Donnerstag, 2. Januar 2025
AZ 1–3 (PAL) Folge 2
Anarchismus, Amphitheater – Angst, Weininger
Anarchismus, Amphitheater – Angst, Weininger
ziegen, 13:16h
Laien verwechseln die Amphitheater gelegentlich mit den Griechischen Theatern. Das waren die »unvollständigen«, oft nur halbkreisförmig angelegten Arenen. Von den ansteigenden Rängen blickte man mehr oder weniger günstig auf die Bühne hinab, die den Halbkreis verriegelte. Die Amphitheater dagegen sind meist oval, dabei stets lückenlos angelegt. So oder so hatten die damaligen Zuschauer und VolksunterhalterInnen das Problem mit dem Himmel, von dem mal die Sonne stach, mal der Regen prasselte. Hier und dort soll man sich bereits mit Sonnensegeln oder gar Regenplanen beholfen haben. Während jedoch das Amphitheater Kolosseum »nur« 20.000 Leuten Platz bot, haben wir heute Freiluft-Sportarenen, die 70.000 oder weit mehr als 100.000 Leute fassen. Ich bin überfragt, was die nun gegen Sonnenstich und Schnupfen machen. Wahrscheinlich klatschen und jubeln sie.
~~~ In meiner thüringischen Zwergrepublik Konräteslust (2010) beschließt die Vollversammlung den Bau einer Freilichtbühne im ehemaligen Schloßpark. Sie soll immerhin 3.500 Leuten Platz bieten. Die Zwergrepublik im ehemaligen Städtchen Konradslust (bei Gotha) umfaßt lediglich 3.000 Leute, Säuglinge und gebrechliche Greise eingeschlossen. Diese Randgruppen nehmen ja an den Plenen zumindest teilweise gar nicht teil. Somit denkt man auch an Gäste, die sich vor allem im Sommer recht zahlreich in der Republik an der Nesse einstellen.
~~~ Die Monatsplenen finden in der ehemaligen Stadt-kirche statt, einem barocken Zentralbau, der neuerdings zum Altar und der Orgel hin hufeisenförmig gebaute, ansteigende Ränge aufweist. Ein Hauptaugenmerk der Konstrukteure lag auf der Akustik. Tatsächlich versteht man von der Plenumsleiterin, die nebenbei auf dem ehemaligen Altar sitzt, selbst auf den obersten Rängen auch dann jedes Wort, wenn sie im Plauderton spricht. Dagegen entsinne ich mich etwas peinlich berührt unserer sogenannten Massendemonstrationen im Ruhrgebiet um 1970. Als zentraler Orgleiter der maoistischen KPD/ML-Rote Fahne war ich meist der Hauptagitator. Ich hockte also in unserem klapprigen VW-Bus, um den sich vielleicht 80 Leute scharten, auf dem Beifahrersitz und brüllte unsere Schlagworte ins Mikrofon. Durch die Dach-Lautsprecher wurden sie noch zu dem letzten, in einem Randgebüsch schlummernden Lagerarbeiter der Dortmunder Hoesch-Stahlwerke und zu Gründervater Leopold Hoesch persönlich in dessen Grab gebracht.
~~~ Vielleicht hätten wir in der unverstärkten Hörweite sogar einen wichtigen Gradmesser dafür, ob ein bestimmtes Gemeinwesen noch als basisdemokratisch und »gewaltfrei« gelten kann oder nicht. Ob Agitprop-Lärm, Rockkonzerte in jenen Riesenarenen, Conférenciers der jährlich mich beglückenden Thüringen-Rundfahrt der RadrennsportlerInnen – hier wird selbstverständlich Gewalt ausgeübt, und zwar keine geringe. Überschlagen Sie einmal, was geschähe, wenn man der postmodernen kapitalistischen Demokratie schlagartig sämtliche Mikrofone, Lautsprecher und Verstärker wegnähme. Sie bräche auf der Stelle zusammen. Doch wohin mit dem ganzen beschlagnahmten Krempel? Nach China.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 2, November 2023, leicht gekürzt
Wenn Brockhaus Bischöfssitze hochhält (keinen vergißt er zu erwähnen), muß er natürlich auch Feier- und Festtage feiern. Sie entschädigen für Arbeitstage, ermöglichen Zwiesprache mit Gott und nehmen unseren Kalendern die Eintönigkeit. Für mich ist das freilich grober Unfug. In meiner Freien Republik Mollowina sind die Tage eines Monats so gleich wie die RepublikanerInnen. Man arbeitet dort nicht, um sich mit schwindenden Kräften von einem Feiertag zum nächsten hangeln zu können, vielmehr weil die anstehenden Aufgaben sowohl für die Personen wie für die Republik sinnvoll, meist auch durchaus unterhaltsam sind. Folglich können jähe Badevergnügen auch mal dienstags um 11 Uhr 23 stattfinden, nur nicht an den seltenen Frostdienstagen. Einige Greise dürfen gerne Ostern feiern, falls sie sonst an Entbehrung stürben, aber Ostern steht nicht im Kalender. Der einzige gleichsam amtliche Festtag ist der Jahrestag des Umsturzes. Hätten Georgi Malenkow, Mao Zedong oder Hermann Matern mitansehen müssen, wie unordentlich dieser Festtag begangen wird, wären sie in Ohnmacht gefallen und hoffentlich auf dem Friedhof gelandet. Hochzeitstage entfallen aus schon früher genannten Gründen. Die persönlichen Geburtstage der GO-Mitglieder (auch Mihail Bak, der oberste Schiedsrat der Republik, ist Mitglied einer Grundorganisation) werden sicherlich gefeiert, jedoch landesweit auf sehr unterschiedliche Weise. In meiner letzten Kommune belief es sich meist darauf, dem Geburtstagskind durch den jeweiligen Küchendienst an einem Tisch des großen Gemeinschaftsraumes zum Frühstück ein auffallend hübsches Gedeck auflegen zu lassen. Ob es dann um 8 oder um 11 erschien, es wußte immer, wo es Platz zu nehmen hatte. Ständchen waren sowieso nicht üblich. Übrigens auch keine Geschenke. Der Lohn des Kommunarden war es, Kommunarde sein zu dürfen und einigermaßen kostenlos so viele Freunde zu haben. So lautete jedenfalls die Theorie.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 12, März 2024
Zur Gewerbefreiheit macht uns Brockhaus nichts vor. Er hat den Pferdefuß bereits im ersten Satz seines Eintrages eingebaut. Es handle sich um das Recht des einzelnen, ein Gewerbe »im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen« zu betreiben. Und schon hagelt es, über mehrere Einträge verteilt, Einschränkungen. Sie finden sich in turmhohen Stapeln von Verordnungen und Gerichtsurteilen. Sie niederzulegen und dabei wiederum mit Ponyfüßen zu versehen, war dem Gedeihen des Gesamtgewerbes Ihres Landes ohne Zweifel sehr förderlich. Mißachten Sie die eine oder andere Bestimmung, weil Ihr Studium der Stapel lückenhaft war, wird Sie die Gewerbeaufsicht notfalls des Landes verweisen, damit Ihnen vielleicht die deutsche Botschaft in Colombo, Sri Lanka, einen behelfsmäßigen Gewerbeschein ausstellen kann.
~~~ In meinen Zwergrepubliken ist die Gewerbefreiheit so unbekannt wie das Privateigentum an Produktionsmitteln und das Geld. Ihr Fundament sind die Grundorganisati-onen (GO‘s), meist um 100 Köpfe, Kinder und Greise eingeschlossen. Nur diese Grundorganisationen nehmen neue RepublikanerInnen auf oder schicken gelegentlich welche in die Wüste. Wer da was produziert, Schuhe oder Apfelstrudel zum Beispiel, verdankt sich den Absprachen auf der Vollversammlung oder in Untergruppen. Oft versteht es sich sogar von selbst. Möchte da einer befremdlicherweise Handgranaten, Erdbeermarmelade mit gehackten Hasenködeln oder Gedichte produzieren, die die Landesschiedsrätin verherrlichen, fällt es sofort auf. Der Fall wird erörtert. In der Regel kommt es zu einer einvernehmlichen Lösung (Konsensprinzip). Wenn nicht, empfiehlt das Ortsschiedsgericht, den störrischen Esel mit seinen gepanschten Marmeladentöpfen zum »Weltwirt-schaftsforum« in Davos zu jagen. Tatsache aber ist, der befremdliche Ausnahmefall kommt hier so gut wie nie vor, weil ihm der geeignete Nährboden fehlt. Schließlich sind solche Republiken weder auf Eigennutz noch auf Rechthaberei gebaut.
~~~ In einigen Republik-Varianten auf fernöstlichen Inseln hat man noch nicht einmal ein Wort für »Kriminalität« in der betreffenden Landessprache. Dadurch erübrigen sich Fluten an Ärger und Haß sowie wahre Berge an Gesetzbüchern. Auch die Worte »Meinungsfreiheit« und »Freiheit« überhaupt können dort oft nur Stirnrunzeln erzeugen. Was brauche ich Worte für solche Grundzüge menschlichen Lebens und Wirkens, die selbstverständlich sind? Der deutsche Staatsanwalt benötigt sie, damit er weiß, was er einzuschränken hat.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 14, März 2024
Um 1970 erwarb ich meinen ersten Elektrorasierer. Er stammte aus dem Hause Braun Sixtant, das damals als „fortschrittlich“ galt. Im Rückblick wirkt er etwas klobig. Sein Gestalter lag damals schon seit rund fünf Jahren unter der Erde. Er war in Ulm, der Stadt der berühmten Hochschule für Gestaltung, einem Herzinfarkt erlegen. Es handelt sich um den niederländischen Architekten, Designer und Dozenten Hans Gugelot (1920–65), dem Brockhaus gut 10 Zeilen widmet. Wahrscheinlich ist er nicht ganz so bekannt wie sein Hochschulkollege Otl Aicher, den ich weiter oben bereits behandelt habe. Gugelot hatte jedoch den besseren oder jedenfalls umweltverträglicheren Tod, wie ich vielleicht sagen darf.
~~~ Wikipedia behauptet, Gugelot habe Design als intellektuelle und moralische Frage aufgefaßt, die mit Geschmack nichts zu tun habe. Das ist viel dran – für meinen Geschmack. Den ganzen, geradezu gigantischen gestalterischen Aufwand, den man heutzutage in der kapitalistischen Demokratie zwecks Verhätschelung des Kunden = des eigenen Profits treibt, könnte man in anarchistischen Zwergrepubliken getrost in der Pfeife rauchen, falls sie da überhaupt noch Pfeifen haben. Aus den Pfeifenköpfen steigt dann der reine Moden-, Marken- und Egowahn. Selbst in der verflossenen DDR herrschten in dieser Hinsicht noch einige Züge, die sie für Folteropfer westlicher Warenästhetik beinahe zum Schlaraffenland oder wenigstens Kurort machten. Die NutznießerInnen westlicher Warenästhetik verhöhnten die Volkswirtschaft der DDR natürlich als »ärmlich« und »erbärmlich«. In ihr galten Leitlinien, die sich am Gebrauchswert einschließlich der Langlebigkeit der Güter, an der Sparsamkeit in der Herstellung (keine Vergeudung von Rohstoffen sowie Werbemitteln) und an zeitloser Schönheit orientierten. Besucht mich mein guter Bekannter Ludwig, der am anderen Ende des Städtchens wohnt, höre ich ihn bereits, wenn er auf seiner überwiegend einwandfreien Simson durch die Waltershäuser Altstadt knattert. Ludwig stammt aus der DDR. Sein flottes Moped ist rund 40 Jahre alt.
