Dienstag, 22. November 2022
Achse und das Putzmobil
ziegen, 20:21h
Die vorbeiziehende Hügellandschaft erinnerte Achse schmerzlich an das Farbfoto von einem majestätischen Segelschiff, das die Gugenstriegels auf ihrem Klosett angepinnt hatten. Das waren noch Kirschenzeiten gewesen. Jetzt lag Schnee, weshalb sich Tinker nur noch bruchstückhaft von der Gegend abhob. Da Achse kutschieren mußte, froren ihm bald die Finger ab, die nur in dürftig gefütterten Arbeitshandschuhen aus billigem Leder steckten. Die hatte er auf Muffels Schrottplatz mitgehen lassen – während die viele Kohle, die sie durch Verbrecherjagd verdient hatten, längst zerronnen war. Den winterschläfrigen Doktor focht es wenig an. Er schnarchte in Achses Rücken so ohrenbetäubend, daß sich immerhin auf dem Faltdach kein Schnee hielt. Gegen den Hunger behalf sich Achse mit herabgesetzten Schokoladen-weihnachtsmännern aus dem Supermarkt, während Tinker seit Tagen Heu aus Rehraufen fraß.
Beide schöpften Hoffnung, als sich die Landstraße in ein altes Städtchen senkte. Drei Sandsteinbrücken überspannten einen Fluß, auf dem ein paar Eisschollen trieben. Jenseits des Flusses stiegen die Häuser wieder zu einer ziemlich mächtigen Kirche an. Der Bahnhof schien unmittelbar am Fluß zu liegen. Ob die Ortschaft womöglich Dreibrücken hieß? Aber das Wort war wohl zu lang. Jetzt brachte Achse Tinker in Höhe des gelben Ortsschildes recht unvermittelt, wenn auch mit Arglist zum Stehen. Prompt flog der schnarchende Doktor von der hinteren Polsterbank auf die vordere, worauf er verdattert seine feine Nase unter dem Faltdach hervorschob.
»Guten Morgen«, sagte Achse und deutete mit der Peitsche auf das Schild. »Soll ich dir meine Gemütsver-fassung offenbaren ..?«
»Mißmut«, knurrte Zett.
»Du sagst es. Lesen kannst du also noch, trotz der vielen Träumerei … Wenn ich mich nicht irre, haben sie hier den bekannten Billardclub: Aue Mißmut. Denen sind bestimmt schon die Kugeln festgefroren.«
Zett hatte von Billard keinen blassen Schimmer. 15 Meter weiter stand allerdings noch ein Schild, ein weißes, das unter anderem das Pictogramm einer Kirche zeigte. Zett deutete auf es und flötete: »Gottesdienst sonntags 10 Uhr … Wäre das nichts für dich, Achse? Wie oft hast du schon deinen Vater verflucht! Jetzt könntest du beichten. Vielleicht haben sie ja sogar geheizt.«
»Stimmt«, gab Achse zu. »Da sollten wir uns gleich mal nach dem Tag und der Uhrzeit erkundigen.«
»Pah!« erwiderte Zett verächtlich.
Er kletterte endlich auf den Kutschbock und zückte sein linkes Handgelenk so prahlerisch, daß Achse fast einen Kinnhaken eingesteckt hätte.
»Sonntag 27. Januar 9 Uhr 57 und 23 Sekunden«, las Zett von seiner neuen Armbanduhr ab. »Wahnsinn.«
Der Doktor hatte sich von ihrem Anteil an der erwähnten Belohnung – den Rest hatte der Eiermann an seine beiden Künstlerfreunde abgetreten – diese sündhaft teure Armbanduhr gekauft. Sie war aus Platin, diente auch als Wecker und Stoppuhr und mußte nie aufgezogen werden. Das kam Zetts natürlicher Neigung zur Faulheit ohne Zweifel entgegen. Inzwischen hatte er seine Stirn in Falten gelegt und starrte zum Kirchturm. Dessen verschneite Haube ähnelte einer Bäckermütze. Zett stieß Achse an:
»Hörst du etwas?«
»Was soll ich denn hören?«
»Glocken«, erwiderte Zett selbstgefällig. »Findet um 10 der Gottesdienst statt, müssen fünf Minuten vorher die Glocken läuten. Das ist schon immer so üblich. Leider erteilte mein Alter auch mit Begeisterung Religions-unterricht und scheuchte mich und Heidi jeden Sonntag in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett.«
»Was du nicht sagst ..!« gab Achse grinsend zurück. »Aus demselben Bett ..?«
Zett winkte nur unwirsch ab. Seine Schwester Heidi war eine Kratzbürste gewesen.
»Und was schließt du aus deiner sensationellen Beobachtung?« hakte Achse nach. »Aus dem fehlenden Geläute, meine ich ..?«
»Daß es in dieser Kirche nicht mit rechten Dingen zugeht! Wir könnten ja einmal kurz vorbeifahren um nachzusehen, Achse. Sollte alles in Ordnung sein, hat die Frau Pfarrer vielleicht ein Herz und steckt uns ein paar Klappstullen
zu …«
2
Die mächtige Kirchentür aus Eiche besaß zwei abgerundete Flügel. Links oben stand Aue, rechts oben Mißmut auf der Tür. Unter dem Namen waren zwei gekreuzte Stöcke zu sehen, die ein großes X bildeten. Als sie mit vereinten Kräften den rechten Türflügel aufzogen, wurde das X genau in der Mitte senkrecht geteilt. Da der Eingang im untersten Geschoß des Turmes lag, hatten sie noch eine weitere Tür zu bewältigen. Sie war sogar verglast, allerdings über Zetts Huthöhe. Dann standen sie staunend in einem riesigen, vor allem hohen Saal, in dem sich tatsächlich etliche BillardspielerInnen tummelten. Wegen der Raumwucht erinnerten sie ein wenig an Zierfische, steckten die meisten doch in weißen Hemden und blauen Westen.
