Dienstag, 22. November 2022
Doktor Zett wird verhaftet

Achse befühlte sein Kreuz und richtete sich ächzend auf. Von dem vielen Bücken hatte er Rückenschmerzen wie ein greiser Butler. Und heiß war es auf diesem elenden Platz. Es gab nicht einen Baum. Schrottberge, wo man hinblickte. Sie machten den Platz zwangsläufig zum Backofen. Achse zog seine gestreiften Arbeitshandschuhe aus und fächelte sich damit etwas Luft zu. Vielleicht war ja bald Feierabend. Die Sonne näherte sich bereits den Fabrikschloten und Kirchtürmen, die hier den Horizont abgaben. Es war die Kreisstadt. Über 30.000 Einwohner, hatte Muffel gesagt. Die Weibsbilder hatte er übergangen. Da seine neuen Beschäftigten erst gestern nachmittag eingetroffen waren, hatten sie noch nicht viel von der Stadt gesehen. Angeb-
lich …

Achse zuckte zusammen. Das war er! Karl Muffel, der Platzwart! Er schnauzte in Achses geplagtem Rücken: »Heh, heh, du Rotkraut! Du bist hier nicht zum Däumchendrehen angeheuert worden. Noch ist kein Feierabend!«

Achse zog schnell die Handschuhe an und bückte sich wieder nach den Blechen, Schienen oder Rohren aus Aluminium, die er aufzusammeln und in eine Gitterpalette zu werfen hatte. Dazu war er hier. Doktor Zett hatte sich nämlich höheren Aufgaben zugewandt. Als es frühmorgens in Karl Muffels Bude an die Aufteilung ging, hatte er sofort seine bekannte Leichtmetallallergie ins Feld geführt. Denn er war auf den Magnetkran scharf gewesen. Der Magnetkran besaß einen Ausleger, der jeden Giraffenhals übertraf. Am Ende des Auslegers konnte der Magnet, groß wie ein Traktorenhinterrad, auf- und niedergelassen werden. Senkte sich der Magnet über einem Schrottberg, sprangen ihn die Eisenstücke wie rostrote Gemsen an. Das Aluminium sprang nicht, weil es nicht magnetisch war. Deshalb hatte Achse es aufzulesen.

»Na gut«, hatte Muffel zu Zett gesagt. »Dann zeig mir mal deine Pappe.«

»Meine Pappe ..?«

»Na Mensch, du lahmer Gockel: den Kranführerschein!«

»Ach so. Natürlich. Den Krantürenschein … Wissen Sie, Herr Muffel, ich habe ihn gestern abend in die Desinfektionsanstalt gebracht, weil er zufällig in einen Hundehaufen gefallen ist, als ich mein Jackett auszog. So etwas kann einem nur in der Kreisstadt passieren!«

»So, so«, grunzte Muffel. »Na laß uns mal gucken. Von der Statur her scheinst du mir für den Magnetkran durchaus geeignet zu sein.« Den Blick zu Achse schwenkend, fügte er drohend hinzu: »Wenn du dauernd wie ein Radieschen in die Lücken unserer Schrottberge fällst – ich suche dich nicht!«

Jetzt thronte Zett in seinem riesigen Führerhaus und lenkte und hebelte und schaltete, als sei schon sein seliger Großvater Magnetkranfahrer, nicht Dorfschullehrer gewesen. Dabei übertönte er seinen eigenen Lärm, indem er »Ein Freund, ein guter Freund« von den Comedien Harmonists pfiff. Neben dem Kranmotor lärmten ja auch die Schrottrauben, die jedesmal, wenn Zett den Magnetstrom über dem Güterwaggon wegnahm, mit einem Poltern in den Laderaum fielen als wäre Gewitter.

Das Gewitter, das sie bei den Gugenstriegels am Waldrand verschlafen hatten, war peinlicherweise noch keine Woche her. Ihr fürstlicher Lohn fürs Kirschenpflücken war wie Saft unter ihren Händen zerronnen – viele Marzipanbrote für Zett; etwas heiße Schokolade für Achse. So führte kein Weg mehr daran vorbei, sich irgendwo zu verdingen.

Achse zuckte erneut zusammen. Dieses Mal ging Muffels donnerndem Baß ein schriller Zweifingerpfiff voraus. »Ihr könnt die Fliege machen – Feierabend! Morgen um Sieben geht's weiter.«

Anscheinend hatte auch Zett etwas gehört oder gewittert. Er steckte seine feine Nase aus dem Kranfenster und sah fragend zu Achse hinüber. Der winkte mit dem Daumen (seines Handschuhs) auf Muffel; dann beschrieb er mit flachen Händen mehrere Kreuze, was »Schluß« heißen sollte. Zett nickte lässig, stellte den Kran aus und hüpfte auf die Erde. Doch dann rieb er sich mit dem Handrücken übertrieben den Schweiß von der Stirn, denn Achse sollte nicht etwa denken, er hätte da oben seinen Spaß gehabt.

Die jähe Stille war fast eine Labsal. Jetzt hätte Achse nur noch eine Dusche gefehlt, aber auf dem Schrottplatz gab es keine Dusche.

»Wir finden schon was«, sagte Zett. »In so einer riesigen Stadt wird es ja wohl noch eine Dusche geben.«

Sie gingen zu Muffel in die Bretterbude. Achse legte seine Arbeitshandschuhe auf den speckigen Schreibtisch. Zett dagegen hielt Muffel seine geöffnete Hand unter die knollige Nase, verstülpte die Lippen und klopfte mit seinem rechten Schuh auf die Dielen.

Muffel verschränkte seine Fleischerarme und hob seine buschigen Brauen. Seine Nase sah wie eine in Rotwein eingelegte Sellerieknolle aus. »Irgendwas nicht in Ordnung, mein Junge?«

»Kohle her!« sagte Zett.