~~~ Gewiß gab es in der DDR-Produktion auch etliche tadelnswerte Erscheinungen. Das Schlimmste war die massenhafte Produktion für den Export, um an Devisen zu kommen. In zigtausend westdeutschen Arbeiter- und Kleinbürgerhaushalten summten erstaunlich preiswerte Kühlschränke, die man in irgendeinem Einkaufstempel ergattert hatte, obwohl sie eigentlich östliche Geheimagenten waren. Das wußten aber die wenigsten, weil der Tempelchef den Hersteller wohlweislich um den und den Markennamen gebeten und womöglich sogar das Herkunftsschild »Made in GDR« überpinselt hatte. Ferner gab es zeitweise miefige Maßregelungen gegen am Bauhaus orientierte Designer, denen Formalismus, Funktionalismus oder weiß Stalin & Shdanow was unter die Nase gerieben wurde. Ambivalent ging es im Zwischenreich der nichtindustriellen Produktion zu. Hier wurde dezentrale, mit beträchtlichem Einfallsreichtum gepaarte Selbsthilfe mal gehemmt, mal gefördert. In vielen DDR-Haushalten standen zum Beispiel Nähmaschinen, damit man sich diesseits der Konfektionsware – die teils nicht vorhanden, teils zu teuer war – eigenhändig mit hübscher Bekleidung versorgen konnte. Manche verzichteten auch nur deshalb liebend gern auf die offizielle »Plaste-und-Elaste«-Ware, um sich in derselben keine Schwitzbäder und unvorteilhaften Gerüche auf den Hals zu ziehen. Ludwig erzählte von einer Nichte, die nagelneue weiße Bettlaken aus Leinen stapelweise erwarb, um sie verschieden einzufärben und dann in Kleidungsstücke für die ganze Familie zu verwandeln. Ludwig selber beschränkte sich aufs Säumen roter Fahnen für den Maiumzug.
~~~ Auf derartiger Selbsthilfe hat eine anarchistische Republik geradezu zu fußen. Was Nahrungsmittel betrifft, strebt sie ohnehin weitgehende Unabhängigkeit ihrer Grundorganisationen, Dörfer und früheren Stadtteile an. Man darf bloß nicht glauben, ansonsten hätten ihre Siedlungen statt Fabriken nur noch Dorfschmieden und Hobbykeller zu bieten. Aber die zentrale Produktion hat in solchen Republiken stark heruntergeschraubt, im übrigen so gebrauchswert- wie menschenfreundlich organisiert zu sein. 2022 habe ich in der Erzählung »Der Sturz des Herkules« (in Kassel) die Verhältnisse in den 14 Ländern des neugeschaffenen Rhein-Oder Bundes (ROB) umrissen. Ich nehme schon an, daß dort fast jedes Land auch seine eigene Fabrik für Elektrogeräte hat, beispielsweise Rasierer. Da es weder Geld noch Ein- und Verkauf gibt, werden diese Rasierer eben auf Anforderung ohne Rechnung an die einzelnen Siedlungen verschickt. Das läuft natürlich über die zuständigen Kreis- und Landesräte und deren Computer. Im Zeitalter des Internets dürfte eine solche Verteilung kinderleicht sein. Freilich wäre es unmenschlich, die Gegend, die eine Elektrofabrik betreibt, auch noch mit einer Fabrik für Haushaltswaren, etwa besonders große Töpfe und Pfannen für die GO-Küche, zu belasten. Ergo steht die in einer anderen Gegend, und die Verständigung über den Bedarf sowie die Verteilung geschehen auf genau dieselbe Weise. Ich wüßte nicht, was daran Zauberei oder Katastrophe sein sollte.
~~~ Es ist im Gegenteil eine Labsal für die republikanische Volkswirtschaft, weil der ganze parasitäre Aufwand entfällt, den in westlichen Freien Marktwirtschaften der Handel und das Shoppinggehen mit sich bringen. Außerdem bleiben einem die Krisen, also die Gewinn- und Lohnausfälle erspart, unter denen der Kapitalismus gebetsmühlenartig stöhnt. Hat die Elektrofabrik plötzlich ein paar Hundert Rasierer »zuviel« auf Lager, stellt sie ihre Produktion gern für einige Wochen ein. Die Rasierer werden schließlich nicht schlecht. Es droht auch kein Handstreich der »Konkurrenz«, die heimtückisch den Superrasierer Soundso auf den Markt wirft. Die MitarbeiterInnen dagegen freuen sich, zur Abwechslung einmal auf den Kartoffelacker zu gehen oder auf einer Baustelle der einen oder anderen Siedlung mitanzupacken. Diese Möglichkeit, jederzeit Kräfte verlagern zu können, zählt zu den großen Vorzügen einer anarchistischen Volkswirtschaft. Übrigens sind die »Kräfte« meist vielseitig erfahren, dazu »hochmotiviert«, wie der westliche Manager zuweilen neidvoll anerkennt.
~~~ Jetzt sind Sie vielleicht Sprachlos, falls Sie aus der DDR stammen sollten. So hießen dort einheimische Zigarillos. Dabei räume ich gerne ein, die Frage, ob anarchistische RepublikanerInnen rauchen sollten, ist keine Frage der Warenästhetik, höchstens der Sozialpsychologie, nimmt man die Gesundheit einmal aus. Wer in der DDR mit jenen Zigarillos aus Treffurt (Thüringen) im Mundwinkel Eindruck schinden wollte, hatte es allerdings ziemlich schwer. Ludwig behauptet, sie hätten gestunken wie eine Müllverbrennungsanlage. Oder wie der Dampf, den die Waltershäuser Conti-Gummiwerke noch heutzutage todsicher alle Sonntage abgeben, weil sie sich einbilden, dann merkten es die Inspektoren des Umweltschutzes nicht so leicht. Die halten sich ja am Wochenende auf dem Rennsteig oder in Bayreuth bei einer Wagneroper auf.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 16, April 2024
In dem griechischstämmigen Wort Hierarchie soll die Herrschaft stecken. Die Postmoderne benutzt es hauptsächlich für das Problem der Rangordnungen, die ja oft als Hemmschuh der Begeisterung von sogenannten Mitarbeitern empfunden werden. Ich denke jedoch, Herrschaft und Rangordnung stellen lediglich zwei Seiten derselben Medaille dar. Schließlich ist die Herrschaft offensichtlich immer ein Phänomen aus der Unten-Oben-Klemme, in der sich vermutlich schon die Neander-talerInnen befanden, nachdem sie sich dummerweise einmal auf den sogenannten Aufrechten Gang eingelassen hatten. Die von den Herren angeheuerten AufpasserInnen sitzen in den Wach- und Bürotürmen, und das Land, auf dem die Türme stehen, ist verbrieftes Eigentum dieser Herren, die allmählich auch ein paar Damen in ihrem Club dulden, etwa die kürzlich gestreifte Susanne Klatten.
~~~ Es gibt sie also noch, die Herrschaft. Und zwar so überreichlich und alles durchdringend, daß man Brockhaus‘ ohne Zweifel von der APO beflügelten, wenn nicht sogar von Adorno-SchülerInnen verfaßten Eintrag (von 1989) über die Hierarchie mit einiger Verblüffung zur Kenntnis nimmt: »Hierarchische Strukturen werden heute zunehmend kritisch gesehen. Gefragt wird, inwiefern sie mit den Prinzipien von Demokratie und Mitbestimmung vereinbar sind. Sozialpsychologisch gesehen, können sie in allen Lebensbereichen der Entwicklung autoritärer Persönlichkeiten Vorschub leisten und die Entfaltung der – untergebenen – Einzelpersönlichkeiten hemmen.« Na, habe ichs nicht gewußt! Da ist die Hemmung schon. Der erfolgreich angepaßte Adorno-Schüler hat heutzutage für Reibungslosigkeit zu sorgen. Er muß Verkehrsformen erfinden, die den Argwohn zerstreuen, Politik und Marktgeschehen könnten nach wie vor von Rangfolgen, somit von Herrschaft geprägt sein. Die Erfindung »Sozialer Plattformen« fürs Internet war schon fast ein Geniestreich von ihm. Da tobt sich die Mitsprache aus. Notfalls werden sie zensiert oder verboten.
~~~ Andernorts pries ich einmal die Gepflogenheit leibhaftig beisammen sitzender oder stehender Kommunarden, ihrer Versammlung die Kreisform zu geben. Im Kreis ist jeder vom anderen gleich weit entfernt. Da der Kreis gewöhnlich in einer Ebene liegt (in der Horizontalen), läßt er auch keine Wachtürme oder erhöht aufgestellten Rednerpulte zu. Ich persönlich benötigte allerdings einige Zeit um dahinter zu kommen, daß damit hierarchische Verhältnisse noch keineswegs »automatisch« ausgehebelt sind. Denn die Menschen sind nicht gleich. So haben sie auch in rhetorischer und schauspielerischer Hinsicht unterschiedliches Rüstzeug mit in ihre Gruppe gebracht. Und das setzen die geborenen WortführerInnen gnadenlos ein. Auf diese Weise gelingt es ihnen zuweilen, die Gruppe zu beherrschen, und mag sie zehnmal im Kreis sitzen oder stehen.
~~~ Allerdings wird die anarchistische Kommune gegen solche Gefahr die Wachsamkeit schärfen. Das Problem der »Dominanz« gewisser Leute kommt auf den Tisch, und wenn sie sich nicht bessern, dürfen sie gehen. Im Büro von Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit finden sie immer einen verlockenden Mitarbeiterplatz. Im Büro von Sahra Wagenknecht wird es genauso kommen, da muß man kein Prophet sein.
~~~ In meinem Fall hat sich als gutes Erziehungsmittel die Faustregel erwiesen, lieber erst mal den Mund zu halten. Dafür besser Hinhören. Und siehe da, oft wird die eigene »Meinung«, die man für ungeheuer wichtig hält, längst von anderen, genauso oder sogar weniger begabten Rednern vorgebracht. Somit völlig überflüssig, nun auch noch seinen Senf dazu zu geben. Nicht selten ist das ohnehin nur der Befürchtung geschuldet, zu wenig »präsent« zu sein. Durch Schweigen und Zuhören ist man oft viel mehr dabei.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 18, Mai 2024
Wie ich wieder einmal sehe, können Ungeheuer ausgesprochen reizvolle Namen haben, beispielsweise die japanische Trabantenstadt Higashiōsaka. Sie hat rund eine halbe Million EinwohnerInnen. Wörtlich übersetzt heißt sie etwas schnöder »Ost-Osaka«. Laut Brockhaus wurde sie 1967 »durch Zusammenlegung der Städte Fuse, Hiraoka und Kawachi« geschaffen. Diese drei Städte waren den Japanern also noch zu winzig. Osaka selber soll mit 2,7 Millionen Einwohnern, nach Tokio und Yokohama, die drittgrößte Stadt Japans sein. Allerdings stellt sie lediglich das »Herz« eines Ballungsraumes dar (Keihanshin genannt), der gegenwärtig, je nach Definition und Quelle, 17 bis 24 Millionen EinwohnerInnen umfaßt. Nebenbei ist Osaka auch im Preisniveau wolkenkratzerhaft: nach Tokio soll sie die zweitteuerste Stadt der Welt sein.
~~~ Hier könnte ich meine Bemerkungen zur Hierarchie sicherlich nahtlos fortsetzen, aber vielleicht ist das eher überflüssig. Wie will man denn Städte mit 10 oder 20 Millionen EinwohnerInnen ohne Herrschaft beherrschen? Wer mir das verrät, bekommt den nächsten Lewis-Mumford-Preis. Man wird vielleicht einwenden, mit Hilfe von Digitalisierung und also Automatisierung sei das durchaus machbar. Eben! Die JapanerInnen laufen ja jetzt schon wie Roboter durch die Straßenschluchten. Sie tragen nur Atemschutzmasken im Gesicht, damit man ihnen das Gequälte nicht so leicht ansieht. Im übrigen liegt natürlich auf der Hand, wer die ganze Steuertechnik einer Megastadt befehligt.
