Donnerstag, 2. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 3
Angst, Querfeldein – Automobilisierung, Bugatti

Querfeldein --- In der Flur bei Korbach unterwegs, habe ich einen Zusammenstoß mit einem Menschen, den ich zunächst für einen Dorfrüpel halte. Er steckt in derber Bauernkluft. Auf die Tür eines kotbespritzten kleinen Jeeps gestützt, erwartet mich der vierschrötige Kerl an der Landstraße. Er hat beobachtet, wie ich mit meinem Fahrrad auf dem Buckel über einen schlammigen Acker stapfte, anschließend nicht nur den Stacheldrahtzaun zu einer Viehweide überwand, sondern auch einen verschlossenen Hochsitz streifte.
~~~ Mit dieser umwerfenden Beobachtung konfrontiert, fahre ich ihn an, ob er nicht mehr alle Tassen im Schrank habe. Er präsentiert einen Ausweis: Jagdaufsicht! Nun erklärt der Mann, möglicherweise sei ja an dem Hochsitz etwas nicht in Ordnung. Ich möge mich bitte meinerseits ausweisen. Und was ich in der Umhängetasche dort hätte?
~~~ Ich reagiere sofort so empfindlich und gereizt, daß mich der Ordnungshüter kaum noch für einen harmlosen Wanderer halten kann. Es entspinnt sich ein grotesker Streit. Ich bin sicherlich schon dutzendmal im Leben heilfroh gewesen, von solchem Aufruhr nicht in einen Totschlag zu stürmen, der mein Gewissen zertrümmert und mich ins Zuchthaus katapultiert. In diesem Fall ramme ich meinem Widersacher schließlich wutschnau-bend meinen Personalausweis unter die Nase, worauf er sich meinen Namen notiert und mich ziehen läßt.
~~~ Doch auf der Rückfahrt nach Korbach hacken Wanderfalken auf meinen schweißglänzenden Nacken ein. SchriftstellerInnen verfügen naturgemäß über eine blühende Phantasie. Vielleicht fehlt am Hochsitz die Leiter, weil sie einer zum Kirschenpflücken benötigte – und jetzt bist du es gewesen! Aber schlimmer noch. In deinen Erzählungen kommt ein betuchter Jäger zu Tode, weil der Hochsitz angesägt worden war. Wie willst du dich herauswinden, wenn sich zufällig ein frischer Einschnitt im Hochsitzpfosten mit deinem zum Beweismittel erhobenen Manuskript deckt? Und wurde nicht kürzlich in Gießen ein kleines Mädchen entführt und womöglich ermordet? Hast du Pech, findet sich der Leichnam des Mädchens in dem Hochsitz, den der Jagdaufseher gerade überprüft.
~~~ In dieser Verfassung hilft es wenig, sich das alte Sprichwort vorzubeten, der Ängstliche sterbe tausend Tode. Vielleicht läßt sich die Scharte zumindest in der nächsten Erzählung auswetzen. Lächelnd sich hinterm Ohr gekratzt und unschuldsvoll entgegnet: »Was ich in meiner Umhängetasche habe? Sie dürfen gern einmal hineingreifen. Es ist nur ein tollwütiger Fuchs, der in seinen letzten Zuckungen liegt.«
~~~ Doch nach dem Mittagessen ging ich in die Offensive. Um mich unverkennbar zu machen, setzte ich mir trotz des warmen Wetters meinen grauen Filzhut auf und marschierte Richtung Amtsgericht, denn gleich gegenüber liegt die Polizeistation. Die wachhabenden Polizeibeamten werfen sich vielsagende Blicke zu, als ein offensichtlich schräger Vogel mit seltsamem Begehren an ihren Schalter tritt. Ich umreiße mein Streitgespräch mit dem Jagdaufseher. Nun klären sie mich bereitwillig darüber auf, die Jagdaufsicht habe tatsächlich gewisse polizeiliche Befugnisse. Das Recht, in ihrem Aufsichtsgebiet von einem Bürger zu verlangen sich auszuweisen, zähle dazu. Na prima – welcher Bürger weiß das schon? Ich dankte den Beamten und trollte mich.
~~~ Wichtiger war mir natürlich gewesen, sie hatten mich gesehen. Ich hatte also nichts zu verbergen. Weder eine gewilderte Feldmaus noch eine Mädchenleiche. Trotzdem ging mir der lächerliche Vorfall noch lange nach. Mir dämmerte, daß ich offenbar tiefsitzende Ängste und Schuldgefühle mit mir herumschleppte, die sich jeden zufälligen Furz aussuchen konnten, um ihn zu einem lebensbedrohenden Wirbelsturm aufzublasen. Die Ursachen dafür sind sicherlich in der Kinderstube zu suchen. Aber hier interessiert mich nur das Phänomen des Außenseitertums, das beharrlich für eine Fortschreibung der Ängste und Schuldgefühle sorgt. Warum?
~~~ Weil der Außenseiter aus der Norm fällt. Und es gibt nichts Schlimmeres, als eben aus der Norm zu fallen, vor allem, seit der Kapitalismus die Stanzmaschine, den Waschautomaten und das stets das linke Ohr präsentierende Paßfoto erfunden hat. Dann bist du, bei deiner Lebensführung, unnormal – um nicht abnorm zu sagen. Stapft man etwa querfeldein, obwohl die rotgrüne Bundesregierung den Straßenbau fördert wie seit Hitler keiner mehr? Ist man etwa erwerbslos, während die Schulden des Staates im Tempo seiner Eurofighter steigen? Kommt man unrasiert und zerlumpt daher, wenn sich die ZerstörerInnen dieses Planeten vor den Fernsehkameras in makellosem Outfit präsentieren? Darf man nach dem Ausverkauf der DDR noch Marxist sein? Ist Verzweiflung zulässig in einer Welt des Schönen Wohnens und des Schönen Betrügens?
~~~ Allerdings macht die Norm zuweilen auch den Normierenden zu schaffen. In diesem Umstand könnte ein gewisser Trost liegen. Im selben Sommer (2001) staunte ich nicht schlecht, als mich aus dem Schaukasten der Lokalzeitung der Vorgesetzte einer Bott-Figur grüßte, die ich erst kürzlich erfunden hatte. Bei dieser Figur handelt es sich um den Kasseler Landrichter Horst Kallenbreuer – wie fast jedes hohe Tier auch Jäger. Bott ist ihm wegen eines waidwund geschossenen Wildschweins auf der Spur. Nun aber wurde Kallenbreuers Vorgesetzter – der Präsident des Kasseler Landgerichts also – ganz real verfolgt. Der Präsident hatte sich in betrunkenem Zustand auf einem Feldweg bei Schwalmstadt festgefahren. Plötzlich stand das hinter ihm gelegene Kornfeld in Flammen: der heiße Auspuff seines Wagens hatte es entzündet. Die Feuerwehr kommt angerast; bald darauf die Polizei. Der Täter kann nicht flüchten, denn er hat 2,37 Promille. Doch reicht seine Geistesgegenwart für den Versuch aus, einen Polizeibeamten zu bestechen. Damit endet die Posse zunächst: die Polizei nimmt ihn mit.
~~~ Wie sich dann in der Verhandlung herausstellt, ist der Angeklagte schon häufiger dabei beobachtet worden, mit kaum zu verhehlender Alkoholfahne durchs Kasseler Landgericht zu tappen – dessen Präsident er war. Laut Gerichtsreporter wirkt der Angeklagte angeschlagen und kränklich, verfolgt die Verhandlung fast reglos, den Kopf auf die Hand gestützt oder einfach gesenkt. Die Norm ist erdrückend. Ich kann mir gut vorstellen, wie dem Angeklagten zumute war. Oder wie er später – einstweilen vom Dienst suspendiert und einer Berufungsverhandlung entgegensehend – in seinem Häuschen oder in seiner Villa hockt. Er hat seine Haushaltshilfe ausbezahlt, die Vorhänge zugezogen und die Klingel abgestellt. Er könnte vor Scham in dem schönen, eichernen Parkett versinken. Er nimmt einen tiefen Zug aus der Wodkaflasche. Er trinkt auf all die Taugenichtse, die er schon verdonnert hat.

∞ verfaßt um 2007


Die Last der eingebildeten Verantwortung --- In den rund 25 Jahren, in denen ich mich nun schon als Verfasser mehr oder weniger öffentlicher Texte versuche, ist die Angst vor Fehlern und Beschuldigungen nie wirklich von mir gewichen. Allenfalls nimmt sie mich nicht mehr so oft in die Mangel, weil ich mit der Zeit meine Sorgfalt beim Nachforschen und meine Fertigkeiten beim Redigieren steigern konnte. Sobald ich jedoch über eine falsche Jahreszahl oder auch nur einen Schreibfehler in einem Text stolpere, den ich eigentlich für fertig hielt, durchläuft es mich heiß, als öle der Henker bereits die Guillotine. Muß ich gar feststellen, unnötigerweise eine für meine Argumentation eher unwichtige zeitgenössische Zeugin durch Namensnennung bloßgestellt zu haben, fällt das Beil. Das ist der sogenannte Vorauseilende Gehorsam. Ich habe gar keine leibhaftigen AnklägerInnen nötig.
~~~ Einem jungen Mann, der sich mit dem Gedanken an eine journalistische Laufbahn trug, riet ich deshalb einmal, er möge lieber die Finger davon lassen. Er habe sonst alle Aussichten, sich wöchentlich zweimal in die Nesseln zu setzen und mit 40 an Magengeschwüren oder Asthma zu ersticken. Das Publizieren sei ein selbstmörderisches Geschäft. Er dachte kurz nach, zuckte mit den Achseln und fragte mich lächelnd: »Kennst du etwa andere, weniger gefährliche Geschäfte? Diese Gefahren sind doch völlig normal, sobald einer auch nur ein bißchen Verantwortung übernimmt. Jede Woche stürzt irgendwo auf diesem Planeten eine Brücke ein – und der Angeschmierte ist der Architekt. Ein Elektriker installiert oder repariert einen Stromzähler unfachmännisch – und wandert, nachdem das ganze Haus abgebrannt ist, vor Gericht. Dein Töchterchen reißt sich auf dem Bürgersteig von dir los – und kommt unter ein Auto. Schuld bist natürlich du. In den Kirschkuchen aus der nächsten Bäckerei hat sich ein Kieselstein verirrt, der dir glatt eine Goldplombe knackt – deine Zahnarztrechnung geht an den Bäcker. Und so weiter.«
~~~ Ich konnte ihm nicht wirklich widersprechen. Das Problem der Sorgfaltspflicht und der persönlichen Verantwortlichkeit hat im Grunde jeder Mensch, solange er sich nicht hinter Atemschutzmasken, Befehlsgebern oder seinem eigenen dicken Fell verstecken kann. Gleichwohl drängen sich ein paar Fragen auf. Zum Beispiel: für wen oder was fühle ich mich eigentlich verantwortlich? Schließlich muß ich weder den Erwar-tungen eines Chefredakteurs noch den Anforderungen des Autoverkehrs oder der Kindererziehung genügen, denn ich habe kein Auto und keine Kinder. Aber ich habe Ideale. Sie heißen vor allem Wahrheitsliebe und Gerechtigkeit. Ich kann in einem Text nicht verkünden, Hausfrau X. habe »unablässig« Geliebte empfangen, wenn sie, wie sorgfältige Nachprüfung ergibt, bestenfalls einen Geliebten jährlich empfing. Es wäre schlicht gelogen. Im übrigen dürfte ich mich, sofern ich mir die Unsauberkeit durchgehen lasse, nicht wundern, wenn Frau X. meine Falschdarstellung mit einer Verleumdungsklage beantwortet. Damit nähere ich mich der nächsten Frage.
~~~ Sie betrifft meine Angst vor Beschuldigung und Verfolgung. Sie ist ohne Zweifel lästig und der Gesundheit abträglich – dabei wäre sie zumindest im Falle meines Publizierens völlig überflüssig, wie ich bereits angedeutet habe. Meine Fehler oder Irrtümer als Blogger interessieren die Welt so wenig wie meine Stärken, falls vorhanden, und wie meine Texte überhaupt. Ich könnte verkünden, Merkel liege alle zwei Wochen bei Gates im Bett – es würde keinem auffallen, weil mich sowieso keiner liest. Vielleicht ist die Wahl meiner schlüpfrigen Beispiele nicht ganz zufällig. Die Angst Fehler zu machen hat sicherlich mehrere Gesichtspunkte. So fürchtet man die soziale Ächtung, das Angeprangert- und Ausgegrenztwerden. Aber sie ist auch Versagensangst, zumal beim Mann. Unterlaufen mir in meinen Texten zu viele Fehler und Irrtümer, bin ich der Liebe des Publikums nicht würdig. Für manche Autoren wäre freilich schon ein Fehler oder ein Irrtum zuviel. Denn sie möchten vollkommen sein. Angesichts ihrer vielen Unzulänglichkeiten, die sich auf den unterschiedlichsten Gebieten auswirken, ist dieses Begehren selbstverständlich ein schlechter Witz.
~~~ Wahrscheinlich paart sich ein grundsätzliches Vollkommenheitsstreben gern mit einer grundsätzlichen Neigung zur Ängstlichkeit. Was jedenfalls mich angeht, wäre es völlig zwecklos, das Publizieren aufzugeben, weil ich die Ängstlichkeit überall habe. Sie gehört zu meinem Naturell. Der Gram darüber, einen Bekannten ungerecht behandelt oder ihn fahrlässig verletzt zu haben, wiegt nicht schwerer und nicht weniger als der Gram, in einem Text versehentlich zwei Landeshauptstädte verwechselt oder eine wichtige Tatsache unterschlagen zu haben. Alles wirft mich auf die eigene Unzulänglichkeit zurück. Besonders viel Sozialgefühl spricht aus dieser Empfindung nicht gerade.
~~~ Ich lasse die Gedankenschwere fallen und weise den Laien im »freien« Publizieren noch auf ein pragmatisches Übel hin. Als SelbstverlegerIn oder BloggerIn ist man nämlich in der Regel auch frei von sachkundigen Ratgebern und Helfern. Man steht völlig allein. So kann ich mich beispielsweise weder auf Lektoren noch auf Korrektoren stützen. Was das bedeutet, dürften die wenigsten »Konsumenten« erahnen. Ich nehme stark an, im Laufe der letzten 15 Jahre habe ich allein für das Korrekturlesen eigener Texte und Buchmanuskripte ungefähr ein Jahr aufgewendet; ein ganzes Jahr voller Acht-Stunden-Tage nur fürs Korrekturlesen und Berichtigen, also vom Verfassen der Texte und Buchmanuskripte höflich zu schweigen. Und immer drohend und grinsend dabei, auf der Schreibtischlampe hockend, das Rechtschreibgespenst, weil man den reformierten Roboter nicht ins Haus gelassen hat.
~~~ Ungeachtet jenes Aufwandes hat man es als Korrektor seiner selbst natürlich auch deshalb verdammt schwer, weil man stets der eigenen Befangenheit unterliegt. Ihr ist kaum zu entkommen. Der Selbstkorrektor hat sich unablässig zu zügeln, also zum langsamen, genauen und kritischen Lesen der ihm längst bekannten Texte anzuhalten, die ihm übrigens nicht selten schon buchstäblich zum Halse heraushängen. Und am Ende hat er doch wieder soundsoviele Mängel übersehen.
~~~ In diesem Zusammenhang ist mir noch ein anderer Nachteil aufgegangen. Die Freunde eines Autors haben oft das Pech, dessen erste LeserInnen zu sein – und leider bleibt es dann häufig auch dabei. Das heißt, wichtige Verbesserungen, die er später noch vornehmen kann, pflegen ihnen zu entgehen. Hierin verbirgt sich nebenbei der einzige Vorteil, der einem Internet-Selbstverleger geboten wird: er kann seine Texte jederzeit ändern, berichtigen, streichen, ganz wie er es für richtig hält. In einer Buchausgabe wären all die Mängel, die ich mir schon geleistet habe, unerbittlich verewigt. In der Puppenfabrik-Bibliothek habe ich kürzlich mein eigenes, 2009 erschienenes Buch Der Fund im Sofa entdeckt – es kostete mich einige Überwindung, es nicht zu stehlen und in den nächsten Altpapier-Container zu werfen. Zum Glück suchen die Kommunarden ihre Bibliothek selten auf. Man sagte mir, der mit Abstand eifrigste Nutzer sei ich selber.

