauber wie die deutschen PolitikerInnen. Zur nordfriesischen Treene sagt Brockhaus diesbezüglich kein Wort. Sie kommt von Sörup her und mündet, weiter südlich, bei Friedrichstadt in der Eider. Stichproben im Internet deuten für 1977 und später eine eher mangelhafte Wasserqualität an. Alles andere wäre auch verwunderlich, dürften doch die lieben Landwirte, deren gefleckte Kühe so gern fotografiert werden, regelmäßig Hektoliter an schnuckeligen Düngemitteln in der Treene landen lassen, von den Kuhblasen ganz zu schweigen. Dies hat mich um 1977 aber nicht sonderlich gejuckt. Westberliner Freunde hatten bei Schwabstedt ein altes Bauernhäuschen erworben, wo ich einmal Sommerfrische machen durfte. Morgens schnürte ich über die Wiese hinterm Haus und ließ mich begierig in das braune, moorige, würzig duftende Wasser der Treene gleiten. Dagegen war die Spree in Berlin eine Jaucheleitung, so empfand ich es jedenfalls. Immerhin lese ich auf einer Kanu-Webseite, die Wasserqualität der offiziellen Schwabstedter Flußbadeanstalt sei in den jüngsten fünf Jahren durchweg »ausgezeichnet« gewesen. Wer es glaubt, wird selig.
~~~ Das Bauernhäuschen kam sogar ohne Kühlschrank aus. In der Küche gab es eine Art Falltür, durch die man in ein größeres Kellerloch stieg. Dort war die Butter davor sicher, im Lehmboden zu versickern. Sie schmolz nie und wurde nie ranzig. Nach jeder zweiten Mahlzeit belästigte ich die GastgeberInnen und weiteren Gäste mit taufrischen Liedern zur Gitarre, denn damals hatte ich mit dieser Unsitte – dem Liedermachen – gerade angefangen. Vermutlich hätten es noch nicht einmal Tom Snow und Nan O'Byrne gewagt, den Leuten solche Erstlingswerke zuzumuten. Aber man ermutigte mich. Schließlich gehörte das Häuschen einem linken Lehrerehepaar.
~~~ Bei solchem Müßiggang am Treenestrand liegt ein Blick aufs Treideln nahe. Brockhaus bestimmt es beinahe erschöpfend so: »Ziehen eines Schiffes oder Bootes mit Tier- oder Menschenkraft auf Flüssen und Kanälen vom Ufer aus.« Von der Erschöpfung der Ziehenden spricht er lieber nicht. Allerdings erinnere ich mich an den russischen Maler Ilja Jefimowitsch Repin, Band 18. Der dortige Eintrag ist mit einer farbigen Abbildung versehen, Titel laut Brockhaus „Burlaken an der Wolga“, entstanden um 1870. Dieses Breitformat zeigt die Kolonne der abgerissenen Zugleute meisterhaft. Nach den Treidelpfaden wird man an unseren Flüssen, soweit ich sehe, auch keinen nennenswerten Schiffsverkehr mehr entdecken. Ein paar Lastkähne und Ausflugsdampfer, und die sogenannte Wasserschutzpolizei, die vor allem UrheberInnen von »Falschnachrichten« aufzustöbern und bei Nancy Faeser abzuliefern hat. An der Treene fährt man selbst zwischen benachbarten Dörfern nicht Boot; man nimmt das Auto. Boot wäre viel zu langsam. Desgleichen, wenn Pendler von Friedrichstadt nach Treia (Luftlinie 20 Kilometer) mit einem Linienschiff fahren wollten. Bei den vielen Flußwindungen stünde ihre Stechuhr beim Autozulieferbetrieb in Treia schon auf Mittagspause, wenn sie schließlich einträfen.
~~~ Gerade versetzt mir der wohl leitende Redakteur der NachDenkSeiten einen Schock.* Er ruft schon in der Überschrift »Autoland ist abgebrannt«. Das meint er aber nicht etwa mit jener antiautoritären »klammheimlichen Freude« des Mescalero oder des Verkleinerungstheo-retikers E. F. Schumacher aus der Zeit just um 1977 – nein, er bedauert es vielmehr. Er hört mit Schrecken, schon wieder wollten VW, Mercedes, BMW und andere in Deutschland Werke stillegen und damit viele wertvolle Arbeitsplätze vernichten. Er fürchtet das Gespenst der »Deindustrialisierung«, das uns auf den Irrweg der Verarmung locken möchte. Der Artikel könnte auch in der zahmen Proletkult-Zeitung Junge Welt oder in Wagenknechts (!) Pressebulletin stehen. Im kommenden Jahr wird Berger womöglich schon vor »einschneidenden Kürzungen« bei der Rüstungsschmiede Rheinmetall warnen. Von jener »revulutionären« Gesinnung, die sich doch eigentlich Herausgeber Albrecht Müller so gern ans Revers heftet, ist dies alles unbeleckt. Das um 1977 beschworene grundsätzliche »Umdenken« ist so wenig erwünscht wie ein Umsturz. Eine Abschaffung des vielfach verheerend wirkenden Autoverkehrs und des unermüdlichen Strebens nach mehr Bequemlichkeit wird mit keinem Komma erwogen. Stattdessen sorgt man sich um die Sorgen der Automobilkonzerne bis in jedes Detail. Ein abschließender Schlenker auf das gute alte Pferd ist eher ein Hohn. Man hat sich im blinkend verbarrikadierten Kadaver der Welt eingerichtet. Den Verwesungsgeruch, mit nachhaltigst arbeitenden, solarbetriebenen Pumpen abgesaugt, schicken wir in die Weiten des Universums, das ja unendlich sein soll.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 37, September 2024
* Jens Berger, »Autoland ist abgebrannt«, https://www.nachdenkseiten.de/?p=120760), 4. September 2024



Ich sprach schon einmal davon: einige deutsche Städtchen seien lediglich bekannt, weil es dort einmal eine Feuersbrunst oder einen fetten Mord gegeben habe. So auch Treuenbrietzen. Nur Brockhaus weiß das nicht. Stattdessen stellt er ausgerechnet den dortigen Fahrzeugbau heraus, voran Anhänger und Lkw-Zubehör … Treuenbrietzen liegt südlich von Berlin im Kreis Potsdam-Mittelmark und hat inzwischen rund 7.500 EinwohnerInnen. Immerhin klärt das Lexikon hinsichtlich des Ortsnamens auf, man habe das Städtchen einst als das »trockene Brietzen« von Wriezen im Oderbruch unterscheiden wollen. Andere Quellen behaupten, es sei durchaus um die »treuen« Bürger von Brietzen gegangen. Wie auch immer, könnte man vielleicht auch das bekannte Lied Sabinchen war ein Frauenzimmer als trocken bezeichnen. Die PR-Leute der Stadt walzen es kräftig aus, weil in dieser angeblichen Parodie auf eine Moritat eben »Treuenbrietzen« erwähnt wird. Von dort kommt nämlich ein Schuster, um Sabinchen schöne Augen zu machen, um ihre Ersparnisse zu erleichtern und ihr dann mit einem Rasiermesser den Schlund abzuscheiden. Aber wenn Sie mich fragen, ist so ein Einzelfall gegen alle vielfältigen Folgen und Begleiterscheinungen der gerade verhandelten Automobilproduktion doch eher harmlos. Stellen Sie sich einmal vor, Sahra Wagenknecht würde im Parteibulletin verkünden: Alle AutofahrerInnen sind MörderInnen. Sie hätte sofort den Staatsanwalt am Hals und bei der nächsten Wahl Einbußen um 15 Prozent. Deshalb wird sie es lieber nicht verkünden. Mir jedoch wird sie vorhalten, an jenen Folgen und Begleiterscheinungen der Automobilproduktion zu sterben sei doch immer noch besser, als in der Ukraine an der Front zu fallen. Ja, genau das wird sie mir sagen. Schließlich zählt sie zu den geschicktesten Verfechtern der »Theorie des Kleineren Übels«, die Deutschland nach der Auflösung der USPD hervorgebracht hat.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 37, September 2024

Siehe auch → Astrid von Schweden (»Kontrolle«) → Alter, 73 (Autobahn) → Blüher (DDR) → Braune (Def. Verkehrsunfälle) → DDR, Dudow (sozialistische Unfälle) → Band 4 Bott Axt Kap. 10 (VW Golf GTI) → Band 4 Düster, Freundschaftsdienst, Kap. 3




Autorität

Bevor Friedrich II. der bekannte »Große« wurde und gleich nach seiner Thronbesteigung im Jahr 1740 in die militaristischen Fußstapfen seines Erzeugers trat, hatte er eine jugendliche antiautoritäre Phase zu durchlaufen, die seinem deutlich älteren Busenfreund Hans Hermann von Katte (1704–30) den Kopf kostete. Sie hatten im selben Regiment gedient, gemeinsam Flöte und womöglich sogar wechselseitig an ihren ähnlich geformten Fortpflanzungswerkzeugen gespielt. Als Friedrich 18 war, hielt er die Bevormundung durch seinen Alten nicht mehr aus und bat Von Katte, ihm beim Ausreißen gen Frankreich zu helfen. Das war im August 1730. Leider flog das abscheuliche »Fahnenflucht«-Unternehmen auf. Beide Rebellen wanderten in den Kerker. Zwar wurde dann »nur« Leutnant von Katte, 26, auf königlichen Befehl in der Festung Küstrin enthauptet, aber angeblich zwang der Alte seinen Sprößling Friedrich dabei zuzusehen. Später söhnten sich Friedrich Wilhelm der I. und sein Kronprinz wieder aus.