~~~ Um ehrlich zu sein, wundere ich mich lediglich, daß diese Steuertechnik bislang noch vergleichweise selten von sogenannten Terroristen oder Hackern lahmgelegt worden ist. Aber keine Bange, das wird sich bald ändern. Die künftigen Kriege werden ja sowieso nicht mehr mit Raketen oder Drohnen geführt, weil sich diese zu leicht abfangen lassen. Sie werden kräftig »digitalisiert«, bis sie kein Mensch mehr sieht. Dann wird Frieden auf unserem ausgehungerten und verseuchten Planeten herrschen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 18, Mai 2024
Hätten Sie diesen Künstler gekannt? Laut Brockhaus brachte der niederländische Maler Han van Meegeren (1889–1947) »jahrelang erfolgreich meisterhafte Fälschungen« von berühmten Vorgängern in den Handel, etwa Vermeer, Terborch, Hals. Er gilt noch heute als König unter den Kunstfälschern. Den Gipfel seiner Karriere erreichte er 1942, als Europa gerade in Trümmer fiel. Mit Hilfe eines Mittelsmannes gelang es ihm damals, seinen angeblichen Vermeer »Christus und die Ehebrecherin« für den Rekordpreis von 1,65 Millionen Gulden keinem Geringeren als Hermann Göring anzudrehen. Und der hängte dieses Gemälde überglücklich in seinen schon kürzlich erwähnten Landsitz Carinhall.*
~~~ Mit dem Kriegsende kamen jedoch die Yankees in den Besitz der Göringschen Sammlung. Und das sorgte in den Niederlanden für einige Empörung: »Landesverräter« Meegeren haben den Nazis einen Vermeer verscheuert, um noch reicher zu werden, als er ohnehin schon war. Er soll in den Niederlanden fast 70 Häuser, darunter Hotels, besessen haben. Seine Erlöse aus Fälschungen wurden um 1970 auf 30 Millionen Dollar geschätzt. Jetzt aber sah sich der Künstler in einer peinlichen Zwickmühle. Hütete er das Geheimnis seiner Könnerschaft und seines Reichtums, winkte ihm der schändliche Tod als Landesverräter; bekannte er sich dagegen als Fälscher, somit Betrüger, kam er »nur« ins Gefängnis. Für das zweite entschied er sich auch. Allerdings nahm ihm das verblüffte Gericht sein Bekenntnis zunächst nicht ab. Dazu seien die heiklen Gemälde viel zu gut. Sie müßten echt sein. Erst eine gründliche Untersuchung durch einen Experten-Ausschuß stimmte das Gericht um. Nun zog es seinen Hut vor dem Künstler und brummte ihm lediglich ein Jahr Gefängnis auf. Das war am 12. November 1947.
~~~ Irre ich mich nicht, hatte Meegeren freilich schon vor dem Krieg in der Klemme gesessen. Schließlich hatte er sich damals (in Nizza) unter gründlichen Vorbereitungen sehr wahrscheinlich nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch deshalb zu der Laufbahn als Fälscher entschlossen, weil er wütend war. Er hatte sich über die Verkennung seitens der Kunstkritik gegrämt, die seine Erzeugnisse für Kitsch oder billige Nachahmung hielten. Als er dann seine ersten gelungenen Fälschungen an den Mann brachte, besaß er zwar die Genugtuung, diese verächtlichen Urteile zermalmt zu haben – nur war er leider, von seiner Ehefrau vielleicht abgesehen, der einzige Mensch auf der Welt, der das wußte. Schließlich konnte er seine Urheberschaft nicht an die große Glocke hängen. Diese Möglichkeit bot ihm erst der Nachkriegsprozeß um das Göring-Gemälde. Allerdings konnte er seinen Triumph so gut wie nicht mehr genießen. Er starb nämlich dummerweise bereits am 30. Dezember 1947 an »Herzversagen«, wie die Nachschlagewerke der Einfachheit halber sagen. Er war nur 58 geworden. Die Vermutung, er sei der ganzen Aufregung nicht mehr gewachsen gewesen, liegt natürlich nahe. Ein begnadeter Maler zu sein und echte Marderhaarpinsel einzusetzen, ist eine Sache, aber man braucht auch ein dickes Fell.
~~~ Zum Beispiel hilft einem das dicke Fell auch dabei, sich nie als Versager zu fühlen. Laut englischer Wikipedia war Meegeren in seiner Schulzeit vom Vater wiederholt dazu verdonnert worden, strafweise hundertmal zu schreiben: »Ich weiß nichts, ich bin nichts, ich bin zu nichts fähig.« In seiner Zeit als Meisterfälscher sei er zunehmend von diversen Drogen abhängig geworden. Den deutschen Faschismus habe er, nebenbei, bewundert. Nach dem glimpflichen Ausgang seines Gerichtsverfahrens soll er mit bitterer Miene erklärt haben, sein Triumph als Fälscher sei seine Niederlage als schöpferischer Künstler gewesen. In diesem Bewußtsein steckte er die beiden Herzanfälle ein, die ihn in den Sarg beförderten.
~~~ Sind wir schon einmal bei Fälschungen, gestatte ich mir ein paar Bemerkungen zu Regenauers jüngstem Manova-Rundschlag.** Die Einsicht, das Überleben unserer Eliten stehe und falle seit vielen Jahrzehnten mit großangelegter »Manipulation«, auch PR genannt, setzt er natürlich voraus. Neuerdings jedoch suche man lästige Umwege zu vermeiden, indem man unmittelbar ins Hirn der Massen ziele. Es geht also um »Gedankenkontrolle«, wie der orwellsch geprägte Laie sagen würde. Der IT- und Militärkomplex zückt seine hinterhältigen »Neuronal-waffen«. Die Datenverarbeitungsplattform Insight von Interpol – der nie gewählten Weltpolizeiorganisation – strebe bereits seit 2020 die lückenlose Speicherung unserer Personaldaten an, den »gläsernen« Weltbürger also. »Abschalten lässt sich die BLE-Übertragung nicht.« Schließlich ist inzwischen so gut wie jeder an diverse Funk- und Überwachungsnetze angeschlossen. Hinzu käme jetzt aber die unmerkliche Fernsteuerung mithilfe von Nanopartikeln, die wir etwa durch Nahrung und Arznei oder einfach durch die Luft aufnähmen. Das klingt so erschreckend, daß Regenauer viele Belege auffahren muß – und er hat sie. Deshalb bezweifele ich die von ihm umrissenen Möglichkeiten und Anstrengungen keineswegs. Trotzdem lassen mich die Ausblicke auf die weltumspannenden finsteren Großer-Bruder-Pläne, die wir ja eigentlich schon seit etlichen Jahrzehnten zu lesen bekommen, stets auf gewissen Bedenken sitzen. Ich nenne nur zwei.
~~~ Zunächst bezweifle ich die angebliche vollständige Skrupellosigkeit unserer Eliten, an die Regenauer ausdrücklich glaubt. Ich sage mir, auch diese SpitzenmanagerInnen und SpitzenverdienerInnen haben doch Kinder oder Enkel. Sie sind ja auf geeigneten Nachwuchs angewiesen. Sollten sie nun diesen Lieben all die verheerenden, nun auch körperlich Gestalt annehmenden manipulativen Eingriffe, die sie den breiten Massen zugedacht haben, ebenfalls zumuten? Das Impfen mit Schrott und Chips und Begierden, die sie nicht mehr abwehren oder beherrschen können? Diese Einheitslösung kommt mir doch ein bißchen zu einfach vor. Nebenbei besitzen etliche Staaten seit Jahrzehnten Kernwaffen, aber nach dem furchtbaren US-Versuchsballon in Hiroshima hat noch kein Politiker oder General es gewagt, seine Kernwaffen einzusetzen. Dadurch gingen ja nicht nur ihre Sprößlinge, vielmehr auch sie selber drauf. Damit will ich die Möglichkeit von Irrsinnstaten oder »Versehen« keineswegs ausschließen.
~~~ Mein zweiter Einspruch haut gleichfalls in die Kerbe »Einheitslösung«. Ich befasse mich seit Jahren mit Geschichte, ob des Neandertals, des Kapitalismus‘ oder anarchistischer Kommunen. Dabei ist mir echte und einigermaßen dauerhafte Einigkeit noch nie begegnet. Alle Gesellschaften, alle Bewegungen, alle Grüppchen sind gespalten oder jedenfalls leicht spaltbar. Davon hat natürlich auch die CIA gezehrt – und das gewichtige Buch von Tim Weiner über deren Geschichte bis 2007 beweist, auch dieser brutale Geheimclub selber litt unentwegt an Spaltungen und Spaltbarkeit in den eigenen Reihen. Deshalb werden mich auch turmhohe Stapel von Manifesten, man müsse und werde jetzt dies und das tun, nicht davon überzeugen, das es auch geschieht. Die Elite wird immer wieder über unerwartete Klüfte im eigenen Lager stolpern. Sie wird immer Rivalität, Intrige und Verrat am Hals haben. Damit will ich natürlich nicht behaupten, das unterbinde nun die meisten von ihr geliebten Scheußlichkeiten. Sie wird im Gegenteil noch viel Unheil anrichten, und von daher kann ich dem Zufall nur für mein vergleichsweise hohes Alter danken.
~~~ Nebenbei kostet es mich einige Selbstdiziplin, Regenauer nicht die vielen scheußlichen Fremdworte anzukreiden, die er hartnäckig liebt. Er selber hätte gesagt: notorisch. Dabei habe ich natürlich nicht die kaum vermeidbaren angelsächsichen Fachbegriffe der IT-Branche im Auge. Vielmehr völlig grundlose, überflüssige Wendungen wie: Relevanz, kapriziöses Gesetz, Eleminierung mißliebiger Informationen, definitive Abgrenzung, den zu priorisierenden Sicherheitsinteressen, skalieren, expandieren und dergleichen mehr. Das soll aber nicht am Verdienst des Überblicks rütteln, den er in seinem Aufsatz gibt.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 25, Juni 2024
* Armin Fuhrer am 13. August 2021 für https://www.focus.de/wissen/mensch/geschichte/nationalsozialismus/vermeer-fake-machte-ihn-reich-genialer-kunstfaelscher-narrte-selbst-hitler-vize-goering_id_13552153.html
** Tom-Oliver Regenauer: https://www.manova.news/artikel/die-sechste-dimension, 25. Mai 2024
Laut Brockhaus handelt es sich bei der Robe um 1) ein langes Kleid für festliche Anlässe, 2) um eine → Amts-tracht. Dort, in Band 1, erklärt das Lexikon zum Zweck der Übung: »Betonung der Amtsautorität«. Es vermeidet also die Worte Beeindruckung oder Einschüchterung. Bei uns fände man diese vorgeschriebenen Roben noch bei Geistlichen, an Gerichten und zum Teil auch noch an Hochschulen. Das schrieb der zuständige Lexikon-Redakteur 1986, während in seinem Rücken ein berühmtes Foto* von einem 1967 gemalten Transparent hing: Unter den Talaren / Muff von 1.000 Jahren.
~~~ Ich entsinne mich auch dunkel an einen mutigen prominenten Kommunarden, wohl Fritz Teufel 1969, der vor einer Gerichtsverhandlung ein Abführmittel einnahm, um seine Notdurft dann vor der Richterbank verrichten zu können. Das Internet behandelt diesen originellen Vorfall äußerst schamhaft: man findet kaum Quellen. Später ertappte ich mich selber einmal bei dem nächtlichen Traum, die männlichen Mitglieder einer Landkommune zögen vor dem prächtig vermummten Karlsruher Bundesgerichtshof auf und pinkelten die Damen und Herren im Gleichklang mit herrlich gewölbten Urinstrahlen an. Ich vermute stark, auch das ist in demokratischen Rechtsstaaten verboten – nur sind Träume selbst in Rechtsstaaten noch immer schwer nachzuweisen, oder etwa nicht? Na, Frau Innenministerin Faeser wird es schon richten.
~~~ Als hauptberufliches Westberliner Aktmodell weidete ich mich oft an der Vorstellung, der fliegende Supermann beraubte mir unliebsame PolitikerInnen bei den nächsten markigen Sprüchen mit einem Ruck ihrer Zivilkleidung, auf daß sie einmal unverbrämt zeigten, was so alles in ihnen steckt: viel Bier, viel Fett, viel Ungestaltetheit, und zu allem Unglück auch noch im Kopf viel Stroh. Faeser ist in dieser Hinsicht fein raus, weil sie stets uniformierte Polizeimonster vorschickt, wenn sie wieder eine Zeitschrift verbieten läßt. Man wird sich hüten, denen die Panzerglasschilde entreißen zu wollen.
