Sonntag, 20. November 2022
Der Baron läßt sich nicht lumpen

Das Anwesen ähnelte einem bewaldeten Floß, das in den Feldern und Wiesen schwamm. Immerhin war es von einem Wassergraben umgeben – falls es hielt, was die Südseite versprach. Hinter dem Graben erhob sich eine alte Bruchsteinmauer. Ein paar Jahrhunderte früher, und über ihr wären Helme und Hellebarden aufgeblitzt.

Achse hatte die Spitze übernommen. Er betrat die Sandsteinbrücke, die zum Torhaus führte. Am liebsten hätte er sich auf der Stelle in das moorige Wasser gestürzt, von dem ihm eine verlockend würzige Kühle entgegen schlug. Aber das hätte ihm sicherlich den nächsten Rüffel von Doktor Zett eingetragen. So nannte sich Zett jetzt. Er hatte gemeint, vor einem richtigen Schloß müsse man Eindruck schinden.

Achse blieb auf der Brücke stehen und musterte das Torhaus, das eine gewölbte Durchfahrt besaß. Vier rostige Angeln hatten fast das Rot von Achses Schopf. Anschei-nend hatte es einmal ein Tor gegeben. Die Durchfahrt gewährte den Blick auf bucklige Pflastersteine, mächtige alte Bäume und ein hübsches Stallgebäude. Dies alles wirkte einladend, doch für Achse, der inzwischen alarmiert schnüffelte, roch es nach Falle.

»Nett, daß du auf mich gewartet hast!« erklang es ziemlich spitz in seinem Rücken.

Doktor Zett traf ein. Er schnaufte wie ein Walroß. Es war kein Wunder, denn er steckte trotz der Hitze in seinem dunklen Konfirmandenanzug. Gegen die Sonne trug er einen grünen Tirolerhut, der ihn auch tarnte. Da die Konfirmation doch schon ein Weilchen zurücklag, hatten die Hosen und Jackenärmel etwas unvorteilhaft Hochwasser. Außerdem schleppte sich Zett mit einem Koffer ab. Darauf hatte er bestanden. Achses kleinen Rucksack hielt er für absolut stilwidrig. In der Eisenbahn war das ja noch tragbar gewesen, aber inzwischen hatten sie kein Geld mehr für Eisenbahn. Im übrigen schien es in dieser Gegend gar keine zu geben.

Jetzt ließ Zett seinen Koffer auf Achses Füße fallen, bedachte seinen Kumpel im Vorüberkeuchen mit einem grimmigen Blick und pflügte auf die Durchfahrt zu. Schließlich hatte er gewaltig Kohldampf. Zum Frühstück hatten sie lediglich trocknes Brot mit vier gebratenen Hühnereiern gehabt. Die hatten sie in einem dörflichen Pfarrgarten gestohlen. Die Pfanne schlenkerte an Achses Rucksack. Am Gürtel trug er ein Fahrtenmesser. Er war christlicher Pfadfinder gewesen.

Achse bewies Geistesgegenwart. Er hielt Zett an den Rockschößen fest und sagte: »Das würde ich lieber nicht tun!«

Zett fuhr herum und brauste auf: »Warum denn nicht?«

»Weil sie einen Hund haben.« Damit schnüffelte Achse erneut und bekräftigte seinen Befund durch ein Nicken. »Wenn ich mich nicht täusche, stinkt es nach dem Urin einer dänischen Dogge.«

Achse kannte sich aus. Schließlich war sein Alter Hundezüchter – und für ihn, Achse, war das nicht der geringste Ausreißgrund gewesen.

Zett wurde schlagartig blaß. Gerade so ein Riesenviech hatte ihn einmal in den kleinen Finger gebissen, als er es unter dem Kinn kraulen wollte. Gleichwohl durfte er sich nicht die Führung aus der Hand reißen lassen. So blickte er wild in die Gegend, strich sich ausgiebig die schwarze Mähne zurück und stellte schließlich fest:

»Dann dürfte es angebracht sein, das verdächtige Anwesen zunächst nicht zu betreten, vielmehr zu umpirschen. Mir nach!«

Schon hievte er seinen Koffer mit ungeahntem Schwung auf die Brückenmauer, damit seine Krawatten und Rollkragenpullover nicht etwa überfahren würden, und verschwand seitwärts im Gebüsch. Achse folgte ihm.