~~~ Im folgenden wurde der berühmte Vorfall zu den unterschiedlichsten literarischen Werken verwurstet, die kaum noch zu zählen sind. Ich nehme ihn zum Anlaß mich zu fragen, was eigentlich von dem vielgestaltigen, weitläufigen, wenn auch stets gut zentralisierten Gebilde namens Staat zu halten sei? Selbstverständlich gar nichts. Der Staat wurde vor einigen tausend Jahren erfunden, damit beschäftigungslose BürgerInnen ihrer sogenannten Elite dienen konnten. Die Elite war nämlich nicht erpicht darauf, auch noch ihre eigene Beschäftigung zu verlieren. Die bestand vor allem im Kriegführen. Dazu benötigte die Elite die Steuern und die Söhne ihrer BürgerInnen – und zwar bald in erhöhtem Maße, damit man sich den neugeschaffenen Staat überhaupt leisten konnte. Diese ganzen Befehlsstäbe, Politbanden und Bürokratenheere, für die schon der Schatten der Pyramiden nicht zur Deckung ausreichte, wollten ja besetzt und ernährt sein.
~~~ Zum Glück besaß der Staat auch das Monopol aufs Geld – Finanzhohheit genannt. Niemand verbot ihm, sich bis ins Astronomische hinein zu verschulden oder die Gelddruckmaschinen anzuwerfen. Dabei fiel dann auch Mildtätigkeit gegenüber den Bedürftigen der Gesellschaft ab – denn sie in Krisenzeiten (keine Kriege, keine Arbeit, keine Impfbereitschaft) einfach verhungern zu lassen, geht ja nur in Unrechtsstaaten wie der DDR. Vorher hatten sich die Leute kurzerhand aus dem Wald ernährt. Jetzt wurden sie verwaltet. Wir stehen hier vor dem entscheidenden Punkt des Geniestreichs namens Zivilisation: den Bürger entmündigen, um ihm helfen zu können. Er sollte sich nicht mehr selber helfen. Vater Staat nahm ihm großzügig alles ab. Die Politik, die Arbeit, das Geld, die Bildung, die Verantwortung, ja selbst seine Geheimnisse und noch manches andere. Ihn in mehr oder weniger kleinen, selbstgewählten Bündnissen leben und wirtschaften zu lassen, wie es ihm grad beliebt, kommt heute schon gar nicht mehr in Frage, weil die Elite auf Globallisierung pocht beziehungsweise den Planeten zu einer Schiefen Ebene zu planieren gedenkt, auf der die Rubel wirklich nur noch in ihre Taschen rollen.
~~~ Die Rede vom Vater Staat ist verräterischer, als die Schröders und Merkels denken. Verzweifelt unsereins regelmäßig an der Ohnmacht unterdrückter und unrecht behandelter Menschen in Nah und Fern, knüpft er selbstverständlich an seiner Kinderstube an. Unsere Väter waren die ersten, die das Recht beugten, weil sie die Auslegungshoheit und das Gewaltmonopol besaßen. Sie waren die ersten, die Fürsorglichkeit heuchelten, wenn sie Eigennutz meinten. Sie versorgten uns um den Preis, ihnen zeitlebens dankbar sein zu müssen. Bleiben wir diese Dankbarkeit schuldig, versorgen sie uns gern mit Schuldgefühlen. Kriechen wir wieder zu Kreuze, bläuen sie uns erneut das vernagelte »Clandenken« ein, das im größeren Maßstab »Vaterlandsliebe« heißt. Mehr zum Staat unter S.
~~~ Vor rund 20 Jahren war ich für knapp zwei Jahre im Sozialdienst eines Korbacher Altenheims angestellt. Einmal sah mich meine Vorgesetzte in ihrem Büro stirnrunzelnd an und sagte: »Ich glaube, Sie haben ein Autoritätsproblem, Herr R. …« Offenbar hatte ich mich einmal mehr verstockt oder aufsässig gezeigt. Und die Dame hatte natürlich recht. Es ist ein umfassendes Autoritätsproblem, anhand dessen man sich mehr oder weniger erfolglos durchs Leben hangelt. In vielen Fällen läßt sich leider kaum oder gar nicht entscheiden, ob eine Widersetzlichkeit einer armlangen Schraubzwinge, die immer wieder vom geleimten Sofagestell abspringt, oder aber dem Chef, Vater Staat, Mutter Natur, dem System, der Geworfenheit in die Welt oder auch einer Geliebten gilt, die einen kürzlich verlassen hat. Dieser treulosen Beißzange schmeißt man dann wütend die trotz oder wegen eingekerbter Andruckklötze zum 28. Male abgesprungene Schraubzwinge auf die Füße. Man sollte deshalb, neben dem Staat, auch das Problem Vermischter Motive nicht unterschätzen. Wegen dieser Gemengelage tat ich meinem letzten Chef, ein in seinem Fach ausgezeichneter Raumausstatter-Meister, ohne Zweifel wiederholt auch Unrecht. Im übrigen war er ein glühender Verfechter des Leistungs- und Führungsprinzipes. In der DDR hätte er es womöglich bis ins Staatssekretariat für Arbeit und Löhne gebracht.
~~~ Ich fürchte fast, das weite Feld »Autoritätsproblem« sei letztlich ein »Ich-Problem« – das Problem eines Ohnmächtigen, der nie als Machthaber zum Zuge kommt. Ob sich mein Zorn gegen harmlose Gebrauchsgegenstände, etwa eine klemmende verglaste Bücherschranktür, oder gegen durchtriebene Angehörige, Hunde, Vorgesetzte richtet, dürfte doch im Grunde egal sein. Denn er gilt stets einer Verweigerung. Sowohl die erwähnte Schraubzwinge wie die abtrünnige Geliebte verweigern ihren Gebrauch. Auch der Politiker, der in durchaus bejahendem Zeitgeist einen Erlebnispark einweiht, ergrimmt mich durch ein »Nein!« – mir wäre die Erhaltung eines Sumpfes, in dem sich Ringelnattern und Regenpfeifer tummeln, lieber gewesen. Der Zorn raucht stets aus dem Schlund eines Ichs. Das möchte die Welt so und so haben, doch sie zeigt ihm nur einen Vogel.
~~~ Hier wird man natürlich einwenden, dies sei kindisch. Das ist nicht falsch. Ich bin imstande, abspringende Schraubzwingen oder zusammengebackene Briketts auf der einen und Kinderstuben oder Bundeskabinette auf der anderen Seite mit der gleichen Inbrunst zu verfluchen, weil sie die gleiche Zumutung darstellen. Sie werden mir vorgesetzt; ich bin von ihnen abhängig; ich kann sie so gut wie nicht beeinflussen. Meine Ohnmacht und Kränkung ist in allen Fällen die gleiche. Sogar das Vermögen, beispielsweise Allmacht, Unverwundbarkeit, Freiheit zu denken, wurde mir aufgezwungen. Nur die Freiheit selber enthielt man mir leider vor.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022


In der Bezauberung, die er vor allem im ersten Teil ausübt, dürfte der 1937 erschienene Roman Schwarze Weide kaum zu übertreffen sein. Es war der erste Roman des Niederschlesiers, Wahlberliners und angeblichen »Innerer Emigranten« Horst Lange (1904–71). Lange selber übetraf ihn leider auch nie mehr.
~~~ Die Schwarze Weide wird aus dem Blickwinkel eines Halbwüchsigen erzählt, dem sich nur unter Verrenkungen bescheinigen ließe, er erwache. Am Beginn des Romans döst er beim Äpfelernten hinterm flirrenden Laub. Das kommende Leben zieht wie die Spinnweben des Altweibersommers an ihm vorbei, ohne ihn wirklich berühren zu können. Alle Machenschaften und Verhängnisse, in die ihn seine Sommerfrische auf dem Land verstrickt, sieht er durch diese wehenden Fäden, an denen die Machenschaften und Verhängnisse kleben bleiben. Im Grunde beobachtet er nur. Auf dem Land und dessen Gehöften liegt die Schwermut dieses empfind-samen Beobachters. Lange schildert detailreich bis zur Pedanterie, verärgert dadurch aber nicht, weil es der Zähflüssigkeit des Geschehens beziehungsweise der Wahrnehmungsweise seines Helden entspricht. Für einen Maler gibt er auch erstaunlich viel fürs Ohr. Die Soziale Frage bleibt drittrangig, obwohl er die Klassenunter-schiede keineswegs übergeht. Was die Menschheit vor allem zu bewegen scheint, ist ein großes Bedürfnis nach Gestraftwerden. Von daher steht die übermächtige, wenn auch zerklüftete Vatergestalt des vierschrötigen Bauern Gotthold Starkloff nicht zufällig im Mittelpunkt des Romangeschehens. Starkloff tyrannisiert – und wird seinerseits von Mörderhand ereilt.
~~~ Fotos zeigen den 30- oder 40jährigen Lange als hübschen Mann mit schmalem, aber sinnlichem Gesicht. Die ganze Gestalt hat einen verletztlichen Zug. Lange wuchs in der Männerwelt einer Kaserne am Rande von Liegnitz auf, wo sein Vater als Leutnant Dienst tat. Zwischen ihm und dem Vater habe »stete Spannung« geherrscht, ist aus einem 1979 veröffentlichten Porträt Langes aus der Feder seiner Frau Oda Schaefer, einer Lyrikerin, zu erfahren. Es gibt einige heftige Streits und mehrere Ausreißversuche des heranwachsenden Lange, so zum Bauhaus nach Weimar oder an die Uni in Berlin – der Alte holt ihn zurück. Auch die gemeinsam mit Oda vorgenommene Übersiedlung von Liegnitz nach Berlin im Mai 1931 nennt sie »die dritte Flucht Horst Langes aus dem Vaterhaus«. Sein Studium (Kunstgeschichte, Literaturgeschichte, Theaterwissenschaft) hatte Lange in Breslau nicht abgeschlossen; eine Doktorarbeit wurde abgelehnt. Mit Rückenstärkung von Günter Eich, Martin Raschke und dem Verleger V. O. Stomps versucht sich Lange nun als Publizist über Wasser zu halten. Die Arbeit am ersten Roman wird »zum Martyrium«. Doch sie lohnt sich: die Schwarze Weide findet unter Kritikern eine nahezu einhellige rühmende Aufnahme. Selbst der Emigrant Sebastian Haffner stimmt (von England her) in den Chorus ein.