∞ verfaßt 2020


Stürme im Wasserglas --- Möglicherweise werden Leute wie ich im Alter weiser – tapferer aber kaum. Bei den jüngsten Februarstürmen hatte ich Angst wie ein Kind. Rings um das von mir bewohnte Häuschen stehen alte Bäume, die ihre dickeren kränkelnden Äste nur zu gern auf meine Dachziegeln krachen lassen. Drei gesprungene Ziegeln und eine abgeschlagene Dachrinne hatte ich bereits. Wann wird der erste Baum zur Gänze umfallen und alles zersplittern? Schon das Heulen des Sturmes zerrt an meinen Nerven, besonders nachts. In der Nacht sind alle Katzen Tiger. Prompt wird mein Bett von weiteren »Vorstellungen« bestürmt, die ich keineswegs gebeten habe einzutreten. Gleich schießt der arm- oder beindicke Ast durch mein Fenster. Da hilft keine Gardine. Gleich tropft es durch meine Zimmerdecke wie bei Mutter Kostelić in Zamir – nur wird mich keine Zora retten. Morgen wird mir Lektorin Soundso mitteilen, meine Erzählung Zora packt aus stimme vorne und hinten nicht; für VersagerInnen hätten sie im Programm keinen Platz. Die Ängste rufen einander, gerade so wie alle Gäule einfallen, sobald ein Gaul zu scheißen begonnen hat. Aber sie dampfen und brennen in meinem elenden Leib heißer als auf der Pferdekoppel. Und wenn sie sich früher oder später zum kürbisgroßen Tumor auswachsen, was mache ich dann?
~~~ Beim Stichwort »Versagensangst« fällt mir jedesmal ein Kleiderschrank aus Kiefernholz ein, den ich um 2000 für meine Korbacher Kellerwohnung erstand. Da nagelneu, waren alle Teile ordentlich verpackt. Nun lehnten die Pakete schön an der Wand und türmten sich über Tage und Nächte hinweg zum Eisenberg auf. Der liegt bei Korbach und ist rund 560 Meter hoch. Wäre ich überhaupt imstande, dieses Scheißding aufzubauen? Stecken auch die richtigen Beschläge in den Paketen? Und wenn nicht – woher nehmen, wenn nicht stehlen? Ironischerweise besaß ich auch noch den Gesellenbrief eines Raumausstatters, und ich kenne aus meinem handwerklichen Erwerbsleben Dutzende von »Bewährungsproben«, die mir mindestens soviel Angst einjagten wie die vor der Gesellenprüfung. Und auch das hat sich keineswegs mit dem Altern gelegt. Neulich hatte ich einen Platten im Hinterreifen meines Fahrrads. Wie baut man den eigentlich aus, trotz der 7-Gang-Nabenschaltung? Und bekommt man ihn dann auch wieder hinein, trotz der Felgenbremsen? Und wie stellt man dann diese Scheiß-Gangschaltung wieder ein? Es geht übrigens ohne Trennung des Schaltungszuges, wie ich schließlich erfreut festellte. Der Preis dieser Freude waren, tage- und nächtelang, Besorgnis, Grübelei, Angst.
~~~ In hartnäckigen Fällen wie mir können Sie alle Mentaltraining-Broschüren, Philosophiekurse und Psychotherapien vergessen. Ich kenne sie alle – und sie nützen alle nichts. In meinesgleichen wirkt ein winziger Kobold, der bereits dem Fötus im Seepferdchenfuß saß. Er hat die Augen eines Fischadlers, damit ihm nicht eine der vielen Chancen, Angst zu haben, entgeht. Er hat ein Riesengedächtnis, das mit Vorliebe Schlechtes, Ungünstiges, Furchtbares bereit hält, um es mir bereits am Morgen, wenn ich glücklich auf der Bettkante sitze, um die Ohren zu schlagen. Sein Lieblingssprichwort ist: Der Ängstliche erleidet tausend Tode. Eine Freundin von mir glaubt fest daran, mit dem wirklichen Tod hätten alle Ängste ein Ende. Liegt sie richtig, weiß ich, was mir mein liebstes Schicksal wäre.
~~~ Es wird Sie nicht verblüffen, wenn ich der Vollständigkeit halber bemerke, bei meinesgleichen sei die Neigung zur Ängstlichkeit von Kind an stets mit dem Drang zur Großmäuligkeit gepaart. Sie sind auf dieselbe Wippe geschnallt: sinkt die eine ab, schnellt die andere in die Höhe. Allerdings habe ich in dieser Hinsicht bescheidene Erfolge zu verzeichnen: die Selbstüber-schätzung nimmt mit zunehmendem Alter doch ab. Dafür wird eben die Ängstlichkeit fetter, wie es scheint, die ja in vielen Fällen nichts anderes als Mangel an Selbstvertrauen ist. Es gibt Tage, da traue ich mir noch nicht einmal zu, eine Visitenkarte zu verfassen. Gelingt mir dann aber gar eine längere Erzählung, frage ich mich schon nach wenigen Wochen, beim Wiederlesen, entgeistert: Das soll von dir sein? Wie hast du das denn, bitteschön, geschafft ..? Ich kann es gar nicht glauben.
~~~ Ich nehme an, Größenwahn und Blütentraum (Goethes Vorschlag für »Illusion«) nähren sich gegenseitig. Man sieht, hört oder liest von eindrucksvollen Laufbahnen oder Abenteuern und bildet sich ungeprüft ein, dazu habe man selber auch das Zeug. Verfährt man noch mit 40 oder gar 70 so, werfen einem als »ausgeglichen« geltende Zeitgenossen vor, man sei ein unverbesserlicher Kindskopf. Und wenn schon? Was kann das Kind dazu, sich unter lauter Riesen geworfen zu finden? Oder was kann es für jene berüchtigte »Explosion« des Gehirns, die den altsteinzeitlichen Menschen vor ungefähr 100.000 Jahren ereilt haben soll? Jedenfalls schuf dieses, nach wie vor so gut wie ungeklärte Ereignis in seinem Schädel Platz genug für jene Blütenträume und für enorme Spannungsweiten, die nur der glückliche »Ausgeglichene« im Nu mit seinem »gesunden Menschen-verstand« zu überbrücken pflegt, weil ihn Mama recht-zeitig in Biederkeit und Opportunismus – oder, modischer gesprochen, der Kunst des Ankommens gebadet hat.