»Ha, ha!« prustete Muffel. Die ganze Bretterbude wackelte. »Das könnte euch so passen. Meint ihr, wir züchten hier Eintagsfliegen?«

Er beruhigte sich und steckte seine Knollennase wieder in die Bild-Zeitung, die vor ihm lag. Dabei grunzte er:

»Freitagabend. Eher nicht.«


2

Der Schrottplatz lag an einem holprigen Fahrweg, der unweit des Bahnhofs von der Durchgangsstraße abging. Vorn an der Ecke, hoch aufgepfählt, prunkte die Tafel Wir stellen ein: 2 erfahrene Schrotteure. Deshalb hatten sie Tinker gestern nachmittag aus dem stinkenden Getöse in den Fahrweg gelenkt. Nun gingen sie eilig an der benachbarten Heizölhandlung vorbei und tauchten in die Kleingartenkolonie. In deren Mitte buchtete sich der Fahrweg zu einem kleinen Platz aus. Dort hatten sie gestern abend – soeben von Muffel eingestellt – vertrauensvoll Halt gemacht. Welcher Trugschluß! Sie bekamen auf den beiden gepolsterten Innenbänken ihrer Kutsche kaum ein Auge zu, weil die SchrebergärtnerInnen den lieben Feierabend lang werkelten und Skat droschen, bis sie schlaftrunken oder besoffen umfielen. Es war eine Hölle aus Grillwurstgestank, Maschinenlärm und Blasmusik. Deshalb hatten sie sich geschworen, keine weitere Nacht in der Kleingartenkolonie zu verbringen. Immerhin hatte sich Tinker unterdessen nicht wenig schadlos gehalten, wie sie nun mit Erschrecken sahen: nämlich alle vom Platz aus erreichbaren Beerensträucher und Obstbäume mehr oder weniger angefressen.

»Himmel!« rief Zett. »Gleich werden die Laubenpieper einfallen. Wenn sie das sehen, Achse, machen sie mit ihren Bohrmaschinen Schweizer Käse aus uns!«

Achse nickte verdrießlich und spannte Tinker in Windeseile ein, obwohl er selber sich kaum noch auf den Beinen halten konnte. Zett fing die Leinen auf und legte Peitsche an. Nachdem er die Klappleiter in den Radkasten geschoben hatte, konnte sich Achse gerade noch in die rollende Kutsche hangeln. Er sank auf sein Roßhaarpolster und schlief nach Sekunden ein.

Nach scharfem Trab durch den Rest der Kolonie mußte Zett Tinker zügeln, weil er nicht wußte, ob links oder rechts. Sie waren auf eine Art gelber Backsteinbrücke gestoßen. Offenbar zog sie sich endlos längs der Kolonie. Sie hatte dereinst den Lokomotiven als Zufahrt zum Werkhof der Eisenbahn gedient. Die verrosteten Gleise auf der Brückenkrone waren längst von Kraut und Gestrüpp überwuchert. Die Bögen dagegen waren sämtlich zugemauert und mit zweiflügeligen Toren versehen worden. Längs der Brücke lief eine Gasse, die mit buckligen Basaltsteinen gepflastert war. Als plötzlich von rechts her ein anregendes Gackern an Zetts Ohr drang, waren die Würfel gefallen. Hühner! Federvieh, das köstliche Eier legte, zog den Magnetkranfahrer Doktor Meingard Zett unweigerlich an.

Wie es aussah, wurden die Bogenbuden überwiegend als Werkstätten oder Ateliers genutzt. Darauf wiesen Schilder hin, auch standen einige Torflügel offen. Schreinermeister Ferdinand Daumenab hatte sich auf Einfassungen für Hängematten spezialisiert. Amanda Ruczika betrieb eine Clownerie. In einem grell erleuchteten Gewölbe sah Zett Autos stehen, unter denen Leute in ölverschmierten Ouveralls in tiefster Anbetung umherkrochen. Dafür stellte der Bildhauer Elmar Döhnerich Stahlplastiken her, wie über einem Tor zu lesen war. Allerhand, dachte Zett, der in der Magdeburger Börde aufgewachsen war: Jetzt haben sie schon Plaste aus Stahl erfunden!

Dann erblickte Zett ein großes Lieferauto, das vor einem geschlossenen Tor parkte. Er wollte sich gerade mit seiner Kutsche daran vorbeiquetschen, als ihn die bemalte Seitenwand des Kastenwagens alarmierte. Da stürzten Leute, Kinder, Haustiere, die kleine leere Paletten aus Pappe schwangen, einmütig auf die Hecktür des Lieferautos zu. Über ihren wehenden Zöpfen oder Schwänzen war in großen Lettern zu lesen Klein und groß kommt angerannt, Jupp bringt Eier frisch vom Land! Sehr interessant, dachte Zett und hüpfte vom Bock. Jetzt hörte er auch wieder das Gackern, das anscheinend aus der Brücke kam. Während ihm schon das Wasser im Mund zusammenlief, schlich er um das Lieferauto. Vielleicht konnte er das Tor einen Spalt öffnen, um hineinzu-schlüpfen und zack! ein paar Eier aufzupicken.

Zufällig wurde der Torflügel in dem Augenblick von innen aufgestoßen, da ihn Zett zu öffnen gedachte. Dadurch klatschte der schlanke Junge wie ein Sandsack gegen das Lieferauto und glitt an diesem ab. Zum Glück war es an der Fahrertür, sodaß Zett auf dem Trittbrett zum Sitzen kam. Er verschränkte rasch Arme und Beine und musterte die schönen gelben Backsteine der Brücke.

Aus dem Torspalt war ein dicker Mann mit dunkelblauer Baskenmütze getreten. Er steckte in einem hellen Kittel. In seinem Rücken quoll das Gackern der Hühner aus dem Gewölbe. Jetzt machte er das Tor wieder zu, indem er den Torflügel mit seinem Hintern ins Schloß drückte. In seinen Händen trug er nämlich einen Stapel gefüllter Eierpaletten. Weil er ihn zusätzlich mit seinem rosigen Doppelkinn festhielt, hatte er Zett noch nicht entdeckt.

Nun erkannte Zett seine Chance. Er glitt vom Trittbrett, lief um die Front des Lieferwagens, zwängte sich zwischen diesem und der Kutsche zum Heck vor und kam gerade noch rechtzeitig, um dem Eiermann die Tür aufzuhalten.