~~~ Das heikle Verhältnis unseres halbwüchsigen Ich-Erzählers zum Vater wird im Roman lediglich angedeutet. Die psychologischen Schlachten hat er mit seinem Halb- und Ersatzvater Starkloff sowie mehreren jungen Frauen zu schlagen. Was ihm auch begegnet, es hat bedrohlichen Charakter. Nachkriegswirren und grandiose Unwetter, die ja traditionell als Strafgerichte aufgefaßt werden, tun das Ihre hinzu. Mit der Gutsherrentochter Cora übersteht der Junge ein heftiges Gewitter in einer Schilfhütte nahe der verrufenen Mühle. Krönung des zweiten Teils stellt ein Hochwasser dar, dem unter anderem die ätherische junge Pächterstochter Irene zum Opfer fällt, die den Erzähler ähnlich bestrickt und zugleich abstößt wie einstmals Cora. Beide Unwetter sind meisterhaft mitreißend geschildert. Doch ansonsten fällt der zweite Teil stark gegen den ersten ab. Die Enthüllung der verschlungenen Wege des brünstigen Besatzungsoffiziers Smeddy und von Starkloffs Gegenspieler Smorczak, der sich vom Dorfwirt zum Sektenführer gemausert hat, gerät gar zu langatmig und spitzfindig. Lange lädt wieder alles mit Vorzeichen, Bedeutung und Verhängnis auf, ohne dadurch die Charaktere und ihre Taten (oder Unterlassungen) einleuchtend machen zu können. Statt einer Bloßlegung wohnen wir einem unablässigen Raunen bei. Ab dem unseligen, in der Großstadt spielenden Zwischenspiel, das die beiden Buchteile miteinander verbinden soll, liegt Langes Werk in den Krämpfen von unglaubwürdigen Zufällen. Im Zwischenspiel wohnt der Erzähler zufällig neben Coras Mutter, die dem Gutsherrn schon vor Jahren durchgebrannt war. Im zweiten Teil kehrt er zufällig am Tage eines von Smorczak ausgelösten Massenauflaufs in das niederschlesische Kreisstädtchen Nilbau zurück. Zufällig streitet sich der Prediger im Nebenzimmer mit dem gleichfalls zurückgekehrten Smeddy, sodaß der Hotelgast in den Hergang der Mordtat an Starkloff eingeweiht wird. In einer Gärtnerei stößt er zufällig auf das Töchterchen der frühverstorbenen Alma, die ihn damals in der Sommerfrische umgarnt hatte. US-Soldat Smeddy stellt sich als deutschstämmig heraus; zufällig trug er dereinst den Mädchennamen Tomscheit der Mutter des Erzählers – was Wunder, wenn Smeddy hartnäckig dessen Wege kreuzt …
~~~ Nach seinem gelungenen Wurf freundet sich Lange mit Kollegen wie Peter Huchel, Werner Bergengruen, Ernst Kreuder, Werner Helwig, Elisabeth Langgässer an. Die Schauspielerin Elisabeth Flickenschildt tritt zeitweilig als Konkurrentin Oda Schaefers auf. Doch im Mai 1940 muß der anerkannte Autor in seines Erzeugers Fußstapfen treten. Muß er? Jedenfalls läßt er sich einziehen. Sowohl seine nächsten Erzählwerke wie seine 1979 veröffent-lichten Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg verbieten es, Lange den Titel eines Antimilitaristen zu verleihen. Grundsätzlich stellt er den Krieg nie in Frage. Selbst der Rußlandfeldzug scheint für ihn eine Berechtigung zu haben; er wird nur mangelhaft (»dilettantisch«!) durchgeführt, nicht rechtzeitig abgebrochen; er mißglückt. Darin fügt sich auch das folgende ein.
~~~ Zum einen zeigt sich Lange von den angerichteten Zerstörungen nie wirklich erschüttert. »Lebensspuren« in den abgefackelten oder zerschossenen Bauernhäusern registriert er mitleidlos. Einmal schildert er einen Rundgang durch ein verlassenes Dorf unbeteiligt wie ein Buchhalter – obszön. Man gewinnt in der Tat den Eindruck, Lange habe kein Mitleid, übrigens auch nicht mit sich selber. Deshalb kommt mir auch seine Entrüstung über die treffend beobachtete Kälte Kafkas doppelzüngig vor. Ich kann mir Lange nicht warmherzig vorstellen. Er scheint jenen dumpfen Regionen verhaftet, die er so oft beschwört – den schlesischen Sümpfen; eben der Kälte. Somit muß ihm zum anderen eine starke Neigung zum Tod bescheinigt werden. Er gesteht sie im Tagebuch indirekt ein, wenn er seinen »Hang zum Unglücklichsein« erwähnt. Das Leben taugt nichts. Die Materie versklavt uns. Sie hintertreibt das Streben nach Klarheit und Ordnung, die Lange nicht weniger selten beschwört. Sie sind natürlich eine Sache des Geistes (und des Kunstschaffens). Zuviel Klugheit scheint dabei allerdings verderblich zu sein. Langes Einsichten in politökonomische Zusammenhänge und Hintergründe kann ich nur dürftig nennen. Gegen ihn war sogar Freund Kreuder marxistischer Soziologe. Langes Aussage nach der Lektüre von Bergengruens Mittelalterroman Am Himmel wie auf Erden, dessen Autor sei liebenswert beschränkt, wäre ihm besser im eigenen Halse stecken geblieben. Lange schildert Dinge, weil sie faszinierende Dinge sind. Sie einzuordenen (also zu werten) ist nicht des Ordnungsliebhabers Amt. Und er schildert sie, weil sie stets nach Metaphysik riechen.
~~~ Spätestens mit dem Zwischenspiel der Schwarzen Weide mutet uns Lange das Gegenteil von Klarheit zu: Frömmelei, Mystizismus, Sentimentalität. Als Langes Lektor hätte ich das schwülstige großstädtische Intermezzo vollständig gestrichen und ein paar wesentliche Infor-mationen über die Entwicklung des heranwachsenden Erzählers, der schließlich das Erbe seines ermordeten Halbvaters Starkloff antritt, auf der Anreise des Erben gegeben. Weiter wäre mein Rotstift vor allem in das langatmige Rührstück von der Häuslerstochter Christiane und ihrem gräflichen Verehrer gefahren, der zu Coras Vorfahren zählt. Der Verlust wäre verschmerzbar, gibt doch Lange im Grunde das gleiche Rührstück auch noch um Cora selber und ihre zeitweilige Rivalin Irene. Mit seinem Erzähler liebt Lange ätherische Frauengestalten, die sich bis ins Himmelsgewölk verflüchtigen; auf diese Weise werden sie gleichzeitig makel- und harmlos. Irenes Tod durch Ertrinken nimmt dem Erzähler die Entscheidung ab: nun kann er sich wieder der stolzen und launischen Cora annähern. Lange beschert uns ein Happyend mit der jungen Gutsherrin, zuzüglich Familienzusammenführung und Vereinigung der beiden größten Höfe des Dorfes Kaltwasser. Selbst der Krämer Hartmann, fälschlich des Mordes an Starkloff verdächtigt und überführt, ist glücklich: es gefällt ihm inzwischen im Nilbauer Zuchthaus besser als draußen, wo doch nur Krieg und Lug und Trug auf einen lauern.
~~~ Viele Indizien untermauern des Lesers Verdacht, im Grunde bewege den erzählenden Knaben und dann jungen Mann das gleiche Untergangsverlangen, das er an den AnhängerInnenscharen des schmierigen Predigers Smorczak beobachtet. Einmal bescheinigt er sich ausdrücklich, wohl »zu schwach und ängstlich« zu sein, um dem Leben standhalten zu können. Man fühlt sich an die Ausführungen des Erzbischofs aus Bergengruens erwähntem Roman erinnert, dessen üppiges Personal einer über Brandenburg hereinbrechenden »Sündflut« entgegen sieht. Die Menschen erhofften sich vom Untergang die Auflösung ihrer Verstricktheit in soziale und persönliche Unbilden, denen sie aus eigener Kraft nicht gewachsen seien. Das Verhängnis macht reinen Tisch. Die Flucht in einen weiblichen Schoß dagegen bleibt immer Episode. Nur der Tod erlöst vom Leben. Gewiß mischen sich öfter auch noch andere Motive in die Sehnsucht nach dem Untergang. An dem Lehrersohn und Smorczak-Jünger Haubold beobachtet der Erzähler die Potenzphantasien, die in der Regel die Frucht väterlicher Knute sind. Nach allem, was wir vom Erzähler (und seinem Autor) wissen, handelt es sich um ein Spiegelbild. »Jetzt fühlte er sich bereits als einen Sendboten der Gerechtigkeit; das Außergewöhnliche, das er immer entbehrt hatte, war ihm angetragen worden, und er hielt es gierig fest. Endlich bekam er eine Gelegenheit, sich über sein schäbiges Dasein zu erheben, die alle seine Träume übertraf, vielleicht maß er sich schon eine Bedeutung bei, welche sich durch nichts von der aller romantischen Bücherhelden unterschied, deren Leben er immer bewundert hatte; bald sollten die Augen aller Leute auf ihn gerichtet sein, und sein Name würde von Mund zu Mund gehen.«
~~~ Einen starken Kontrast zu solcher Erhöhung geben die Schilderungen des gemeinen Soldaten Lange vom Rußlandfeldzug. Das verlauste, frierende Elend und alle erlittenen Schrecken durch Granaten, Minen oder Bordkanonen stellen sowohl in den Tagebüchern wie in seinem Erzählungsband Die Leuchtkugeln, der 1944 erscheint, den Prospekt der Prosa dar. Verständlicherweise verarbeitet Lange hier auch seine eigene schwere Verwundung, die ihn im Dezember 1941 beim Sprengen von gefrorenen Bäumen ereilt. Splitter dringen ins linke Auge, das später operativ entfernt werden muß. Auf der einen Seite kann sich Landser Lange nun glücklich schätzen, aufgrund vieler Lazarettaufenthalte und schonender Posten in der Etappe vor weiteren Himmelfahrtkommandos bewahrt zu bleiben. Von seiner ganzen Kompanie (in der Regel 100 bis 150 Leute) überlebten (bei Stalingrad) lediglich drei Männer. Auf der anderen Seite ist er nun halbblind und wird zudem für den Rest seines Lebens von Kopfschmerzen geplagt. Im Verein mit seiner schon immer wackligen Gemütsverfassung hat er dadurch zunehmend Schreib- und Lebensprobleme, was nach Ansicht Oda Schaefers sowohl im Freundeskreis wie seitens der Kritik zu wenig berücksichtigt worden ist. Sie deutet einen beträchtlichen Alkoholkonsum ihres Mannes an. Das Ehepaar wohnt nach dem Krieg zunächst im bayerischen Mittenwald, ab 1950 in München. Hier stirbt Horst Lange auch – »an Blutstürzen durch eine Leberzirrhose« im Juli 1971.