∞ verfaßt 2022


Laut Brockhaus war der schweizer Schriftsteller Max Pulver (1889–1952) auch »bedeutender Graphologe im Umkreis von C. G. Jung«. Soweit ich weiß, möchte ein Graphologe aus der Handschrift Rückschlüsse auf Persönlichkeit und Gemütsverfassung des betreffenden Schreibers ziehen. In Band 9 weist das Lexikon allerdings darauf hin, die »Kunst der Handschriftendeutung« sei mit Vorsicht zu genießen. Das glaube ich gern, denn zu den führenden Experten auf diesem Fachgebiet wird der Holzhammerphilosoph Ludwig Klages gezählt, der 1917 das Werk Handschrift und Charakter vorlegte. Pulver schätzte den Guru und veröffentlichte selber mindestens zwei graphologische Bücher.
~~~ Mir hätte Pulver wahrscheinlich auf Anhieb beträchtliche »Versagensangst« oder wenigstens ein gerütteltes Maß an Unsicherheit bescheinigt. Jedenfalls in meiner Jugend. Ich hatte nämlich von der Wiege an Schwierigkeiten, halbwegs flüssig zu schreiben. Das trat besonders peinlich immer dann hervor, wenn es galt, meine Unterschrift zu leisten. Ich benötigte Jahrzehnte, um sie einigermaßen absatzlos und gefällig unter ein Behördenformular oder gar unter einen Brief an den Verlagslektor Soundso zu setzen. Im übrigen hatte ich den Versuch flüssig zu schreiben bald nach meiner Schulzeit ohnehin aufgegeben. Soweit noch erforderlich, schreibe ich seit rund 50 Jahren auch mit der Hand ausschließlich »Druckbuchstaben«. Ich wüßte inzwischen schon gar nicht mehr, wie man die Buchstaben verbindet. Gewiß ist meine Druckschrift etwas zeitaufwendiger als die Schreibschrift, aber meine Rettung war natürlich (um 1967) die Schreibmaschine, die ich bald mit vergleichsweise großer Meisterschaft zu bedienen verstand. Nur war es im vergangenen Jahrhundert noch verboten oder zumindest verpönt, beispielsweise Liebesbriefe auf der Maschine abzufassen, und insofern hatte ich schon einige Probleme. Ja, sicher, mit der Liebe sowieso.
~~~ Wahrscheinlich bin ich aufgrund meiner Handschreibkrankheit nie Politiker oder gar Minister geworden. Die Vorstellung, ich müßte vor den Augen der sogenannten Öffentlichkeit einen Freundschaftsvertrag mit Wladimir Putin oder auch nur Willy Brandts Radikalenerlaß unterzeichnen, jagt mir heute noch Schauder ein.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 30, August 2024

Siehe auch → Kosmologie, Hansen (Universum) → Band 4 Bott Sonne föhnen (Höhenangst, Schwindel) + Axt Kap. 11 und 13 (Platzangst, Schwindel) + ausmisten Kap. 2 (Ferkel ohne Geburtstrauma) → Band 4 Mollowina Luchse Kap. 7 (Hämmern)




Ankommen

Das Wendewort. Aber es gilt nach wie vor. Solange Merkel, Wagenknecht und all die anderen befähigten Genossen in der Demokratie ankommen; USPD, Grüne, PDS in deren kriegstrunkener Mitte; Lauterbachs Impfmahnbriefe in unseren Hausbriefkästen; die Kinder in der Erwachsenenwelt und die Querulanten in der Vernunft, ist die Welt in Ordnung. Ankommen schließt in der Regel Fluchten, Ausstiege, Revolten ab. Die Ausreißer sind wieder da. Der Angekommene ist erfolgreich angepaßt worden. Jetzt kommt er beim Publikum gut an.
~~~ In meinem westdeutschen Duden von 1983 ist das Wort in der besagten metaphorischen Bedeutung nicht zu finden. Was wir im christlichen Abendland bis dahin kannten, war vielleicht die Ankunft des Heilands. Von den Marxisten getreulich ins Soziologische übertragen, sorgte die Lehre von der Ankunft selbst in der DDR für Tröstung, während das Volk über den Tisch gezogen wurde. Denn im Zeichen des christlich-marxistischen Fortschrittsdenkens läßt sich jeder Blaue Fleck und jede Schweinerei rechtfertigen, weil es ja immer nur besser werden kann. Die Geschichte marschiert unbeirrt auf unser Heil los – und nicht etwa heillos. Da war die »Wiedervereinigung« schon fast das Paradies. Später kamen 98 Prozent aller linken SchullehrerInnen im Wahn der sogenannten Pandemie an. Man darf diese Charakterruinen aber nicht MitläuferInnen schimpfen, weil man sonst wegen »Verharmlosung des Nationalsozialismus« vor Gericht kommt. Vor die Söhne und Enkel der Nazi-RichterInnen.
~~~ Ein prominenter vorbildlicher Ankommer war bereits der spätere Bundeskanzler Gerhard Schröder gewesen. 1980 noch amtierender Juso-Vorsitzender, schrieb er im Sammelband* Die Linke, hinter der »Globalisierung« verberge sich »nichts anderes als eine Neuauflage des amerikanischen Imperialismus der 50er und 60er Jahre.« Mit dieser »Wahnsinnstrategie Solidarität« zu üben, verstoße gleichermaßen gegen bundesdeutsche Interessen wie gegen die Belange weltweiter Friedenspolitik. Nebenbei beklagte er die Sitte der tonangebenden westdeutschen Blätter, die SU in Karikaturen wieder als blutrünstigen Bären zu geben, und verurteilte die entsprechende Bonner »Konfrontations- und Boykottpolitik«. Ins gleiche Horn soll der SPD-Vorsitzende Rudolf Scharping noch um 1993 geblasen haben. Die Forderung, auch die Deutschen müßten endlich wie alle anderen überall auf der Welt militärisch intervenieren können, lehne die SPD ab. Sechs Jahre später machte Schröders Kriegsminister Scharping den bahnbrechenden Nato-Überfall auf Jugoslawien mit. Als Bush 2001 nach dem Einsturz der Zwillingstürme seinen »Krieg gegen den Terror« lostrat, versicherte ihm Schröder umgehend Deutschlands »uneingeschränkte Solidarität« – der Wahnsinn war schon zur Methode mutiert. Scholz und Baerbock brauchten ihn lediglich zu kopieren. Wer sie »YankeearschkriecherInnen« nennen würde, bekäme nicht Post von Lauterbach, vielmehr vom jeweils zuständigen Staatsanwalt.
~~~ Nebenbei festgehalten: Als die halbe Welt im Früh-jahr 2014 Wladimir Putin wegen seiner »völkerrechtswid-rigen« Krim-Anschluß-Pläne verdammte, konterte Altkanzler Schröder auf einer Zeit-Veranstaltung in Hamburg ungewohnt selbstkritisch: »Er handelt wie ich … Da haben wir [1999] unsere Flugzeuge nach Serbien geschickt und die haben zusammen mit der Nato einen souveränen Staat gebombt – ohne dass es einen Sicherheitsratsbeschluss gegeben hätte.« So laut einem FAZ-Bericht vom 10. März 2014.** Ich wüßte nicht, daß dieses eigentlich sensationelle Geständnis eines »Völkerrechtsbruches« die Republik aufgewühlt und Schröder vor den Kadi gebracht hätte. Vielmehr dürften auch die grünen WortführerInnen, die jetzt Krieg machen, nicht über Achselzucken und Grinsen hinaus gekommen sein.
~~~ Ich nehme stark an, in seinen Juso-Anfängen hatte Schröder auch die farbenprächtig gestaltete Broschüre*** von 1947 Sozialismus als Gegenwartsaufgabe verschlungen. Schon bezeichnend überwiegend in einem kalten Grün gehalten, leuchtet einem nur das Wort »Sozialismus« in flammendem Rot vom Titelblatt entgegen. Es war ein Frühwerk des jungen schwäbischen Landrates und Sozialdemokraten Fritz Erler. Es kreist um die Erkenntnis: »Kapitalismus bringt Krisen, und Krisen bringen Krieg.« Konsequent spricht sich Erler deshalb auch gegen die Blockbildung und Westbindung aus. Deutschland dürfe sich »keiner Seite in die Arme werfen und zum Streite hetzen, es muß das Bindeglied zwischen beiden sein.« Lesen Sie dieses Gesäusel nie Baerbock vor, sie bekäme einen Tobsuchtsanfall!
~~~ Wie aber erleben wir Erler, inzwischen Bundestagsabgeordneter, wenige Jahre später? Als Vorkämpfer all dessen, was er in seiner 52seitigen Broschüre angeprangert hatte. Darunter befand sich selbstverständlich auch das Privateigentum an Produktionsmitteln, bevorzugt in der Rüstungsbranche. Im Lauf der 50er Jahre begrüßte Erler Wiederbewaffnung und Nato-Beitritt und schwang sich zum »außen- und wehrpolitischen Sprecher« seiner Partei auf. 1964 auch Bonner Fraktionschef der SPD, wurde er bald als kommender »Verteidigungsminister« oder gar Kanzlerkandidat gehandelt. Das konnte nur durch eine Krebserkrankung verhindert werden, der Erler 1967 mit 53 Jahren erlag.
~~~ Vor knapp 10 Jahren überwarf ich mich bei einem Wiedersehen mit einem ehemaligen Mitkommunarden. Ich hatte ihm gestanden, die offizielle 9/11-Version (muslimische Selbstmörder greifen USA an) nach wie vor für eine faustdicke Lüge zu halten; irgendwie hätten die Yankees das Ding selber gedreht. Da machte er große Augen und zeigte mir einen Vogel. Überhaupt sei mein Festhalten an anarchistischen Positionen wirklich »Kinderkram«, fügte er hinzu. Das war zuviel. Ich ließ den Freund kurzerhand sitzen. Daß die Welt für Nichtan-kommer rasch schmäler und schneidender wird als ein Tellerrand, läßt sich allerdings nicht bestreiten.

∞ verfaßt 2022
* Hrsg: Gremliza/Hannover, VSA-Verlag, Hamburg 1980. Der Beitrag von Schröder hieß »Die Linke vor der Alternative: Krieg oder Frieden«, siehe bes. S. 189–91.
** Günter Bannas, »Er handelt wie ich«, http://www.faz.net/ukraine-gerhard-schroeder-erklaert-putins-politik-12840337.html, 10. März 2014
*** Neckar-Verlag Herbert Holtzhauer, Schwenningen 1947,
bes. S. 21 + 46



Ich gestehe, der Liedermacher und Schriftsteller Wolf Biermann (* 1936), bis 1976 DDR-Bürger, ist mir derart unangenehm, daß ich ihn lieber rechts liegen lasse. Für mich gehört er wie beispielsweise Arthur Koestler, Joschka Fischer, Peter Schneider zu den prominentesten Umfallern, die wir im Freien Westen haben. Erstaunlicher-weise wird die Rückkehr in den Schoß, aus dem der Faschismus kroch und in dem sich dieser derzeit große Chancen auf eine Wiedergeburt in postmodernem Gewande ausrechnen kann, von vielen Leuten als Achtung gebietendes Ankommen aufgefaßt. Die Kindsköpfe kommen endlich in der Vernunft an. Verweigern sie sich diesem Rückweg jedoch bis zum letzten Atemzug, gelten sie mindestens als Einfaltspinsel, oft als Verschwörungs-theoretikerInnen, demnächst als VerbrecherInnen. In Jutta Ditfurth haben wir möglicherweise so eine Widerspenstige; und in Michael Schneider, Peters Bruder, auch so einen Widerspenstigen. Aber die Nichtumfaller-Innen sind zumindest in Deutschland dünner gesät als Wilder Hanf. An Biermann finde ich am Übelsten, daß ihm irgendwelche Charakterruinen 2018 allen Ernstes den Ernst-Toller-Preis zuschusterten. Genausogut hätte man Stepan Bandera den Friedensnobelpreis anheften können. Naja, geben wir ihn eben Wolodymyr Selenskyj.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 5, Januar 2024