~~~ Mein Patenonkel war schlichter evangelischer Dorfpfarrer. Doch welche Erhebung durfte ich als Knabe an einem Fenster des Fachwerk-Pfarrhauses erfahren, wenn er 10 Minuten vor der Zeit in seinem glockenärmeligen schwarzen Talar und mit wehendem blendend weißen Bäffchen zur äußeren Sakristeitür der Kirche schritt! Er wollte ja überraschend vor dem Kirchenvolk auftauchen, wie vom Himmel herabgefahren, sobald die Glocken schwiegen. War alles vorbei, schritt er wie alle durchs Hauptportal nach draußen, um allerlei dörflichen Würdeträgern die Hände zu schütteln und sich 2o mal versichern zu lassen, er habe wieder einmal eine glänzende Predigt vom Stapel beziehungsweise von der Kanzel gelassen. Ja, auf diesen Patenonkel war ich eine Zeitlang ziemlich stolz.
~~~ Gewiß, zum Bischof brachte er es nie. Dann hätte er auch noch mit dem bekannten aberwitzigen Bischofshut glänzen können. Allerdings hätte ich daraufhin vielleicht noch Ausgefalleneres und Kriegerischeres erwartet. Auf Seite 143 des Bandes 19 bildet Brockhaus eine kleine, wohl olmekische steinerne Porträtskulptur ab, die man in Veracruz, Mexiko, ausgegraben hat: »Hacha, die einen menschlichen Kopf mit einer Kopfbekleidung in Form eines Delphins darstellt.« Diese bärenstarke Delphinmütze kommt fast einer perfekten Frisur gleich. Der Meeres-säuger schmiegt sich der Schädeldecke hervorragend an.
~~~ Im selben Band 19 streift Brockhaus das bekannte indische Fraugewand Sari. Da sehr verbreitet, scheint der Sari nicht zu den Amtstrachten zu zählen. Es ist einfach ein delphinlanger Tuchstreifen, der kunstvoll und recht zeitaufwendig um den ganzen Körper gewickelt wird. Die postmoderne Inderin soll ihn allerdings zunehmend verschmähen, weil er gar zu unpraktisch sei. Die indische Schreinerin oder Staatssekretärin trägt jetzt Latzhose. Nebenbei barg der traditionelle Sari auch immer für eine Schulter (die nackte) Erkältungsgefahr. Möglicherweise war er lediglich für den Mann sehr praktisch gewesen. Zuerst ließ sich die Frau seiner Wahl von ihm einwickeln und versprach ihm die Ehe; dann wickelte er sie täglich genüßlich wieder aus.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 32, August 2024
* https://www.uni-hamburg.de/newsroom/campus/2017-11-08-unter-den-talaren.html
Im Brockhaus fehlt der US-Gangster Timothy Daniel Sullivan (1862–1913), der sogar oft als Politiker bezeichnet wird. Immerhin erwähnt das Lexikon jedoch im selben Band die Tammany societies, die um 1790 von New York City ausgingen. Der dortige Zweig wurde, nach seinem Hauptquartier, auch Tammany Hall genannt. Diese ehrenwerten Gesellschaften mauserten sich zum Kern der später so genannten Partei der Demokraten. Verkommen bis ins Mark, wurden sie »zum Inbegriff für die autokratische und korrupte Herrschaft eines professionellen Parteiführungsstabes« und allgemeiner für »die Parteimaschine«, stellt Brockhaus fest. Jüngere Edelsteine der demokratischen Parteimaschine sind etwa Bill und Hillary Clinton.
~~~ Ein wichtiger und würdiger Vorläufer war eben Timothy Sullivan, bald Big Tim genannt. Nach 1900 saß er sogar als Vertreter des Staates New York für einige Jahre im US-Repräsentantenhaus, Washington D.C. Von Hause aus Schuhputzer und Zeitungsverkäufer, besaß er in NYC bereits mit 25 mehrere Saloons. Er stieg in die schillernde Branche des Glückspiels, des Wett- und Wahlbetrugs, der Zuhälterei, des Waffen- und Immobilienhandels ein. Er starb vorzeitig, mit 51, recht stilgerecht: schon arg an Syphillis leidend, vielleicht auch verwirrt, kam er Ende August 1913 in NYC unter einen Zug. Dieses Ende gilt als ungeklärt. Dafür wird versichert, seinem Sarg seien mindestens 25.000 Trauernde gefolgt. Man sieht, der Mann war beliebt. Manche halten ihn sogar für einen Vorkämpfer von Frauenrechten. Siehe das schöne Foto im Federalist; Big Tim ist der Lange rechts. Er habe etliche uneheliche Kinder hinterlassen, heißt es anderswo, und um die zweieinhalb Millionen Dollar. Das dürften 1913 über 10 Millionen Mark gewesen sein.
~~~ Ein interessantes, weiter führendes Licht wirft David Harsanyi in einem jüngeren Artikel.* Danach entschloß sich der Gerichtsmediziner George Petit le Brun bei der Autopsie der beiden → Goldsborough-Leichen (1911), endlich das von ihm schon länger angestrebte Verbot zu erwirken, wonach keine Schußwaffen mehr an »verantwortungslose« BürgerInnen verkauft werden dürfen. Nun habe er, nach Jahren vergeblichen Klinkenputzens bei lokalen Politikern, ausgerechnet in dem Tammany-Hall-Betreiber Big Tim seinen großen Mitstreiter gefunden – »einen der korruptesten Politiker seiner Zeit«, wie Harsanyi anmerkt. Noch im selben Jahr 1911 wurde in der Tat das erste landesweite Waffenkontrollgesetz verabschiedet, der für den Staat New York geltende Sullivan Act. Neben Handfeuerwaffen war sogar das Tragen von Messern und Knüppeln und manchem mehr verboten. Bossen wie Big Tim gewährte der Act die legale Möglichkeit, die Banden seiner Konkurrenten zu entwaffnen, Schwänzer von »Schutzgeld« zu bestrafen oder »ganzen Stadtvierteln die Fähigkeit zur Selbstverteidigung« zu rauben, schreibt Harsanyi. Wie sich versteht, war der Act ein biegsames Gummigesetz, das den klugen oder betuchten Schlawinern jede Menge Hintertürchen bot. Nur der anständige Bürger bemühte sich pflichtbewußt um eine Ausnahmelizenz. So sei es kein Wunder, wenn in den Jahren nach dem Act kein Rückgang der Bandengewalt zu verzeichnen war, behauptet Harsanyi. Im Gegenteil: Was Mordfälle angeht, sei die Rate (in NYC?) von 366 im Jahr 1911 auf 743 im Jahr 1920 gestiegen.
~~~ Verstehe ich richtig, schüttelt Harsanyi zum Abschluß seinen Kopf über KritikerInnen der Strafverfolgungs-behörden, die dem Staat gleichwohl erlaubten, den um seinen Schutz besorgten Bürger zum Bittsteller herabzuwürdigen und dem Staat so die Entscheidung darüber zu überlassen, wer sich verteidigen darf und wer nicht. Jedenfalls rennt diese antiautoritäre Sicht bei mir offene Türen ein. Verbote dämmen die Gewalt so wenig ein wie sie faschistisches Gedankengut ausrotten. Der Bürger muß seine Freiheit behalten, auch die zum wirksamen Widerstand, nur muß das mit gegenseitiger Erziehung einhergehen, diese Freiheit nicht zu mißbrauchen. Der entsprechende Diskurs hat an die psychologischen und biografischen Wurzeln jedes einzelnen zu gehen. Ich selber ertappe mich immer mal wieder bei der unbändigen Lust, Leute, die mich eiskalt schneiden oder sogar anspucken, ihrerseits zu demütigen, ob mit Bemerkungen, Ohrfeigen oder Arschtritten. Zuweilen betrifft es sogar Leute, die mir gar nichts getan haben. Der geborene Rechthaber möchte ihnen lediglich bedeuten, wie dumm sie sind. Diesen Trieben ist mit Verboten und Strafen – eben mit Gewalt nicht beizukommen. Sie müssen erkannt und besprochen werden und sich nach und nach erübrigen.
~~~ Selbstverständlich spielt dabei auch die Verfassung der jeweiligen Gesellschaft eine bedeutende Rolle. In den erzkapitalistischen, hoch aufgerüsteten, durch und durch gewalttätigen USA, deren oberstes Credo die Rivalität ist, dürften Hopfen und Malz sowieso verloren sein. Freie Zwergrepubliken wie die Mollowina kann ich mir für Georgia oder Texas beim besten Willen nicht vorstellen. In der Mollowina oder auf Pingos hat jeder erwachsene Republikaner, Frauen eingeschlossen, selbstverständlich freien Zugriff auf den Waffenschrank der jeweiligen GO. Wer‘s nicht glaubt, möge diese Texte endlich einmal lesen.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 36, September 2024
* David Harsanyi am 27. Juni 2022 im Federalist: https://thefederalist.com/2022/06/27/new-yorks-unconstitutional-gun-law-was-written-by-a-notorious-corrupt-thug/
Nach Brockhaus kann die süddeutsche Kleinstadt Tauberbischofsheim (südlich von Würzburg) mit Roman-tik, einer Garnison und einem »Bundesleistungszentrum des Fechtsports« glänzen. Aus diesem erlauchten Winkel kommt zum Beispiel der Degenfechter Elmar Beierstettel (1948–85), im Haupt- oder Nebenberuf, ganz wie man will, Kriminalhauptkommissar. Um 1975 errang er zwei Silbermedaillen bei Weltmeisterschaften. Über ihn persönlich, etwa Temperament, Weltsicht, Familie, ist freilich im Internet so gut wie nichts zu erfahren. Da hilft selbst der Fachbuchautor Richard Möll nicht weiter. Und leider schließt diese Dürre auch Ursache und Umstände von Beierstettels Tod mit 37 Jahren ein.
~~~ Als Beierstettels Sterbeort wird Tauberbischofsheim angegeben. Möll beläßt es in seinem 1987 erschienenen Werk Die Fecht-Legende von Tauberbischofsheim dabei, einen kurzen Abschnitt über Beierstettels Werdegang so verschwommen, platt und den Leser beleidigend wie möglich mit dem Satz einzuleiten: »Bedingt durch ein tragisches Geschick«, sei der Athlet »nicht mehr unter den Lebenden«. Beierstettels Club beantwortet meine Anfrage mit höflichem Schweigen. Tauberbischofsheims Stadtarchiv tut das Gleiche. Dafür hat die örtliche Redaktion einer fränkischen Tageszeitung postwendend eine beinahe erfrischend knappe Antwort für mich übrig. »Hallo Herr R., Sie werden nicht viel über die Todesursache von Herrn Beierstettel finden, weil darüber nicht berichtet wurde. Viele Grüße …«
~~~ Damit liegt auf der Hand, die liebe Familie, wie immer sie aussehen mag, hält wieder einmal den Deckel über den Sarg. Und alle vor Ort, die des Schreibens kundig sind, hüten sich, gegen den Deckel zu schnipsen, weil die berüchtigte Privatsphäre im fränkischen Schwaben mindestens so heilig wie die Jungfrau Maria ist. Oder weil die Familie zufällig den Hauptfabrikanten oder den Polizeipräsidenten des Kreisstädtchens stellt. Ist sie nicht dumm, dürfte sie allerdings ahnen, jeder Neugierige wird sich jetzt, aufgrund unserer Blockade, möglicherweise das Naheliegendste sagen: a) Der Sportler hat sich umgebracht; b) er litt an unschöner Krankheit; c) er baute einen peinlichen Unfall mit seinem Auto oder Motorrad; d) er verlor in seiner Eigenschaft als Kriminalbeamter im Rahmen einer sogenannten Ermittlungspanne seinen Degen und fing sich dafür einen tödlichen Messerstich ein.