2

Lehrersohn Zett kannte sich in der heimischen Flora und Fauna aus, dabei besonders im Vogelreich. Deshalb hatten ihn die Mädchen schon vor Jahren kurzerhand Z. getauft. Dahinter verbarg sich der winzige Zaunkönig, der bekanntlich überall, wo man ihn traf, mit einem mächtigen Schellentusch zu imponieren versuchte, der in Indien jeden Elefanten umgeworfen hätte.

Jetzt hielten die beiden Freunde auf einem Trampelpfad, über den sich grüne Gerstenähren neigten, auf den unübersehbaren Turm zu. Er markierte die Südwestecke des Anwesens, war aber selber rund. Insofern ähnelte er dem Schlangenknöterich, der am Ufer des Wassergrabens blühte. Die schöne Pflanze lief an hohen, beinahe blattlosen Stielen in rosafarbenen Walzen aus. Achse sagte sich, sobald ihn Doktor Zett mit dem nächsten wissenschaftlichen Vortrag belästigt habe, könne er sich mit dem Schlangenknöterich vielleicht die Gehörgänge ausbürsten.

Zett schritt voran. Von der Krempe seines Tirolerhutes gedeckt, spähte er emsig zu dem vermeintlichen Schloß, das sich jenseits von Wassergraben und Bruchsteinmauer erhob. Dem Turm war nämlich ein stattliches Herrenhaus vorgelagert. Weder in dessen zahlreichen Fenstern noch in den Schießscharten des Turmes ließen sich allerdings feindliche oder wohlwollende Bewegungen ausmachen. Unter dem spitzen Schieferdach wies der Turm sogar einen Erker auf, in dem blütenweiße Gardinen hingen. Doch auch diese rührten sich nicht.

In Höhe des Turmes verhielt Zett seinen Schritt. Hier knickte der Wassergraben um die Ecke, während sich der Trampelpfad in den Feldern und Wiesen zu verlieren schien. Somit kamen sie nicht umhin, auf die stacheldrahtumzäunte Koppel zu wechseln, die den Wassergraben auf der Westseite des Anwesens begleitete. Bei seiner Gefallsucht wähnte sich Zett natürlich unter Beobachtung. Also kam es nicht in Frage, etwa wie eine Ratte unter dem Stacheldraht durchzukriechen oder sich wie ein Hase die Hacken bis zu einem Tor abzulaufen. Inzwischen war auch Achse am Zaun eingetroffen. Zett verkniff sich eine Rüge wegen Trödelei. Stattdessen hob er mit gewichtiger Miene eine Hand.

»Meine lieber Achse! Wir kennen uns ja erst seit einem Jahr. Somit mußt du wissen: in meiner frühen Jugend war ich ein vielbeneideter Turner. Meine Stärke waren das Reck und die Matten. Manche werden vielleicht schon im Hemd geboren; niemand kommt aber als Denker auf die Welt. Dazu bedarf es erst vieler Stürze und Fehlgriffe. Doch genug der weisen Rede – ich werde dir jetzt zeigen, was eine einwandfreie Flanke ist.«

Zett entledigte sich seiner Anzugjacke und hielt sie Achse hin, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen. Überrumpelt, nahm Achse sie entgegen. Zett hatte bereits einen bestimmten Zaunpfosten ins Auge gefaßt. Während er sich die Hemdsärmel aufkrempelte, fixierte er ihn. Dann nahm er schräg zum Zaun mit ein paar federnden Schritten Anlauf, stützte sich einarmig auf den erwählten Pfosten, wuchs über ihn empor, wobei seine Beine einen Scherenschlag beschrieben – und schon stand er auf der anderen Seite wieder auf seinen tadellos geschlossenen Füßen.