Ich habe schon mehrere weltanschauliche »Wendehälse« gestreift, etwa Biermann, Broda, Bucher. Zwei andere, beide Franzosen, stellt Brockhaus in Band 5 (1988) gleich nebeneinander vor. Der Philosophieprofessor und Politiker Marcel Déat (1894–1955) sei ursprünglich Sozialist und Gegner des Faschismus gewesen, dabei »mehrfach«, also wiederholt, Abgeordneter oder Minister. 1940 habe er sich jedoch dem Vichy-Regime angeschlossen, das bekanntlich mit den Nazis liebäugelte. Er stellte sogar einen Verband der Waffen-SS auf die Beine. Dummerweise konnten sich die deutschen BesatzerInnen nicht ewig halten, sodaß Déat genötigt war, von Süddeutschland aus zu wirken, nämlich als Mitglied der Sigmaringer sogenannten Exilregierung. Immerhin war Sigmaringen ein hübsches Städtchen, das sogar ein ausgedehntes und prachtvolles Hohenzollern-Schloß aufwies, in dem man sicherlich in gehobenem Gemütszustand faschistische Strippen ziehen konnte. 1945 in Frankreich bei Abwesenheit zum Tod verurteilt, zog es unser Wendehals vor, wohl mitsamt seiner Gattin Hélène, in Italien unterzutauchen. Dort wurde er nie an den Pranger gestellt. Angeblich versteckten ihn die (katholischen) Karmeliter in einem Kloster nahe Turin. Dort habe er seine Memoiren verfaßt. Woran er bereits mit 60 starb, scheint im Internet unbekannt zu sein.
~~~ Der Philosophiestudent Régis Debray (* 1940) wurde durch »sozialrevolutionäre« Schriften und seine Zusammenarbeit mit Che Guevara in Bolivien berühmt. Dort saß er sogar von 1967–70 im Knast. Jedoch: »In wachsendem Maße distanzierte er sich vom Linksextremismus, trat dem Parti Socialiste (PS) bei und war 1981–85 Berater des französischen Staatspräsidenten F. Mitterrand in Fragen der dritten Welt.« Laut Wikipedia ergatterte er später auch unter dem (gaullistischen) Staatspräsidenten Jacques Chirac (bis 2007) ein Amt: er habe einer Kommission angehört, die sich mit religiösen Symbolen im Schulwesen befaßt und ein Schleierverbot in den Schulen empfohlen habe. 2018 erzählt uns die Welt, Debrays Tochter habe sich gelegentlich über das »Machogehabe« des anscheinend über weite Strecken schnauzbärtigen Vaters lustig gemacht. Im übrigen verzehre sich dieser, wie jeder zweite Franzose, schon immer danach, auf dem Buchmarkt mitzumischen. Debray habe inzwischen über 70 Bücher veröffentlicht. Was er darin verkündet, ist möglicherweise nebensächlich – Hauptsache, gedruckt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 8, Februar 2024



Anthroposophie

Rudis Restekiste --- Wer dem sagenumwobenen Begründer der sogenannten Anthroposophie auf den Zahn fühlen will, läuft Gefahr, sich am Berg seiner Bücher die Zähne auszubeißen. Gegen Rudolf Steiner (1861–1925) geht selbst ein Georg Simmel noch als Dichter durch. Steiner schreibt äußerst unanschaulich, umständlich, hölzern. Von so etwas wie Sprachgefühl ist er ähnlich weit entfernt wie der Andromedanebel von der Erde. Die Entfernung beträgt ungefähr 2,5 Millionen Lichtjahre, wobei bereits ein Lichtjahr 9,46 Billionen Kilometer mißt. Bei Galaxien wie unserer Milchstraße oder dem ihr benachbarten Andromedanebel handelt es sich bekanntlich um riesige Sternhaufen. Steiner liebt kosmische Dimensionen, die Substantivierung und allerlei Wortungetüme, die uns wie Wagners Drache das Hirn aus dem Schädel blasen. Im ganzen ist Steiners Wortschatz auffallend und schmerzlich dürftig. Möglicherweise hat er diese Armut aus dem »vollen Seelenleben« bezogen, das er sich öfter bescheinigt.
~~~ Der Kern seiner Lehre ist im Nu umrissen. Selber Idealist, behält Steiner den Materialismus – wenn auch getreu der in beiden Lagern beliebten Fortschrittsidee als Höherentwicklung – den Mineralien, Pflanzen, Tieren vor. Nur das Wesen des Menschen wird durch das Denken ausgemacht. Konsequent genug ins Übersinnliche vorgetrieben, schließt dieses Denken das einzelne Ich mit dem Hegelschen Weltgeist, dem Kosmos und dem Strom aller vergangenen und kommenden Zeiten kurz. »So hat sich der physische Erdenplanet herausentwickelt aus einem geistigen Weltwesen«, ist aus Steiners Buch Die Geheimwissenschaft im Umriß von 1910 zu erfahren. Der Mensch gilt ausdrücklich als Krone der Schöpfung. Allerdings wird der einzelne Mensch – verblüffenderweise auch der Planet Erde, wie Steiner weiß – mehr oder weniger oft wiedergeboren. Auch hierin geht es von Nieder nach Höher. Hinken Sie beispielsweise von Kind auf, brauchen Sie nicht zu verzweifeln; Sie müssen nur ein wenig Geduld haben. Am Ende winkt die Vollkommenheit. Um diese aus der peinlichen Nähe solcher bekannten Phänomene wie Gott, Heiliger Geist, Nirwana zu rücken, mußte Steiner ungefähr 150 Bücher schreiben. So lenkt er auch von seiner engen Verwandtschaft mit Leuten wie Platon, Schopenhauer, Ludwig Klages ab.
~~~ Klages – 10 Jahre jünger als Steiner – verlegt das Übersinnliche in unsere »Seele«, während er den »Geist« der materialistischen Teufelei zeiht. Vielleicht gingen um 1900 so viele Kosmogonen und Priester um, weil die kommunistischen Gespenster zu handfest zu werden drohten. Immerhin hält Steiner bei allem Versteckspiel Jesus Christus hoch. Deshalb heißt die erbauliche Abteilung der Anthroposophen nicht Waldorf-, vielmehr Christengemeinde. Pädagogik und biodynamische Landwirtschaft, Salbenzubereitung und Geldinstitute unter dem Zeichen eines Mannes zu betreiben, der sich bereitwillig an ein Kreuz nageln ließ – da braucht es viel Kredit. Gewiß haben wir in Steiner weder den ersten noch den letzten Denker, der aus Furcht vor der Freiheit (Erich Fromm 1947) zum Glauben zurückkehrt. Doch nicht jeder ist so schlau, seiner religiösen oder mystischen Wegwei-sung den Anstrich von Rationalität, Naturwissenschaft, Beweisbarkeit zu geben. Damit fußt sie nicht mehr auf Wünschen oder Bekenntnissen, sondern auf »Tatsachen«. Der Glaube wird laborfähig.
~~~ So mancher Chemiestudent wäre allerdings von der Dreistigkeit erstaunt, mit welcher Steiner ein ums andere Mal Phänomene, die er soeben vermutet oder behauptet hat, nach wenigen Absätzen (und Ablenkungen) als bewiesen hinstellt. Vielleicht würde er sogar von Steiners Neigung zur Roßtäuscherei sprechen. Dabei gefällt sich Steiner in der Rolle des geduldigen Onkels, der nicht nachläßt, den fehlgeleiteten Kindern gut zuzureden; den anderen Kindern schmeichelt er gern, indem er sie unablässig der »Vorurteilslosigkeit« für fähig hält. Der onkelhafte Tonfall ist wichtig um zu unterstreichen, daß Steiner nur »scheinbar abstrakt« spricht. Das »Nebulose« gewisser Mystiker verurteilt er entschieden. Er haßt Phantasten. Er nämlich spricht aus »vollem seelischen Leben«, aus »gesunder Seelenverfassung« oder »gesundem Sinn«. Er spricht wahr, weil er sich »unbefangener Seelenbeobachtung« befleißigt. Das Wort unbefangen kommt in jedem fünften Satz vor; es meint auch Unverdorbenheit, wodurch es sowohl Steiner wie seine LeserInnen adelt.
~~~ Solche stinkenden Beteuerungen machen Steiners Tatsachen und Beweise aus. Da wundert es einen kaum, wenn die Ausdrücke »gemäß der Naturforschung« und »wissenschaftlich« zu Steiners Lieblingswörtern zählen. Lassen wir ihren namensgebenden Pleonasmus einmal unberücksichtigt, ist an Steiners Anthroposophie (»Menschenweisheit«) gar nichts neu. Siegfried Kracauer weist schon 1921 (in der Frankfurter Zeitung) auf die »Synkretismen« dieser Lehre hin – es handle sich um ein Gemenge aus allen möglichen Religionen und Mysterien, Aberglauben und Weisheiten. Eine Bekannte von mir, die in ihrer Kommune mit einer Waldorflehrerin zusammen leben muß, sprach einmal von einem verworrenen Schwarzalbenreich, das sie an Richard Wagners pompösen Ring erinnere. Möglicherweise sei Steiner der einzige Mensch, der in den unzugänglichen dunklen Gefilden, die er vor uns ausbreitet, einigermaßen durchblickte. Nun ja, das könnte immerhin erklären, warum er sich die ungeheure Mühe ihres Erschaffens machte – um selber als Lichtgestalt dazustehen.
~~~ Die Bücher von Colin Wilson (1985) und Christoph Lindenberg (1992) sind nicht dazu angetan, diesen Verdacht zu entkräften. Für ein sorgfältiges Urteil liefern sie allerdings entschieden zu wenig Material. Beide Autoren sympathisieren mit der Lichtgestalt. So unternehmen sie auch beide keinen ernsthaften Versuch, die Lehre Steiners mit dem Menschen Steiner zu konfrontieren. Insbesondere von Steiners Kindheit erfährt man so gut wie nichts – jedenfalls nichts Triftiges. Wenn Lindenberg Steiners Mutter »schweigsam« nennt, ist es schon viel. Beziehung zum Vater? Der Bahnbeamte spornt Rudi zum Lernen an. Dies bei Wien in ländlicher Idylle. Wer jemals als Dorfpimpf leidenschaftlich gern gehänselt worden ist, kann hier eigentlich nur Unheil wittern. Wilson rückt immerhin – über seine Darstellung verstreut – mit einigen Charakterzügen Rudolf Steiners heraus. Steiner könne seine Gefühle nicht zeigen. Sinnenfeindlich. Man habe den Eindruck, er könne nicht aufhören zu denken; er denkt pausenlos. Ein Umstand übrigens, der dem erwähnten Ludwig Klages quälende Schlaflosigkeit bescherte. Mit der Realität habe Steiner enorme Schwierigkeiten. Er spaltet sie ab; Weltflucht. Als er zum Führer der Bewegung wird, errichtet er »eine Mauer der Distanz« um sich. Seine erste Frau ist erheblich älter als er; Mutter. Seine zweite Frau – Marie von Sivers – erklärt es zu Steiners Aufgabe, »geistiger Führer der Menschheit« zu sein. Wie wir wissen, stellte sich Steiner dieser Aufgabe. Denn zwar war er klein, schmächtig und schüchtern, aber sehr ehrgeizig, wie Wilson immerhin ebenfalls erwähnt.