~~~ Ich sagte, die Qualität seiner Erstlingsprosa habe Lange nie wieder erreicht. Noch vor seiner Einberufung verfaßt er Das Lied des Pirols und Ulanenpatrouille. Beide Werke übertreffen Schwarze Weide jedoch in der Weitschweifigkeit. Das 1946 veröffentlichte Romanfragment um den Pirol stelle ich andernorts vor. Den Gipfel seiner Umständlichkeit erreicht Lange mit seinem Roman Ulanenpatrouille, der 1940, also zu Kriegszeiten, herauskam. Gleichwohl scheint sich dieses Buch einiger Beliebtheit erfreut zu haben, bevor es durch die Sperrung des Papierkontingentes für die zweite Auflage faktisch verboten wurde. Diese Tatsache erstaunt. Eher hätte man ein Verbot der Schwarzen Weide erwartet, trägt doch Rattenfänger Smorczak unübersehbar Züge des bellenden Schnauzbärtchens aus Braunau. Die erste Auflage der Ulanenpatrouille betrug immerhin 29.000 Exemplare. Obwohl kitschverdächtig, erschien der Roman in der renommierten Frankfurter Zeitung als Vorabdruck. 1957 verbreitete ihn die Deutsche Buch-Gemeinschaft weiter. In seinem Kriegstagebuch erwähnt Lange mehrmals Kameraden, die seinen Roman kannten und lobten. Da hatten sie zum Ersatz für ihre schmutzstarrende Erniedrigung den feschen jungen Leutnant Friedrich von G. hoch zu Roß. Der hat sich dem bekannten Konflikt zwischen Pflicht und Neigung lediglich in Herbstmanövern des Jahres 1913 zu stellen. Zufällig führen sie ihn nach Gut Dubrowo, auf dem sich Bronislawa so unglücklich fühlt. Sie hatte ihm einmal in der Garnisonstadt bei der Fuchsjagd schöne Augen gemacht. Die Familie verheiratete sie mit einem greisen, fetten Grafen. Nun läßt der gutaussehende Leutnant einer Nacht mit der gleichfalls gutaussehenden jungen Gräfin im Gutsparkspavillon zuliebe seine Truppe im Stich. Als hätte uns der selten langatmige Zug ins Manöverfeld nicht schon genug gequält, verschlingt allein diese Nacht noch einmal 50 Seiten des Romans. Zur Strafe für seinen unmoralischen Abstecher in den Schoß der Gräfin (die davon prompt geschwängert wird, denn der alte Graf war zeugungsunfähig) bricht sich der reumütig zur Truppe zurückgaloppierende Leutnant in einem Dickicht den Hals.
~~~ Wie erwähnt, war Lange unter anderen mit Ernst Kreuder befreundet. Im Februar 1946 kommt der südhessische Mühlenbewohner brieflich auf eine Diskussion von Langes Ulanenpatrouille zurück. »Du meintest damals, es sei ganz gleich, ob Du einen Offizier oder einen beliebigen anderen Berufsträger zur Romanperson erwählst. Ich war anderer Meinung. Du wirst es heute auch sein. Auch der Beruf ist eine Angelegenheit der Gesinnung, der Beruf ist schon ein Bekenntnis.« In der Tat läßt sich in Langes Roman weder ein antimilitaristischer noch ein sozialkritischer Zug entdecken. Eher spielt »das Volk« eine verachtenswürdige Nebenrolle. Am schlechtesten kommen mal wieder die »Zigeuner« weg: während sie zu Beginn des Feldzuges mit einer Weissagung für den Leutnant vertreten sind, plündern sie am Romanschluß dessen Leichnam aus. Im Gegensatz zur Schwarzen Weide gestattet sich Lange ein paar Anflüge von Humor, doch das sentimentale Sujet und seine Beschreibungswut verderben alles. Lange liebt lange, gewundene Sätze. Es ist ihm nicht gegeben – etwa wie Tschechow – einen Charakter mit wenigen Strichen vor uns hinzustellen. Während Bronislawa trotz wortreichster Schilderung völlig konturlos bleibt, gibt er den greisen Grafen und dessen schmierigen Neffen Sigismund als Klischee. Lange gelingt es noch nicht einmal, den Zauber der Natur in unseren Herzen zu erwecken. Die Natur bleibt hier Kulisse. Da fragt man sich, wo Lange die Unverfrorenheit hernimmt, auf »volkstümlichen Klassizismus« zu pochen, zugleich jedoch Kreuders Gesellschaft vom Dachboden schlechtzumachen*, die einen solchen Orden durchaus verdient hätte.
~~~ Die vier Erzählungen Die Leuchtkugeln kamen 1944 heraus. Im Tonfall erinnern sie mich an Bücher, die Kreuder um 1960 schrieb. Jedenfalls ist Langes Sammelband erheblich genießbarer geraten als Pirol und Ulanen. Laut Helmut Heißenbüttel erschien die Titelgeschichte 1944 vorab in einer Zeitung. Für Carl Zuckmayer hat Lange mit den Leuchtkugeln »das beste Kriegsbuch« des Zweiten Weltkrieges, nämlich »das menschlichste« vorgelegt. Daran wage ich nicht nur verschiedener Kollegen Langes wegen zu zweifeln. Langes Mißachtung des »feindlichen« Volkes drückt sich zum Beispiel in solch einer Bemerkung aus: »In den Dörfern ringsum gab es genug, was uns sättigte.« Wieder jede Menge in Flammen stehender Dörfer, die Lange befremdlich »malerisch« schildert. Immerhin, als die Pioniere für Bauholz eine Scheune abreißen, fällt dem Erzähler auf: »Zu anderen Zeiten hätte ich es wohl bewundert, wie solide und kenntnisreich das hier gebaut war, Holz auf Holz und ohne einen einzigen Nagel – jetzt ärgerte ich mich nur, daß es uns soviel Mühe machte.« In der zweiten Erzählung gibt er sich sogar der Trauer um ein Bauernhaus hin, in dem sein Zug einquartiert war. Jedoch: »Solch ein schönes Haus, es stand da oben und dauerte mich, mehr als der Bauer und die Alte, mitsamt allen Kindern.« Das ist starker Tobak, aber immerhin aufrichtig. Sollte es »die moralische Kraft des Soldaten« bezeugen, »die ihn zu Widerstand und Angriff befähigte«, wie es einmal auf Seite 155 meiner Maschke-Ausgabe heißt, dann Gute Nacht.
~~~ Gegen diese Herzlosigkeit gehalten, wirkt Langes Frömmelei besonders unangenehm. Ohne Höhere Mächte tut er's so wenig wie Bergengruen mit seinem kurfürstlichen Romanpersonal. In den Tagebüchern spricht Lange salbungsvoll vom Verlust des Göttlichen als Grund der Verrohung der modernen Menschheit – als sei das fromme Mittelalter lieblich gewesen. Er leistet sich den Satz: »Die Kraft zur Vergöttlichung ist tot und verkümmert.« Im Protest gegen diesen verkümmernden Leichnam stellt er sich und alles andere unter »Gottes Wille«. Die Neigung zum Tod ist also korrekt mit Masochismus verbunden. Von diesem starken Zug sieht Organist Hermes aus den Leuchtkugeln auch seine Kriegsbeteiligung getragen. Zu Hause hatte er unter dem sattsam bekannten Widerspruch Kunst – Leben gelitten. Immer wieder sah er sich von jenen Niederen Mächten bedroht, die die Ordnung, die man sich mühsam geschaffen hat, gefährden, indem sie uns »ins Formlose reißen«. Sie tarnen sich gern als Frauen. Als Ausweg winkt notfalls der Krieg. Er wird zur läuternden Roßkur. Seine Härte und Erbarmungslosigkeit ermöglicht Hermes die Selbstfindung.