~~~ Immerhin ist von Möll im erwähnten Abschnitt (S. 123) zu erfahren, Polizist Beierstettel habe zuletzt das Tauberbischofsheimer Rauschgift-Dezernat geleitet. Einen Exkurs über Doping verbiete ich mir aber. Der vorletzte Satz des Abschnitts bewegt mich dazu, meine Vermutungen a) (Selbstmord) und d) (Fehler im Dienst) nicht als heißeste AnwärterInnen auf die Lösung dieses Falls auszugeben – es sei denn, das typische Nachruf-Leerwort des Fechtfachmanns wäre eine Finte. »Wie alle anderen Tauberbischofsheimer Fechter, die abgetreten sind, verstand er Erfolg im Sport und Beruf miteinander zu koppeln, volle gesellschaftliche Anerkennung zu erwirken und ein ausgefülltes Leben zu meistern.«
~~~ Man könnte sicherlich einwenden, ich möge den Mann doch gefälligst vergessen; so wichtig sei ja nun ein Degenfechter auch wieder nicht. Das würde ich sogar zugeben. Im Grunde glaube ich seit langer Zeit, jeder Mensch, der freiwillig Spitzensportler wird, könne eigentlich nur einen Dachschaden haben. Aber wo wollen Sie hier die Grenze ziehen? Schauen Sie sich doch nur die Branche der Stardirigenten oder das Kabinett Scholz an, dann können Sie sich bereits vor einer Flut an Kandidaten nicht mehr retten. Dennoch halte ich an Beierstettel fest. Jetzt geht es mir nämlich nicht mehr um ihn, vielmehr ums Prinzip. Vielleicht darf ich das an einer namhaften Schauspielerin verdeutlichen, die Sie womöglich für durchaus wichtig halten.
~~~ Die 51jährige Berliner Schauspielerin Susanne Lothar starb am 21. Juli 2012. Ja, so ein Pech! Woran oder warum sie starb, wollte der Rechtsanwalt ihrer Familie nicht verraten. Er verweigerte Auskunft um der »Privatsphäre« der Verstorbenen oder der Angehörigen willen. Die müsse geschützt werden. »Und so blühten die Spekulationen«, schrieb die Münchener Abendzeitung am 26. Juli nicht ohne Folgerichtigkeit. Anzeichen für eine Krankheit etwa habe man bei Lothar, die 2007 ihren Ehemann Ulrich Mühe durch eine Krebserkrankung verloren hatte, noch am 30. Juni auf dem Münchener Filmfest nicht bemerkt. In Schauspielerkreisen werde von Selbstmord gemunkelt. Soweit das Blatt.* Und wenn schon! Hat der Rechtsanwalt die von ihm vertretene »Privatsphäre« verriegelt, weil in dieser ein Selbstmord als Makel gilt? Das würfe kein sonderlich vorteilhaftes Licht auf die von ihm Vertretenen. Wenn aber nicht – was wäre dann in diesem Todesfall noch schützenswert? Jeder, selbst die Münchener Abendzeitung, wußte, daß mit Lothar eine ausgesprochen empfindsame und »verletzliche Charakterdarstellerin« verstorben war. Da liegt doch ein Selbstmord gleichsam von Jugend an in der Luft. Eine andere Frage ist, warum ausgerechnet ein derart angreifbarer Mensch die Brennpunkte öffentlichen Interesses aufsucht, Theaterbühnen und Filmfeste zum Beispiel. Aber sie führt vom Thema ab.
~~~ Leider ist auch die »Privatsphäre« ein verdammt weites Feld. Immerhin ist sie, ungeachtet ihrer Abmessungen, nie ein »natürliches« Feld. Ihre Grenzen werden in jeder Kultur und in jeder Epoche anders gezogen. In kapitalistisch verfaßten Demokratien kreist die »Privatsphäre« vor allem um die jeweiligen Einkommensverhältnisse, ob sie nun zu Hause im Wandsafe oder auf entlegenen, meerumrauschten Steuerparadiesen geschützt werden. Das hindert freilich die wenigsten GroßverdienerInnen daran, erstens mit ihren Platinuhren zu protzen, zweitens in Talkshows oder gut honorierten Zeitungsinterviews ihr Innerstes nach außen zu kehren, drittens den Bürokraten, Polizeibeamten und Berufsschnüfflern ihres Landes zu gestatten, die menschliche Würde mit Füßen zu treten, sobald einer auch nur einen zwergfichtengroßen Schatten auf die Fassade der kapitalistischen Demokratie wirft.
~~~ Wahre Demokratie lebt von Öffentlichkeit, Aufrichtigkeit, Nachvollziehbarkeit. Ich kann den anderen mitsamt seiner Beweggründe und seinen Bedürfnissen umso besser verstehen, je mehr ich von ihm weiß. Erst dadurch kann ich auch mich selber besser verstehen, denn alleingelassene Beschränktheit bleibt immer beschränkt. Aus diesem Hauptgrund – Vertiefung des Verständnisses – schreiben manche Leute sogar, nicht aus Erwerbsgründen. Vielleicht könnte sich durch die Vertiefung des Verständnisses selbst die Erhöhung des Schutzes der »Privatsphäre« erübrigen, nämlich insofern, als durch diese Bildungs- und Vertrauensbildungsarbeit Angst abgebaut wird. Eine Gesellschaft ohne einschüchternde Strukturen und Drohgebärden würde weder Panzerschränke noch Schützenpanzer noch Rechtsanwälte benötigen. Sagen Sie das mal unserer Verbotstante vom Innendienst im Kabinett Scholz, die lacht sich schief.
~~~ Ein beliebtes Mittel der Einschüchterung und der Vorteilsnahme stellen in Deutschland seit vielen Jahren auch sogenannte Titel, genauer akademische Grade dar. Amtlich zählen sie übrigens nicht zum Namen. Man hat kein verbrieftes Recht, mit ihnen angeredet zu werden. Schreiben Sie jedoch einem Stadtarchiv als Dr. oder Prof. oder besser noch beides, kriecht es Ihnen sofort in den Arsch, selbst wenn es noch nie von Ihnen gehört hat. Aber ich persönlich habe dergleichen nicht vorzuweisen, noch nicht einmal Abitur. Deshalb ist es mir schon wiederholt geschehen, als »Hobbyhistoriker« beschimpft zu werden. Werfen Sie doch Van Gogh einmal an den Kopf, er sei nur ein Hobbymaler! Da schneidet er sich gleich auch sein anderes Ohr noch ab. Um 2007 war ich vorübergehend Mitarbeiter bei Wikipedia und rückte einen Eintrag über Ernst Kreuders hübsches Buch Die Gesellschaft vom Dachboden in die Mammutenzyklopädie. Prompt hielt mir einer auf der Diskussionsseite vor, das sei kein Lexikonartikel, sondern »bestenfalls ein schlechter Essay«. Heute werden da die korrekten, schablonenmäßigen Einträge gleich von auf Speichern versteckten Schlapphüten geschrieben.
~~~ Ihr letzter Rat an mich könnte sein, das Tauberbischofsheimer Stadtarchiv öffentlich anzuprangern, vielleicht auch mit Verklagung zu drohen. »Nennen Sie den Namen von Ihrem Widersacher – was meinen Sie, wie schnell der klein wird!« Nein, das wird er nicht. Erstens sind er oder sie abgebrüht, und zweitens können die immer behaupten, sie hätten meine Email-Anfrage (an personalisierte Adresse) nie zu Gesicht bekommen. Wie sollte ich ihnen das Gegenteil beweisen? Ein Freundin riet mir, schnell reich zu werden, einen Waffenschein und eine Pistole (»aus Oberndorf am Neckar«) zu erwerben und mit dem nächsten Fernzug, falls noch einer führe, nach Würzburg zu reisen, um das schöne, wenn auch von Wegelagerern wimmelnde Taubertal zu erwandern. In jeder noch so kleinen Kreisstadt fänden sich jede Wette mindestens eine Friedhofsgärtnerin oder ein Stadtbibliothekar, die irgendetwas wüßten. »Setz‘ ihnen die Knarre auf die Brust oder stopf ihnen die Taschen mit Zaster, das zieht immer!«
~~~ »Und wenn nicht ..?«
~~~ »Dann war es jedenfalls ein erholsamer Urlaub. Sofern du ihn unverwundet überstehst.«
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 37, September 2024
* https://www.abendzeitung-muenchen.de/panorama/susanne-lothar-der-tod-der-tragischen-art-170421
Im revolutionären Jahr 1917 durfte sich der russische Volkswirtschaftler und Politiker Michail I. Tugan-Baranowskij (1865–1919) sogar vorübergehend Finanzminister der Ukraine nennen. Laut Brockhaus hatte er sich vom Marxisten zum Revisionisten gewandelt. Er habe insbesondere die Position vertreten, auf dem Weg zum Sozialismus sei auch für das unterentwickelte Rußland die Einschaltung einer kapitalistischen Etappe unerläßlich. Das erinnert an Wera → Sassulitsch. Möglicherweise hatte sie entsprechende Aufsätze von Tugan-Baranowskij gelesen. Er selber konnte nicht mehr viel für die kapitalistische Etappe tun, weil er Anfang 1919 »in der Eisenbahn zwischen Kiew und Odessa« sein Leben aushauchte, wie Brockhaus behauptet. Der vollbärtige, zuletzt in Kiew lehrende Professor war gerade erst 54 Jahre alt geworden. Laut englischer Wikipedia hatte er einen tödlichen Herzanfall erlitten. Von seinen Leidenschaften spricht niemand. Vielleicht hatte er ja gar keine.
~~~ Neulich gewann Tugan-Baranowskij noch einen hochrangigen Anhänger in Bolivien: Alvaro Garcia Linera, unter Evo Morales Vizepräsident des Andenstaates. Von Hause aus Mathematiker, dann Guerillakämpfer, hatte Garcia Linera zuletzt im Knast Soziologie – und anscheinend auch Tugan-Baranowskij studiert. 2006, wenn ich mich nicht irre*, gab er der Jungen Welt ein Interview, das inzwischen gesperrt im Archiv ruht. Ich kann mich jedoch auf ein paar Notizen stützen und hoffe, Evos Ratgeber nicht unkorrekt zu zitieren. Er versicherte dem Berliner Blatt, ihm schwebe nun die »Modernisie-rung« des Landes und damit dessen »Fortschritt« vor – bis in den Sozialismus! Nur klaffe vor diesem ein schmerzliches Desiderat. Die Arbeiterklasse fehle! Somit sei sie im Rahmen der Modernisierung erst zu schaffen, damit sie ihrer »Rolle als historischem Subjekt« gerecht werden könne. Zunächst müsse es deshalb um die »gewerkschaftliche Anbindung« der bolivianischen ZweihänderInnen gehen. Das war mutig und zugleich modisch gesagt. Bei Bebel und Lenin ankommen und die Proleten anbinden!
~~~ Der Stufenschematismus dieser Freiheitskämpfer-Innen, von ihnen selber meist »Historischer Materialismus« genannt, schmerzt ähnlich bös wie ein Herzanfall. Die von Proleten in Gang gehaltene Megamaschine des Kapitals mag uns bereits bis zur Höhe der Anden mit Überflüssigkeiten und ungesundem Müll zugeschüttet haben – da müssen wir durch, Genossen! Wie sich versteht, tun wir das wohlorganisiert, denn der Staat, das sind jetzt wir. F. G. Jünger hat in seiner Perfektion der Technik bemerkt, die Sozialisten pochten gerade wegen dessen herrlichen Organisierbarkeit aufs Proletariat. Mit ihm, dem Proletariat, läßt sich alles machen. Zwar kommt es inzwischen auch schon in den Hochburgen des Kapitals abhanden. Statt diese Gelegenheit freilich beim Schopf zu ergreifen, um auch das Kapital mitsamt seinen verheerenden Produktionsstätten und seinem eingefleischten Größenwahnsinn auf den Mond zu schießen, predigen die Garcia Lineras die Einhaltung der korrekten historisch-materialistischen Linie. In primitiven Bergdörfern ohne elektrischen Strom herumwerkeln, halbe Tage dem Schlaf oder dem Liebesspiel frönen, keinen blassen Dunst von Videoclips, Arbeiterparteien und Umfragewerten zu haben – wo kämen wir denn da hin!?