~~~ Bleibt noch das berüchtigte »Charisma«, das Steiner wiederholt bescheinigt worden ist. Auch von Stefan Zweig zum Beispiel, der ihm um 1900 in Berlin begegnete, wie er in seinem Lebensrückblick Die Welt von gestern mitteilt. Seine Schilderung findet sich auch im Anhang von Lindenbergs Buch; allerdings geht Lindenberg lieber nicht so weit, Stefan Zweigs Resümee gleichfalls zu zitieren. Es lautet: »Ich maße mir kein Urteil über die Anthroposophie an, denn mir ist bis heute nicht deutlich klar, was sie will und bedeutet; ich glaube sogar, daß im Wesentlichen ihre verführende Wirkung nicht an eine Idee, sondern an Rudolf Steiners faszinierende Person gebunden war.« Leider sind Unterwerfungs- und Verehrungssucht in sämtlichen ideologischen Lagern verbreitet. So etwas wie Charisma hatten oder hätten schließlich auch Leute wie Ludwig Klages, Hitler und Stalin, John F. Kennedy, Joschka Fischer oder die sozialistische Prinzessin Sahra Wagenknecht zu bieten. Sie sind Überredungskünstler-Innen. Bedürftig, wie sie offenbar sind, beschwören sie uns, ihnen Glauben zu schenken – ihnen zumindest einen kleinen Vertrauensvorschuß zu gewähren. Auch nach längerem Nachdenken fällt mir nicht ein Führer ein, der kein Scharlatan und kein Neurotiker gewesen wäre. Selbst unter den Philosophen lassen sich selten gefestigte, nämlich weder nach innen noch nach außen betrügerische Exemplare finden.
~~~ Fromm weist in seiner erwähnten Untersuchung darauf hin, für eine trotzige, lebensfeindliche Grundhaltung sei in nicht wenigen Fällen verdrängte Feindseligkeit gegen den eigenen Vater verantwortlich. Im Falle des galligen Arthur Schopenhauers mit seiner schwärzlichen Lehre mag es eher die eigensüchtige Mutter gewesen sein. Sigmund Freud hatte kurzerhand von einer starken Anziehungskraft zwischen persönlichen Ängsten und einer »pessimistischen Auffassung der Dinge« gesprochen. Mir macht nämlich niemand weis, die Anthroposophie oder irgendwelche anderen Heilslehren, esoterischen Schulen, »spirituellen« Strömungen faßten die Dinge positiv auf; dann bedürfte es ja ihrer verdächtig undurchsichtigen Jenseitigkeit nicht.
~~~ Reiten linke KritikerInnen gern auf einigen rassistischen oder gar faschistischen Äußerungen Steiners herum, halte ich es für überflüssig. Die irrationale, autoritätsgläubige und gleichmacherische Wirkung seiner Lehre genügt für die Empfehlung, um jede Waldorfschule einen möglichst großen Bogen zu machen. Ehemalige SchülerInnen und andere Autoren haben diese Wirkung ausführlich beschrieben; ich nenne nur Elisabeth Voß (im Kommunebuch, Göttingen 1998), Guido und Michael Grandt (1999), Sybille-Christin Jacob / Detlef Drewes 2001. Danach werden in diesen so praktisch, so handwerklich ausgerichteten Schulen gehorsame Gliederpuppen geschnitzt. Wen wundert es, wenn die Waldorfschulen aus Steuergeldern subventioniert und von mindestens jedem zweiten Bundespräsidenten gelobt werden? Sie passen eben zu unserem Vater Staat.

∞ Verfaßt um 20o3


Der Brockhaus-Eintrag über Anthroposophie ist nicht übel. Immerhin deutet er einige krause Züge der grundsätzlich idealistisch angerührten, sonst freilich in allen Farben schillernden Mixtur an, die der Schriftsteller beziehungsweise Prediger Rudolf Steiner seiner Mitwelt vor ungefähr 100 Jahren verabreicht hat. Dagegen mißfällt mir der Eintrag zu den Waldorfschulen in Band 23. Er erweckt den Eindruck, es ginge den dortigen Pädagogen vornehmlich um neue und bessere Unterrichtsmethoden. In Wahrheit ist ihr Hauptanliegen, ihren Schäfchen eben jene Mixtur in die Venen zu jagen und dadurch alle eventuell vorhandenen Antikörper, vor allem antiautoritäre, in die Flucht zu schlagen. Peinlicherweise waren die Waldorfschulen im Erscheinungsjahr 1994 bei diversen Linken oder Alternativen schon durchaus beliebt. Später setzten mir mehrere angeblich anarchistisch gestimmte Kommunen sogar SchülerInnen dieser Anstalten vor die Nase.
~~~ Eine recht seltsame Anhängerin des Gurus aus dem österreichischen Kaiserreich war die nahezu unbekannte süddeutsche Ärztin Helene von Grunelius (1897–1936). Ich vermute stark, ihr früher Tod geht auf das Konto ideologischer und emotionaler Konflikte, denen sie nicht gewachsen war. Leider ist man in ihrem Fall rundum auf Vermutungen angewiesen. Die wenigen Internetquellen stammen offensichtlich von Leuten, die kein Interesse daran haben, die weiße Weste Rudolf Steiners zu beflecken, des weisen Gründers der anthroposophischen Bewegung, der 1925 gestorben war. Grunelius hatte den Meister wenige Jahre früher noch persönlich bei Kursen kennengelernt, die er abhielt. Sie war auch von ihrem Straßburger Elternhaus her für die Anthroposophie gestimmt. Zunächst Ärztin in Stuttgart, wirkte sie ab 1935, also nur noch für eine kurze Lebenszeit, in einem anthroposophisch geprägten Sanatorium, das bei Pforzheim im Schwarzwald lag. Dort stellte sie ihre Arbeit schon im folgenden Jahr ein und trat eine wohl ziemlich überstürzte Reise nach Italien an. Sie kam aber nur bis Basel, weil sie »gesundheitlich zusammenbrach«, wie das Universal-Lexikon Wikipedia so allgemein wie möglich mitteilt. Daran starb sie im Dezember, 39 Jahre alt.
~~~ Immerhin gelangt man über Wikipedia zu einem vom Mediziner und Steiner-Anhänger Peter Selg verfaßten Porträt der Ärztin, das etwas genauer wird.* Danach wurde das schwarzwälder Sanatorium Burghalde (im Frühjahr 1935) unter Mitarbeit von Grunelius vom Ehepaar Eugen und Lili Kolisko eröffnet. Nach »nur einem Jahr« habe sich Eugen K., der rund vier Jahre älter als Grunelius war, jedoch entschieden, nach London zu gehen, um dort ein anderes anthroposophisches Projekt aufzubauen. Dadurch habe Grunelius ihre »Pläne und Hoffnungen« jäh durchkreuzt gesehen. Sie habe es abgelehnt, das Sanatorium ohne Kolisko zu leiten, und sich »in sehr angegriffenem Gesundheitszustand« auf ihre »gehetzte« Italienreise begeben.
~~~ Spätestens an dieser Stelle muß es in jedem skeptischen Hirn klingeln. Zunächst hatten wir ja im Deutschland jener Jahre, seit 1933, ein faschistisches Regime. Das war ersichtlich imstande, das schwarzwälder Sanatorium, wie so manches andere aus dem anthroposophischen Tätigkeitsfeld, trotz offizieller Ächtung der antroposophischen Bewegung zu dulden oder gar zu fördern. Dabei gab es in beiden Lagern jeweils recht unterschiedliche Auffassungen über die Nähe oder Ferne voneinander, wie etwa der US-Historiker Peter Staudenmaier betont.** Übrigens erwähnt Staudenmaier auch den Umstand, daß die Anthroposophen im faschistischen Italien erheblich bessere Karten als in Deutschland hatten. Somit ist nicht auszuschließen, Grunelius habe ihre Italienreise, zumindest unter anderem, just aus diesem Grund angetreten. Möglicherweise war sie ja deutlich nazi-freundlicher gestimmt als Kolisko, der sich schließlich auch noch rechtzeitig aus Deutschland absetzte. In dieser Hinsicht muß natürlich auch die naheliegende Frage erlaubt sein, wie die vergleichsweise junge Ärztin denn nun zu ihrem Chef und Mitstreiter Eugen Kolisko (1893–39) oder zu Lili Kolisko (1889–1976) oder zu beiden gestanden habe? Die Gattin war wohl vier Jahre älter als ihr Mann. Sollte hier ein übliches Liebes- und/oder Konkurrenzdrama mitgespielt haben? Jedenfalls muß auch die Frage erlaubt sein, wie glücklich oder unglücklich Grunelius um 1935 gewesen sei, sieht man einmal von der Erfüllung ab, die sie (angeblich) in ihrer therapeutischen Sanatoriumsarbeit fand. Meine Quellen interessiert das nicht.
~~~ Im Wikipedia-Artikel über Eugen Kolisko taucht immerhin weiterer Zündstoff auf, wenn auch nur andeutungsweise. »Die Auseinandersetzungen nach dem Tode Steiners führten 1934 zu Koliskos Entlassung aus der Stuttgarter Waldorfschule und 1935 zur Trennung von der Anthroposophischen Gesellschaft. 1936 emigrierte er nach England, wo er eine anthroposophische Universität gründen wollte.« Bald darauf starb er jedoch, mit 46, »während einer Zugfahrt«. Wie und warum, wird nicht gesagt. Obwohl Eisenbahnzüge oft die unterschiedlichsten Überraschungen bergen und viele Fenster und Türen haben. Hier führt aber ein Porträt Koliskos aus der Feder Joop van Dams weiter***, wenigstens ein bißchen weiter. Der Niederländer ist gleichfalls Mediziner und Steiner-Anhänger. Ihm zufolge hatte der klein und zart gebaute Arzt, Chemiker und Waldorflehrer Kolisko von Kind auf einen steifen linken Arm. Er zählte anfangs zum engsten Steiner-Kreis. Er war lesewütig und eher ungesellig. Van Dam bestätigt das Zerwürfnis Koliskos mit der »offiziellen« Anthroposophie um 1930, erhellt es mir freilich wenig. Wahrscheinlich war Kolisko bezüglich der Weltlage pessimistischer gestimmt als seine Ex-Genossen. Von dem Projekt im Schwarzwald habe er sich eine vielgefächerte »therapeutische Provinz« versprochen, Landwirtschaft eingeschlossen. Das sei jedoch »nicht zustande« gekommen. »So emigrierte er …«, schreibt Van Dam. Ein kühner, nichtssagender Übergang. Über die Gründe von Koliskos Scheitern (in nur einem Jahr!) dürfen wir ähnlich rätseln wie über die Frage, in welcher Gestalt wir dereinst wiedergeboren werden. In London packte Kolisko die Aufbauarbeit für seine Universität mit Hilfe von Gesinnungsgenossen und offenbar auch seiner Frau Lili schwungvoll an, wogegen ihn eine USA-Vortragsreise im Frühjahr 1939 enttäuscht und ermüdet habe. Auf dem Weg zu einem westlich von London gelegenen Institut sei er plötzlich einem Herzschlag erlegen. Er sei in seinem Zugabteil allein gewesen. Gottseidank, keine lästigen Zeugen! Denkbare finanzielle und erotische Gesichtspunkte klammert der Text aus.
~~~ Möglicherweise findet sich Näheres in einem »Lebensbild« Eugen Koliskos, das seine Gattin Lili, die ungleich älter wurde als er, verfaßt und (1961) veröffentlicht haben soll.**** Vielleicht sogar Näheres über Von Grunelius? Vielleicht wohlwollendes, vielleicht gehäs-siges? Oder sollte sie sich gar zu der anteilnehmenden Vermutung aufschwingen, Helene von Grunelius‘ Sterben in Basel müsse ein verflucht einsames, kaltes Geschäft gewesen sein?