~~~ Unheil ist also nicht nur schlecht. Bei Laternenlicht in Brudzewo angekommen, werden die Brüder aus dem Pirol von einem Mädchen mit Handwagen abgeholt. Berthold spannt sich neben dem Mädchen vor die Deichsel. Überall, in der dunklen Bahnhofsallee und dann auf dem Marktplatz, scheinen Bedrohungen zu lauern, von denen man magnetisch angezogen werde. »Man muß ihnen in die Arme laufen, nur darum, weil sie einen erwarten.« Sie halten Abenteuer, Bewährung, Läuterung – oder den Trost des Todes bereit. Oda Schaefer schreibt, Lange habe die Gefahr geliebt, das Außergewöhnliche, die Probe einer Leistung. Er scheint gefährliche Zusammenstöße geradezu provoziert zu haben. Nicht selten war Alkohol im Spiel. So wurde »Weichei« Lange, wie man heute sagen würde, mehrmals in Schlägereien verwickelt, darunter auf dem Rußlandfeldzug. Im faschistischen Berlin entgeht er einer durch einen beleidigten Kriegsgerichtsrat beabsichtigten Verhaftung in einem Lokal nur durch eine geistesgegen-wärtige Fluchthilfe durch den Kollegen Erich Kästner. Selbst mit dem verletzten Auge gerät er, noch zu Kriegszeiten, als Urlauber an der Grenze zum Elsaß »in eine gespenstische Schlägerei«, bei der dieses linke Auge noch mehr geschädigt und dadurch für eine operative Entfernung reif wird.
~~~ Die Frage, warum sich Lange derart hartnäckig mit Mächten anlegt, die ihn aller Wahrscheinlichkeit nach auf irgendeine Weise strafen würden, ist wohl nur noch eine rhetorische. Schaefer schreibt: »Immer wieder das Herausfordern der Gefahr, das Sichherausschleudern wie durch eine rätselhafte Zentrifugalkraft. Man sagte einmal von ihm, er suche den Tod wie jeder Deutsche – es war etwas anderes, der Dämon, das Nervöse, die Hypersensibilität gegen das Subalterne, das sich als beamtenhaft oder militärisch überlegen aufspielte. Höchst gefährliche Situationen beherrschten immer wieder sein Leben.« Ob dieser »Dämon« von Langes offensichtlich unverdauter Haßliebe zum Vater oder allgemeiner dem Verdruß daran genährt worden sei, als Säugling ungefragt in das eine oder andere Schicksal gepropft zu werden, lasse ich dahingestellt. Nicht selten treten beide Motive ohnehin Arm in Arm auf.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Beide Angaben bei Hans Dieter Schäfer (Hrsg) im Nachwort zu Langes Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg, Mainz 1979, S. 308



Um 2011 gab ich, als »Benutzer Datschist«, ein recht eingehendes Gastspiel bei der bekannten »Internet-Enzyklopädie« Wikipedia, die allmählich alle Suchmaschinen beherrscht und den Wissensbegierigen dieser Welt durchaus mammutmäßig auf den Köpfen herumtritt. Ich zog mir damals zahlreiche Rüffel und schließlich die Unlust zur weiteren Mitarbeit zu. Als ich einen Artikel über Lewis Mumfords Buch Mythos der Maschine angelegt hatte, kippte ein Tugendwächter beispielsweise meine beiläufige Feststellung, der nie zum Professor bestallte US-Autor sei beneidenswert belesen. Auf mein Nachhaken hieß es: »Woher weißt Du, daß ein Mumford-Kenner nicht zu dem Schluß kommt, naja, belesen ist er schon, aber beneidenswert sicher nicht, da kenne ich ungleich belesenere Schriftsteller und Forscher. Deine persönliche Einschätzung=Sicht der Dinge=Wertzuschreibung gehört also so nicht in den Artikel. Anders verhielte es sich, käme dieses Werturteil beispielsweise von Adorno. Dann hätten wir zu formulieren (soweit überhaupt wichtig für den Artikel): der laut Adorno beneidenswert belesene Mumford … und hätten diese Aussage mit einer Quelle zu belegen.«
~~~ In meinem neuangelegten Artikel über Jost Herbig, gestorben 1984, erlaubte ich mir die Bemerkung, im Vergleich zu den meisten Sachbuchautoren pflege der Kölner Herbol-Erbe (Farbtöpfe) und Kunstmäzen in seinen kulturgeschichtlichen Untersuchungen einen ausgezeichneten Stil. Auch dieses Urteil wurde umgehend gestrichen. Nachgehakt, erklärte mir der Zensor, meine Bemerkung habe nichts mit Herbigs sachlicher Leistung zu tun; so erfreulich eine anschauliche Sprache sein möge, sei eine Enzyklopädie doch nicht dafür da, Lobesworte für Stil zu vergeben. »Für diese Betonköpfe haben Inhalte keine Form«, knurrte ich damals insgeheim. »Für sie schweben sie in der Atmosphäre. Es sei denn, die Inhalte schmiegten sich der Form einer Baseballmütze, einer genormten Gitter-Palette oder eines jederzeit abrufbaren Artikelschemas an. Sie haben es auch nicht nötig, sich zur Lektüre eines Artikels und eines Buches des vorgestellten Autors verlocken zu lassen, denn sie lesen alles, was ihnen der Kanon verordnet, und sei es das Kölner Telefonbuch.« Was Wunder, wenn mir, grundsätzlicher formuliert, wiederholt mein »essayistischer« Stil vorgeworfen wurde. Auf der Diskussionsseite des von mir angelegten Artikels über Ernst Kreuders Buch Die Gesellschaft vom Dachboden mußte ich mir sogar sagen lassen, es handle sich dabei bestenfalls um einen »schlechten« Essay. Ein Kreuder-Kenner, nebenbei Herausgeber einer Literaturzeitschrift, fand ihn trotzdem „wunderschön“, wie er mir in einer Glückwunschmail versicherte.
~~~ Ich will mich auf das Problem der Autoritätshörigkeit beschränken. Der hundertprozentige Wikipedia-Tugendwächter – er kommt dem Ideal des bolsche-wistischen Kommissars nahe, den Orwell, Camus und Koestler so liebten – erwartet von jedem Wikipedia-Autor, jede Beschreibung zu opfern, für die er keinen »amtlichen« Beleg auftreiben konnte. Wie sich versteht, verkürzt das die Darstellung des Gegenstandes ungemein, zumal im Falle von Außenseitern wie Mumford, Herbig oder auch Walter Porzig. Auch bei diesem hatte ich mir, als Bearbeiter eines bereits vorhandenen Artikels, den Hinweis erlaubt, in seinem Werk Das Wunder der Sprache von 1950 lege er die Grundzüge der Sprachwissenschaft wohlgeordnet, verständlich und sogar genießbar dar – auf diesem Gebiet ja nahezu ein Novum; man führe sich nur einmal den Wikipedia-Artikel über Sprachwissenschaft zu Gemüte, falls man es über sich bringt. Obwohl ich in meinem Zusatz sogar eine Empfehlung einer »Autorität« beibringen konnte, nämlich aus dem Buch Wörter machen Leute (Neuausgabe München 1986) des langjährigen Leiters der Hamburger Journalistenschule Wolf Schneider, wurde mir auch dieses unsachliche Lob gestrichen. Und mehr noch. Zu den wenigen, nicht verhandelbaren Wikipedia-Unveräußerlichkeiten zählt neben der Neutralität des Artikels die Nachprüfbarkeit aller darin gemachten Angaben, was unter anderem bedeutet, nur Quellen zu verwenden, die im Zweifelsfall jedem zugänglich sind. Nun heißt es im Artikel über Porzig, er habe sich dieser und jener nationalsozialistischer Aktivitäten befleißigt, was auch belegt wird. Gleichwohl hielt ich den Hinweis für angebracht, in Porzigs erwähntem Hauptwerk – das ich schon dreimal gelesen hatte – fände sich keine Spur von »nationalsozia-listischem« Gedankengut. Auch das flog raus. Denn für diese Feststellung fehle der Beleg.
~~~ Da könnte Kleinfritzchen prompt einwenden, auch diese Festellung ließe sich durchaus von jedem nachprüfen. Man müsse sich dazu nur das Buch ausleihen und es von vorne bis hinten durchlesen. Aber das will man den Artikellesern und den Administratoren natürlich nicht zumuten. Also soll man Adorno oder Dr. Soundso zitieren, der in seiner veröffentlichten Arbeit Z. genau dieselbe Feststellung getroffen hat – freilich auch nur als Behauptung. Wollte er sie nämlich beweisen, teilte er das Schicksal von Saddam Hussein, von dem Bush und Blair verlangten, er möge nachweisen, in seinem ausgedehnten Wüstenreich nicht ein Gramm Plutonium versteckt zu haben. Worauf beläuft sich also der Unterschied zwischen mir und dem Doktor? Eben: auf dessen Titel, dessen Ruf, dessen Autorität. Und das kommt mir als altem 68er natürlich sehr befremdlich vor. In meinen Ausgewählten Zwergen wimmelt es von anerkannten Persönlichkeiten oder Institutionen, die sich bei näherer Betrachtung als Schwatzbuden, Hohlköpfe oder Arschlöcher, jedenfalls fast immer als Lügenbolde entpuppen. Ich nenne stellvertretend nur den Historiker Dr. Helmut Kohl, den Außenminister und Auschwitzexperten Fischer, den Über-die-Mauer-Macher Wolf Biermann, das Wochenblatt Spiegel und jene Treuhandanstalt, die Ostdeutschland in eine »blühende Landschaft« für äsende westliche Dinosaurier verwandelte.