Die oval wirkende Mißmuter Stadtkirche hatte sage und schreibe drei umlaufende Emporen und eine Decke, die als Himmelskuppel ausgemalt war. Der Fußboden glänzte mit Intarsien aus reinstem Marmor verschiedener Farben. Irgendein Kirchengestühl gab es nicht. Stattdessen waren sechs Snookertische zu sehen, die hufeisenförmig zum ehemaligen Altar hin angeordnet waren. Unter den Emporen standen vergleichsweise winzige, runde Tische wie in Eisdielen. An mehreren Snookertischen wurde gespielt. Andere Leute tranken Milchkaffee, lasen Zeitung oder unterhielten sich mit gedämpften Stimmen. Hin und wieder gab es auch einen Knall, weil jemand eine Rote oder Bunte mit einem scharfen Rückzieher versenkte. Das Klima in dieser ehemaligen Kirche roch nach Höflichkeit und unangespannter Konzentration.
Zett rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen, gähnte, klopfte seine Anzugtaschen ab und nickte auf die Bar, die im Chorraum anstelle des Altars zu sehen war:
»Irgendwo müßte ich noch ein paar Centstücke haben, Achse. Laß uns mal fragen, was hier der Espresso kostet.«
Die Bar wurde von einem jungen, drahtigen Mann betreut, der seine braune Mähne mit gespreizter Hand nach hinten zu rechen pflegte. Sein Espresso war ähnlich feurig wie er selbst, wenn auch schwarz. Achse hielt den Barmann zunächst für einen arbeitslosen Filmschauspieler, bis er ihnen verriet, er sei der Sohn des Küsters. Moritz Stuppach hieß der Sohn.
»Sehr interessant«, sagte Zett mit vorsichtigem Nicken, um nichts zu verschütten. Sie thronten jetzt auf Barhockern. »Wir heißen Zett und Achse, wenn ich einmal meinen Doktortitel vernachlässigen darf … Ich nehme an, der Herr Papa liegt noch im Bett, weil er heute nicht läuten mußte ..?«
»Mehr noch«, erwiderte der junge Stuppach ungerührt, während er Gläser polierte. »Er liegt in der Kiste.«
Achse nahm erschrocken die Hand vor den Mund. Wenn er derart vom Tod seines Vaters sprach, mußte er ein ziemlich hartgesottener Bursche sein.
»Er war zu alt?« wollte Zett wissen.
»Nein. Zu fromm. Moogs Reform kam für meinen Alten einem gotteslästerlichen Umsturz gleich, das überlebte er nicht. Sie brach ihm wortwörtlich das Herz.«
»Moog? Wer ist das?«
»Der Pfarrer.«
Stuppach deutete mit dem Geschirrhandtuch zu einem entfernten Snookertisch. »Der Dicke, der gerade die Pink aufs Korn nimmt. Hänschen Pömmeritz ist nicht zu beneiden. Sie spielen erst seit 20 Minuten und Moog führt bereits 2:0.«
Von weitem wirkte der Pfarrer eher gemütlich. Achse erkundigte sich deshalb nach jenem »Umsturz«, den er angeblich angezettelt hatte. Stuppach umriß ihnen die Sache gern. Bekanntlich schlage das traditionell schadensreiche Wirken der Institution Kirche in jüngerer Zeit in den Zustand der Überflüssigkeit um. Ihre Bosse wollten dies natürlich nicht wahrhaben. Dagegen sei Pfarrer Moog vor rund zwei Jahren konsequent genug gewesen, den letzten sieben Gemeindemitgliedern zu eröffnen, ab sofort sei der scheinheilige Betrieb eingestellt. Das Kirchengebäude selber erklärte Moog für enteignet. Es ging in das Vereinsvermögen von Aue Mißmut über. Der Billardverein trage auch die schmalen Gehälter und die sonstigen Kosten dessen, was Moog sich unter Berufung auf König David nicht scheue, die »einzig wahre fruchtbare Friedensarbeit« zu nennen.
Zett kratzte sich zwischen Ohr und Hutkrempe und blickte leicht verwirrt über die im Oval aufgestellten grünbe-spannten Tische, um welche die SpielerInnen mit ihren offensichtlich kerzengeraden Holzstöcken schnürten. »Furchtbare Friedensarbeit im Sinne König Davids, sagten Sie ..?«
Stuppach grinste. Er griff unter die Theke und warf eine Bibel auf die von ihm soeben erst gewienerte Platte. »Sie können gern einmal nachschlagen. Psalm 23! Wissen Sie, wo die Psalmen stehen ..?«
»Pah!« schnaubte Zett und riß das schwarze Buch an sich. »Ich bin Sohn eines Lehrers, zudem prommofierter Theologe!«
Schon suchte er das Inhaltsverzeichnis nach dem Psalter ab, ließ die entsprechenden Seiten stieben und hieb seine Faust endlich auf den 23. Psalm. Dann rezitierte er in seinem feierlichsten Ton:
»Ein Psalm Davids, vorzüglich zu Gehör gebracht von Doktor Meingard Zett … Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Und ob ich selbst wanderte durch ein finsteres Tal, ich fürchte kein Unglück, denn er ist bei mir, sein Stecken und Stab trösten mich. Aha, das ist der Billardstock … Er bereitet mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Großartig! Er salbt mein Haupt mit Öl und ölt mein Mundwerk mit Achses ewiger Heißen Schokolade und schenkt mir reinen Wein in Massen ein …«
»Na sehen Sie!« deutete der beleibte Pfarrer schnaufend auf die Theke. Er hatte Moritz Stuppach im Näherkommen Zeichen gemacht, sodaß nun drei gefüllte Weingläser auf der Theke standen.