»Bravo!« rief Achse aus. Allerdings grinste er dabei schadenfroh.

Zett hatte lässig die Arme verschränkt. Er linste zum Turm, nahm jedoch in den Gardinen des Erkers noch immer keine Regung wahr. So zuckte er mit den Achseln und rollte seine Hemdsärmel wieder ab. »Meine Jacke, bitte!« sagte er über den Stacheldrahtzaun. »Du bist ja klein genug, um dich unten durchzuschmuggeln.« Achse reichte ihm die Jacke mit der Bemerkung über den Zaun: »Vielleicht wäre es besser gewesen, du hättest mir deine Kopfbedeckung ebenfalls anvertraut, mein schlauer
Zett …«

Zett faßte sich erschrocken auf den Kopf. »Meine Güte – wo ist denn das Luder!?«

Achse deutete durch den Zaun auf die Koppel. Der grüne Tirolerhut lag passend im Gras. Die Delle zeigte nach oben.

»Na wenn schon!« winkte Zett ab. »Ich hatte schon befürchtet, er sei in den Wassergraben gefallen.«

»Das solltest du vielleicht nachholen …«

»Wieso?«

»Heb ihn mal auf!«

Zett tat es – und wich naserümpfend zurück. Sein Tirolerhut hatte sich genau auf einem Haufen von Pferdeäpfeln niedergelassen, die noch dampften.

»So ein Pech!« knurrte Zett, während er den Hut schwenkte, um ihn auszulüften. »Hoffentlich hat uns niemand beobachtet, Achse.«

Achse hakte die Pfanne aus und warf sie durch den Zaun. Vorsichtshalber zog er auch die Mundharmonika aus seiner linken Lederhosentasche. Dann rollte er sich hinüber. Wieder aufgerichtet und wohlbestückt, hielt er schnurstracks auf eine Trauerweide am Wassergraben zu, denn in deren Schatten hatte er den Urheber der dampfenden Pferdeäpfel entdeckt. Zett zwängte sich grummelnd in seine Anzugjacke und folgte ihm.


3

Das Pferd stand wie aus Basalt- und Kreidefelsen gemeißelt da. Einen Hinterhuf hatte es leicht angehoben. Allerdings tropfte sein breites weiches Maul. Achse dachte zunächst, es weine, aber vielleicht hatte es nur getrunken. Grund zum Weinen oder zum Trinken hätte es leider allemal gehabt. Achse wurde von Wellen des Bedauerns ergriffen. Am schlimmsten stand es um die Füße. Sie waren unglaublich dick. Als ob sich das Pferd ihrer schämte, waren sie auch noch mit weißen Fransen behangen. Nur bewirkten diese zottigen Socken gerade das Gegenteil: sie betonten die dicken Füße. Der Eigentümer des Pferdes mußte ein Banause sein.

Inzwischen war Zett eingetroffen und erfaßte das Übel ebenfalls. »Ach du meine Güte!« schüttelte er seinen Kopf. »Wenn Spinoza einmal von der Vollkommenheit des Pferdes sprach, lieber Achse, hatte er bestimmt nicht dieses Exemplar vor Augen.«

Die Bemerkung schien an dem Pferd abzuprallen. Es sah durch die beiden Witzfiguren hindurch. Mähne und Schweif waren ebenfalls weiß, wie die Socken. Sonst war das plumpe Wesen schwarzweiß gefleckt, wie manche Kühe. Allerdings war es ein Hengst. Zett sah es an einem Desiderat: das Euter fehlte.

»Sprich nicht immer so hart!« fuhr Achse seinen Kumpel an. »Frag es lieber nach seinem Namen! Das ist doch das erste, was einem die Höflichkeit gebietet.«

»Wenn du meinst?« Zett setzte ein gewinnendes Lächeln auf, zog seinen Hut und bat das Pferd, ihnen freundlicher-weise zu verraten, mit wem sie die Ehre hätten.