~~~ Zu den Goldenen Kälbern der Wikipedia-Gemeinde zählt die sogenannte »Relevanz«. Es handelt sich dabei um den Popanz einer Gemeinde von Gläubigen. Zieht man nämlich die Quersumme der zahlreichen Wikipedia-»Relevanzkriterien« (so ein gesonderter Artikel), ergibt sich Erfolg. Ein Autor steht in anerkannten Nachschlagewerken; ein Fuhrunternehmen betreibt mindestens drei Buslinien; ein Politiker ist hauptamtlich tätiger stellvertretender Bürgermeister; ein Sportler zählt zum Kader der Nationalmannschaft und so weiter. Nur solche erfolgreichen Dinge/Personen sind relevant. Der Erfolg, der hier gemeint ist, fußt wiederum auf den drei Säulen Popularität, Größe, Einfluß (mit den Unterabteilungen Macht und Geld). Diese Werte genießen breiteste Anerkennung; diese Werte repräsentieren das Normale; diese Werte sind die Norm. Damit entpuppt sich die Internet-Enzyklopädie selber als Säule des Bestehenden. Und um zu verhindern, daß jemand daran rüttelt, pocht man eben auch in allen »relevanten« Fällen auf jene bereits gestreifte »Neutralität«. Wir dürfen den britischen Labour-Politiker Jack Straw, der im betreffenden Artikel mit wunderschöner blauroter Krawatte auftritt, nicht als Fluchthelfer für Pinochet, Guantanamo-Knecht, Kriegstreiber gegen den Iran und somit als Schurken enttarnen, es sei denn, es stünde in einem anerkannten Nachschlagewerk – wie dem erwähnten Spiegel zum Beispiel … Wir dürfen den Wahn des Profisports und der Rüstungsproduktion nicht beim Namen nennen, denn dadurch würden wir Millionen von Arbeitsplätzen und ein paar Millionäre gefährden und uns auf Erden entsprechend unbeliebt machen. Wir dürfen einen Literaturkanon, der in zahlreichen Fällen Schöndunst als Erbauung und Nebel als Aufklärung ausgibt, nicht anpinkeln, bräche doch andernfalls das halbe Verlagswesen dieses Planeten zusammen.
~~~ Für mich gilt also nicht die Gleichung, das Zuverlässigste sei stets das breit Anerkannte. Ginge es nach mir, müßte deshalb auch die Zuverlässigkeit einer Quelle – darunter die eigene Beobachtung – von jedem Artikelschreiber in jedem einzelnen Fall neu erwogen werden. Aber sie müßte in seiner Verantwortlichkeit bleiben. Und genau hier liegt der Wikipedia-Hase im Pfeffer. Selbst bei anderen, herkömmlichen Enzyklopädien oder Fachlexika werden die einzelnen Artikel oft mit Namen gezeichnet. Mindestens gibt es verantwortliche Redakteure oder HerausgeberInnen. In der Wikipedia dagegen wird erklärtermaßen kollektiv = anonym gearbeitet. Es wäre auch widersinnig, mich für eine Äußerung zur Rechenschaft ziehen zu wollen, die jeder jederzeit ändern, entstellen, tilgen kann. Das »Mitmach«-Projekt Wikipedia zeichnet sich durch die »Flexibilität« aus, die ich schon immer an allen postmodernen Projekten geliebt habe. Das schließt die Schlitzohrigkeit ein, die persönliche Verantwortung auf die in den Artikeln angeführten Autoritäten abzuwälzen. Die sind natürlich unbelangbar. Das gleiche gilt günstigerweise für jene weißbärtigen, mit allen Wassern gewaschenen Wikipedia-Tugendwächter, die längst wissen, wie der Hase läuft – weil sie selbst die Strippen ziehen.

∞ Verfaßt 2015

Siehe auch → Anarchismus, Robe (Amtstrachten) → Achtundsechzig, Dörnberg (Stanley Milgram) → Angst, Weininger (schlotternder Philosoph)




Babeuf, François Noël »Gracchus« (1760–97)

Angeblich hatte man die Monarchie gestürzt. Nun hat die Metropole Paris selbst »nach Robespierre« noch 1.800 Ballsäle zu bieten, bei ungefähr 600.000 Einwohnern. Entsprechend wimmelt sie von Stutzern, Strolchen und Spitzeln. Die schlitzohrigsten Strolche, voran Lebemann Paul de Barras, retten sich vor der allgemeinen Unübersichtlichkeit ins fünfköpfige »Direktorium« des Nationalkonvents und spielen »Bürgerliche Revolution«. Die Massenarmut bekommen sie selbstverständlich nicht in den Griff. Das ist die Stunde der Verschwörung der Gleichen unter »Gracchus« Babeuf. Der ehemalige Landvermesser und Journalist aus der Picardie war vielleicht nicht der Hauptorganisator, aber ohne Zweifel der »Cheftheoretiker« dieser Bewegung, die ein recht radikales sozialistisches Programm verfocht. Arbeit für alle, dafür auch Zuteilungen für alle. Die Produktion erfolgt nach Plan. Für das Inland wird das Geld abgeschafft. Auch das Wuchern der Städte ist einzudämmen. Aber wie steht es mit der Bürokratie? Den Staat wollen auch die Gleichen nicht antasten. Selbst am Terror gegen »Staatsfeinde« halten sie fest, obwohl sie in dieser Hinsicht sogar Robespierre verurteilt haben, dessen »uneingelöstes« Erbe sie anzutreten gedenken. Vielleicht wird Babeuf die große Ausnahme abgeben, den guten Tyrannen. Ilja Ehrenburg behauptet, damals hätten breite Volksschichten ihre Hoffnungen in diesen abgezehrten Untergrundkämpfer gesetzt. Andererseits übersieht der Sowjetrusse nicht, daß die Massen allmählich revolutionsmüde geworden waren. Und das wirkungsvolle Gift gegen die erwähnten Spitzel hatte auch Die Verschwörung der Gleichen nicht erfunden. Ein Streik der Spitzel blieb leider Ausnahme: sie hatten verlangt, der Konvent möge sie von »Assignaten«, »Mandaten« oder dergleichen Papiermüll verschonen und sie stattdessen in dem traditionellen Silbergeld entlohnen. Fuchs Barras ging zum Schein darauf ein. So verrieten sie auch die Aufstandspläne der Gleichen wieder brav, und Barras ließ die führenden Köpfe (im Mai 1796) verhaften.
~~~ Ehrenburgs vorzüglicher Babeuf-Roman* besticht durch Knappheit, sprechende Details und eine seltene Art von zornigem, trockenem Witz. An seiner Darstellung sowohl des Massenelends wie der Verkommenheit der »revolutionären« Elite ist wahrscheinlich kaum zu rütteln. Eine andere Frage ist, ob er dieser Lage mit seinem Babeuf nicht einen etwas zu schönen Hoffnungsschimmer entgegenhält. Das soll nicht heißen, er malte ihn schwarz oder weiß. Sein Babeuf ist aufbrausend und einfältig, rechthaberisch und gutmütig in schöner Abwechslung. An seiner Frau Marie Anne Victoire Langlet und ihren gemeinsamen fünf Kindern (die vornehmlich in seiner Abwesenheit aufwachsen) scheint Babeuf fast rührselig zu hängen; andererseits schreibt er Marie aus dem Gefängnis: »Die Liebe zum Vaterland erstickt in mir alle anderen Gefühle. Ich war immer aufrichtig zu Dir, ich sage Dir unumwunden: Wir Jakobiner, wir Besessenen, sind durchaus nicht zartfühlend, nein, im Gegenteil, wir sind verdammt hartherzig. Du sagst, daß Du beschlossen hast zu sterben. Was kann ich Dir darauf antworten? Stirb, wenn Du willst.«
~~~ Das Hartherzige sind Dinge wie Gleichheit, Gerechtigkeit, ja selbst Freiheit. In der Natur kommen diese »Dinge« nicht vor. Sie sehen von persönlichen Vorlieben genauso wie von persönlichen Schwächen ab. Zu den vielen Repräsentanten und zugleich Opfern dieser Hartherzigkeit zählt der schon andernorts erwähnte junge Konventskommissar Saint-Just. Was Marie betrifft, verwarf sie ihren Entschluß. Sie wurde über 80 – für damalige Zeiten enorm.
~~~ Wahrscheinlich war Babeuf, wenn nicht bereits durch seine entbehrungsreiche Jugend als Sohn eines Deserteurs aus der französischen Armee, schon durch einen Haftbefehl in den Untergrund und die Ausweglosigkeit getrieben worden, mit dem ihn die Richter aus Amiens seit November 1794 verfolgten. Angeblich hatte er sich als Verwaltungschef von Montdidier bei der Versteigerung eines Gemeindegrundstücks einer Urkundenfälschung zwecks Begünstigung eines verdienten Revolutionärs schuldig gemacht. Ehrenburg behauptet, bei dieser Beurkundung sei Babeuf lediglich arglos in eine Falle getappt, die ihm sein langjähriger Widersacher Longcamp stellte, »ehemals königlicher Staatsanwalt, jetzt selbstverständlich Patriot und Republikaner«. Auf diese Weise habe ihn Longcamp aus der Picardie vertreiben und überall verleumden können: »Da seht ihr, dieser Gleichheitsapostel ist der banalsten Fälschung fähig, und alles nur wegen Geld! Jetzt hat er sich aus dem Staube gemacht und lebt in Paris einen vergnügten Tag.« Ich kann diesen Fall nicht beurteilen, kann jedoch versichern, die Methode hat bis heute nichts an Beliebtheit eingebüßt.