Moog trank den beiden Gästen zu und sagte aufgeräumt: »Ich hoffe, Sie beehren uns noch ein gutes Weilchen. Wie mir nämlich zu Ohren kam, sind Sie auf eine sehr interessante Weise angereist. Auf welchen Namen hört denn Ihr Pferdchen?«
Achse hatte lediglich an seinem Weinglas genippt. »Woher wollen Sie denn wissen, wie wir angereist sind?« erwiderte er mißtrauisch. »Sie waren doch eben noch in Ihr Spiel vertieft.«
»Ja und nein«, wog Pfarrer Moog sein ziemlich kahles Haupt. Obwohl erst wenig über 40, trug er nur noch ein Haarkränzchen von Ohr zu Ohr. Er lupfte ein Handy, das in der Brusttasche seiner dunkelblauen Weste steckte, und erklärte:
»Meine Kinder teilten mir mit, Sie hätten ein riesiges, schwarzweiß geflecktes Pferd, das man sicherlich auch vor den großen Schlitten spannen könnte, den wir noch von meinem seligen Großvater Anselm Moog her aufbewahren. Ich soll sie unbedingt bequatschen oder verhaften. Was halten Sie davon? Selbstverständlich wären Sie meine persönlichen Gäste. Wir haben im Pfarrhaus Platz genug.«
3
Keine Woche später stand Doktor Zett bereits im Sportteil der Lokalzeitung – sogar mit Foto. Moritz Stuppach hatte ihn neu eingekleidet, sodaß er jetzt gleichfalls blaue Weste trug. Zett hatte sich unerwartet als sehr begabt und gelehrig erwiesen. Inzwischen war er dem Spiel mit den vielen roten und bunten Kugeln zwischen den vier Banden bereits bis hart an die Suchtgrenze verfallen. In dem kleinen Artikel hieß es, mit Dr. Meingard Zett aus Böm-mersrode habe Aue Mißmut eine echte Verstärkung an Land gezogen. Zett beabsichtige, bereits am kommenden Wochenende am traditionellen Fastnachtsturnier teilzunehmen. Bekanntlich werde bei dieser Gelegenheit auch Mißmuts VertreterIn bei den diesjährigen German Masters in Bad Wildungen ermittelt. »Für die meisten sachkundigen BeobachterInnen kann er nur wie im Vorjahr Jonathan Moog heißen. Allerdings gibt es auch ernst zu nehmende Stimmen, die dem jungen Moritz Stuppach eine Überraschung zutrauen, falls er seine bestechende Form aus den Ranglistenbegegnungen dieses Winters halten kann.«
Bezog der Sportredakteur ausdrücklich Vertreterinnen in die Rechnung ein, war es wohl nur dem neuen Sprachge-brauch geschuldet, den die rotgrüne Bundesregierung um 2000 eingeführt hatte, weil die Automobilfabrik des ehemaligen Wehrwirtschaftsführers Ferdinand Porsche händeringend Fahrerinnen suchte. Die Fahrer hatten sich zu oft totgefahren. Faktisch ließen die Damen von Aue Mißmut sehr an Biß zu wünschen übrig. In der Vereinsrangliste fand sich die beste Frau erst auf Platz Sieben. Sie hieß Silke Lorbutter und bestritt ihren Lebensunterhalt als Vereinsorganistin. Zwar gelang es ihr nicht, Achse für das Snookerspiel zu erwärmen, doch dafür entbrannte der kleine Rotschopf jäh für die gewaltige Orgel, die dem Altar gegenüber sämtliche drei Emporen zu sprengen schien. Das war nun doch etwas anderes als Achses verbeulte Mundharmonika. Silke Lorbutter, um 30, war es nur recht, einen begabten Orgelschüler zu bekommen, der bewundernd zu ihr aufblickte. Sie besorgte ihm sogar ein Paar moderne dicksohlige Schuhe, die ungefähr wie Omas Dampfbügeleisen aussahen. Damit kam Achse recht gut an die Fußpedale. Schon nach zwei Unterrichtsstunden konnte er sein Lieblingsvolkslied Jetzt kommen die lustigen Tage mit Baßlinie und gezogenem Eunuchen-Register erbrausen lassen. Lorbutters Lob ließ ihn gleich erneut um ein paar Zentimeter wachsen.
Ein Psychologe meinte Jahre später zu Achse, an der Orgel hätten ihn – er meinte Achse, nicht Lorbutter – wahrscheinlich hauptsächlich die fetten Pfeifen und allgemein die enorme Potenz fasziniert. Das decke sich ja auch mit den Träumen, von denen Achse erzählt habe. Da trieben die Orgelwinde ganze Meuten von Neufundländern in die Flucht, und wenn sie ein großer Mann mit Zuchtpeitsche aufhalten wollte, rissen sie ihn einfach mit in den nächsten Abgrund. Als Bibel jenes Psychologen stellte sich Freuds Traumdeutung heraus …
Neuerdings schlug die fesche Vereinsorganistin sogar vor, mit den Lustigen Tagen – von Achse angestimmt – das kommende Fastnachtsturnier zu eröffnen. Ursprünglich hatte sie dafür ihre Bearbeitung von A. E. Chabriers Joyeuse Marche vorgesehen, doch diesen Schwierigkeits-grad würde Achse trotz seiner Begabung kaum in wenigen Tagen meistern. Lorbutter machte in ihren Adaptionen vor nichts Halt. Während das Weihnachtsturnier von Wagners Tannhäuser-Overtüre geprägt worden war, spielte sie zum Kids-Championat Mitte Januar (Altersklasse 5 bis 12 Jahre) mit Ihr Kinderlein kommet auf. Ranglistenbegeg-nungen rahmte sie gern mit Schnulzen wie Marmor, Stein und Eisen bricht / aber unser Billardstock nicht oder linksradikalen Liedern ein. Viele Stücke waren unter den Spielern so gut bekannt, daß auswendig mitgesungen werden konnte. Beim Rauchhaus-Song der Ton Steine Scherben (»das ist unser Haus«) schwankten sämtliche Tischbeleuchtungen und die Kanzel noch dazu. Dagegen waren Musik oder sonst ein Lärm während der Spiele selber streng verpönt. Dann herrschte gewissermaßen noch die Andacht der verflossenen Gottesdienstzeiten.