Achse hing wie gebannt an dem Pferdemaul. Er war immer furchtbar neugierig auf andere Kreaturen und ihre Lebensarten. Doch das Pferd blieb stumm und verzog auch sonst keine Miene. Ein unbefangener kluger Kopf, der tagtäglich unter Legionen von Überredungskünstlern aller Art zu leiden hatte, hätte sich vielleicht gesagt, womöglich liege »die Vollkommenheit des Pferdes« gerade in seiner Fähigkeit zu schweigen.

Plötzlich erschrak Achse, weil er aus dem Augenwinkel heraus eine entfernte Bewegung wahrgenommen hatte. Jenseits der Koppel, wo sie an ein Wäldchen stieß, schien es ein Tor zu geben. Gerade zwängte sich ein Mann durch die beiden Querstangen – während sein Hund es vorzog, das Tor mit einem gewaltigen Satz zu überwinden. Dabei beließ es der riesige Köter, der ähnlich gefärbt wie das Pferd war, allerdings nicht. Er stürmte geradewegs auf sie zu.

Achse deutete mit verstülpten Lippen über die Koppel und sagte trocken: »Die dänische Dogge.«

Zett fuhr herum. Er wurde leichenblaß und fiel in Ohnmacht.


4

»Entschuldigen Sie vielmals!« sagte der hochgewachsene, schlanke Mann zu Achse, während er neben Zett auf die Kniee sank. »Ich sah zu spät, daß wir Gäste haben.«

Seine schönen schulterlangen, braunen Haare behinderten ihn nicht, weil er ein Stirnband trug. Er zog eine Art Flachmann aus seiner Umhängetasche, schraubte ihn auf und hielt ihn dem Ohnmächtigen unter die feine Nase. Prompt kam Bewegung in Zett. Er schnüffelte gierig, schlug nach wenigen Sekunden seine Augen auf und verdrehte sie entzückt. Nun richtete sich der Mann befriedigt wieder auf, ohne allerdings den Flachmann von Zetts Oberlippe zu lassen. Auf diese Weise zog er auch Zett mit empor. Der Flachmann wirkte gleichsam wie ein Magnet.

»Teufel!« leckte sich Zett die Lippen. »Das Zeug riecht ja köstlich! Sind Sie vielleicht ein echter Druide?«

Der Mann lächelte leise, während er den Flachmann wieder zuschraubte und in seiner Umhängetasche verstaute. Dann deutete er beiden Sommerfrischlern eine Verbeugung an und sagte ungeziert:

»Sie gestatten – Baron Arnfried vom Schlangenbruch. Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann ..?«

Obwohl es in Zetts Kopf alarmiert klingelte – ein echter Baron! Hochgebildet! Steinreich! – bemeisterte er seine Aufregung, lüftete lässig seinen Tirolerhut und gab zurück:

»Doktor Meingard Zett. Der junge Mann, der freundlicherweise meinen Rucksack trägt, heißt Heribert Achse. Er ist mein Privatsekretär … Vielleicht können Sie uns einen Weg ersparen, Herr Baron. Führt dieser Wassergraben tatsächlich – wenn ich so sagen darf – nahtlos um Ihr Anwesen herum? Sie wissen es ja selber, oft trügt der Schein …«

Achse machte sich nichts aus den geschwollenen Tönen seines Kumpels, er kannte das längst. Dagegen witterte der Baron eine amüsante Abwechslung. Das Leben hier draußen war eintönig. So erwiderte er, zunächst an den Wortführer gewandt:

»Sehr angenehm! Was den Wassergraben betrifft, könnte ich Herrn Doktor und seinen Begleiter mit Hilfe meines Bootes nahezu problemlos davon überzeugen, daß er allen Nachprüfungen standhält. Meine Tochter hat das Boot erst letzte Woche frisch lackiert.«

Jetzt konnte Zett seine großen Augen kaum noch unter seiner Krempe verbergen. »Sie haben tatsächlich eine Tochter? Äh – ich meine: einen Frachter ..?«