~~~ Selbstverständlich hätten wir auch da noch unsere Schwierigkeiten, beispielsweise mit der Gestaltung herrschaftsfreier Selbstorganisation. Aber gerade daran arbeiten die »linken« BerufspolitikerInnen nicht. Schließlich grüben sie sich damit selbst das Wasser ab.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 38, September 2024
* Harald Neuber, »Was zählt, sind Taten«, Gespräch mit Alvaro Garcia Linera, https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/76967.was-z%C3%A4hlt-sind-taten.html, 18. November 2006
Siehe auch → Abkürzung, Sascha Wagener (Gehorsam) → Autorität → Quantitatives Denken (Zählen + Zollstock) → Behälter, Zioncheck → DDR, Blaufichte (Chance verpaßt) → Recht → Scholochow (Weltverbesserungsdrang versus Selbstbestimmungsrecht) → Spanienkrieg → Spitzel → Staat → Utopien
Andersen-Nexö, Martin
Der Ablaufberg wird auch sehr schön Eselsrücken genannt. Ich hoffe, um 1920 hatte man auch in Kopenhagen einen. Dieser künstliche »Berg« ist vor allem in Rangier- und Güterbahnhöfen zu finden. Eine Rangierlok drückt eine Kette aus Güterwaggons auf das eher gering angehobene Ablaufgleis. Oben steht ein Bahnarbeiter, der die einzelnen Wagen dann, zwecks Verteilung nach unterschiedlichen Bestimmungsorten, entkoppelt und aufgrund entsprechender Weichenstellungen allein durch selbsttätigen Ablauf sortiert. Dabei kann er die Hände in seine Hosentaschen stecken und dem jeweiligen Wagen wie dem Schlitten seines eigenen Töchterchens hinterherblicken. Ein Traumberuf, wenn auch nicht gänzlich ohne Risiko.
~~~ Vielleicht darf ich im Windschatten des Esels auf einen lesenswerten, erstmals um 1920 in mehreren Teilen erschienenen, umfangreichen Roman hinweisen. Dessen Heldin, Tochter des dänischen Lumpenproletariats, ist gar keine. Vom »Dienen« auf einem schäbigen Landbauernhof kommt sie vom Regen in die Traufe, nämlich zum »Dienen« in der Riesenstadt Kopenhagen mit ihren Elendsvierteln. Ditte Menschenkind läßt sich nie unterkriegen, wird freilich nicht alt. Völlig verbraucht, stirbt sie kurz nach dem furchtbaren Ende ihres Söhnchens Peter, dem allerdings ein machtvoller »roter« Trauerzug bereitet wird, mit nur 25 Jahren. Also auch eine Frühverstorbene. Ich habe bis zur Stunde nicht herausbekommen, wie Autor Martin Andersen-Nexö es anstellte, diese Figur und sogar noch etliche andere so ergreifend zu gestalten. Man hat beim Lesen immer wieder die gleichen zu Herzen gehenden Gefühle des Mitleids und der Freude, die er an dieser tapferen, rotblonden, meistens mageren jungen Frau beschreibt.
~~~ Wahrscheinlich ist Nexös Herkunft schon die halbe Miete. Der Sohn eines Bornholmer Steinhauers wurde erst Schuhmacher, dann durch Volkshochschulkurse Lehrer. Er kannte die Rattenlöcher und ihre menschlichen BewohnerInnen wie seine Westentasche. Und offenbar paarte sich bei ihm ein starkes Mitgefühl mit scharfer Beobachtungsgabe. So war er imstande, in seine Figuren wie in eigenhändig zugeschnittene Schuhe zu schlüpfen. An deren Psychologie ist nichts falsch und nichts lückenhaft. Im Falle der Hauptfigur ist das natürlich umso erstaunlicher, als sie eine Frau ist. Zwar erzählt Nexö gradlinig und schlicht, doch keineswegs einschläfernd. Mit anderen Worten, ich habe nie »Dramatik« oder »Stolpersteine« vermißt. Dafür verfaßten in den Jahrzehnten nach Pontoppidan und Andersen-Nexö wahre Legionen von postmodernen Schriftstellern Tonnen an krampfhaft ausgetüftelten »vielfach gebrochenen« Romanen, deren Lektüre sich kein normaler Mensch aus freien Stücken zugemutet hätte, wenn sie ihm nicht von den selbsternannten Literaturpäpsten, der alles beherrschenden Fortschrittsreligion gemäß, als Muß hingestellt worden wären. Dieses Muß war ein unsortierter, unanschaulicher, holpriger Misthaufen. Sollten wir das nahe Ende des Kapitalismus überleben, werden wir einige Museen der Verirrungen der Menschheit einzurichten haben, in denen auch Leute wie Samuel Beckett, Julio Cortázar oder Wolfgang Hildesheimer zum Gespött von Abordnungen aus Kindergärten werden dürfen.
~~~ Andersen-Nexö erzählt stets ganz anschaulich und konkret. Allgemeinbegriffe meidet er weitgehend. Als Preis dafür muß man vielleicht auf gelegentliche »gedankentiefe« Stellen verzichten, wie ich sie etwa in Henrik Pontoppidans Hans im Glück zu schätzen weiß, der sich freilich nur am Rande mit wirklich armen und kleinen Leuten zu befassen pflegt. Im Gegenteil, für etliche Jahre wird sein Landpfarrerssohn Peer Sidenius vor allem von dem Verlangen getrieben, in höhere Kreise aufzusteigen; eine Zeitlang ist er mit einer Tochter des steinreichen Kopenhagener Handelshausbesitzers Salomon verlobt. Freilich hat auch Ditte Pech mit ihren Liebhabern. Der eine ertrinkt (Georg), der andere weiß nicht, was er will (Karl). Beide sind mehr oder weniger erwerbslose Arbeiter. Ihre einzige wirklich brennende und beflügelnde Liebschaft hat Ditte sowieso nur für ein paar Wochen mit Herrn Vang, der leider verheiratet und ein »Dichter« ist. Vang zieht dann wieder Pegasus vor.
~~~ Dittes Peter ist mit Einjar befreundet. Bei Dunkelheit ziehen die beiden Knaben öfter mit ihrem alten Kinderwagengestell und einigen leeren Säcken los, um das Pflaster und die Gleise des Güterbahnhofs nach herabgefallenen Kohlen abzusuchen. Denn die Geschwisterchen zu Hause frieren. Doch an diesem Tag ist es verdammt neblig. Das hat einerseits den Vorteil, daß die Polizisten nicht viel sehen; andererseits kann es bedeuten, man erkennt einen nahenden Zug zu spät. An diesem Tag werden Peter beide Beine abgefahren; im Krankenhaus stirbt er.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 1, November 2023
Der Schwede Dan Andersson (1888–1920) war ein bedeutender »Dichter«. Das ist für Brockhaus natürlich viel wichtiger als der Umstand, daß Andersson aufgrund einer haarsträubenden, von ihm nicht verschuldeten gesundheitspflegerischen Maßnahme nicht alt werden sollte. Davon weiß Brockhaus nichts.
~~~ Andersson kam aus armseligen Verhältnissen: geboren im Schulhaus des Dorfes Skattlösberg in Dalarna, Mittelschweden, wo vorwiegend Bergbau, Holzeinschlag und Köhlerei betrieben wurde. Nachdem sich seine frommen Eltern, die LehrerInnen Augusta und Adolf Andersson, zwischenzeitlich, seit 1905, nur mühsam in Mårtenstorp als KöhlerInnen und Bauern versucht hatten, bezog die sechsköpfige Familie um 1910 ein winziges Häuschen am Rande Skattlösbergs, genannt Luossastugan. Es wurde später in ein schmuckes Museum verwandelt, in dem sogar noch die Gitarre Dans bewundert werden kann. Er soll auch Akkordeon und Geige gespielt haben. Andersson wird als großer, schlanker Mann mit dunklem Haar, blauen Augen und ausdrucksstarkem Mund beschrieben. Er habe sich würdevoll oder gemessen, aber offenbar nicht eckig bewegt. Ein verhinderter christlicher Jugendleiter vielleicht.
~~~ Während sich seine Eltern neuerdings vornehmlich mit Schuster- und Buchbindearbeiten über Wasser hielten, wenn ich richtig verstanden habe, ging auch Sohn Dan verschiedenen handfesten Gelegenheitsarbeiten nach, etwa in einer Papierfabrik oder als fahrender »Ritter« des (anti-alkoholischen) Templerordens, bildete sich (1914/15) an der Brunnsviker Volkshochschule, arbeitete streckenweise als Hilfslehrer und strebte wenig erfolgreich an, sich als Übersetzer (Rudyard Kipling, Charles Baudelaire) und Poet zu ernähren. Anderssons Erzählungen und Gedichte fanden erst nach seinem Tod ein größeres Echo; manches davon ging in den Kanon der schwedischen Arbeiter- und Volksliedliteratur ein. Er litt oft unter Geldmangel. 1917 stellte ihn das Göteborger sozialdemokratische Blatt Ny Tid als Redakteur ein, wenn auch nur für ein Jahr. 1918 heiratete er Olga Turesson, die in Süd-Dalarna als Dorfschullehrerin tätig war.
~~~ Anderssons erstes Buch Köhlergeschichten war 1914 erschienen. Anfänglich romantisch-naturalistisch orientiert, scheint ihn später vordringlich die metaphysische Not des Volkes beschäftigt zu haben. In seinem Gedicht Der Bettler von Luossa, das sehr beliebt sein soll, besingt er über neun Strophen hinweg Landstreicher, Bettler, manches Wunderding / »und seine Sehnsucht eine ganze Mondnacht lang«. Der Löwenanteil der Verse kreist allerdings* um eine erwünschte Erlösung aus den irdischen Fesseln, die wenig dinghaft vor Augen gestellt wird. Man versteht es aber auch wieder, bittet er doch den Herrn, die Erde fortzunehmen, damit etwas komme, »was vordem niemals war!« Nach einigen Kritikern war der eifrige Schopenhauer-Leser Andersson einer Verschmelzung aus christlicher und fernöstlicher Heilsgewißheit auf der Spur. Ivan Aguéli hätte ihn wohl kaum ausgelacht, falls sie nicht ohnehin in Verbindung standen.**
~~~ Im Spätsommer 1920 nach Stockholm gereist, da er sich eine Anstellung bei der Zeitung Social-Demokraten erhofft, übernachtet Andersson im Hotel Hellman in der Bryggaregatan. Zu seinem Unglück war ihm nicht bekannt, daß sein Zimmer mit der Nummer 11 eben erst vom Hotelpersonal durch Aussprühen mit Cyanwasserstoff von Wanzen und anderen Insekten befreit und anschließend entgegen den Vorschriften nicht ausreichend gelüftet worden war. So zog sich der 32jährige Mystiker in der Nacht zum 16. September eine Vergiftung zu, der er am nächsten Nachmittag erlag. Möglicherweise war er schon angeschlagen, denn Petri Liukkonen behauptet, 1910 habe man Andersson wegen Tuberkulose vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen.*** Andererseits soll es unter den Hotelgästen noch ein zweites Todesopfer gegeben haben, schreibt Wikipedia, nämlich den Versicherungsinspektor Elliot Eriksson aus Bollnäs. Es war also kein reiner Dichtertod.
∞ Zuerst in Risse im Brockhaus (Blog H. R.), Folge 2, November 2023
* Laut Übersetzung bei https://anacreon.de/dichter/andersson-omkring-tiggarn-fran-luossa.php
** Der beachtliche Maler aus Sala, Västmanlands län, hatte sich vom Anarchisten zum »Wandersufi« gemausert. 1917 kam er, mit 48, unter etwas unklaren Umständen an einem spanischem Bahndamm um.