~~~ Bei Ehrenburg erscheint der beinahe mönchisch lebende Babeuf auch nicht als ruhmsüchtig. Dagegen heißt es im Zusammenhang mit seiner letzten Verhaftung und dem sich anschließenden, weit weg von Paris in der Kleinstadt Vendôme inszenierten Schauprozeß gegen die Gleichen in der deutschsprachigen Wikipedia, aus unbekannten Gründen habe die Regierung den Sozialisten Babeuf als den Anführer der Verschwörung dargestellt, »obwohl wichtigere Leute als er darin verwickelt waren; seine eigene Eitelkeit spielte ihnen dabei in die Hände.« Vielleicht ging er in der Tat in der großen Rolle des Märtyrers auf. Immerhin hatte er wiederholt seine Bereitschaft zum Sterben bekundet. Ende Mai 1797, inzwischen 36 Jahre alt, wurde er gemeinsam mit Augustin Alexandre Darthé, der erst 27 war, zum Tode verurteilt. Andere Angeklagte bekamen Verbannung oder Freispruch, wobei dem »verdienten Postmeister« Jean-Baptiste Drouet mit stillschweigender Billigung des Direktoriums zur Flucht verholfen worden war. Drouet hatte am 21. Juni 1791 den fliehenden Ludwig XVI. erkannt und dessen Verhaftung veranlaßt. Dadurch war er in den Nationalkonvent beziehungsweise Rat der Fünfhundert – und nun vom Schafott gerutscht.
~~~ Unmittelbar nach der Urteilsverkündung hatten die beiden Hauptangeklagten vergeblich Selbstmord versucht. Es mangelte an einem geeignetem Dolch; sie hatten sich mit einem zurechtgefeilten Eisen »nur« schwer verletzt. Anderntags, nach Ehrenburg jedoch im Morgengrauen und deshalb nur vor schmalem Publikum, kamen sie auf der Place d'Armes von Vendôme unter die Guillotine. Fachleute der Revolution höhnen gern, der fehlende Dolch sei bezeichnend für den ganzen »Dilettantismus« der Gleichen gewesen. Man könnte sie mit der Nase auf den Staatsstreich stoßen, der nur zwei Jahre später erfolgreich verlief, obwohl er mindestens genauso stümperhaft ausgeführt worden war. Mit ihm kam der kleinwüchsige Napoléon Bonaparte in den Sattel. Er hatte die besseren, vor allem finanzkräftigeren Steigbügelhalter.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 3, Dezember 2023
* Die Verschwörung der Gleichen, Berlin 1929




Bachmann, Josef

Als Studentenführer Rudi Dutschke 1979 an den Spätfolgen der drei Pistolenschüsse starb, die Bachmann am 11. April 1968 auf dem Westberliner Kurfürstendamm auf den nicht nur ihm verhaßten Revolutionär (»dreckiges Kommunistenschwein«) abgegeben hatte, war auch der Attentäter schon seit längerem tot. Er hatte sich 1970 mit 25 Jahren im Gefängnis umgebracht. Ich behandele ihn im folgenden sozusagen ersatzweise, weil Dutschke gar zu bekannt ist.
~~~ Was damals, 1968/70, hinter Bachmann gelegen hatte, sollte man nicht leichtfertig »ein verkorkstes Leben« nennen, solange man nicht weiß, wen man, Gott einmal ausgenommen, für alle die verkorksten Leben, die sich die Sterne schon mitansehen mußten, verantwortlich machen könnte. Wir wählen unsere Geburt so wenig wie unseren Willen. Als Kind oft krank, war Bachmann auch noch mit einem Stoffel als Vater geschlagen. Der schwächelnde, sächselnde Bub wird gehänselt; nach der »Hilfsschule« kommen die »Hilfsarbeiten«; dann die Diebstähle und Vorstrafen, übrigens auch wegen unerlaubten Waffenbesitzes. Sowohl in der DDR wie im Ruhrgebiet hat er bereits als Halbwüchsiger offene Ohren für die Hetze aus faschistischer Ecke. Wobei zumindest für Linke felsenfest steht, auch die Springer-Presse habe gehörig dazu beigetragen, den blassen, schmächtigen, 1 Meter 60 kleinen Bachmann auf die Idee zu bringen, bei einem ehemaligen Peiner NPD-Mitglied Schießunterricht zu nehmen und am 10. April per Bahn von München nach Berlin zu fahren, um Dutschke, dem er noch nie begegnet ist, anderntags unweit des SDS-Büros aufzulauern. »Und man darf auch nicht die ganze Drecksarbeit der Polizei und ihren Wasserwerfern überlassen«, so Bild am 7. Februar. Laut Gerhard Mauz* gab Bachmann am zweiten Verhandlungstag vor dem Moabiter Schwurgericht zu, unter den Blättern, aus denen er sein Wissen über Dutschke und überhaupt seine Informationen bezogen habe, hätte sich »die Bild-Zeitung vorneweg« befunden. Nach dem Attentat (und einem Feuergefecht mit der Polizei) im Krankenhaus aus der Narkose erwacht, hatte er folgerichtig vermutet: »Ich möchte mit Ihnen wetten, daß sich jetzt 70 Prozent der Bevölkerung im stillen die Hände reiben.« So dumm war der Hilfsschüler also nicht.
~~~ Was die Motive für Bachmanns Selbstmord angeht, liegen sie nach wie vor im Dunkeln. Ein Abschiedsbrief ist nicht bekannt. Einige mutmaßen, Bachmann sei niedergeschlagen gewesen, weil ihm Dutschke schon länger nicht mehr geschrieben hatte. Aber das ist ein verdammt heißes Eisen, für beide Seiten: das Opfer überlebt, kann jedoch nicht als Ersatzvater oder Busenfreund für den Täter genügen! Im übrigen lag dieser Selbstmord längst in der Luft. Schon in seinem ersten wohlwollenden Brief an Bachmann, am 7. Dezember 1968 in Mailand abgeschickt, hatte Dutschke den Häftling, nach einiger Agitation, abschließend gebeten, »mit den Selbstmordversuchen aufzuhören«, er werde noch gebraucht. Und Bachmann räumte in seinem zweiten, am 10. Januar 1969 verfaßten Brief an Dutschke ein: »Zurzeit geht es mir etwas besser als wie in den ersten Monaten, wo ich versucht habe, mit allen Mitteln aus dem Leben zu scheiden. Ich hoffe ja, daß ich alles durchstehen werde und für mich auch noch einmal die Sonne scheinen wird. Wenn nicht, bleibt mir noch immer Zeit, von dieser beschissenen Erde zu verschwinden.«**
~~~ Der Mordversuch hatte Bachmann, im Frühjahr 1969, sieben Jahre Haft eingebracht. Ein Jahr darauf, nach wiederholten Selbstmordversuchen, wenn auch, wegen der scharfen Bewachung, auf stets andere Weise (Erhängen mit Radiokabel, Halsschlagader mit Scherben des zerschlagenen Zellenfensters durchtrennen, Löffel oder Messer verschlucken) sühnte er seine drei Kopfschüsse auf Dutschke mit einer über den eigenen Kopf gestülpten Plastiktüte, in der er erstickte. Er hatte sie am Hals zugebunden. Schon die Vorstellung, auf diese Art zu sterben, ist alles andere als angenehm. Unter den Suizid-Arten soll sie selten sein. Vermutlich stand Bachmann in seiner gut durchsuchten Zelle keine andere Methode zur Verfügung. Prahlerei läßt sich darin jedenfalls nicht mehr sehen. Als Bachmann einmal in Frankreich mit verschlossenen Handschellen ins Meer gesprungen war, tat er es weniger, um seinen Kumpels zu imponieren, wie man zuweilen liest, vielmehr um dem Gefängnis zu entgehen. Das mißlang; ein Berufstaucher fischte ihn wieder heraus.
~~~ Wer nie Oberwasser verlor, das war der Mann, unter dessen Vorsitz Bachmann in Moabit verurteilt worden war. Das wurde damals von Brandts Tochter Heike enthüllt und hier und dort aufgegriffen, etwa durch Yaak Karsunke.*** Landgerichtsdirektor Heinz Brandt (56) war ein Regime früher Mitglied der NSDAP (Nummer 1436 536), Abteilungsleiter in der Reichsgruppe Junge Rechtswahrer und Kreisinspektor in Lebus an der Oder gewesen.