»Na sowas«, sagte der Eiermann. »Das ist aber nett von Ihnen!«

Obwohl er kleine, listige Augen besaß, ging Gutmütigkeit von dem rundlichen Eiermann aus. Nachdem er seinen Stapel verstaut hatte, musterte er abwechselnd den Jungen im verschossenen dunklen Anzug und die Pferdekutsche, die neben seinem Lieferwagen in der Gasse stand.

»Ein hübsches Fahrzeug haben Sie da! Ihr Anzug wirkt allerdings ein wenig zerknittert; das deutet auf Sorgen. Und trotzdem sind Sie eigens vom Kutschbock gestiegen, um mir behilflich zu sein?«

Zett nickte heftig, wobei er seinen zerbeulten Tirolerhut zog. »Genau so war es! Das Gebot der Nächstenliebe ließ mich meine Sorgen vergessen. Ergo fühle ich mich unbeschwert wie nie. Das ist das Geschenk an die, die schenken – wie meine selige Großmutter Mathilde zu sagen pflegte.«

Der Eiermann schmunzelte. Dann beugte er sich in sein Auto, nahm zwei Eier von der obersten Palette und überreichte sie Zett.

»Das ist für Sie und Ihren etwas kurz geratenen Begleiter, den ich dort auf dem schönen schwarzen Lederpolster schlummern sehe. Sind Sie länger in dieser Gegend? Mir kommt da nämlich ein Gedanke, der Sie interessieren könnte. Ihr Pferdefuhrwerk wäre womöglich recht gewinnbringend einsetzbar. Nur kann ich mich im Moment nicht damit befassen. Der Kreistag gibt heute abend einen Empfang; die Köche warten auf meine lupenreinen Freilandeier.«

Zett winkte mit dem Daumen über die Kolonie und erwiderte mißmutig: »Wir schuften für Muffel auf dem Schrottplatz. Aber wir suchen noch ein ruhiges Plätzchen für unsere Kutsche. Die Laubenpieper sind ja zum Weglaufen. Sie hätten uns fast erwürgt.«

»Wenn's weiter nichts ist!«

Der Eiermann warf die Hecktür seines Lieferwagens zu und nickte in Fahrtrichtung: »Drei Bögen weiter gibt es eine Durchfahrt. Stellt eure Kutsche in Höhe meines Hühnerhofes unter die alte Pappel. Macht es euch auf meiner Terrasse gemütlich. In einer halben Stunde bin ich zurück.«


3

Jenseits der Brücke erstreckte sich ein verwildertes Rangiergelände, das einer mit Gebüschen und Gehölzen durchsetzten Pampa glich. Bunte Fingerhüte, an denen die Bienen ein- und ausschlüpften, ersetzten die Zugbimmeln. Die vielen verrosteten Gleise waren nur noch stellenweise zu sehen. Zum Glück lief ein Fahrweg durch das tückische Gelände, sonst hätte sich sogar Tinker seine dicken Füße gebrochen. Der Weg hielt sich in Steinwurfweite an den Verlauf der Brücke. Er führte sie tatsächlich zu einer freistehenden, mächtigen Pappel, die ihrer Kutsche Schatten bot. Nachdem sie Tinker ausgeschirrt hatten, machte er sich gleich über das Gras her, das ihm bis zum Bauch ging. Achse angelte seine Mundharmonika von der Polsterbank und steckte sie in die linke Seitentasche seiner kurzen, speckigen Lederhose. Rechts hing sein Fahrtenmesser am Gürtel. Zett schob seinen Tirolerhut zurecht, ohne das Hühnergehege aus den Augen zu lassen. Wie es aussah, war ihr Abendbrot gesichert.

Das Hühnergehege erstreckte sich in Bogenbreite von der Brücke aus bis zum Fahrweg. Das waren mindestens 50 Meter. Während sie es abschritten, hatte Achse Mühe ein Verunglücken seines Kumpels zu verhindern. Überall lauerten ja Schienen, Weichen oder gar Schächte unter den Gräsern und Kräutern. Zett jedoch heftete seine gierigen Augen ausschließlich an den durchgescharrten, sandigen Boden des Geheges, in dem sich schätzungsweise über 200 Hühner tummelten. Nur ein Ei war nirgends zu entdecken. Zett wußte nicht, daß die Hühner im Gewölbe eigens Legenester hatten.

Sie näherten sich der zugemauerten, gelben Backsteinbrücke. Auf dieser Seite waren die Bögen mit einer Hintertür versehen, die jeweils von zwei Fenstern flankiert wurde. Jupps rechtes Fenster bot einen Durchschlupf für die Hühner. Zur Tür hin hatte er das Gehege ausgespart, wodurch sich unter dem linken Fenster ein kleiner Sitzplatz ergeben hatte. Er wurde von einem stattlichen Holunderbusch beschirmt, der schon die Brückenkrone streifte.

Zett ließ sich erschöpft in einen verwitterten, ächzenden Korbsessel fallen. Während er die Hühner beäugte und dabei mißmutig mit allerlei gemurmelten Schimpfworten bedachte, spähte Achse um den Holunderbusch. Er hatte sich nicht getäuscht. Am Brückenpfeiler war ein Gestänge mit Brausekopf über einem Drehknopf angebracht. Als er diesen betätigte, prasselte Wasser auf eine Holzpalette. Er schlüpfte aus seiner Lederhose und ließ sich von dem Guß tüchtig erfrischen. Das Wasser spritzte nach allen Seiten.

Einmal bog Zett seine feine Nase um den Holunderbusch, zog sie aber rasch wieder zurück, weil ihm bekanntlich schon der pure Anblick von Wasser Gänsehaut verursachte. Trotzdem beschimpfte ihn Achse. Da er ja ohnehin nicht dusche, könne er wenigstens ihren treuen Gaul tränken. Er deutete mit dem Fuß auf einen Eimer, der bereits mit Wasser vollgelaufen war. Zett, wieder in den Korbsessel geräkelt, wehrte natürlich ab. Er führte seine Altersschwäche ins Feld – tatsächlich war er zwei Monate früher als Achse zur Welt gekommen. Nach dem Abendbrot ließe sich vielleicht darüber reden.