Der Baron wehrte lächelnd ab. »Es ist nur ein primitiver Ruderkahn. Er liegt am Torhaus unter der Brücke. Wenn Sie einverstanden sind, machen wir ihn ohne Umschweife los. Das Wetter ist ja wie geschaffen für eine Kahnpartie.«

»Holla!« rieb sich Zett die Hände. »Übernehmen Sie bitte die Führung, Herr Baron!«


5

Den stattlichen Hund des Barons haben wir keineswegs vergessen. Er war gut erzogen. Kaum hatte der Baron die etwas kurzgewachsenen BesucherInnen entdeckt, die im Schatten seines Pferdes standen, hatte er lediglich einen Zweifingerpfiff ausgestoßen und herrisch zum Torhaus gewiesen – schon war die dänische Dogge, die auf Achse und den Doktor einstürmte, in der Luft abgedreht und mit einem mächtigen Satz über den Stacheldrahtzaun auf diesem Trampelpfad verschwunden, den sie nun wieder in umgekehrter Richtung gingen. Achse machte das Schlußlicht. Ab und zu kitzelte er Herrn Doktor Meingard Zett mit einem Schlangenknöterich zwischen Hals und Kragen. Zett wedelte die Blütenwalze jeweils unwirsch weg. Plötzlich erstarrte er jedoch. Während sich der Baron von ihm entfernte, glotzte er wie vom Donner gerührt zur Brücke. Achse umrundete ihn, sah ihm mit besorgter Miene ins Gesicht und säuselte:

»Was hat denn der Herr Doktor? Hitzschlag ..?«

Zett deutete mit hängender Hand auf die Brücke. »Gar nichts mehr habe ich!« jammerte er. »Mein Koffer ist weg!«

Achse grinste schadenfroh, denn es stimmte. Der Koffer lag nicht mehr auf der Brückenmauer. Er wußte nur zu gut, wie teuer dem Kumpel die Krawatten und Rollkragen-pullover waren.

»Vielleicht liegt Herrn Doktors Koffer im Wassergraben«, säuselte Achse weiter. »Bei ihrem mächtigen Maul brauchte ihn die dänische Dogge sicherlich nur anzutippen.«

Doch für Zett verwandelte sich Achses Hieb in Balsam. »So wird es gewesen sein!« hellte sich seine Miene auf. »Die Dogge packt sich meinen Koffer am Griff, um ihn schnurstracks zu der betörenden jungen Frau zu tragen, die der Baron erwähnte! Ich meine seine Tochter. Sicherlich reibt sie sich bereits die Augen angesichts meiner hübschen Kleidungsstücke und der Farbfotos von meiner Konfirmation. Du wirst sehen, Achse, sie wird mich wie einen Prinzen empfangen. Los, lauf schon! Wir müssen zusehen, diese verdammte Kahnpartie hinter uns zu bringen.«


6

Der Kahn schob sich aus dem Brückenschatten. Der Baron hatte ihnen an Bord geholfen. Zett hatte sich gleich das Sitzbrett im Heck gesichert, denn er wollte sehen und gesehen werden. So mußte Achse mit dem Sitzbrett im Bug Vorlieb nehmen. Seinen Rucksack mitsamt der Mundharmonika schob er vorsichtshalber darunter. Dann spähte er zunächst seitlich ins Wasser, doch um festzustellen, ob im Schlamm ein Koffer stak, war es zu trüb. Der Baron saß auf der Mittelbank, um die Ruder zu betätigen. Schließlich war er der Gastgeber. Zett zwinkerte ihm aufmunternd zu, und der Baron lächelte zurück, während seine in der Sonne glänzende Haartracht mal vor Zetts, mal vor Achses Knieen wippte. Er zog die Ruder fast geräuschlos und scheinbar mühelos durch das moorige Wasser. In die knarrenden Ruderdollen mischte sich hin und wieder der rostige Ruf eines Teichhuhns. Zett stellte sein Zwinkern in dem Maße ein, wie ihm die ungewöhnliche Ausgeglichenheit ihres Gastgebers aufging. Er wurde geradezu neidisch. Schließlich räusperte er sich und wagte den Baron zu fragen, wo er jene hernehme.