Gott sei dank war die alte Kanzel nicht mehr einsturzgefährdet. Sie ruhte ursprünglich nur auf zwei Balkenstümpfen, die nahe des Altarraumes in Höhe der ersten Empore in die Sandsteinmauer eingelassen waren. Kaum war Moog (um 1990) an die Mißmuter Stadtkirche berufen worden, begannen sich diese Träger zu lockern. Moog war einfach zu beleibt. Nach der sogenannten Wende 2003 – die Mißmuter SportlerInnen enteigneten das Gotteshaus, ohne sich dadurch der Erzengel Feuer & Schwert zuzuziehen; nur der Bischof tobte – nach dieser friedlichen Wende also nahm der beflügelte Moog zusätzlich die Gewohnheit an, die Siegerehrungen durch eine Art Blitzpredigt einzuleiten, zu derem Zwecke er wie ein zum Dichterroß umgewandeltes Brauereipferd auf die Kanzel stürmte. Dabei ächzten die alte Holztreppe und Moog um die Wette. Die Kanzel schwankte wie ein Mastkorb. Als die ersten Putzfladen von ihrem Unterboden herabfielen, schritt Küster Moritz Stuppach endlich ein. Zum Glück hatte er seine Lehre zum Maschinenschlosser noch beenden können, bevor Kanzlerin Merkel Franz Münzefering zum Bundesarbeitsminister machte. Stuppach stützte die Kanzel mit zwei eisernen Wäschepfählen ab, die er im Pfarrgarten gefunden hatte. Auf ihre Enden hatte er gelochte Platten geschweißt. So konnte er die Stützen oben in den Kanzelbalken, unten mit Hilfe von Dübeln im Steinfußboden anschrauben. Die jeweils vier Schrauben – im ganzen also 16 – hatten Sechskantköpfe für Maul- oder Ringschlüssel.
Stuppach war gewiß ein vielseitig begabter und erfindungsreicher junger Mann. Die gekreuzten Billardstöcke auf der Flügeltür des Kirchenportals stammten aus seinem Pinsel. Wie Jesus Wasser zu Wein, hatte er den Altar in die Bar verwandelt. Er hatte die Freigabe des Gesangbuchs für Handyerkennungsmelodien angeregt, den Putzdienst an die Vereinsrangliste gekoppelt, die Kirchenglocken an das Kasseler Museum für Sepulkralkultur verkauft. Von dem Erlös konnte Aue Mißmut die Snookertische 5 & 6 anschaffen, Kostenpunkt immerhin 12.000 Euro. Die Kopplung von Putzdienst und Ranglistenbewegung war erstaunlich herrschaftsfrei ausgetüftelt; sogar anarchistische Siedlungen im schottischen Hochland hatten Lizenzen erworben. Andererseits war das Putzen für jeden kinderleicht, weil Stuppach von dem Glockenerlös auch ein kleines, flottes Putzmobil angeschafft hatte. Von einem Aku angetrieben, war es über jedes handelsübliche Handy steuerbar. Dieser Roboter sah ein bißchen wie ein Spielzeugpanzer aus, doch wer ihn von der Kanzel oder der Orgelbank aus befehligte, hatte kein schlechtes Gewissen zu befürchten. Stuppach war so gut auf das Putzmobil eingespielt, daß er die riesige Kirche in 20 Minuten geputzt hatte, falls er daran glauben mußte. Er trainierte auch die anderen darin.
Stuppachs entscheidende Leidenschaft galt freilich dem Snookerspiel. Im Gegensatz zum Putzmobil war Stuppachs Ehrgeiz nicht zu bremsen. Der Umstand, gegen Moog in drei von vier Begegnungen den Kürzeren zu ziehen, wurmte den jungen Küster Tag und Nacht. Er drohte bereits von Schlaftabletten abhängig zu werden. Als Zett und Achse in Mißmut eintrafen, war er völlig von dem Nahziel beherrscht, das Fastnachtsturnier zu gewinnen und damit sowohl die Fahrkarte nach Bad Wildungen wie den Sprung ins Eurosport-Fernsehen zu erringen. Aber wie?
4
»Himmel – du bist ein gesinnungsloser Lump!« fluchte Achse empört. Das kam selten bei ihm vor. Jetzt hatte er sogar die Fäuste in seine dürren Hüften gestemmt. Es ging um das Doppelstockbett im Gästezimmer des Pfarrhauses. »Du bist schlimmer als vier Rottweiler auf einem Haufen! Gegen deine Falschheit war Evas Schlange ein Seidenräupchen! Mach' dich sofort da oben raus!«
Zett dachte gar nicht daran. Die Hände im Nacken verschränkt, lag er der Länge nach auf dem oberen Bett und musterte interessiert die vergoldeten Stuckleisten und Rosetten der Zimmerdecke. Als Achse noch einmal im Badezimmer verschwunden war, um sich die Zähne zu putzen, hatte er die Gelegenheit zum widerrechtlichen Bettausch genutzt. Bei Stein-Schere-Papier hatte er nämlich verloren, sodaß er mit dem unteren Bett Vorlieb nehmen mußte. Doch er war zu scharf auf das obere Bett. Morgen früh begann das Fastnachtsturnier, und eine Übernachtung in großer Höhe konnte ja, aus mentalem Blickwinkel betrachtet, nur dazu beitragen, ihn mindestens bis ins Viertelfinale zu befördern. Gestern hatte er sogar Moog einen Frame abgenommen und dabei sein erstes Half-Century-Break erzielt; 52 Punkte in Serie hatte er Moog um die Ohren gehauen! In den verschneiten Feldern hatte er auch dessen Sprößlingen gegenüber eine hervorragende Figur gemacht. Sie waren von seinen Kutschierkünsten hin- und hergerissen gewesen. Als sie die Fährte eines Fuchses kreuzten …
»Herzlose Mißgeburt!« zischte Achse wütend. Dann spuckte er in das untere Bett, machte auf dem Absatz kehrt und warf die Zimmertür hinter sich zu.