*** Eintrag im https://authorscalendar.info/danander.htm, Stand 2020
Angst
Als sich der 32 Jahre alte Robert Enke (1977–2009), Sohn eines sportbegeisterten Psychotherapeuten, im November 2009 mitten in einer zwar bewegten, im ganzen jedoch sehr erfolgreichen Karriere als professioneller, 1,86 messender Fußballtorhüter an einem Bahnübergang in Niedersachsen vor einen Zug warf, löste er nahezu eine Staatskrise aus. Für den Augenblick war die Nation vor Entsetzen gelähmt. Natürlich nicht aus Mitgefühl für die Zuginsassen, LokführerIn voran. Vielmehr hatte die Nation nicht nur einen wichtigen Wirtschaftskapitän verloren, wie etwa im Falle des Industriellen Adolf Merckle, der sich ein knappes Jahr vor dem Startorwart auf dieselbe soziale Weise das Leben nahm. Vielmehr hatte sie den publikumswirksamen und einschaltquotenmag-netischen Hüter der häuslichen Heimatfront verloren. Die außerhäusliche lag damals in Afghanistan.
~~~ Am nächsten Tag nahmen 35.000 Menschen an einem Trauermarsch, vier Tage später 40.000 an einer Trauerfeier im Stadion des Bundesligisten Hannover 96 teil, für den der Thüringer Enke zuletzt zwischen den Pfosten gestanden hatte. Er war beliebt gewesen. Und wenn er in den zurückliegenden Jahren wiederholt mit »Depressionen« zu kämpfen hatte, wie nun von den Angehörigen eingeräumt wurde, hatte er dies den Fans und Managern, denen er seine gehobene Lebensführung verdankte, verständlicherweise nicht auf die Nase gebunden. Da war dann eher von »Infektionen« die Rede gewesen. Dabei hatte Enke, mit seiner Frau Teresa, nicht nur den Gram um eine schwerkranke und nach zwei Jahren verstorbene Tochter zu tragen; vielmehr fiel es ihm anscheinend grundsätzlich schwer, das Hauen und Stechen um Ehre, Geld und das berüchtigte Nummer-1-Podest in der Fußballnationalmannschaft als Deckchensticken zu begreifen. Sein Vater Dirk sagt dem Spiegel*, Gesprächsangebote habe Robert wiederholt ausgeschlagen. Für ihn, den Vater und Seelenfachmann, ist die Angst der wesentliche Nährboden von Roberts Depressionen gewesen. Der Sohn habe bereits als jugendlicher Fußballer immer wieder Angst davor gehabt zu versagen, also den Ansprüchen der Kameraden, Trainer, Bewunderer, die man sich bekanntlich auch selber gern zu eigen macht, nicht zu genügen. Zwar habe Robert in jüngster Zeit einen Klinikaufenthalt erwogen – aber auch davor habe er sich gefürchtet. Zum einen nahm er wohl nicht zu unrecht an, damit wäre der schöne, runde Ball, der die Rubel oder Dollars gezielt in wenige Taschen rollen läßt, für ihn garantiert im Aus gewesen. Und zum anderen, deutet der Vater an, dürfte Robert den Blick auf die Wurzeln seiner Angst, seine wunden Stellen, seine »Schwäche« befürchtet haben. Schließlich stehen zwischen den Pfosten ausschließlich Helden.
~~~ Enkes Frau Teresa setzt sich inzwischen in der neugegründeten Robert-Enke-Stiftung unermüdlich gegen »Depressionen im Spitzensport« ein. Gegen den Spitzensport, wäre vielleicht zuviel verlangt. Aber sie könnte bei ihren Beratungen selbstmordgefährdeter SchwerverdienerInnen immerhin Bahnübergänge, Autobahnbrücken und dergleichen Tummelplätze zu »Tabuzonen« erklären. Eine entsprechende Aufklärung läßt nebenbei auch der Psychotherapeut Dirk Enke vermissen, falls ich sie nicht übersehen habe. Zudem könnte Schwiegertochter Teresa vielleicht empfehlen, einmal über Javi Poves‘ Schritt nachzudenken. Der damals 24jährige Nachwuchsstar des spanischen Erstligisten Sporting de Gijon reichte 2011 seinen Abschied ein. Er soll schon immer ein kritisch gestimmter Kopf und Gegner des Kapitalismus gewesen sein. Jetzt gedenke er zu studieren und die Realitäten solcher Konfliktherde wie dem Nahen Osten mit eigenen Augen zu erkunden. Da hat er freilich ebenfalls gute Chancen umzukommen. Laut dpa-Meldung vom August 2011 nannte Poves den Fußballbetrieb einen nicht unerheblichen Bestandteil der »Welt der Täuschung«, in der wir lebten. Von der Habgier und der Korruption einmal abgesehen, sei der ganze Zirkus darauf angelegt, die Menschen von ihren eigentlichen Sorgen und Bedürfnissen abzulenken. Brot & Spiele eben, wie seit altersher. Obwohl man neuerdings eher sagen müßte, Brot & Viren.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H. R.), 2022
* https://www.spiegel.de/sport/fussball/robert-enkes-vater-er-war-in-den-eigenen-anspruechen-gefangen-a-661239.html, 14. November 2009
Der Kanadier Stan Rogers (1949–83) war Folk-Music-Sänger. Am 2. Juni 1983 brach in einer Douglas-Linienmaschine von Dallas, Texas, nach Montreal, Québec, ein Brand aus, der sie zur Notlandung auf dem Flughafen Cincinnati im nördlichen Kentucky zwang. Am Boden brannte sie weiter. Todesopfer und Überlebende hielten sich genau die Waage, je 23. Rogers zählte zu den Toten. Das kurbelte immerhin seine (posthume) Platten-Produktion an, denn der 33jährige Gitarrist und Liedermacher mit der gleißenden Stirnglatze war kein Star gewesen. Aber verheiratet: die Witwe und Nachlaßver-walterin heißt Ariel. Seit 1997 gibt es in Canso, Nova Scotia, sogar ein jährliches Stan Rogers Folk Festival. 2014 wurde es allerdings wegen einer Hurrikan-Warnung abgesagt. 2020 kam ein noch verheerenderes Ereignis dazwischen, Sie wissen schon. Mal sehen, wie es weitergeht.
~~~ Die Burg-Waldeck-Festivals im Hunsrück, veranstaltet 1964–69, waren angeblich die ersten Freiluftkonzerte in Deutschland. In Fachkreisen gelten sie jedenfalls als Meilenstein des deutschsprachigen Liedermachertums. Dort weiß auch jeder, daß der antiautoritär gestimmte schwäbische Liederausgräber und -macher Peter Rohland (1933–66), kräftig in Gestalt und Bariton, zu ihren Mitgründern gehörte. In Westberlin hatte er sogar zeitweise Musik studiert. Eigentlich wollte sich der breitmundige Barde ohne Bart fest in Süddeutschland niederlassen, aber das ging dann leider nur im Sarg. Warum? Das dürfen Sie die Webseite der Peter Rohland Stiftung nicht fragen. Sie erklärt uns mit einem Aufsatz Helmut Königs von 1999: Im Januar 1966 erkrankte Rohland plötzlich, im April war er tot … In anderen Quellen herrscht die Formel vor, der 33jährige sei in der Freiburger Universitätsklinik »den Folgen einer akuten Gehirnblutung« erlegen. Aber wie kommt man zu so einer Gehirnblutung, bitteschön? Oder zu jener verschwommenen »Erkrankung«? Eckard Holler meint 2007 in seiner Waldecker Rede zur Stiftungsgründung*, bei Rohland sei die Gehirnblutung »vermutlich durch Überarbeitung ausgelöst« worden. Jetzt wissen wir es ganz genau.
~~~ Wäre es möglicherweise denkbar, auch die Angst hätte eine Rolle gespielt? 1976 startete ich meine eigene Laufbahn als Liedermacher in einer Kreuzberger Pizzeria. Wie ich dieses »Debüt« überleben konnte, ist mir noch heute ein Rätsel. Meine Finger zitterten wie Espenlaub; mein schlackernder Gitarrenhals verpaßte den am Podest Stehenden beinahe Ohrfeigen; in meinen Roots-Gesundheitsschuhen standen Lachen der Schweißperlen, die mir am Körper hinabrollten; mein Atem flog erheblich schneller, als ich die Worte meiner selbstgefertigten Texte stammeln konnte – und so weiter. SchauspielerInnen oder Prüflinge kennen auch weiche Knie und Herzklopfen. Doch wer all diesen Aufgeregten »Angst« bescheinigen würde, zöge sich ihr empörtes Fauchen zu. Es ist höchstens Lampenfieber.
~~~ Auch die »Nervosität« und der wahrlich inflationär gehandelte »Streß« verharmlosen die Angst, wie ich glaube. Einen Menschen, der sich bewähren soll, plagt zumindest die Angst vorm Versagen. Da auch Nieren oder das Herz versagen können, liegt die Vermutung nahe, Kern jeder Angst sei Todesangst. Seelenärzte wie Freud und sein abtrünniger Zögling Jung, wie Wolfgang Schmidbauer oder H. E. Richter stimmen darin tatsächlich überein. Angst bewirkt das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden, und an deren Ende winkt das Nichts.
~~~ Sollte sich Rohland tatsächlich »überarbeitet« haben, wäre zumindest die Frage berechtigt: warum tat er dies? – »Aus Geldnot«, ist die bequemste Lösung. Eher saß ihm doch irgendetwas im Nacken, das ihm Unruhe, Schuldgefühl, Getriebensein, bohrenden Ehrgeiz bescherte. Niemand wird Liedermacher oder sonst ein Künstler wie ein Freund der Bäume und Hölzer Schreiner wird. Alle KünstlerInnen sind eigentlich schon vom ersten frühen Probestück an Kandidaten für jenes Lexikon der Frühverstorbenen**, das mir einmal vorschwebte. Ausnahmen bestätigen die Regel, wie immer.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H. R.), 2022
* Eckard Holler auf https://archiv.folker.de/200704/11rohland.htm
** Nur Leichen unter 40
Die vielseitige rumänisch-schweizer Künstlerin Aglaja Veteranyi (1962–2002) stammte aus einer Zirkusartistenfamilie, Mutter Akrobatin, Vater Clown. 1967 aus dem »kommunistischen« Rumänien geflohen, lebte Veteranyi seit 1977 mit ihrer Mutter in der Schweiz. Hier gelang es der faktischen Analphabetin, sich Deutsch beizubringen und eine Züricher Schauspielschule zu besuchen. Ab 1982 war sie sowohl als Schauspielerin wie als Schriftstellerin tätig. Sie unterrichtete auch Schauspiel. Doch als ihre wesentliche Überlebens-Waffe erwies sich das Schreiben. Zumal ihre autobiografisch geprägten Texte, in denen ihre schwere Kindheit und ihre Sprachheimatlosigkeit zum Ausdruck kamen, wurden gelobt und mit einigen Auszeichnungen bedacht. 1999 erregte sie bei einem Wettbewerb Aufsehen mit Auszügen aus ihrem »Roman« Warum das Kind in der Polenta kocht, der noch im selben Jahr bei einem Stuttgarter Verlag herauskam. 2001 geriet sie in eine »psychische Krise«, vielleicht auch »Psychose«, der sie offensichtlich nicht gewachsen war.