»Vermutlich eine Berufskrankheit«, erwiderte der Baron lächelnd.

»Eine Berufskrankheit? Und ich hatte schon gehofft, endlich einmal einen echten Müßiggänger getroffen zu haben!«

Der Baron lachte leise auf, ohne sich im Rudern zu unterbrechen. »Für meinen Adelstitel kann ich mir nichts kaufen, lieber Doktor Zett. Leider versäumte es mein alter Herr, mir ein Aktienpaket in die Wiege zu legen. Sie erzählten mir unterwegs, Sie hätten Ihren Dr. phil. in Berlin bei Professor Ignaz Honigbär gemacht. Dann wird Ihnen ja auch der Name Georg Simmel geläufig sein. Das Glück dieses Privatgelehrten – der erstaunlicherweise einmal an philosophischen Fakultäten in Mode war – ging an mir vorbei. Sein Vater Ewald war Gründer und Mitinhaber der Berliner Sarotti-Fabrik.«

»Ja, sicher«, beeilte sich Zett zu nicken. »Da konnte der gute Georg Schimmel in Schokolade baden, bis daß er ein Rappe war … Und Sie? Was sind Sie denn nun von Beruf?«

»Glatteur.«

»Glattör ..? Das ist ja großartig! Und was machen Sie so im einzelnen ..?«

Der Baron lächelte. »Ich beherrsche und erforsche die Kunst des Glättens oder Nachformens von Wäsche- und Kleidungsstücken aller Art. Schamkapseln, Halskrausen, Damenblusen etwa sind nach dem Waschen unbedingt wieder in Form zu bringen. Bei Ihrem hautengen Anzug würde es genügen, ihn zu glätten. Bietet Ihnen Ihr Urlaubszelt keine Steckdose, an der Sie ein elektrisches Bügeleisen anschließen könnten, täte es auch ein schlichter Glättstein. Unweit von Michelstadt im Odenwald wurde 1963 ein wunderbarer Glättstein aus weißgeädertem schwarzem Granit gefunden, der auf 120 bis 70 vor Christus datiert werden konnte. Mein Kollege Hubertus Segelohr – aber ich muß mir Einhalt gebieten. Man kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, und der Besucher langweilt sich zu Tode.«

»Ach woher, ach woher!« beteuerte Zett mit gespreizten Händen. »Das Forschungsfeld des Glatteurs ist ohne Zweifel abenteuerlicher und fesselnder als eine Tafel Schokolade. Nur frage ich mich, woher Sie dabei jene Gelassenheit nehmen, die mich an Ihnen so besticht?«

»Selbstverständlich vom Bügeln.«

Zett sah ihn entsetzt an. »Vom Bügeln ..? Ja macht das denn nicht Ihre Tochter?«

»Nein«, zuckte der Baron die Achseln. »Sie empfindet das Bügeln als Strafe.«

»Ja wie denn – und Sie etwa nicht?!«

Der Baron nickte nachdrücklich. »Könnte ich nicht täglich mindestens ein Stündchen bügeln, wäre mir sterbenselend zumute. Mein Gleichgewicht wäre dahin, der Haussegen hinge schief, Theorie und Praxis fielen auseinander – mein Forschungsfeld wäre im Nu ein Trümmerberg.«

Zett verengte seine Augen. Der Baron, der sich von ihrer Erörterung nicht im mindesten im gleichmäßigen Rudern beeinträchtigen ließ, nahm natürlich an, der Doktor versuche derart die für ihn neuen Eröffnungen aus der Bügelkunde zu bewältigen, um eine halbwegs scharfsinnige Bemerkung beisteuern zu können. Doch dessen verblüffter Spähblick galt seinem eigenen Koffer! Dieser war soeben jenseits der Baronsschultern in Zetts Gesichtsfeld gesunken. Sie hatten fast den Turm erreicht. Der Koffer schaukelte an einem Tau ungefähr eine Bootshöhe über dem Wasserspiegel. Drei oder vier Bootslängen trennten sie noch von der Stelle. Achse hockte versonnen auf seinem Bugbrett und ahnte nichts Schlimmes. Und der Baron schien nach wie vor geduldig auf einen Kommentar seines gelehrten Gastes zu warten.