Achse stemmte seine Fäuste in die nackten Hüften, während das Wasser über ihn rann. »Nach dem Abendbrot? Na gut, mein lieber Freund! Dann werde ich sofort zum Bahnhof rennen und an alle einheimischen Damen durchsagen lassen, zur Zeit werde die Kreisstadt von einem wasserscheuen Pferdekutscher unsicher gemacht, der sich Doktor Zett nenne und bereits wie ein Stinkmorchel dufte!«

Zett stieß echte Fuhrknechtflüche aus, bückte sich nach dem vollen Eimer und trat den Weg durch die Pampa an.

Nachdem er genug hatte, drehte Achse den Wasserhahn zu und marschierte auf dem kleinen Platz immer hin und her, um sich von der Abendsonne trocknen zu lassen. Dabei spielte er auf seiner Mundharmonika Seemannslieder, soweit er welche kannte. Sein Vater, der Hundezüchter, hatte ihm einmal eine Schallplatte von Manfred Raasch zum Geburtstag geschenkt. Der bellte wenigstens nicht.

Achse wurde aus seinen Gedanken gerissen, weil plötzlich die Hintertür aufflog. Ihr Gastgeber Jupp hatte sie mit dem Fuß aufgestoßen, trug er doch ein schwerbeladenes Tablett vorm Bauch. Er strahlte, als ginge in seinem Gewölbe der Mond auf.

»Bravo! Ein schmissiges Stück, das Sie da spielen! Ich werde später Beifall klatschen. Wir können sogleich einen Abendimbiß nehmen. Dahinten kommt auch schon Ihr Begleiter.«

Während Jupp den rohen Brettertisch deckte, verfiel der Doktor in Laufschritt, weil er unfehlbar Omelett gewittert hatte. Achse dagegen sprang in seine Lederhose. Es war ihm doch irgendwie peinlich gewesen, dem dicken Eiermann so unvermutet unbekleidet gegenüber zu stehen.


4

Das vorzügliche abendliche »Bauernfrühstück«, das der Landeiermann aus seiner Pfanne gezaubert hatte, war bald verputzt. Jupp holte neues Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich dafür von Zett – den er inzwischen vertraulich Meingard nannte – gern die tollsten Heldentaten servieren. Achse machte dazu heimlich schraubende Bewegungen vor seiner Stirn, was der Eiermann jedesmal mit einem doppelten Augenzwinkern erwiderte.

Bald darauf erhielten sie Zuwachs. Zunächst schob sich ein baumlanger Mann um 30 neben Jupp auf die Bank unterm Fenster, den dieser als den Bildhauer Elmar Döhnerich vorstellte. Döhnerich leerte eine Flasche Bier auf einen Zug. Später tauchte auch noch Amanda Ruczika auf, die 50 Meter weiter die Clownerie betrieb. Im Gegensatz zu Frau Gugenstriegel, der Polsterin, war Amanda eine drahtige, geschmeidige Person, die von Achse auf etwa 40 geschätzt wurde. Sie holte sich einen Schemel und ein Trinkglas aus Jupps Bude. Zett versuchte ihr sofort zu imponieren, indem er mit einem Faustschlag die Tischkante als Bierflaschenöffner benutzte, um dann Amandas Glas mit einem eleganten Schwung zu füllen. Es quoll natürlich über: das schäumende Bier floß zum nächsten Astloch und ergoß sich von dort über Achses frischgeduschte Füße. Er rieb sie wütend an Zetts Hosenbeinen ab. Amanda nahm dem beschämten Doktor die Bierflasche ab und meinte lachend, daraus könne sie schon fast eine neue Nummer machen.

»Neue Nummer ..?« stammelte der Zett. »Ich dachte, Sie betreiben so etwas Ähnliches wie eine Drogerie, in der Sie irgendwelche Salben oder Pillen verkaufen ..?«

Jetzt lachten auch Jupp und Döhnerich schallend.

»Das ist gar nicht so dumm, mein lieber Doktor Zett«, tätschelte ihm Amanda den Handrücken. »Schließlich heißt es, lachen sei gesund, also gewissermaßen Arznei.«

Sie erläuterte ihm die Aufgaben und die Spezialisierungs-möglichkeiten eines Clowns. Sie selber trat vorwiegend mit Pantomimen auf. Da Zett auch bei dieser Bezeichnung passen mußte, demonstrierte sie das Phänomen, indem sie aufstand, irgendeiner unsichtbaren Person ein Tuch umband und sich mit geübten Bewegungen des Kämmens, Schneidens und Glättens an deren Kopf zu schaffen machte.

»Aha!« triumphierte Zett. »Sie frisieren da wen, der gar nicht da ist, weil er zum Beispiel Geld verdienen muß … Zum Beispiel für den Frisör.«

Alles lachte.

Jupp nickte und pflanzte seinen wurstigen Daumen aufs eigene Brustbein. »Zum Beispiel ich. Von früh bis spät bin ich mit meinen Hühnern beschäftigt. Füttern, Roste säubern, Eier einsammeln, Eier ausfahren oder mir auf dem Markt die Beine in den Bauch stehen. Deshalb bin ich so untersetzt …«

Jupp nickte erneut, nur noch betrüblicher, und lüftete wie zur Bekräftigung seiner Kurzleibigkeit seine speckige Baskenmütze. Er hatte eine Glatze.

Döhnerich tätschelte seinem Bank- und Brückennachbarn den Rücken. »Für einen, der Eier verkaufen will, hast du sicherlich den geeigneten Kopf …«

Jupp blieb todernst, worauf die anderen umso ausgelassener lachten.

»Holla!« rief Zett. »Jetzt fällt's mir wieder ein. Hast du nicht vorhin in der Gasse von einer Möglichkeit gesprochen, unseren Tinker zum Goldesel zu machen?«

Schon kam Bewegung in Jupp. »Die Sache ist so einfach wie wirkungsvoll«, sagte er aufgeräumt. »Samstags fahre ich mit meinem Lieferwagen immer auf den Wochenmarkt, um meine frischen Landeier unter die KreisstädterInnen zu bringen. Aber was machen wir dieses Mal? Wir nehmen eure prächtige Pferdekutsche. Bieten wir nämlich meine Eier von dieser Kutsche aus feil, werden sie wie heiße Semmel weggehen. Das gibt die Attraktion des Wochenmarkts. Wie sich versteht, bekommt ihr euren Anteil, sodaß ihr auf Muffel vom Schrottplatz scheißen könnt. Abgemacht?«

Achse und Zett schlugen natürlich sofort in die beiden Hände ein, die ihnen ihr Gastgeber entgegenstreckte. Das Glück, das sie schon bei den Gugenstriegels angetroffen hatten, ließ sie nicht im Stich.