All das Fluchen und Flehen war an Zetts neuer Kaltblütigkeit abgeprallt. Jetzt grinste er nur. Sollte sich's Achse doch im Badezimmer auf dem Eisbärenfell gemütlich machen! Da hatte er's auch zum Pinkeln nicht so weit. Achse hatte jedoch beschlossen, in der Kirche Zuflucht zu suchen. Da es schon fast Mitternacht war, kam es natürlich nicht in Frage, Orgel zu spielen. Streckte sich Achse aber zum Schlafen auf der Orgelbank aus, wurde vielleicht dem Lampenfieber die Spitze abgebrochen, das ihn spätestens nach dem Frühstück befallen würde. Denn für 9 Uhr stand ja sein großer Auftritt mit Jetzt kommen die lustigen Tage bevor. Frau Lorbutter hatte von »Dut-zenden« Zuschauern gesprochen, dazu die 64 gemeldeten SpielerInnen – für Achse wahrlich ungekannte Massen.
In der Diele des Pfarrhauses nahm er seinen Mantel, den Kirchenschlüssel und eine Taschenlampe vom Haken, die erfreulicherweise ebenfalls an der Garderobe hing. So brauchte er in der Kirche keine Festbeleuchtung zu veranstalten. Am Ende kam noch die Polizei angerast, weil der Pfarrer oder der Küster geargwöhnt hatten, jemand wolle die teuren Vereinsqueues mopsen!
Da auf dem Kirchhof Schnee lag und überdies der Mond schien, hielt sich die Dunkelheit in der Kirche allerdings in Grenzen. Den Weg zur Orgel hinauf hätte Achse ohnehin im Schlaf gefunden. Er ließ die Taschenlampe ausgeschaltet. Die Orgelpfeifen schimmerten fast wie Eiszapfen, doch Küster Stuppach hatte die Kirche gut geheizt. Seinen Mantel als Kopfkissen benutzend, streckte sich Achse rücklings ähnlich behaglich auf der Orgelbank aus wie der unverschämte Doktor im Oberstockbett. Er schnaubte verächtlich. Die Wonnen, in einer riesigen Kirche am Fuße mächtiger, versilberter Orgelpfeifen zu nächtigen, waren dem rohen Prahlhans tief verschlossen. Achse malte sich aus, in der größten Orgelpfeife wie auf einer Wendeltreppe empor zu streben, um schließlich als ein Engel aus ihr zu entweichen, der seiner ersten Goldenen Schallplatte entgegen strebte …
Achse wurde in seinen schlaftrunkenen Gedanken unterbrochen, als er von der Sakristei her Schritte hörte. Dadurch gerann seine Wonne ziemlich jäh zu einem Gruseln. Er hielt den Atem an. Leider konnte er nicht in das Kirchenschiff schielen, weil dazu die Brüstung zu hoch war. Doch dann fiel sein Blick auf den kleinen Spiegel, der über dem Notenpult der Tastatur angebracht war, damit die Organistin dem Pfarrer alle Wünsche von den Lippen ablesen konnte. Jetzt sah Achse darin eine dunkle, schlanke Gestalt auf die Kanzel zustreben. Sie erstieg sie allerdings nicht, sondern machte sich oben und unten an ihren beiden Stahlstützen zu schaffen. Schwache metallische Geräusche erklangen. Die Gestalt machte mit einem Arm Bewegungen wie beim Rudern oder Paddeln. Nach wenigen Minuten richtete sie sich wieder auf und ging zur Sakristei zurück. Jetzt konnte sich Achse endlich beruhigen, denn vor den hohen Chorraumfenstern erkannte er die biegsame Gestalt Moritz Stuppachs mit der im Nacken wippenden, bei Tage braunen Mähne.
Wahrscheinlich war dem Küster zu später Stunde irgend-eine versäumte Maßnahme für das Fastnachtsturnier eingefallen. Achse hörte noch schwach, wie die Hintertür verschlossen wurde, ehe er sich unter herzhaftem Gähnen auf die Seite drehte und einschlief.
5
Achse rutschte von der Orgelbank und trat, von Silke Lorbutters schiebenden Händen überredet, an die Brüstung. Er hatte soeben den Schlußakkord von Jetzt kommen die lustigen Tage gesetzt. Unten klatschten bald 100 Leute. Achse hob seine linke Hand und lächelte verlegen. Der Beifall verebbte.
Gleich würde Moog auftauchen, um das Turnier mit seiner berüchtigten Blitzandacht zu eröffnen. Seine Gemeinde lagerte vorwiegend unter den umlaufenden Emporen an den zahlreichen Cafehaustischchen. SpielerInnen schmirgelten ihre Queuekuppen oder kreideten sie ein, Gäste scherzten und schlossen Wetten ab, viele tranken Milchkaffee. Das Einschießen an den sechs Snookertischen (die eine Art Ei beschrieben) war bereits vor dem Orgelpräludium geschlossen worden. Die roten und bunten Kugeln lagen punktgenau auf ihren angestammten Plätzen und gaben außer Lichtreflexen keinen Mucks von sich. Es war angerichtet. Auf der ovalen Spielerbank, die im Zentrum des Kirchenschiffs (oder jenes Eis) zu sehen war, lagen sogar sechs Paare weißer Handschuhe für die SchiedsrichterInnen bereit.