Höheres Nachdenken vorspiegelnd, ließ Zett seinen Blick an dem Tau emporklettern. Es verlief parallel zum Turm. Auf der Fensterbrüstung des vorspringenden Erkers verschwand das Tau. Die Gardinen waren zugezogen.

Zett linste wieder über die Schultern des Barons. Der schwere Koffer drehte sich wie ein Rührwerk in Zeitlupe. Eine Bootslänge trennte ihn noch vom Bug und der dort sitzenden Person, die sich schon oft genug Frechheiten gegen ihn, Doktor Zett, herausgenommen hatte. Eine halbe Bootslänge! Zett bebte vor Spannung.

»Aua!« schrie Achse.

Fast gleichzeitig platschte Wasser; das Boot schwankte; der Baron hob die Brauen. Er ließ die Ruder fahren und wandte sich um. Wo Achse gethront hatte, schaukelte ein Koffer. Von dem rothaarigen Bengel selber war im Umkreis des Bugs nichts zu entdecken. So wandte sich der Baron wieder seinem Gesprächspartner zu.

»Ho, ho!« schlug sich Zett die Schenkel. »Mein Koffer hat ihn von Bord gefegt! Mit seinem dürftigen Grips ist er baden gegangen! Die Hechte knabbern bereits an seinen knusprigen Segelohren! Ich lache mich tot!«

Der Baron lächelte nur. Dafür war in Zetts Rücken der Kommentar zu vernehmen: »Ich habe nichts dagegen, lieber Zett!«

Zett fuhr herum. Achse lag rücklings auf dem Notfallpaddel, das er sich geistesgegenwärtig geschnappt hatte. Während er mit seinen nackten Beinen gemächlich das Wasser trat, hatte er seine Hände unter dem Kopf verschränkt. Wahrscheinlich hatte er rechtzeitig Lunte gerochen: Zett würde sich für den Reinfall mit seinem Hut (auf den Pferdeäppeln) rächen wollen.

Zett knirschte mit den Zähnen. Er selber war mehr als wasserscheu. Achse hatte ihm sogar schon einmal vorgehalten, nach einem ganzen Sommertag in seinem lächerlichen, zwickenden Konfirmandenanzug stänke er wie ein Harzer Roller.


7

Sie nahmen Achse wieder an Bord. Der Baron löste das Tau vom Koffergriff; es schnurrte sofort in den Turmerker hinauf. Während Zett und Achse dem Tau nachblickten, griff der Baron erneut in die Ruder. Er umkurvte den Turm, worauf der Kahn zwischen Bruchsteinmauer und Pferdekoppel dahinglitt. Als sich Achse beiläufig erkundigte, ob in dem Erkerzimmer des Turmes zufällig seine Tochter hause, nickte der Baron nur bekümmert. Es hätte Achse nicht gewundert, wenn ihm das junge Weibsbild auf dem Kopf herumtanzte. Die Gedanken Zetts kreisten – oberflächlich betrachtet – um sehr ähnliche Vorstellungen. In seinem Gehirnkasten, der die Gestalt eines Turmerkers angenommen hatte, drehte sich eine splitternackte bezaubernde junge Frau. Das konnte er sogar durch die Gardinen sehen, so scharfe Augen hatte er. Gleich würde er die Gardinen teilen, um mit feuriger Gebärde …

Diese Vorstellung wurde jäh unterbrochen, weil unmittelbar neben dem Kahn ein Wiehern erscholl. Schon schob sich ein weißbemähnter Pferdeschädel aus dem Vorhang der Trauerweidenzweige. Das wuchtige Reit- oder Zugtier, das ihnen vor kurzem jede Auskunft verweigert hatte, bleckte die Zähne.