Der lange Döhnerich befand, diese außerordentliche Vereinbarung müsse auch besonders begossen werden. Er habe noch eine Flasche köstlichen Schlehenlikörs in seinem Schrank. Wenn sie die kleine Konferenz zu ihm verlegten, könnten die Gäste auch gleich einen Blick auf seine Stahlplastiken werfen. Bier sei ebenfalls vorhanden.

Alle waren einverstanden. Während die anderen den Tisch abräumten, lockte Jupp die letzten Hühner ins Gewölbe. Die rote Abendsonne hatte sich bereits in den Fabrikschornsteinen und Kirchtürmen verfangen. Während die Hühner verstummten, legte sich auf der Brückenkrone eine Amsel gerade erst ins Zeug.

Die Hühner nahmen den größten Teil von Jupps Gewölbe ein. In mehreren Regalen, die auch als Trennwände dienten, lagen ihre Legenester: ausgepolsterte Gefache, die über klappbare Trittbretter zu erreichen waren. Jupp selber hatte sich nur am linken Fenster einen Verschlag abgeteilt, in dem er schlief und kochte. Sein Klosettkasten stand frei im Stall. Mistete er aus, pflegte er den Kasten, der ohne Boden war, einfach kurz zu lüften.

Mit wenigen Schritten auf der Gasse erreichten sie Döhnerichs Bude. Er hatte in beide Flügel seines Eingangstores große Bullaugen eingelassen, die ihm mehr Tageslicht gewährten. Trotzdem schaltete er jetzt seine Deckenleuchten ein. Mindestens ein Dutzend recht bizarrer Stahlplastiken, die Zett erheblich überragten, machten das weißgetünchte Gewölbe zum Irrgarten. Zetts Irrtum von den »Plasten aus Stahl« dagegen ließ sich nicht aufrechterhalten. Wie Döhnerich verriet, bezog er die meisten seiner überwiegend verrosteten Einzelteile just von Muffels Schrottplatz – durch ein Loch im Zaun. Darauf stießen sie mit der Likörflasche, die Döhnerich unterdessen aus einem Kleiderschrank gezogen hatte, zum ersten Mal an.

Döhnerich wollte von Jupps Gästen wissen, welche Plastik ihnen am besten gefalle. Der Doktor konnte sich nicht entscheiden. Vielleicht war er auch schon zu benebelt. Dafür deutete Achse nach kurzer Musterung des Ateliers in eine Ecke, wo eine Art großer Sackkarre stand, in der eng aneinander zwei etwa mannshohe Stahlflaschen lehnten. Die eine war gelb, die andere blau lackiert. Ein Gurt hinderte die beiden Flaschen – Gas und Sauerstoff – am Herausfallen oder am Flüchten. Döhnerich pflegte an diesen Flaschen die beiden Schläuche seines Schweißbrenners anzuschließen. Freilich wußte das Achse nicht.

Jupp gluckste bereits wie seine Hühner, während er auf das von Achse erwählte »Kunstwerk« glotzte. Dann fiel auch bei Döhnerich der Groschen. Er legte schmunzelnd seinen Arm um die geschmeidige Pantomimin Ruczika und sagte mit einem Nicken zu der Flaschenkarre mit der Bauchbinde:

»Wirklich – eine überzeugende Warnung, oder findest du nicht ..?«

Sie schmiegte sich kichernd an ihn. Jupp ließ erneut die Likörflasche kreisen. Achse war ausgeglichen genug, um sich über seinen unbeabsichtigten Lacherfolg zu freuen.

Zett dagegen bekam nicht mehr viel mit. Jupp und Achse hatten Mühe, ihn am Umfallen zu hindern. So ließen sie das Liebespaar lieber allein und schleiften den Doktor kurzerhand gemeinsam durch die Pampa zur Kutsche, wo sie schnaubend von Tinker begrüßt wurden. Über den Dachfirsten jenseits der Pappel lag das Abendrot. Achse dankte Jupp für alle Mühen – doch dieser setzte gleich noch eins drauf. Er werde die beiden Kutscheninsassen morgens um Sechs wecken und zum Frühstück abholen. Schließlich stehe ihnen wieder ein harter Muffel-Tag bevor.


5

Zetts große Stunde kam am frühen Nachmittag. Er war inzwischen ernüchtert worden. Als sie sich zur Mittagspause unter den Güterwaggon hockten, weil dort Schatten war, knurrte er kleinlaut, auf die Dauer sei das Magnetkranfahren ein folternder Stumpfsinn; man fühle sich wie gerädert und habe nur noch Schrott im Kopf. Achse nickte. Mit dem Aluminiumaufsammeln hatte er wohl doch das leichtere Los. Er hielt seinem Kumpel eine Stulle aus dem Freßpaket unter die Nase, das ihnen Jupp mitgegeben hatte. Eine Thermosflasche, die kühlen Pfefferminztee mit Zitrone enthielt, war ebenfalls vorhan-den. So schöpfte Zett wieder Zuversicht. Schmatzend und rülpsend malte er Achse die »Attraktionen« des kommenden Wochenmarktes aus. Er selber ließ die Pferdekutsche beben. Jupp machte den Marktschreier. Achse spielte mit seiner Mundharmonika zum Tanze auf, während Zett wiederum, im üblichen hautengen Anzug, mit drei Eiern gleichzeitig jonglierte, die er hin und wieder mit seinem Tirolerhut auffing, um sie dem staunenden Publikum ohne den kleinsten Kratzer zu präsentieren. Das Publikum riß sich um ihre Eier. Doch keine 20 Minuten und sie wurden von Muffels schrillem Zweifingerpfiff erneut an die Arbeit gescheucht.