Die beiden einzigen Spieler, die Achse näher kannte, waren nicht zu übersehen. Moritz Stuppach lehnte lässig an einer Säule und hatte das Handy am Ohr. Vielleicht gab er der Presse die Zulosungen der ersten Runde durch. Allerdings war er beileibe nicht der Einzige, der in der Kirche telefonierte. Ortsfremde konnten leicht denken, nach Snooker sei in Mißmut das Telefonieren Volkssport Nr. 2.
Zett dagegen trippelte unweit der Toilettentür nervös auf der Stelle und schien sein Queue mit einem Nordic-Walking-Stock für Einarmige zu verwechseln. Seine neue blaue Vereinsweste hatte er schon Dutzendmale auf- und wieder zugeknöpft. Er brannte darauf, sich ihrer würdig zu erweisen. Jetzt flog aber zunächst die Sakristeitür auf. Pfarrer Moog querte den Chorraum und stürmte die Kanzel. Zwar hatte auch er seinen mächtigen Brustkorb in eine sogar nur graue Weste gezwängt, doch auf seiner Nase saß, gleichsam als Tüpfelchen auf dem i, eine rote Kugel. Schnaufend oben angekommen, strich sich Moog mit beiden Händen sein schütteres Haarkränzchen zurück, als sei der Fahrtwind von hinten gekommen. Dann packte er die Kanzelbrüstung, als wolle er sie abreißen. Seine Glatze warf dabei Blitze. Nun hob er mit Donnerstimme an:
»Liebe Sportskameradinnen, liebe Sportsfreunde! Ihr wißt schon, warum ich euch niemals Kanonen nennen würde.«
Er pickte sich mit einem gekrümmten Zeigefinger auf die rote Knollennase und fuhr fort: »Hätte David an seinem Gummiband so etwas gehabt statt sich als Zwillenschütze zu versuchen, wären der Welt womöglich manche Massaker erspart geblieben. Laßt euch jedenfalls auch in Fastnachtszeiten nicht das Märchen von einem nach Frieden dürstenden Knaben David aufbinden, der die Welt von Monstern befreit. David wollte König werden, mehr nicht. Seine Auen waren röter als das Rote Meer: von Blut getränkt. Wir dagegen führen an diesen herrlichen grünen Tischen, die unter mir liegen, ein scharfes Queue, weil wir uns im Alltag lieber mit Sanftmut und Humor begegnen. Es ist noch keine vier Jahre her, daß …«
Moog unterbrach sich und starrte mit offenem Mund zur Seite, als habe ihn Satan jäh zur Salzsäule verwandelt. Die Sakristeitür war schon wieder aufgeflogen. Herausge-schossen kam das Putzmobil. Es raste in einem Affentempo auf die Kanzel zu. Nach vier oder fünf Sekunden prallte es gegen die erste Stütze. Die Stütze wurde weggeschleudert, worauf auch die zweite Stütze ein Opfer des Putzmobils wurde. Während das Putzmobil durch die Toilettentür krachte und verschwand, stürzte die Kanzel von der Wand. Ob Moog noch etwas sagte, war bei dem Aufschrei, der durch die Kirche ging, nicht festzustellen. Dafür sah Achse den Doktor und dessen Queue auseinanderkippen; offenbar fiel er gerade in Ohnmacht. Während er auf einige Splitter der zerborstenen Toilettentür sank, stürzten die ersten beherzten SpielerInnen zum Trümmerhaufen der Kanzel, um Moog zur Hilfe zu kommen. Er schien noch zu leben, denn ein zerschrammter Arm von ihm schwenkte den zerfetzten, weißen Hemdsärmel wie zum Zeichen der Kapitulation.
6
Stuppach hatte seinen verunglückten Chef sofort ins Krankenhaus gefahren. Neben etlichen Blutergüssen und einer Rippenquetschung wurde allerdings »nur« ein Schlüsselbeinbruch festgestellt. Damit war Moog verhältnismäßig glimpflich davongekommen. In seiner Erleichterung sagte er nach der Untersuchung zu Stuppach:
»Kein Satan wird mir das Fastnachtsturnier durchkreuzen! Fahre sofort zurück, beruhige die Leute und lasse das Turnier über die Bühne gehen, als sei nichts passiert. Wie es zu dem Unfall kommen konnte, werde ich nach meiner Rückkehr untersuchen.«
Küster Stuppach protestierte der Form halber, gehorchte dann jedoch. Als er nach zwei Stunden die Kirche wieder betrat, war der Trümmerhaufen zwischen Chorraum und Toilette unter Silke Lorbutters Anleitung bereits beseitigt worden. Stuppach überbrachte Moogs Botschaft; die Leute riefen »Hurra« und »lang soll er leben!«. Prompt holte Silke Lorbutter an der Orgel Chabriers Fröhlichen Marsch nach. Das saß! Kaum war das schmissige, schräge Stück verklungen, riefen die Leute abermals Hurra. Dann begann das Turnier.
Da Stuppach erst in der zweiten Runde anzutreten brauchte, nutzte er die Gelegenheit, die zertrümmerte Tür zu den Toiletten auszutauschen. Wie ihm ein unauffälliger Seitenblick zeigte, wurde sein barmherziges Werk auch an der Orgel beachtet. Dort saßen Silke Lorbutter und Achse. Auch Lorbutter hatte noch bis zur zweiten Runde Zeit. Achse spähte hin und wieder zu Tisch 5 hinab, wo sich der Doktor schweißtriefend mühte, gegen eine erst 19 Jahre alte Spielerin nicht gar zu alt auszusehen. Doch in erster Linie unterhielten sich die beiden auf der Orgelbank mit gedämpften Stimmen. Ihr Thema war das Unglück.