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 2, November 2023
* Forschungsstelle Kulturimpuls (Dornach, CH), o. J.: https://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?id=287
** Ansgar Martins / Peter Staudenmaier, »Anthroposophie und Faschismus«, 7. Juni 2012: https://hpd.de/node/13507
*** Forschungsstelle Kulturimpuls, o. J.: https://biographien.kulturimpuls.org/detail.php?&id=207
**** Wie es aussieht, vergriffen. Ich finde derzeit nur zwei antiqua-rische Angebote – für 52 und für 120 Euro plus Versandkosten. Das muß ja ein Edelstein deutschsprachiger Prosa sein.




Ich versicherte bereits andernorts, ich hätte mir nie eingebildet, zu den Hoffnungsträgern im Reich der Musik zu zählen. Wenn ich mich trotzdem an einer Laufbahn als Liedermacher versuchte, ist die Kreuzberger Asphaltoper schuld. Das war eine von Rainer Ganz (später AL-Abgeordneter) geleitete Westberliner Agit-proptruppe, die sich um 1976 vor allem des Zündstoffs der Miet- und Sanierungsfrage annahm. Mir half sie entscheidend, den Zusammenbruch meiner (maoistischen) Partei und meiner Ehe zu verwinden; nebenbei durfte ich Gitarre und Tenorbanjo schrubben. Zur Querflöte griff ich erst um 1979 bei der von mir mitgegründeten Musikgruppe Trotz & Träume, die sich sogar zu einer (selbstprodu-zierten) Langspielplatte aufschwang. Ich glaube, wir ließen 1.000 Stück pressen. Sobald Putin in Berlin eingefallen ist, werden seine KämpferInnen sicherlich noch ein paar Kartons aus irgendeinem Keller ziehen, um mit unseren scharfen Scheiben Frisbee zu spielen.
~~~ Die Asphaltoper hatte immerhin einen Trompeter zu bieten. Das war Manfred Birreg (1941–80), ein hübscher, blondgelockter, drahtiger Kerl, der wahrscheinlich deshalb jäh aus unserer Mitte gerissen wurde, weil er auch bildhauerische Neigungen besaß. Mit seiner Mutter aus Ostpreußen geflohen, war Manfred bei Hamburg aufgewachsen. Er habe schon als Junge stets einen Bleistiftstummel in der Hosentasche gehabt, zum zeichnen, heißt es in einer unveröffentlichten Erinnerung der Bremer Journalistin Eva Schindele, die ihn gut kannte. Ein Versuch Seemann zu werden, scheitert an seinem eher zarten, etwas scheuen Naturell. Ab 1964 studiert der gelernte Schaufenstergestalter und frühe Wehrdienstverweigerer zeitweilig Architektur an der Westberliner Kunstakademie. Später widmet er sich der künstlerischen und politischen Arbeit im Rahmen der antiautoritären Subkultur der »Frontstadt«. Er entwirft Plakate, liefert Karikaturen und bläst für die Kreuzberger Asphaltoper bei der Mieteragitation ins Blech. Er nimmt durch Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft für sich ein. Den Einzug ins Charlottenburger Rathaus (für die Alternative Liste) verpaßt er um wenige Stimmen. Sein Geld verdient er durch Nachtarbeit in Kliniken; dieses Milieu kennt er bereits von seinem Ersatzdienst her. Er ist anspruchslos, beinahe ein Asket. Im »Sanierungsgebiet« Klausener Platz wohnt er an einem schon damals begrünten Hinterhof. Auf den Dielen im Zimmer liegt kein Teppich, aber regelmäßig eine Meditationsmatte. Und dann stehen überall seine »Installationen« herum.
~~~ Manfred nahm sich gern ausgedienter alltäglicher Gegenstände an, um sie in Kunstwerke zu verwandeln. Er liebte vor allem Lichtobjekte. Zuletzt arbeitete er, darin früher »Öko«, an einem Pflanzenkrankenhaus. Die Patienten sollten in einer beleuchteten Glasvitrine von Ziegelsteinen erwärmt werden. Dazu benötigte er offenbar das alte, elektrische Bügeleisen, das er sich beim Trödler besorgt hatte. Am betreffenden Wochenende im September 1980 wunderten sich Freunde und Nachbarn, daß sich Manfred gar nicht mehr blicken ließ. Am Montag drangen sie in seine Wohnung ein. Der 39jährige lag rücklings auf den Dielen, in der einen Hand das Bügeleisen, in der anderen einen Schraubenzieher – tot. Sie riefen die Polizei.
~~~ Schindele meint, ein Mord- oder Selbstmordverdacht sei nie erhoben worden. So dürfte er denn versehentlich einem Stromschlag zum Opfer gefallen sein. Ob er viel-leicht leichtsinnig gehandelt hat, kann sie nicht beurteilen.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022



Daß Brockhaus die belgische Königin Astrid von Schweden (1905–35) mit nur sechs Zeilen abspeist, finde ich eigentlich in Ordnung, obwohl ihr Autounfall leider nur in Klammern erwähnt wird. Meine folgenden Ausführungen richten sich allerdings eher gegen ihren Gemahl Leopold III., der in Band 13 auch nur 13 Zeilen hat. Der liebe König war nämlich an jenem Autounfall stark beteiligt. Wie meine drei oder vier StammleserInnen bereits wissen, zählt die Bemerkung, der Fahrer oder die Fahrerin hätten »die Kontrolle über ihren Wagen verloren«, im Zusammenhang mit Autoverkehrsunfällen zu den Lieblingsformeln internationaler Berichterstattung, Lexika eingeschlossen. Sie bietet den angenehmen Vorteil, jede persönliche oder gesellschaftliche Verantwortlichkeit unauffällig ins Reich der Fabel oder noch besser: der Verschwörungstheorie zu verweisen. Dafür war eben »höhere Gewalt« im Spiel. Möglicherweise entstand die Formel 1933 im politischen Bereich, als das deutsche Volk durch einen dummen Zufall die Kontrolle über seinen Staat verlor. Jedenfalls werden in der Folge Legionen von hitz- und hohlköpfigen Fußballprofis, Popstars, PolitikerInnen, Millionenerben oder Throninhabern an ihren Lenkrädern vom Schicksal überwältigt. So auch im Falle Leopolds, mit dem Astrid seit 1926 verheiratet war. Er war der älteste Sohn des belgischen Königs Albert I., dessen Vorgänger wiederum der berüchtigte Leopold II. gewesen war, der von 1865 bis zu seinem Tod im Jahr 1909 unter anderem über beträchtliche Landstriche in Afrika geherrscht und dort unsägliches Leid angerichtet hatte.
~~~ Als Astrid im Sommer 1935 mit ihrem Gatten Urlaub in der Schweiz machte, war sie 29. Sie galt gleichermaßen als besonders anmutige, mütterliche, großherzige und »skandalfreie« Königin. Am 29. August unternahm das Herrscherpaar eine Autospazierfahrt »inkognito« ohne seine bis dahin drei Kinder. Ob die Königin zu diesem Zeitpunkt bereits mit dem viertem Kind schwanger ging, ist in den Quellen umstritten. Kurz nach neun Uhr vormittags geschah es also: König Leopold »verlor« bei Küssnacht am Vierwaldstättersee auf der kurvenreichen Uferstraße »die Kontrolle« über seine eher gemächlich fahrende Nobelkarosse Packard 120-C, ein für damalige Verhältnisse so kräftiges wie schnittiges Cabriolet, das daraufhin die steile Uferböschung hinunterstürzte. Entgegen sonstiger Gepflogenheit hatte Leopold selbst gesteuert, nicht sein Chauffeur Pierre Devuxst. Dieser hatte im Fond des Wagens gesessen. Zudem war dem Packard noch ein Begleitfahrzeug gefolgt, vermutlich mit Leibwächtern besetzt. Während sowohl der 33 Jahre alte König wie sein Chauffeur mit geringen Verletzungen davonkamen, wurde Astrid, wohl beim Zusammenstoß des offenen Wagens mit einem Baum, auf die Böschung geschleudert. Sie starb noch am Unfallort an ihren schweren Kopfverletzungen.
~~~ Dem Hechtsprung des Packards folgte der mediale Steinschlag auf den Fuß. 2010 heißt es dazu in einem Gedenkartikel des Züricher Tages–Anzeigers: »Der Tod Astrids wurde zum Medienereignis. Am Nachmittag erschien ein Extrablatt der Luzerner Neuesten Nachrichten. Journalisten aus der ganzen Welt machten sich auf den Weg nach Küssnacht. Gleichzeitig flog Walter Mittelholzer exklusive Bilder von der Einsargung der Toten in einer gecharterten DC2 der Swissair zu einer internationalen Presseagentur nach London. Noch am Unfalltag verließ der Sarg per Bahn die Schweiz. In der Bahnhofshalle von Luzern drängten sich die Schaulustigen. Auf dem Bundeshaus standen die Fahnen auf Halbmast.«
~~~ Nun konnte sich die Traumhochzeit von 1926 als Traumbegräbnis vollenden. Den Bildjournalisten zuliebe wurde Astrids arg entstellter Kopf in Bandagen gelegt, ehe sie unter den Augen oder Ohren der Weltöffentlichkeit in die königliche Gruft der Liebfrauenkirche zu Laeken in Brüssel gesenkt wurde. Den Textjournalisten schärfte man neben der Schlagzeile Das Ende einer großen Liebe ein, Leopold habe seinen drei Kindern schon gleich nach dem Unfall streng verboten, zukünftig über ihre Mutter auch nur ein Wort zu verlieren – so gewaltig war sein Schmerz. Außerdem habe er verfügt, in ihrem Gemach dürfe nichts angerührt werden, während er Astrids blutverschmierten Rock in seinem eigenen Gemach verstaute. Den Unfallwagen hatte er Mitte September mit offensichtlicher Billigung der zuständigen Behörden an einer tiefen Stelle bei Meggenhorn im Vierwaldstättersee versenken lassen. Den würden Lenins eidgenössische Getreue nicht mehr in die Finger bekommen. Wer heutzutage auch nur einen Fernseher in den Vierwaldstättersee würfe, hätte mit der Todesstrafe zu rechnen – sofern er kein König oder Parlamentsabgeordneter wäre.
~~~ Immerhin war der Unfallwagen vor seiner Versenkung von Fachleuten der kantonalen Motorfahrzeugkontrolle untersucht worden. Danach wiesen Bremsen und Steuerung des 1.600 Kilogramm schweren Acht-Zylinder-Sportwagens keine Mängel auf. Dem Polizeibericht zufolge schieden auch schlechter Straßenzustand oder widrige Witterungsverhältnisse als Unfallursachen aus. Somit konnten die Spekulationen blühen wie in Küssnacht die Kletterrosen, zumal die vorhandenen Aussagen einer Wüste glichen. Nach einem Artikel Jost Auf der Maurs, der 2006 in der Neuen Zürcher Zeitung erschienen ist*, gab es mit dem Spenglergesellen Friedrich Krebser lediglich einen Augenzeugen. Dem Polizisten Adi Kälin gegenüber hatte Krebser die Geschwindigkeit des Packards auf 70 bis 80 Stundenkilometer geschätzt. Nach Krebsers Darstellung wies die mit Straßenkarte bewehrte Astrid gerade zum Berg Rigi, worauf auch Leopold dort hin blickte. In diesem Augenblick sei das rechte Vorderrad des Packards über den Bordstein ausgeschert. Der Fahrer müsse daraufhin Gas gegeben haben, da das linke Hinterrad beschleunigte. Der Wagen machte einen Satz, prallte gegen einen Birnbaum und schlidderte die Böschung hinunter Richtung Schilf. Kurz darauf sei das Begleitfahrzeug losgeprescht, um Hilfe zu holen. Es kehrte mit den beiden Ärzten Armin Jucker und Robert Steinegger zurück, die Astrids Kopfverletzungen begutachteten und ihren Tod feststellten.
~~~ Erstaunlicherweise ist bei Auf der Maur kein Wort der Stellungnahme zu bekommen, die man sich von Leopold selbst, seinem Chauffeur und seiner Begleitmannschaft erwartet hätte. Er teilt vielmehr mit, Polizist Adi Kälin habe damals am Unfallort notiert: »Die in Betracht kommenden Personen verweigerten jede Auskunft und die Mitteilung ihrer Personalien. Ein Herr in Chauffeuruniform gab schließlich nach mehrmaliger Aufforderung seinen Pass ab. Er sagte nur: ‚Ich bin nicht selbst gefahren, sondern mein Herr.‘« Erst im Rathaus Küssnacht und im Beisein des belgischen Konsuls Von Moos, so Auf der Maur, habe sich eine Begleitperson Leopolds zu der Erklärung herbeigelassen, bei der Verunglückten handle es sich um die belgische Königin. »Aber da ist der Leichnam bereits eingesargt und auf dem Weg in die Villa Haslihorn.« Die lag bei Luzern. 2010 behauptet Grenzecho-Redakteur Gerd Zeimers, Leopold selber sei »zu den tragischen Ereignissen nie befragt« worden.** Aber tragisch waren sie jedenfalls. Schon wieder Höhere Gewalt.
~~~ Man kann sich nun aussuchen, ob damals lediglich die bekannte blaublütige Hochnäsigkeit waltete oder ob die Herrschaften aus Belgien womöglich irgendetwas zu verbergen hatten. Immerhin, das blutverschmierte Kleid war von Leopold gerettet worden, auch wenn er es wahrscheinlich niemals der Brüsseler Kriminalpolizei oder den dortigen Gerichtsmedizinern unter die Nase rieb. Der Schweizer Bundesrat war daneben untertänigst genug, die Gemeinde Küssnacht und einen weiteren privaten Eigentümer zu nötigen, dem Staat das Unfallgrundstück zu verkaufen, damit es dem trauernden König geschenkt werden könne. Der hatte sich nämlich in seinen glücklicherweise kaum verletzten Kopf gesetzt, am Unfall- oder Tatort eine Gedenkstätte zu errichten. Nach der Übereignung bestellte er bei etlichen belgischen Architekten und Künstlern eine Kapelle, die vermutlich unter den Kronen des Kitsches im Guinness Buch der Rekorde verzeichnet ist. Mit Rücksicht auf die bekannte Armut des belgischen Königshauses wurde sie zumindest teilweise mit Hilfe der belgischen Veteranenvereinigung finanziert, die dafür 50.000 Franken Spendengelder gesammelt hatte. Auf die Idee, das Geld in eine Gedenkstätte für auch nur eine dunkelhäutige Bewohnerin des kolonialen Kongo zu stecken, wären die Veteranen selbstverständlich nicht im Traum verfallen. Die Einweihung der Astrid-Kapelle fand im Sommer 1936 statt, parallel zur Berliner Olympiade. Weitere gewaltige Kosten entstanden um 1960, als die Kapelle versetzt wurde, weil sie sich, nach Ansicht diverser Behörden, als untragbares gefährliches Hindernis für den touristischen Auto- und Fußgängerverkehr herausgestellt hatte. Der Rubel muß rollen.
~~~ Nebenbei war Leopold III. 1951 von Baudouin auf dem Thron abgelöst worden, weil inzwischen zu vielen Belgiern die Rolle, die dessen Vater während der Besatzung Belgiens durch die deutschen Faschisten gespielt hatte, gar zu fragwürdig vorgekommen war. Überdies hatte Leopold III. während des Krieges den Fehler gemacht, sich erneut zu verheiraten, diesmal mit der »bürgerlichen« Flämin und Golferin Mary Lilian Baels. Damit hatte er für sehr viele BelgierInnen (vor allem die wallonisch gesinnten) einen unverzeihlichen Verrat an der »göttlichen« Astrid begangen. Dagegen scheinen sie ihm niemals krumm genommen zu haben, daß er sie ins Jenseits befördert hatte.
~~~ Eine Außenseiterposition unter den Begutachtern des Falles nimmt der Anthroposoph Fedor Kusmitsch ein, der seine Informationen 1935 aus erster Hand bezogen haben will. Auf dieser Grundlage behauptet er 2001 im Rahmen eines ausführlichen Artikels über die drohende, von »westlichen Logen« und Kapitalzentren wie Brüssel befehligte Neue Weltordnung, Leopold habe damals auch seinerseits »inoffiziell« einen befreundeten Mechaniker beauftragt, »den Wagen und insbesondere die Lenkung zu untersuchen. Der Experte reist in der Folge nach Brüssel, um Leopold Bericht zu erstatten: beide Lenkachsen seien angesägt gewesen, berichtet er Leopold. Dieser schweigt darüber und läßt das Wrack des Wagens an der tiefsten Stelle im Vierwaldstättersee versenken.« Aber nicht etwa, um den Packard nicht mehr sehen zu müssen oder um späteren Schnüfflern ein Schnippchen zu schlagen! Vielmehr wollte Leopold der Öffentlichkeit die schmerzliche Erkenntnis ersparen, bei dem angeblichen Unfall habe es sich »in Wirklichkeit«, so Kusmitsch, »um einen fehlgeschlagenen Königsmord« gehandelt.*** Dagegen beharrt Wikipedia bis zur Stunde auf jener verbreiteten Version mit der verlorenen Kontrolle, ohne uns diesbezüglich mit Einzelheiten zu belästigen.
~~~ Der ganze Rummel wiederholte sich 1997, wenn auch in größerer Dimension und Perfektion, nachdem »Lady Di« Diana Spencer (36), die sagenumwobene Ex-Gattin des britischen Thronfolgers Charles, mit ihrem steinreichen ägyptischen Liebhaber Dodi Al-Fayed (42) in einem Mercedes S 280 sitzend, vor den Tunnelpfeiler einer Pariser Stadtautobahn geprallt war. Spencers Begräbnis wurde weltweit von geschätzt 2,5 Milliarden Menschen verfolgt.

∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H.R.), Folge 3, Dezember 2023
* Jost Auf der Maur, »Der Tod der Schneekönigin«, NZZ, 27. August 2006: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleEEQE0-1.55902
** Gerd Zeimers, https://www.grenzecho.net/art/zz/hier-und-heute/die-koenigin-kuesst-die-nacht, 28. August 2010
*** Fedor Kusmitsch in Nummer 21/22 der Symptomatologischen Illustrationen, Basel 2001, S. 11




Rita Atria (1974–92) war Sizilianerin. Täuscht mich der Eindruck nicht, den mir Petra Reskis mutiges und überdies ausgezeichnet geschriebenes Buch* über sie vermittelt, scheinen die Leute auf Sizilien eine erschreckende, wenn auch gleichsam natürliche Neigung zu Roheit, Gefühls-kälte, gnadenlosem Clandenken und hollywoodreifer Heuchelei zu besitzen. Vielleicht erklärt sich diese Verfassung zumindest teilweise aus der Unerbittlichkeit des ausgedörrten Landstrichs, dem sie ihr Auskommen und ihr Glück abzuringen haben. Da liegt es womöglich nahe, dem erfolgreicheren Nachbarn die Kehlen seiner drei Dutzend Schafe durchzuschneiden, den Fiat eines »singenden« Abtrünnigen mit Maschinengewehrfeuer zu durchsieben, die Verweigerung von »Schutzgeld«-Zahlung mit ein paar Messerstichen zu quittieren, den erlebnishungrigen Jugendlichen in den öden Kleinstädten Haschisch oder Heroin anzudrehen. Zum häuslichen Altar heimgekehrt, dankt man dann der Jungfrau Maria für ihr gnädiges Geleit.
~~~ Rita, bis zu einer Abmagerungskur, die sie sich in Rom verordnen wird, ein etwas »pummeliges« untersetztes Mädchen, wuchs im westlichen Winkel der Insel in Partanna auf. Das Städtchen war von zwei mehr oder weniger miteinander verfeindeten Mafia-Clanen geprägt. Ritas Familie zählte durchaus dazu. Als die Händel jedoch dazu führten, daß zunächst Ritas Vater Vito, dann, 1991, ihr wohl 27 Jahre alter Bruder Nicola stummgemacht wurden, entschloß sich die Jugendliche, wie schon ihre nun verwitwete Schwägerin Piera, bei den Behörden »auszupacken«. Sie hatte beide Männer, Vater und Bruder, heiß geliebt. Von seiten ihrer Mutter dagegen hatte sie unter der erwähnten Gefühlskälte und schlicht unter Tyrannei gelitten. Diese verschiedenartigen Verluste und Entbehrungen hielt sie einfach nicht mehr aus.
~~~ Durch ihre Erzählungen von den heimischen Mafia-Machenschaften den Staatsanwälten in den nahen Küstenstädten Marsala oder Palermo gegenüber war Rita natürlich plötzlich selber höchst gefährdet, zumal dies schon bald zu Verhaftungen führte. Selbst der Junge, mit dem sie »geht«, zeigt ihr jäh die kalte Schulter. Man nahm sie deshalb ins »Zeugenschutzprogramm« auf, bewachte sie und hielt es zum Jahresende 1991 sogar für angebracht, sie heimlich aus Sizilien fortzuschaffen. Sie durfte nach Rom zu ihrer Schwägerin und deren Töchterchen ziehen, denen man dort bereits eine Wohnung unter falschem Namen besorgt hatte. Ihre Schulausbildung im Hotelfach durfte sie per Fernunterricht fortsetzen. Zum Glück verstand sie sich mit Piera gut. Auch der Großstadttrubel gefiel Rita. Die Frauen bekamen sogar staatlichen Unterhalt. Allerdings mußten sie ständig auf der Hut sein und in den nächsten Monaten wiederholt umziehen, aus Sicherheitsgründen. Dazu litten sie selbstverständlich unter der für sie neuen Entwurzelung. Wurden sie alle paar Wochen zu weiteren Aussagen vor den sizilianischen Staatsanwälten geflogen, geschah es unter strenger Geheimhaltung und Bewachung. Hin und wieder geleitete man Rita sogar zu ihrem Elternhaus in Partanna, aber diese Begegnungen mit der Mutter waren eher eine Qual. In den verblendeten Augen der Mutter war sie zur Verräterin geworden. So verblüfft es wenig, wenn die matronenhafte Frau Atria vier Monate nach Ritas Beerdigung auf den Friedhof von Partanna marschiert, einen Hammer aus ihrer Handtasche zieht und in »rasender Wut«, wie Reski behauptet (S.19 + 234), das auf Ritas Grabstein eingelassene Foto zertrümmert, das ihre nie geliebte Tochter zeigt. Diese Tat bringt Giovanna Atria später durch das Urteil einer örtlichen Amtsrichterin zwei Monate und 20 Tage auf Bewährung ein – was ja immerhin beweist, daß Partannas Justiz nicht mehr völlig in der Hand der Mafia war.
~~~ Engster Betreuer und zugleich Freund der beiden jungen Frauen war in jenen Monaten vor Ritas Tod ein »hohes Tier«, nämlich Richter und Oberstaatsanwalt Paolo Borsellino, der zwischen Sizilien und Rom hin- und herpendelte. Er und Giovanni Falcone waren damals die prominentesten »Mafia-Jäger«, die in Italien jedes Kind kannte. Bei vielen staatlichen Stellen machten sie sich durch ihren unbestechlichen Eifer eher unbeliebt. Borsellino war ein stattlicher, grauhaariger Mann mit einer »rauchigen« Stimme, um die ihn mancher Mafioso beneidet hätte. Er zeigte insbesondere für die »kleine« Rita mit dem kastanienbraunen Haarschopf viel Verständnis, machte ihr Mut, ging auf ihre Wünsche ein. Er hatte selber zwei Töchter, außerdem einen Sohn. Er war im Herbst 52 Jahre alt geworden – und zum Entsetzen vieler Menschen schaffte er das nächste Lebensjahr nicht mehr. Zu allem Unglück war sein Mitstreiter Falcone bereits Ende Mai 1992 Opfer eines Anschlages geworden. Und nun, am 19. Juli, flog in Palermo auch Borsellinos Auto, trotz höchster Vorsichtsmaßnahmen, in die Luft. Anscheinend war der Arm der Mafia länger als der italienische Stiefel, sodaß er bis in etliche staatliche Behörden reichte. Neben dem Richter starben fünf Mitglieder seiner Begleitmannschaft.
~~~ Nun kommt wieder einmal einiges zusammen. Makabererweise hatte Rita gerade eben ihren Wunsch durchgesetzt, in Rom eine eigene Wohnung zu bekommen. Fünf Tage nach Borsellinos Ermordung hilft ihr Piera beim Umzug in die Via Amelia (S. 192). Zwar hat Rita kürzlich einen »Märchenprinzen« kennengelernt, Gabriele, doch der junge Mann muß gegenwärtig eine Wehrübung in Albanien ableisten. Bei aller Verliebtheit: durch den Mord ist Rita in übelster Verfassung. Das geht auch aus ihren Tagebüchern hervor, die Reski wiederholt zitiert. Gleichwohl schlägt Rita den Vorschlag aus, ihre Schwägerin und die kleine Vita Maria per Flugzeug zu einem Besuch bei Pieras Eltern in Sizilien zu begleiten, der vielleicht Ablenkung, Linderung gewährt. Rita läßt sich auch nicht umstimmen. Ihre neue Wohnung liegt im siebten Stock. Zwei Tage später – eine Woche nach Borsellinos Ende – stürzt sich Rita aus einem Fenster gleichfalls in den Tod.
~~~ Die ErmittlerInnen schließen jede »Fremdeinwir-kung« aus (201). Sie hat sich umgebracht. »Jeder macht sich Vorwürfe«, schreibt Reski. Aber der krasse Schritt kam letztlich überraschend, weil Rita teils als lebenslustig, neugierig, frech, teils als abgebrüht galt. Sie sei keine normale 17jährige gewesen, meinte Piera zu Reski. »Sie verhielt sich wie eine reife Frau, wie eine 40jährige.« (227) Freilich habe sie sich im Grunde wohl allein gefühlt. Der Tod von Borsellino dürfte ihr dann den Rest gegeben haben. An eine Zimmerwand ihrer neuen Wohnung hatte sie groß, mit Bleistift, geschrieben: »Ich liebe dich, verlaß mich nicht, aber ohne dich kann mein Herz nicht leben.« (200) Das kann sie ja kaum auf den Wehrpflichtigen in Albanien bezogen haben.
~~~ Die Mafia ist ein Männerbund, nichts für Weiber. Die Männer beherrschen alles. Das Sizilien des vergangenen Jahrhunderts steht und fällt mit der Männlichkeit. Piera versichert, Rita und ihr »großer« Bruder Nicola, auch schon ein richtiger Mafioso, seien »wie Verliebte« gewesen. Ihren Vater Vito verehrte sie kritiklos. Mütterliche Geborgenheit erlebte sie nie. Aber Nicola und Vito waren verschwunden. Dann kam Borsellino. Er wird nun ihr Vertrauter. Ja, mehr noch, schreibt Reski: »Er füllt die Lücke in Ritas Leben. Er ist ihr Held ..(..).. Ein Übervater aus einer anderen, besseren Welt …« (162) Aber immerhin, durch Ritas Verzweiflungstat kam unter den Frauen Siziliens und des Festlands einiges in Bewegung. Für sie ist Rita jetzt die Heldin.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Rita Atria – eine Frau gegen die Mafia, Hamburg 1994