Das Gleis in den Schrottplatz war ein Sackgleis. Der Prellbock, vor dem der Güterwaggon stand, berührte fast die Mauer zum Nachbarhof. Hier machte sich Zett gerade mit seinem Magnetkran zu schaffen, als er den Brennstoffhändler erblickte. Zett grinste schadenfroh, denn der linke Arm des Brennstoffhändlers steckte in einer Schlinge, die er um den Hals trug. Für einen Landwirt, der Heuballen verkauft, hätte Zett schon eher Mitgefühl aufgebracht. Der Brennstoffhändler strebte auf seine Limousine zu, die nahe der Mauer im Schatten der Öltanks stand. Offenbar hatte er gerade sein Bürohäuschen verlassen. Mit dem rechten Arm drückte er eine hohe, rechteckige Blechbüchse an sich, wie man sie aus Teegeschäften kennt. Um die Wagentür öffnen zu können, schob er die Büchse kurzerhand aufs Dach der Limousine. In diesem Augenblick tauchte in der Tür des Bürohäuschens eine Frau auf, die über den Hof rief:

»Albert – das Fax von Herrn Buddenbrink ist eingetroffen!«

Wie es aussah, war das Fax wichtig, denn der Brennstoffhändler machte auf dem Absatz kehrt. Vielleicht wollte er es auch sofort beantworten. Die Frau war vermutlich in der Tür erschienen, weil die Fenster durch Jalousien verschlossen waren, die die grelle Mittagssonne abhielten. Die beiden verschwanden im Büro.

Euch werden wir einen Streich spielen! dachte Zett, während er bereits den Ausleger seines Magnetkrans über die Mauer schwenkte. Er ließ den Magneten über dem Dach der Limousine ab. Der schwere Wagen bäumte sich dabei sichtbar auf – doch nur die Blechbüchse schoß dem Magneten in die Fänge. So ließ Zett den Magneten kichernd wieder hochschnurren, schwenkte den Ausleger über die Mauer zurück und gab Gas, um ans vordere Ende des Güterwaggons zu kommen.

Achse hatte den Vorstoß seines Kollegen mit einiger Verblüffung vom Schrottberg aus verfolgt. Zum Glück war Muffel außer Sichtweite. Zett ließ die Blechbüchse fallen, fuchtelte aus dem Führerhäuschen und forderte Achse mit unterdrückter Stimme auf, das Ding zu verstecken, ehe es vermißt werde. Dann wandte er sich wieder der ordnungsgemäßen Beladung des Güterwaggons zu.

Wenig später war auf dem Nachbarhof der Teufel los. Danach schien die Büchse nicht nur Tee oder Kekse zu enthalten. Der Brennstoffhändler fluchte wie ein Kanalarbeiter, brüllte seine Frau oder Geliebte an und stellte mit ihr gemeinsam den ganzen Hof auf den Kopf, bevor er sich in seine Limousine warf, um den Büchsendieb vielleicht außerhalb zu ergreifen. Zett hörte sich diesen ungeahnten Tumult stirnrunzelnd an, während er geflissentlich ein normales Verladegeschäft vorzutäu-schen suchte. Hin und wieder winkte er Achse, der längst verunsichert aufgehorcht hatte, mit einer Hand »Auweia! Auweia!« aus dem Führerhäuschen zu. In welches Wespennest hatte er da gestochen? Immerhin tauchte der wutentbrannte Brennstoffhändler nicht zwischen den Schrottbergen auf. Und im Maße, wie der Tumult verebbte, begann Zett dem Feierabend entgegen zu fiebern.

Verständlicherweise zerbrach er sich dabei ein ums andere Mal den Kopf darüber, was wohl der Inhalt der erbeuteten Büchse sei. Allerdings sah er auch das Problem, die Büchse erst einmal vom Schrottplatz zu schmuggeln, ohne den Verdacht Muffels oder gar des Brennstoffhändlers zu erregen. Doch die Lösung fand sich rasch in Gestalt eines alten Müllsackes. Achse schlich zum Zaun, reckte sich und ließ das Paket in eins der Gebüsche gleiten. Bald darauf mit leeren Händen draußen angekommen, brauchten sie sich die eingewickelte Büchse nur noch unter den Arm zu klemmen. Das kennt man schließlich von abgerissenen Figuren, daß sie irgendein Stück Müll mit sich führen. So gestaltete sich ihr Abzug vom Schrottplatz reibungslos.

Sie gingen durch die Kleingartenkolonie und die Bogengasse. Unter Zetts Arm prickelte die getarnte Büchse. Er nutzte den 10minütigen Fußmarsch zu Jupps Bogenbude, um Achse mit seinen Mutmaßungen über den Inhalt der Blechbüchse vertraut zu machen. Achse beschränkte sich auf kurze Kommentare.

»Mit Brennstoff will er handeln?« tippte sich Zett überlegen an die Schläfe. »Wer weiß, ob das nicht lediglich ein Deckmantel ist, Achse. In Wahrheit betreibt er Pornohandel. Die Büchse ist mit Nacktfotos der übelsten Sorte vollgestopft. Sex von hinten, Sex mit Kindern – ja, es würde mich nicht wundern, wenn sogar schwarze Neufundländer im Spiel wären«, spielte er auf Achses Elternhaus an. »Doch mein kühner Raub der Büchse machte ihm einen Strich durch die schändliche Rechnung. Jetzt muß er natürlich vor Enthüllung und mindestens 10 Jahre Knast zittern. Und wer ihn in diesem Fall zur Strecke gebracht hätte, wäre Doktor Meingard Zett. Der scharfsinnige Doktor wird als Schrecken der Unterwelt in die Geschichte eingehen!«

»Oder als geiler Bock«, warf Achse ein.