Achse hatte bereits bei den Aufräumungsarbeiten geholfen. Deshalb wußte er, die Organistin hatte sich geistesgegen-wärtig um eine gewisse Spurensicherung bemüht. Nun versuchten sie gemeinsam, daraus Schlüsse zu ziehen. Frau Lorbutter hielt fest:
»Du sagst ja selber, die Schrauben mit den Sechskant-köpfen waren noch da. Sie hingen teils in den Löchern der Stützenplatten, teils waren sie umhergeflogen. Das heißt, ein Sabotageakt durch Entfernen der Schrauben kann nicht vorgelegen haben.«
»Ja, schon … Nur ist denn so ein ferngesteuertes Putzmobil stark genug, die Schrauben aus ihren Verankerungen zu reißen?«
»Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, was dieser Spielzeugpanzer so wegdrückt. Da müßten wir Moritz Stuppach fragen. Was ich jedoch mit Sicherheit weiß: die Verankerungen zeigten keine Spuren von Gewaltan-wendung. Sowohl die Schraubenlöcher in den Balken wie die Dübel im Steinfußboden waren unbeschädigt. Hätten die fallenden Stützen die Schrauben herausgerissen, wäre doch Holz abgesplittert und der eine oder andere Dübel herausgeflogen. Aber nichts dergleichen habe ich feststellen können.«
»Ach«, sagte Achse verdutzt und bedachte diesen Befund. »Dann bleibt ja eigentlich nur der Schluß, jemand hat die Schrauben vorher gelockert!«
»Genau so sehe ich es auch«, sagte Lorbutter und kringelte befriedigt ihre aschblonden Locken nach.
Plötzlich fiel Achse die vergangene Nacht ein, die er hier oben auf der Orgelbank verbracht hatte. Er murmelte »Lockern? Lockern?« und sah Lorbutter fragend an.
Daraufhin beschrieb sie mit dem freien Ellbogen rudernde Bewegungen. »Ja – herausdrehen. Mit einem Schraubenschlüssel oder einer Ratsche.«
Nun berichtete Achse von dem kurzen nächtlichen Auftritt des Küsters. Lorbutter verstülpte mit Genugtuung und Anerkennung ihre Lippen. Dem ehrgeizigen Moritz Stuppach traute sie krumme Dinger durchaus zu.
»Das ist ein handfester Verdacht«, befand sie. »Nur warst du leider allein. Man könnte dich der Nachtblindheit oder gar der Verleumdung bezichtigen. Wie wollten wir das Gegenteil beweisen?«
Da Achse nur ein langes Gesicht machte, blickte Lorbutter nachdenklich über die Brüstung in das Kirchenschiff. Der Doktor hieb gerade mit kämpferischer Miene Faust und gewölbte Handfläche gegeneinander, während seine Gegnerin die Kugeln aufbaute. Anscheinend war es ihm gelungen, ihr den zweiten Frame abzunehmen, sodaß ein Entscheidungsspiel erforderlich wurde. Der Eingang zu den Toiletten hatte eine neue Tür. Moritz Stuppach machte sich hinter dem Altar an der Espressomaschine zu schaffen. Auf einem der Barhocker war jetzt auch der Sportreporter der Lokalzeitung zu sehen. Er sprach gerade in sein Handy.
»Hallo!« murmelte Lorbutter erfreut vor sich hin. »Das könnte es sein!« Damit erhob sie sich bereits und fügte zu Achse gewandt hinzu: »Entschuldige mich bitte für ein paar Minuten. Ich glaube, ich habe eine Idee, wie wir zu unserem Beweis kommen. Ich gehe mal eben ins Pfarrhaus telefonieren.«
7
Knapp 14 Tage später war Pfarrer Moog aus dem Krankenhaus zurückgekehrt. Das Fastnachtsturnier, an dem teilzunehmen ihn ein unglücklicher Sturz gehindert hatte, war erwartungsgemäß von Moritz Stuppach gewonnen worden. Zett hatte immerhin die erste Runde überstanden. In der Lokalzeitung hieß es, er sei in der zweiten Runde gegen den alten Fuchs Heinz Pullerenke erst nach erbittertem Widerstand ausgeschieden. Er trainierte inzwischen schon vor dem Frühstück wie von Sinnen.
Organistin Lorbutter hatte ihren Pfarrer gleich nach dessen Rückkehr um ein vertrauliches Gespräch gebeten. Darauf setzte Moog für den folgenden Tag eine kleine Konferenz im Vereinsbüro Aue Mißmuts an, das natürlich im Pfarrhaus lag. Neben Lorbutter und seinen beiden Gästen Achse und Zett hatte er Küster Moritz Stuppach einbestellt. Er sagte ihm gleich auf den Kopf zu, den Anschlag auf ihn verübt zu haben. Stuppach stritt es kaltblütig ab. Achse müsse sich geirrt haben. Nun holte Silke Lorbutter ihre Trumpfkarte hervor. Sie sagte zu Moritz:
»Du wußtest vielleicht noch nicht, daß mein Bruder Klaus als leitender Techniker bei der Telefongesellschaft angestellt ist. Normalerweise werden sie dort nur von Beamten des Bundeskriminalamtes angegangen, die Verzeichnisse bestimmter Telefonverbindungen herauszurücken. Was Klaus angeht, läßt er sich keineswegs erpressen oder bestechen, doch in meinem Fall – ich bin nun mal seine Schwester.«
Sie legte einen Zettel auf den Tisch, auf dem in großen Zahlen lediglich zwei Telefonnummern geschrieben waren. Die obere kannte fast jedes Vereinsmitglied auswendig. Es war die Handynummer von Küster Stuppach. Mit der anderen Nummer konnten zumindest Achse und Zett nichts anfangen. Deshalb erklärte ihnen Lorbutter, es sei die Nummer des Putzmobils. Über diese Nummer könne es von jedem Telefon aus gesteuert werden.