Automobilisierung

Einige LeserInnen sind vielleicht schon über das Schicksal der Tänzerin Lena Amsel unterrichtet, die sich 1929 bei Paris in einem Bugatti überschlug. Jean Bugatti (1909–39), auch »Monsieur Jean« genannt, seit 1936 Leiter der im Elsaß (bei Straßburg) gelegenen väterlichen Automobilfabrik, erwischte es 10 Jahre nach Amsel, als er unweit der Fabrik auf der Landstraße zwischen Duttlenheim und Entzheim im eigenen Testwagen einem angeblich »unvorsichtigen« Radfahrer ausweichen wollte. Sein Bugatti 57 C Tank hatte »weit über« 200 Sachen drauf!* In dieser Gemächlichkeit prallte der 30 Jahre alte Designer und Werksleiter (am 11. August 1939) gegen einen Baum. »Der explodierende Benzintank setzt den Baum und eine nahe Mühle in Brand, Monsieur Jean wird aus dem Rennwagen geschleudert und ist sofort tot.« Die baumlose Stelle sah sich später durch einen klobigen Stein getröstet, der das Gedenken an den vorbildlichen Verkehrsteilnehmer Jean Bugatti bis zum heutigen Tage wachhält. Die deutsche Wikipedia zeigt ein Foto davon. Sie weiß übrigens auch genau, der Radfahrer, dem Bugatti angeblich »ausweichen musste«, kam »aus einem Feld« – so ein Schurke! Sicherlich ein Gurkendieb. Wo diese phantasievolle Ausschmückung zugunsten des Rennfahrers ihrerseits herkommt, steht nicht in dem betreffenden Eintrag. Aber gegen 200 Sachen kommt sie wohl kaum an.
~~~ Die Fabrikation in Molsheim wurde 1963 eingestellt. Was blieb, war der legendäre Ruf, und siehe da, 1998, im Antrittsjahr des »rotgrünen« Kanzlers Gerhard Schröder, ging die Marke Bugatti auf das deutsche Volk beziehungsweise die Volkswagen AG über.
~~~ Ich greife weitere Autosportler heraus. Der 1921 geborene Brite Dennis Brain war allerdings im Hauptberuf Hornist. Für ihn hatten bereits prominente Komponisten wie Britten, Hindemith oder Malcolm Arnold Stücke geschrieben. Auch war er 1956 in der Londoner Royal Festival Hall am ersten Spezial-Auftritt des Spaßvogels und Tubaspielers Gerard Hoffnung beteiligt. In dessen dort präsentiertem Orchester soll Brain unter anderem eine Gummi-Schlauch-Pipe gespielt haben, die er sorgfältig stimmte, indem er sie mit einer Gartenschere beschnitt. Francis Poulenc schuf seine Elegie für Horn und Klavier in memoriam Dennis Brain naturgemäß erst Ende 1957, nachdem der humorvolle Hornist am 1. September des Jahres nach einem auswärtigen Konzert (Symphonie Pathétique von Tschaikowski) versucht hatte, die 600 Kilometer von Edinburgh nach London mit seinem Triumph TR2 in weniger als vier Stunden zurückzulegen, wie ich einmal vermute. Der 36jährige kam kurz vor London von der Straße ab und prallte gegen einen Baum. Hätte Poulenc die Elegie auch dann geschrieben, wenn Brain in einen Pfadfinder-Trupp gerast wäre?
~~~ Poulenc zählt seit Jahren zu meinen Lieblingskomponisten. Unter anderem besitze und schätze ich eine CD mit Chamber Music (Deutsche Grammophon 1989), auf der, zum Klavier, verschiedene Blasinstrumente zu hören sind, vom Fagott bis zur Flöte. Vier von den fünf gebotenen Werken finde ich geradezu umwerfend, je nach Periode: frech, einschmeichelnd, feurig und ähnliches mehr. Am wenigsten gefällt mir aber ausgerechnet das mittlere Stück: just die Elegie zu Brains Gedenken. Es kommt mir gar zu programmatisch und zerrissen vor, bei dem Anlaß vielleicht kein Wunder.
~~~ Makabererweise ist zu lesen, Brain sei nicht der erste durchs Automobil bewirkte bewegende Verlust für den Franzosen gewesen. 1936 war nämlich Poulencs Landsmann, Berufskollege und Freund Pierre Octave Ferroud bei einer Ungarnreise verunfallt – gerade so alt wie später Brain, 36. Damals soll das Unglück zu Poulencs Hinwendung zum Katholizismus beigetragen haben. Vielleicht hätte er sich besser nicht zum Katholizismus hingewandt, sondern vom Kapitalismus abgewandt. Möglicherweise hätte ihm das sogar den Herzinfarkt erspart, der ihn mit 64 jäh dem Pariser Trubel entriß.
~~~ Bekanntlich war der deutsche Faschismus schon deshalb erträglich, wenn nicht gar segensreich, weil er die vielen Erwerbslosen, die sich der Kapitalismus (oft in Millionenhöhe) dauerhaft leistet, für immerhin ein Dutzend Jahre von der Straße holte – beispielsweise durch den Bau von Autobahnen. Auf ihnen konnte sich dann der Krieg unter den Volksgenossen, gegen die Natur und gegen Belgier oder Polen austoben – auf daß auch diese Barbaren »der Weltgeltung der deutschen Motoren- und Automobilfabrikation« inne würden, von welcher Bernd Rosemeyer, so Adolf Hitler beim Quasi-Staatsbegräbnis des wieder einmal tragisch Verunglückten, »einer der allerbesten und mutigsten Pioniere« gewesen war.
~~~ Im Gegensatz zum Führer war er sogar blond. Der 1909 geborene Sohn eines emsländischen Kleinfabrikanten hatte sich schon früh für Technik und insbesondere Zweiräder begeistert. Ab 1930 Motorradrennfahrer auf NSU und DKW, sattelte er 1935 endgültig auf vier Räder um und wurde Werksfahrer bei Auto-Union in Chemnitz und Horch in Zwickau. Er fuhr neue, schwer zu beherrschende 16-Zylinder-Mittelmotorwagen, und zwar erfolgreich. Schon 1936 wurde er Europameister, wobei auch sein Teamgefährte Hans Stuck das Nachsehen hatte. Im selben Jahr heiratete Rosemeyer die bekannte Fliegerin Elly Beinhorn, wodurch die deutschen Blätter »flächendeckend« in strahlendes Hochzeitslächeln getaucht waren. Doch zwei Jahre darauf verließ ihn das Glück. Am 28. Januar 1938 wird der 28jährige auf der vorübergehend gesperrten Reichsautobahn Frankfurt–Darmstadt beim Versuch, sich den Geschwindigkeits-rekord zurückzuholen (um 430 km/h), von einer Windböe erfaßt. Sein Audi Union Typ R (12-Zylinder-Motor mit 560 PS) überschlägt sich; Rosemeyer wird in ein nahes Kiefernwäldchen geschleudert und haucht sein Leben aus. Wiederholte Warnungen vor den Wetterverhältnissen, selbst von der Auto-Union-Rennleitung und seinem anwesenden Konkurrenten Rudolf Caracciola von Mercedes, hatte der blonde SS-Hauptsturmführer sozusagen in den Wind geschlagen.**
~~~ Angeblich besaß Rosemeyer den genannten Titel lediglich »ehrenhalber«, hatte also nie an Übungen in Polizeischulen oder an Besuchen von jüdischen Kaufmannsläden teilgenommen. Rosemeyer wirkte unpolitisch – allein durch sein sportliches Vorbild. Zeitzeuge Victor Klemperer widmet dem »einprägsamsten und häufigsten Bild« des nazistischen Volksheldentums, nämlich dem mit Sturzhelm, Brillenmaske und dicken Handschuhen vermummten Rennfahrer, im Eingangskapitel »Heroismus« seiner LTI (1947) eine ganze Seite, wobei er sowohl den »Todessturz« Rosemeyers wie das Erinnerungsbuch von dessen flugbesessenen Gattin Elly Beinhorn Mein Mann, der Rennfahrer hervorhebt. Dieses Werk, noch im Todesjahr 1938 auf den Markt geworfen, erlebt bis heute Neuauflagen. Klemperer schrieb, mit den »muskelbeladenen nackten oder in SA-Uniform steckenden Kriegergestalten der Plakate und Denkmünzen« jener Jahre teilten die motorisierten Helden oder Heldinnen den »starren Blick, in dem sich vorwärtsgerichtete harte Entschlossenheit und Eroberungswille« ausdrückten.
~~~ Was Wunder, wenn dieser Blick, angesichts von ungefälscht um 10 Millionen deutschen Arbeitslosen, nach wie vor hoch im Kurs steht. Ein blühender Volkswagen-Zweig präsentierte der Welt 2000 die Designstudie eines Supersportwagens, der selbstverständlich Audi Rosemeyer getauft wird. Rosemeyers Heimatstadt Lingen hat zwar noch nicht ihren Bahnhof, aber schon einmal ihre Bahnhofsstraße geopfert, die seit geraumer Zeit Bernd-Rosemeyer-Straße heißt. Außerdem kann sie den MSC Bernd Rosemeyer vorweisen, der sich im Mai 2012 anschickte, »erneut den Mythos Bernd Rosemeyer aufleben zu lassen«, wie die lokalen Medien jubelten. Der Club richtete zu diesem Zwecke wieder ein Bernd Rosemeyer ADAC Oldtimer Treffen aus. Unter den Tausenden, die auf dem Marktplatz die rund 100 vorgeführten Edelkarossen bestaunten, befand sich auch der eigens aus München angereiste 74jährige Orthopäde und Sportmediziner Prof. Dr. med. Bernd Rosemeyer jun., »selbst begeisterter Oldtimerfan«. Elly Beinhorn, Jahrgang 1907, hatte ihn im November 1937 geboren. Sie wurde erstaunlicherweise 100 Jahre alt. Obwohl er seinen Vater nie kennenlernte, ist der Professor gleichermaßen auf beide Elternteile stolz, wie er 2014 dem ZDF erzählt. Sie seien besondere, idealistische, vorbildliche Menschen gewesen.*** Er selbst hat zwei Söhne. Der eine davon, Manager bei Audi, heißt auch wieder Bernd.

∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H.R.), 2022
* Hans-Jörg Götzl, https://www.auto-motor-und-sport.de/fahrberichte/bugatti-typ-64-im-fahrbericht-jean-bugattis-vermaechtnis-1356005.html, 16. Februar 2014
** Ralf Klee und Broder-Jürgen Trede, »Rekordjagd in den Tod«, https://www.spiegel.de/einestages/bernd-rosemeyer-a-949062.html, 25. Januar 2008
*** »Herzkino … / Interview mit Professor …«, https://presseportal.zdf.de/pm/herzkino-elly-beinhorn-alleinflug/, 30. März 2014

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