Zett hob nur verächtlich die Brauen, bevor er zu alternativen Erwägungen kam. »Sollte die Büchse nicht mit Nacktfotos vollgestopft sein, dann vielleicht mit Dokumenten, die eine Korruption belegen. Gegen die Zusage, alles Gestrüpp auszurotten, hat der Brennstoffhändler das stillgelegte Rangiergelände von der Bahn AG für einen Apfel und ein Ei bekommen. In Wahrheit steckte ihm Stadtbaurat Soundso, das ganze Gelände werde in Kürze als Bauland ausgewiesen. Folglich wird der Brennstoffhändler die Tochter des Stadtbaurates an einer Firma beteiligen, die das Gelände in einen gewinnträchtigen 'Freizeitpark' verwandelt. So heißt das heute, Achse. Neben der Ansiedlung von McDonalds ist da nicht viel zu tun. Sie legen die überwucherten Schienen einschließlich Drehscheibe frei, kaufen ein Schock Draisinen und lassen das zahlende Publikum durch eine unverfälschte Wildnis inmitten der Stadt gondeln. Das Gestrüpp bleibt also. Was hälst du von dieser Vision?«

»Laber nur schön weiter, lieber Zett.«

Jetzt gab sich Zett empört. »Ich werde dich gleich in ein Sieb verwandeln! Die Büchse verbirgt nämlich ein besonders kurzläufiges Schnellfeuergewehr – eine Zwergmaschinenpistole. Damit hat der Brennstoffhändler vor kurzem einen anderen Brennstoffhändler …«

»Unfug!« unterbrach ihn Achse, der ja die Büchse nach dem Diebstahl eigenhändig versteckt hatte. »Dafür ist die Büchse viel zu leicht … Was sagen denn Herr Doktor, wenn sie tatsächlich nur Tee enthält? Oder gar nur Luft?«

»Ha!« konterte Zett. »Nur Luft – so ein Quatsch! Luft ist immer außen. Was innen ist, nennen die PhysikerInnen Vacuhm. Aber da hat der kleine Achse leider mal wieder im Unterricht gepennt, als das Vacuhm dran war. Die bellenden Neufundländer seines Erzeugers hatten ihm kein Stündchen Nachtschlaf gegönnt …«

»Vacuhm? Sagtest du Vacuhm?«

»Ja, sicher, du dummer Dackel: Vacuhm!« rief Zett und stürmte Jupps Bude.


6

Jupps Augen waren binnen weniger Sekunden groß wie Hühnereier geworden. Sie saßen am Gartentisch. Wie sich versteht, enthielt die Blechbüchse, die Zett stürzte und schüttelte, weder Luft noch ein Vacuum. Sondern was auf die Bretter rutschte, waren lauter Bündel aus Geldscheinen.

Als die Büchse nichts mehr hergab, brachen sie einmütig in Jubel aus und vollführten ein Tänzchen um den Tisch. Selbst die Hühner im Gehege kamen gackernd zum Maschendraht gerannt. Da es sich ausschließlich um 50-Euro-Scheine handelte, mußten Tausende von Euros auf Jupps Gartentisch liegen – ein ganzer Magnetkran vielleicht!

»Holla!« rief Zett, zupfte einen Fünfziger vom Tisch und scherte aus dem Rundtanz aus. »Das müssen wir angemessen begießen!«

Schon stürzte und flog er durch die Pampa Richtung Pappel, um Tinker anzuspannen und zum nächsten Supermarkt zu jagen. Dort kaufte er gleich eine ganze Kiste mit sechs Flaschen Qualitätswein von der Rebsorte Morio Muskat.

Achse nutzte die Unterbrechung, um Amanda und Döhnerich herbeizuholen. Die Clownin war allerdings nicht zu Haus, weil sie in der Volkshochschule einen Abendkurs zu geben hatte. Dem Bildhauer kündigte Achse eine Überraschung an, die seine kühnsten Träume von Künstlerförderungen übertreffen würde. Döhnerich kam gerne mit.

Jupp hatte es inzwischen für ratsam gehalten, die Banknotenbündel wieder in die Büchse zu stopfen und den Deckel zuzudrücken. Jetzt holte er Gläser und Salzstangen aus seiner Bude. Bald darauf schob der schnaufende Doktor die Weinkiste auf den Tisch. Die edlen Flaschen waren in Holzwolle gebettet. Jupp schenkte ein. Döhnerich staunte nicht schlecht, als er einen Blick in die Blechbüchse werfen und die Geldscheinbündel sogar befingern durfte. »Voll bis auf den Grund!« versicherte ihm Zett und griff nach seinem Weinglas, um den gleichen Zustand zu erreichen.

Achse machte die Büchse rasch wieder zu. Der Gedanke an unangekündigte Kunden, die mal eben ein paar Eier von Jupp verlangten, bewog ihn sogar dazu, die Büchse vorsichtshalber unter der Sitzbank zu verstauen. Döhnerich öffnete und schloß zu diesem Zwecke bereitwillig seine von abgeschabten, schwarzen Zimmermannshosen umflatterten Beine. Unterdessen malte Zett dem Bildhauer seinen großartigen Fischzug auf dem Schrottplatz in den grellsten Farben aus. Döhnerich fragte sich allerdings bald, wofür der Brennstoffhändler eine derart große Summe an Bargeld benötige. Das roch nach einem faulen Geschäft – einmal davon abgesehen, daß des guten Doktors Fischzug unzweifelhaft ein Diebstahl gewesen war.

Auch Jupp war inzwischen wegen ähnlicher Erwägungen etwas mulmig zumute geworden. Das Gefühl verstärkte sich, als er um seine Bude gewisse Truppenbewegungen wahrnahm. In der Pampa tauchten hier und dort Polizeiuniformen auf, die offenbar näherrückten. Ein Rascheln ließ ihn auch zur Brückenkrone hinauflinsen. Dort schob sich gerade ein Gewehrlauf aus dem Holunder, wie ihm ein Abglanz der Abendsonne zeigte. Von der Gasse her drang unterdessen das leise Dudeln eines Funkgerätes an Jupps rotes Ohr.

Plötzlich ruckte sein spiegelnder Kopf wie alle anderen Köpfe zur Hintertür. Während die Hühner davonstieben, brach ein hechelnder und jaulender Schäferhund aus ihr. Sein Führer, ein junger, stämmiger Polizist in kurzärmligem Sommerhemd und kugelsicherer Weste, konnte ihn nur unter Mühen davon abhalten, sich statt der Hühner den rundlichen Händler vorzunehmen.