»Allerhand!« sagte Zett naseweis. »Aber sind wir jetzt klüger?«
Lorbutter lehnte sich zurück und verschränkte ihre Arme. »Laut den Aufzeichnungen der Telefongesellschaft hat es an einem bedeutsamen Samstag vor zwei Wochen um 9 Uhr 12 – unser Pfarrer hatte gerade die Kanzel erklommen – eine Verbindung zwischen diesen beiden Nummern gegeben. Das heißt, wir wissen sehr wohl, wer das Putzmobil auf unseren Pfarrer gehetzt hat.«
Die Reaktionen auf diese Eröffnung waren recht unterschiedlich. Pfarrer Moog sah gramvoll aus dem Fenster. Zett war mit umwölkter Stirn sichtlich um Begreifen bemüht, während Achse eher peinlich berührt zu Moritz Stuppach schielte. Dieser war nun doch etwas rot geworden, biß aber fest die Lippen aufeinander. Geständnisse oder Entschuldigungen waren wohl nicht von ihm zu erwarten.
Nach einer Weile gab sich Moog einen Ruck und sagte quer über den runden Tisch zu Stuppach: »Ich schlage vor, du verläßt uns jetzt, Moritz. Denke einmal darüber nach, ob du dein Amt als Küster nicht kurzfristig aufgeben solltest. Wenn ja, kann die Sache unter uns bleiben.«
Stuppach erhob sich wortlos und verließ das Büro.
8
Achse lief in seinem neuen roten Overall wütend auf den Altarstufen umher. »Du bist schlimmer als Bileams Esel!« schimpfte er. »Und das Wort Gerechtigkeit hast du noch nie gehört!«
»Papperlapapp!« winkte Zett ab, bevor er seine Arme wieder verschränkte. Er saß in seinem neuen blauen Overall auf einem Barhocker. Seine Füße staken im Griff eines ungewöhnlich großen Bügeleisens, das wiederum auf dem Deckel des dazugehörigen Kastens stand. Schraub-zwingen hätten es nicht besser vor Achses verderblichem Zugriff sichern können. Zett schielte wohlgefällig hinab, während er ergänzte: »Ich werde nicht heizen. Ich werde mit dem dazu erforderlichen Sachverstand die Snookertische bügeln.«
Die Overalls waren ihre Dienstkleidung. Nach der diskreten Abdankung Moritz Stuppachs hatte sich der Vorstand von Aue Mißmut nämlich entschlossen, das Küsteramt in die Hände zweier zufällig anwesenden Dauergäste zu legen und zu diesem Zwecke zu teilen. Allerdings hatte er es versäumt, neben der Halbierung des Gehaltes auch die Aufteilung der Arbeit festzulegen. Nach dem Heizen beispielsweise hätte sich selbst ein Esel nicht gerade die Beine ausgerissen. Der 75-Kilowatt-Kessel im Nebenraum der Sakristei war mit meterlangen Holzscheiten zu beschicken, die sich eher für die KüsterInnen von Gewichthebervereinen empfohlen hätten. Das Putzmobil umherflitzen zu lassen, während man oder frau mit dem Handy auf der Orgelbank thronte, war schon angenehmer. Das Bügeleisen schließlich, mit dem – nach dem Abbürsten – die grünen Tischtücher geglättet wurden, wog zwar ebenfalls einige Kilogramm, doch hier fand sich die Tätigkeit natürlich durch den erlesenen Vereinssport geadelt. Im Snookerspiel hatten sich ja die MißmuterInnen oder auch Mißmutigen gewissermaßen ihren neuen Gottesdienst geschaffen.
Da sie in ihrer Eigenschaft als KüsterInnen von Pfarrer Moog auch zu täglich einem Stündchen Bibelkunde verdonnert worden waren, fiel dem Doktor erfreulicher-weise ein, daß sein aufsässiger Kollege selbst in diesem Fach versagte. Ohne seine Haltung auf dem Barhocker zu verändern, stellte er deshalb genüßlich fest:
»Das Wort Gerechtigkeit mag dir leicht von den Lippen kommen, mein lieber Achse, aber vom Alten Testament hast du bestenfalls einen blassen Schimmer. Die Störrischkeit der Eselin, die den Propheten Bileam gleichsam als Verräter des blutrünstigen Volkes Israel zu den kaum minder blutrünstigen Moabitern tragen sollte, lag ja nicht in dem armen Tier. Nein, sie lag in dem schwertschwingenden Engel, der ihnen dauernd den Weg verstellte! Und was meinst du wohl, wer dieses unsichtbare Ungeheuer geschickt hatte?«
»Na, der Satan natürlich, du Teufelsbraten!« platzte Achse heraus.
»Ha, ha! Denkste, Puppe«, erwiderte Zett. »Viertes Buch Moses Kapitel 22, mein lieber Achse, da steht es. Gott selbst war der Übeltäter! Er spielte mit seinem schwertbewaffneten Engel ungefähr so wie gewisse Küster ihre Putzmobile per Handy steuern. Ja, er spielt überhaupt mit allen Eseln, die da auf Gottes Erdboden herumlaufen, ob Moabiter, Yankees oder oberpfälzische Schuhplattler-Innen. Im einen Augenblick hält er sie zum Narren, im anderen läßt er sie sich gegenseitig an die Gurgeln gehen. So ist das nämlich mit dem lieben Gott, sage ich dir ganz im Vertrauen.«
Achse war schockiert stehen geblieben und sagte erblas-send: »Das ist ja pure Gotteslästerung, du mißgebildete Zaunlatte! Darauf steht die empfindlichste Höllenstrafe!«
»Und die wäre?« erwiderte Zett schnippisch.
Achse zückte sein Handy und wählte das Putzmobil an. Nachdem er den entsprechenden Befehl gedrückt hatte, schoß es sofort zum Altar und fegte das vom Doktor zur Fußbank erniedrigte Bügeleisen so rabiat beiseite, daß er selber, Zett, vom Barhocker fiel. Jetzt erwiderte Achse in aller Seelenruhe:
»Heizen.«
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