~~~ Während einige Quellen in unverschämter Allgemeinheit davon sprechen, Veteranyi habe »ihre Ängste« nicht mehr ausgehalten (hinter welchem Selbstmord stünden keine Ängste?), wird lediglich WDR-Redakteur Ludwig Metzger in einem Filmporträt von 2003 konkreter. Danach* erlebt das kleine Mädchen die Bukarester Zirkuswelt (»Staatszirkus«!) keineswegs als romantisch, vielmehr rauh und hartherzig. Vom Betriebsklima einmal abgesehen, ist der Vater »ein finsterer Clown«, und die Mutter wird an ihren Haaren in die Zirkuskuppel gezogen, wo sie dann, aufgehängt, im Scheinwerferkegel kreist und dabei auch noch jongliert und so weiter. Das ist alles für viel Angst gut. Nach der Flucht und der Scheidung der Eltern wird es nicht unbedingt besser. Veteranyi bleibt bei der Mutter. In Spanien muß die Halbwüchsige als langhaarige, mehr oder weniger entblößte Varieté-Tänzerin auftreten. Ihr letzter Lebensgefährte N., der zunächst, in Zürich, nur ihr Schüler war, spricht im Hinblick auf die ganze Kindheit und Jugend seiner Geliebten nicht unzutreffend von »Mißbrauch«. Aber ihr Schicksal beeindrucke auch durch einen »exotischen« Zug, räumt er ein. Endlich in der Schweiz an die Schauspielschule gelangt, kommen Veteranyis verdammten Haare endlich ab. Seitdem ist die junge, gut gebaute Künstlerin im schelmischen (dunklen) Bubilook zu sehen. Einmal hat sie, nach 20 Jahren, auch ein Wiedersehen mit ihrem Vater, der beim Münchener Zirkus Roncalli auftritt. Sie sprechen sich aus und versöhnen sich nahezu. Bald darauf stirbt der finstere Clown. Zu spät.
~~~ Veteranyis »Psychose« setzt 2001 nach einer Sommerreise ins heimatliche Rumänien ein. Ohnehin heißer Boden, recherchiert sie dort auch noch über Friedhöfe, Totenkult und Klageweiber. N. meint, eine gewisse »Todessehnsucht« seiner Gefährtin sei wohl unverkennbar gewesen. Jetzt »zerfällt ihr Gesicht«, statt des Herzens sitzt ihr »ein Loch« in der Brust, sie hat Angst zu ersticken, ihre Augen werden »trocken«. Wegen ihren Panikanfällen und sonstigen Qualen sucht sie zahlreiche Ärzte auf, von der Schulmedizin bis zum Wunderheiler. Mehrere sagen, ihre Beschwerden seien »psychosoma-tischer« Natur, sie liege mit sich selber in Unfrieden. Derweil scheint der Wahn zuzuschlagen. So hat sie unter anderem befürchtet blind zu werden, nimmt Salbe – und zuletzt läßt ihr Augenlicht in der Tat nach. KünstlerInnen verfügen meist über eine gute Einbildungskraft. Bei alledem schwindet auch Veteranyis Hoffnung; sie unternimmt erste Selbstmordversuche. Eine in Metzgers Dokumentation abgespielte Tonbandkasette, auf der sie von ihren Nöten spricht, ist erschütternd. In einer Februarnacht des folgenden Jahres stiehlt sich die 39jährige von der Seite ihres schlafenden Gefährten, klemmt einen Besen in die geöffnete Haustür und geht an einen nahen Steg am Zürichsee, auf dem die beiden schon oft saßen. Dort wird sie vormittags entdeckt, ertrunken im seichten Wasser liegend.
~~~ Da die Tänzerin durchaus schwimmen konnte, ist anzunehmen, sie trug Sorge dafür, rasch unterzugehen. So liest man beispielsweise von Entschlossenen, sich einen mit Steinen gefüllten Rucksack überzuziehen. Ob Drogen helfen, weiß ich nicht. In Veteranyis Fall hat vielleicht auch die Wassertemperatur »geholfen«. Sie beträgt im Zürichsee im Schnitt für den Monat Februar fünf Grad. Nun stelle man sich einmal die finstere Kälte vor, der sich diese verzweifelte Frau in jener Winternacht »anzuvertrauen« hatte!
~~~ Am Film wirkt auch Veteranyis Schwester mit, eine Zirkusartistin, die vermutlich denselben Vater hatte, eben jenen, für Veteranyi »finsteren Clown«. Die Schwester brachte sich nicht um. Ich nehme an, der Vater spielte die verhängnisvollste Rolle auf Veteranyis Weg in die »Psychose«. Von ihrem späteren, schweizer Werdegang her hatte sie eigentlich keinen »klassischen« Anlaß, sich zu ängstigen, mit ihrem Schicksal zu hadern, vor dem Leben zu flüchten. Es war ihr ja gewogen. Sie kam als Künstlerin gut an, hatte einen verständnisvollen Partner und Liebhaber, offenbar auch keine Geldsorgen. Zweifelte sie dennoch »an der Realität«, wie schon als Zirkuskind, dann eben wegen ihrer biografischen und genetischen Wurzeln – die sie offensichtlich anders als ihre Schwester erfährt und mitsichführt.
~~~ Durch eine merkwürdige Besessenheit des »finsteren Clowns«, auf seinen Urlaubsreisen mit Kind und Kegel kilometerweise (teure) »Super-8«-Schmalfilme zu drehen, wird er nicht gerade lichter. Er dreht überwiegend Horrorfilme, wo er zischende Schlangen zertreten und seine Töchter aus den Klauen dunkelhäutiger, sie entfüh-renden »Buschmänner« retten muß. Möglicherweise hatte Veteranyi auch jene »Todessehnsucht«, von der N. spricht, von ihrem Erzeuger – aus Angst vor ihm. Aber wer weiß das schon. Theoretisch käme ja auch N. selber als »Unhold« in Frage, obwohl er im Film sowohl tapfer wie souverän auftritt. KritikerInnen könnten Metzgers Film vorwerfen, zu einseitig vorzugehen, weil er keine (vergleichweise) unbefangenen Zeugen zu Wort kommen läßt und damit zum Beispiel auch nicht beleuchtet, wie glücklich oder unglücklich Veteranyi in ihrer letzten großen Liebschaft war.
~~~ Sollte N. kein Unhold gewesen sein, hatte er vermutlich viel auszuhalten, und das wahrscheinlich schon vor jenem Besuch rumänischer Friedhöfe. Ich habe den Verdacht, mit Veteranyi hätten wir im Grunde »nur« den klassischen unbefriedeten, jederzeit von Zerfall bedrohten Künstlertypus vor uns, der alle Mühe hat, sich für ein paar Jahre oder Jahrzehnte zusammenzuhalten. Das schlösse dann viel Widersprüchlichkeit und viel Schwanken ein. Es deutet sich auch auf der erwähnten Tonbandkasette an. Bleibt solch ein Mensch ungeliebt (erfolglos), leidet er; wird er aber geliebt und gefeiert, leidet er ebenfalls: an seinen Schuldgefühlen seiner Bevorzugung wegen. Prompt grämt er sich auch dann, wenn einer seine Bedrängnis zu teilen und zu lindern versucht: weil er diesem zur Last fällt. Und es stimmt ja leider auch. Die Anstrengung, die man mit solchen Menschen hat, ist so wenig eingebildet, wie es die »Schmerzen« sind, von denen Veteranyi auf dem Tonband spricht. Furchtbar. Aber vielleicht hat sie ja Frieden gefunden.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H. R.), 2022
* Hier Himmel – Aglaja Veteranyi, rund 70 Minuten, erstmals im Oktober 2003 auf 3sat zu sehen
Als Sohn eines Goldschmiedes und als Kulturphilosoph mit Doktortitel konnte sich Otto Weininger (1880–1903) »seiner Leiblichkeit«, so die Grabinschrift, schlecht in irgendeinem Dickicht des Wiener Waldes oder in einem Wiener Bordell entledigen, zumal der österreichische Jude bereits für seine Sinnes-, Frauen- und Judenfeindlichkeit bekannt war. So nahm er sich am 3. Oktober 1903 ein Zimmer in Beethovens Sterbehaus in der Wiener Schwarzspanierstraße 15, um sich am folgenden Morgen ebendort zu erschießen. Erst im Juni war ein dickes Buch des 23jährigen »Genies«, wie manche noch heute meinen, erschienen: Geschlecht und Charakter. Weil es die angedeuteten feindlichen Positionen vertrat, hatte man eigentlich erhebliches Aufsehen erwartet. Tatsächlich schlugen die Wogen des öffentlichen Diskurses aber keineswegs so hoch, daß Weiningers Doktorhut europaweit unübersehbar gewesen wäre. Doch welcher Tumult und welche Umstrittenheit nach jenem tödlichen Schuß ins Herz! Bis 1909 erlebte Weiningers Werk schon 11, bis 1932 noch einmal 17 Auflagen.* Ob man es nun gut oder schlecht fand, man mußte es gelesen haben. Man mußte es nach jeder Lektüre entweder andächtig zwischen Kant, Nietzsche und all die anderen schieben oder über den verbissenen Fleiß staunen, mit der ein solch junger Mann die eigene hybride Verklemmtheit zum philosophischen Weltgebäude erhoben hatte. »An den Nachweis der Alogizität des absoluten Weibes hat sich der Nachweis seiner Amoralität im einzelnen zu schließen.« Hier sprach wahrlich ein Zu-kurz-gekommener, ein Ordnungs-fanatiker, ein Schubladenwüterich, wenn auch immerhin nicht ganz so hölzern wie Georg Simmel.
~~~ Wird Weininger gern angerechnet, er habe ja »das Weibliche« oder »das Jüdische« nur als Chiffren für Anteile benutzt, die grundsätzlich in jedem Menschen vertreten seien, rüttelt es selbstverständlich an Weiningers Verachtung der (eigenen) Schwäche und an seiner Verherrlichung von Kraft, der Idee des Staates, der Riesenopern Richard Wagners und dergleichen mehr um keinen Zentimeter. Der 20 mal bessere Schriftsteller Friedrich Georg Jünger hält ihm zudem (1972 in den Scheidewegen) zugute, immerhin sei er kein gewalttätiger Mensch gewesen, der etwa auf der Straße mit einem Knüppel auf die Juden, die Frauen oder die Politik- und Staatsverdrossenen eingeschlagen hätte. »Das Massive seiner Angriffe entspricht dem Zugriff, dem er sich ausgesetzt fühlt. Seine Polemik ist ein Akt der Selbstverteidigung und Notwehr. Ohne Angst ist der durchdringende Scharfsinn seiner Kombination nicht zu denken, und diese Angst wächst, bis sie Verzweiflung wird.« Wie sich versteht, konnte Weininger nichts für diese Angst und nichts für seinen Selbsthaß. Aber bei seiner Klugheit hätte er vielleicht wissen müssen, daß sie beide sowohl für die Wahrheitssuche wie für die Literatur stets der schlechteste Ratgeber sind.
~~~ Vielleicht fehlte den Weiningern, Mainländern, Michelstaedtern vor allem ein echter Freund? Das Verlangen zumindest des typischen Mannes nach einem solchen dürfte bekannt sein. Der echte Freund ist der uns vorbehaltlos Anerkennende. Damit wäre der erste Kandidat für diese Rolle eigentlich stets der eigene Vater, aber mit dem läuft es meistens schief. Ignoriert er den Sprößling nicht gerade kaltblütig, tyrannisiert er ihn. Seit Sigmund Freud prügelt er nicht mehr so oft, droht jedoch umso hartnäckiger mit »Liebesentzug«. Das Heimtückische an den väterlichen Freunden liegt in der Paarung des Liebenswerten an ihnen mit ihrer Machtstellung. Deshalb hat der Sprößling später, falls er dem Alten in die »Freiheit« entkommen ist, erhebliche Schwierigkeiten, Anerkennung woanders als bei »Autoritäten« zu suchen. Ich spreche natürlich aus eigener Erfahrung. An mir vorüberziehen zu lassen, wievielen namhaften Leuten ich bereits hinterhergerannt bin, bereitet mir immer mal wieder einige Röte im Gesicht, die nicht von der Sonne stammt. Selbstverständlich begehrte man da auch stets rasch auf, sofern es gelegentlich zu einer näheren Beziehung kam. Diese Autoritäten haben es ohne Zweifel nicht leicht. Sie werden von dem, der ihre Freundschaft sucht, gleich doppelt berannt: von einem Bettler um Liebe und von einem Mörder.
∞ Zuerst in Nasen der Weltgeschichte (Blog H. R.), 2022
* Joachim Riedl, https://www.zeit.de/1985/50/weib-jude-ich-weg-mit-allem, 6. Dezember 1985
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