Hinter dem Hundeführer war ein älterer Zivilist im Staubmantel erschienen. Er lüftete seinen grauen Filzhut und sagte: »Wünsche einen schönen Abend, meine Damen und Herren. So ein schwarzmähniger Molch unter Ihnen hat soeben den hübschen Wein eingekauft, den Sie da vor sich stehen haben. Ich nehme an, das waren Sie ..?«

Der Kommissar hatte Zett ins Auge gefaßt. Der wurde immer kleiner und schmäler; am liebsten hätte er sich vom Molch in eine Ameise verwandelt, um die nächste Mauerfuge aufzusuchen. Jetzt setzte der Kommissar ein ermunterndes Lächeln auf und unterstrich es, indem er mit einem 50-Euro-Schein, den er aus der Manteltasche gezogen hatte, vor Zetts Nase wedelte: »Wo haben wir denn dieses druckfrische Scheinchen gefunden ..?«

Die Kassiererin im Supermarkt hatte Unheil gewittert und den Schein von der Filialleiterin prüfen lassen. Diese rief sofort die Polizei an, weil er gefälscht war. Den Weg der Pferdekutsche zurückzuverfolgen, war natürlich ein Kinderspiel gewesen.

Inzwischen hatte der riesige Schäferhund seinen Führer nahe genug zum Gartentisch gezerrt, um unter der Sitzbank schnüffeln zu können. Obwohl Döhnerich furchtlos seine schweren Arbeitsschuhe ins Gras stemmte, jaulte der Köter triumphierend auf und stieß die Blechbüchse hervor. Da der Deckel absprang, kullerten einige Banknotenbündel ins Gras. Der Kommissar nickte nur befriedigt und grunzte:

»Alles Blüten!«

Während Achse auf seinen Korbsessel stieg, um den zottigen Köter zu beschimpfen, beeilte sich Döhnerich, der keine Angst vor Schäferhunden hatte, das Geld wieder aufzuklauben und dem Kommissar die Büchse mit einer entschuldigenden Verbeugung zu überreichen. Der nahm sie, wandte sich wieder zu Zett und fuhr ihn jäh an:

»Wo hast du den ganzen Zaster her?!«

Zett äugte teils furchtsam, teils trotzig umher – und schwieg. Patriarchalisch, wie er erzogen worden war, konnte er keinen Fehler eingestehen, also in diesem Fall einen schnöden Blechbüchsendiebstahl. Was Jupp und Döhnerich anging, mischten sie sich lieber nicht ein, weil ihre Geschäfte auch nicht völlig sauber waren. Im Augenblick wußten sie nicht, wie dem Zett zu helfen sei. Achse behielt der Einfachkeit halber seine Beschimpfung des Polizeiköters bei. Womöglich ging das im Grunde gegen seinen Vater.

»Also gut«, sagte der Kommissar schneidend und bedeutete Zett durch ein Nicken, sich gefälligst aus dem Korbsessel zu erheben. »Wir haben Zeit und zudem auf der Polizeistation noch jede Menge Platz.«

Er ging zu dem Beschuldigten, bog ihm die Hände auf den Rücken, zog etwas Blinkendes aus der Manteltasche und ließ es über Zetts Handgelenken zuschnappen:

»Begleiten Sie uns bitte, Sie sind verhaftet.«


7

In der Bogengasse hing noch das große Wehklagen, das Zett angestimmt hatte, als er unsanft in ein kastenförmiges Polizeiauto mit vergitterten Fenstern verfrachtet worden war. Sein Jammern wurde kongenial von einem im nächsten Pampagehölz wohnenden Fitis ergänzt. Die Sonne war bereits hinter den Dachfirsten verschwunden. Am Gartentisch zerbrachen sie sich die Köpfe, wie der Doktor den Fängen der Staatsgewalt zu entreißen sei. Sie waren wieder zu viert, weil Amanda Döhnerich vermißt und deshalb Jupp aufgesucht hatte. Gerade ihr kam nun auch die rettende Idee. Nachdem sie ihren Plan erläutert hatte, atmeten die anderen erleichtert auf und wandten sich den restlichen Weinflaschen zu. Für diesen Tag war ohnehin nichts mehr auszurichten.

Am nächsten Vormittag erschien Döhnerich im Büro des Kommissars. Er selber habe die Blechbüchse in der Pampa bei der Schrottsuche gefunden und daraufhin seinen Freunden gezeigt. Er habe die Büchse sofort erkannt, stand sie doch schon im Büro des Brennstoffhändlers hinter der Zimmerlinde, während er zwei Flaschen mit Gas und Sauerstoff bezahlte. Der Kommissar werde zugeben, die Büchse sei unverwechselbar. Er habe möglicherweise Lust, dem Brennstoffhändler einmal auf den Zahn zu fühlen. Zu diesem Zwecke den zottigen Köter von gestern abend mitzunehmen, sei bestimmt kein Fehler.

Tatsächlich entpuppte sich der Brennstoffhändler als jener Geldfälscher großen Stils, nach dem schon seit Monaten gefahndet worden war. Am dritten Tag legte er ein Geständnis ab. Für seine Beteuerung, die Büchse sei ihm dreist vor der Nase weggestohlen worden, hatte er weder Zeugen noch fand sie der Kommissar irgendwie erheblich. Als dieser den irrtümlich verhafteten Zett aus seiner Zelle holen ließ, hätte der arme Doktor fast durch die Gitterstäbe gepaßt. Der Kommissar schickte sofort einen wachhabendenden Polizisten ins nächste Feinkostgeschäft. Dann ließ er es sich nicht nehmen, Zett mitsamt dem riesigen Freßpaket eigenhändig in die Bogengasse zu fahren. Es war am späten Nachmittag.

Achse hatte Zett inzwischen bei Muffel krankgemeldet. Nun hüpfte der Doktor aber plötzlich gesund und ohne Handschellen aus Jupps Hintertür! Da war die Freude bei Achse und ihren neuen Freunden Jupp, Amanda und Döhnerich natürlich groß. Sie steigerte sich zum Jubel, als der Kommissar einen ausgefüllten Scheck auf den Gartentisch flattern ließ, bevor er wieder verschwand. Er lautete auf 10.000 Euro. Der Kommissar schob sich seinen Hut zurecht und sagte lächelnd:

»Das ist die Belohnung, die für sachdienliche Hinweise zur Ergreifung des Geldfälschers ausgesetzt worden war. Sie gehört euch.«
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