~~~ Der Presse-Fotograf Klaus Frings (32) und der Student Rüdiger Schreck (27) erlitten nach dem Attentat auf Dutschke bei einer Protestdemonstration in München im April 1968 tödliche Verletzungen. Durch wen, wurde nie aufgeklärt.****

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 10, Februar 2024
* Gerhard Mauz, »Siebzig Prozent reiben sich die Hände«, Spiegel Nr. 11, 9. März 1969: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-45849749.html
** Ausgerechnet laut Bild: »Diese Briefe schrieb Dutschke an seinen Attentäter«, 27. April 2010: https://www.bild.de/politik/2010/an-attentaeter-josef-bachmann-12348078.bild.html
*** Yaak Karsunke, Josef Bachmann / Sonny Liston, Rotbuch Berlin 1973
**** Ulrich Chaussy, »Keine Story«, taz, 11. April 1998: https://taz.de/!1349696/




Bachmeier, Anna († 1980)

Das sieben Jahre alte Lübecker Mädchen wurde mutmaßlich vom Metzger Klaus Grabowski erwürgt, einem vorbestraften »Sexualstraftäter«. Ein Jahr darauf, 1981 mit 35, wird Grabowski von Annas Mutter Marianne, einer knapp 31jährigen Wirtin, im Gerichtssaal zu Lübeck mit einer von ihr eingeschmuggelten Pistole erschossen. Man verurteilt die hübsche, zierliche Frau zu sechs Jahren Gefängnis. Später, nun 46 Jahre alt, erliegt sie einer Krebserkrankung. Wie manche Quellen betonen, war Marianne Bachmeier schon durch ihren autoritären Vater, frühe Geburten und eine Vergewaltigung geschädigt. Ihr fröhliches Töchterchen war beim Schuleschwänzen entführt worden. Ob es in der stundenlangen Gefangenschaft mißbraucht wurde, blieb ungeklärt. Grabowski soll den Mord sogar gestanden haben. Er brachte eine angebliche Erpressung durch Anna ins Spiel, was die Mutter, als Abwälzung der Schuld, besonders empört haben soll. Ob Bachmeier dann mit Vorbedacht im Keller ihrer Kneipe schießen übte, ist umstritten. Fest scheint zu stehen, daß sie ihren Aufsehen erregenden »Akt von Selbstjustiz« mit Hilfe »unerlaubten Waffenbesitzes« nie bereute* und damals sogar in einem beträchtlichen Teil der sogenannten Öffentlichkeit Billigung oder jedenfalls Sympathie fand. So dürfte der medienwirksame Fall von zwei beliebten, nicht unbedingt gegensätzlichen Ideologien gezehrt haben. Auf der einen Seite muß »Selbstjustiz« unnachsichtig unterbunden und also verdammt werden; auf der anderen darf eine deutsche Mutter wie eine Löwin für ihr Kind beziehungsweise dessen Ehre kämpfen. Aber bitte nicht für irgendein hergelaufenes Negerlein. Oder gar noch gleich für 10.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Irene Altenmüller, »Annas Tod und die Rache der Marianne Bachmeier«, https://www.ndr.de/geschichte/chronologie/Marianne-Bachmeier-Selbstjustiz-einer-Mutter,mariannebachmeier101.html, Stand 6. März 2021




Der Berliner Student Ernst Balcke (1887–1912) war ein Freund des später hochgelobten Lyrikers Georg Heym (1887–1912). Beide Genannten starben mit 24 Jahren. Auch die Berliner Lufttemperatur des 16. Januar 1912 dürfte für beide ungefähr gleich gewesen sein, knapp 14 Grad Minus. Im Wasser war es vermutlich nicht nennenswert wärmer. Die beiden waren zur Havel gefahren, Schlittschuhlaufen. Balcke stand damals im Begriff, sein Studium der Romanistik und Anglistik an der Berliner Universität abzuschließen. Busenfreund Heym, unzufrieden mit seinem ihm aufgezwungenen Dasein als angehender Jurist, liebäugelte mit der Offizierslaufbahn. Ein Jahr zuvor hatte Heym bei Rowohlt einen Gedichtband veröffentlicht. Wenige Jahre später wurde er von allen »Experten« unter die Gipfel der deutsch-sprachigen Lyrik des 20. Jahrhunderts eingereiht. Allerdings hatte sich damals auch der junge Balcke schon als »Dichter« versucht. Und bei dem Ausflug stürzte er gegen 14 Uhr nicht weniger tief als sein Freund. Bei Schwanenwerder hatte sich in der Strommitte plötzlich eine Öffnung vor einem von ihnen aufgetan, die man für die Wasservögel ins Eis gehackt hatte. Offenbar konnte der betreffende Läufer diesem Loch nicht mehr ausweichen, stolperte, fiel hinein. Der andere versuchte ihm vielleicht zu helfen – und kam dabei ebenfalls um. Beide Freunde wurden Tage später tot aus der Havel gefischt.
~~~ Von Augenzeugen ist in den Quellen, die das Internet bietet, nie die Rede. Gleichwohl wissen die meisten von diesen Quellen genau: Balcke war zuerst verunglückt, nämlich mit dem Kopf auf den Rand des Eislochs geschlagen, während Heym erst ertrank, als er den Freund herauszuziehen trachtete. Es macht sich einfach zu gut. Wer wollte noch an einem Gipfel der Lyrik vorübergehen, den eine versuchte Lebensrettung krönt? Wobei nicht selten auch Einzelheiten beweiskräftig sind. So versichern einige Quellen, Heyms Mütze, eine gelbe oder blaue vielleicht, habe sich unmittelbar neben dem Eislochrand gefunden! Und nicht etwa Balckes rote oder bunt geringelte Mütze. Nur die Mütze von Heym behielt Oberwasser und Beweiskraft. Was freilich die jungen Männer angeht, wühlte sie jener »Todeskampf der Farben«, von dem Balcke in seinem Gedicht Sturm geschrieben hatte, beide nicht mehr auf.
~~~ Laut Spiegel 23/1960* war sich die Berliner Zeitung anderntags noch nicht einmal über den genauen Unfallort sicher. Man vermutete ihn lediglich in dem Eisloch Höhe Schwanenwerder/Kladow, weil es die einzige freie Stelle des zugefrorenen Wannsees gewesen sei. Der Wannsee ist Teil der Havel. Aber möglicherweise führen der Herausgeber der »Hamburger Gesamtausgabe« Karl Ludwig Schneider oder der jüngste Heym-Biograf Gunnar Decker (2011) schlagendere Belege oder Argumente an? Am Ende sogar für eine verblüffende Paarselbstmord- oder Mordtheorie? Somit gebe ich meinen Einspruch nur unter Vorbehalt. Ich werde ja nicht so dumm sein, mich in Heym-Literatur zu vertiefen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43065884.html




Was soll man zum Balkon schon groß sagen? Brockhaus sagt, er begegne uns im frühen Mittelalter an Burgen. In Deutschland sei er um 1350 in den Wohnbau übernommen worden. Warum, sagt er nicht. Für Brockhaus scheint sich der Sinn von Balkonen von selbst zu verstehen. Man ist zugleich zu Hause und außer Haus und dabei noch vom Bürgersteig aus nicht so leicht zu behelligen. Als ich an Hafenspeichern einmal Gestänge vor Luken sah, die anscheinend zum »Einfangen« der hochgehievten Lasten dienten, entwickelte ich die Vorstellung, ein ganzer familiärer Kaffeeklatsch oder eine vergiftete Konferenz von Kommunarden fiele urplötzlich mitsamt dem Balkonfußboden auf die Straße, um dort zu zerschellen und dergestalt wieder Ruhe einkehren zu lassen. Als Mahnmal stand dann nur noch das schmiedeeiserne Balkongeländer vom Haus ab. Ich kam freilich auch rasch auf widerspenstige Balkone, die sich diesen ganzen Zirkus nicht mehr bieten lassen wollten. So flogen sie eines Herbsttages kurzerhand aus der ganzen Stadt im Schwarm den Rauchschwalben und Störchen nach – gen Süden, wie sich versteht, weil ja sowieso wieder Schnee und Eis drohten.
~~~ Ich gehe zu meinem im Vorraum stehenden Kleiderschrank und ziehe daraus Ilse Aichingers grau eingebundenes, schmales Buch Schlechte Wörter von 1976 hervor. »Ich lasse mir nicht mehr Angst machen«, lese ich da, »ich habe genug davon.« Im selben Buch verhehlt sie auch nicht, das Herstellen von Zusammenhängen und die Abgabe von Erklärungen zu verweigern.
~~~ Ja, mein Gott, aber warum schreibt denn dann ein Mensch? Um seine LeserInnen vor den Kopf zu stoßen? Aichingers in dem Fundstück versammelte kurze Prosatexte haben einen enormen Sog, aber keinen nachvollziehbaren Sinn. Es darf natürlich gerätselt und emsig ausgelegt werden. In einem Stück grenzt die Beobachterin tatsächlich einheimische von ausheimischen Balkonen ab. Vermutlich sind diese Texte nicht nur dem damals herrschenden Trend zum Hermetischen, sondern auch Aichingers Naturell geschuldet. Sie war keine Aufrüttlerin wie zumindest streckenweise ihr Ehemann Günter Eich. Aber Clown. Beim Nachwort des Schöndünsters Heinz F. Schafroth hat man ebenfalls zu lachen. Er breitet gelehrte Sülze über die »leergefegten Räume« in Aichingers Texten aus, die unser Bewußtsein verschärften und erweiterten – die leergefegten Räume. So werden verschärft bedeutende SchriftstellerInnen gemacht.
~~~ Vielleicht hätte Aichinger erwidert, der Mensch schreibe für sich. Nun gut – aber sie hatte und hat ein großes Publikum, einen ausgezeichneten Ruf und das entsprechende Einkommen beziehungsweise Erbe. Die Großschriftstellerin, wie ein paar Anarchisten sie angeblich nennen, starb im November 2016. Bis dahin wurden ihr geschlagene 24 Literaturpreise nachgeworfen. Setzen wir im Preisgeld einen niedrigen Schnitt von 10.000 Euro an, kommt sie schon auf 240.000 Euro. Der berüchtigte Volksmund hat für dieses Phänomen den Spruch bereit, der Teufel scheiße stets auf den größten Haufen. Sie wenden vielleicht ein, 240.000 Euro seien nicht gerade überwältigend. Nur hat die Frau auch rund 20 Bücher veröffentlicht, die durchweg ungleich besser gehen als etwa die Werke von Emma Waiblinger oder Gottfried Kapp. Wobei mich ihr wahrscheinlich berühmtestets Buch Die größere Hoffnung, ein früher Roman, keineswegs vom Hocker gerissen hat. Aber jeder muß es lesen. Ich sprach von den Erben. Was da an Tantiemen rollt, weiß ich zufällig von einem »Insider« des Literaturbetriebs, weil er einmal einen Essay von mir lobte und mich auch einmal besuchte. Er hatte mit einem Schriftsteller zu tun, der ähnlich erfolgreich wie Aichinger oder Eich war. Die beiden Töchter des Verstorbenen bezogen (um 1990) vom Verlag ihres Erzeugers halbjährlich Schecks, die pro Kopf dem Halbjahresgehalt eines Busfahrers oder eines Lehrers entsprachen. So viel Geld – nur für Bücher? Nein, für nichts. Da können sich vermutlich manche Abkömmlinge leicht wie ein leergefegter Raum vorkommen.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 4, Dezember 2023
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