»Ach, Tinker!« keuchte der Baron nicht ohne Zärtlichkeit in der Stimme und stemmte die Ruderblätter gegen das Wasser um zu bremsen. »Du bist ja ein rechter Strauchdieb und Wegelagerer!«

Er kramte einen rotwangigen Apfel aus seiner Umhänge-tasche, reichte ihn Tinker auf flacher Hand und verfolgte dann gerührt, wie sein Pferd den Apfel zermalmte.

Zett konnte es kaum mitansehen. Er räusperte sich und bemerkte: »Nach der wirkungsgewaltigen Idee des Soziafrißmus, die Ignaz Honigbär stets sehr hochhielt, sollten alle Lebewesen ihre Lebensmittel brüderlich teilen. Kurz und gut, mein lieber Herr Baron – hätten Sie in Ihrer Umhängetasche vielleicht noch weitere Äpfel?«

Der Baron schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider war es der letzte, sind wir doch – meine Dogge und ich – im Wald bereits von Siebenschläfern, Misteldrosseln und Kaisermänteln angebettelt worden.« Dann faßte er sich erschrocken an den Mund.

»Wollten Sie damit etwa andeuten, Sie seien hungrig?«

»Hungrig?!« rief Zett erbost. »Das ist gar kein Ausdruck. Ich war bereits halbtot, als wir von den Hügeln aus in mindestens drei Kilometern Entfernung Ihr Anwesen aufblinken sahen! Was soll jetzt werden? Wollen Sie auf der anderen Seite der Torhausbrücke mit einer Leiche an Bord anlegen? Denn bis dahin bin ich jede Wette vor Entkräftung gestorben.«

Achse tippte den Baron auf die Schulter. »Ihre Tochter mag ein durchtriebenes Luder sein, Herr Baron – hat sie wenigstens einen guten Kern?«

Der Baron hatte sich beeilt, den Kahn wieder in Fahrt zu bringen. Jetzt nickte er im Rudern bedächtig. »Das sicherlich! Im Ernstfall wird ihr Stolz dem Mitleid weichen.«

»Na also«, knurrte Achse zum Heck hinüber, wo der gallige Zett auf seinem Sitzbrett hockte. »Du solltest dich endlich einmal um deinen Koffer kümmern!«

Der Koffer lag zwischen dem Baron und Zett auf den Planken. Nachdem sich Zett geschüttelt hatte, als sähe er ihn zum ersten Mal, beugte er sich langsam hinab, um die Riegel schnappen zu lassen und den Deckel zu lüften.

»Oohhh ..!« machte Zett, während ihm die Augen übergingen.

Achse hatte längst seinen Hals gereckt. Jetzt schnupperte er mit Zett um die Wette. Bratwürste! Kartoffelsalat! Hartgekochte Eier, Saure Gurken und Tomaten! Selbst das Besteck und ein Salzstreuer fehlten nicht. Alles war appetitlich auf einem karierten Tuch ausgebreitet, das sicherlich auch die Krawatten und Rollkragenpullover schützen sollte, womöglich auch die Farbfotos von der Konfirmation.

Zett war begeistert. Er rief Achse zu, das Kriegsbeil ins Wasser zu werfen und lieber Essen zu fassen. Der Baron ließ die Ruder fahren und rutschte schmunzelnd beiseite. Achse schwang sich neben ihn auf die Mittelbank. Zett gab das Besteck und die Pappteller aus. Schon mampfte die Bootsbesatzung, daß der Kahn schwankte. Es gab sogar Tischmusik. Hinter der Bruchsteinmauer ragte nämlich ein alter Walnußbaum auf, in dem eine Turteltaube hockte. Bei ihrem Schnurren rutschten die hartgekochten Eier umso besser durch den Schlund. Zett war zuerst fertig. Er rülpste verstohlen und rieb sich den Bauch. Dann meinte er etwas anzüglich, er wolle ja nicht meckern, aber jetzt wäre ein Espresso nicht schlecht …

Der Baron lächelte und griff in seine Umhängetasche. »Da weiß ich etwas Besseres!«

Er zog den Flachmann hervor, mit dem er den Doktor aus der Ohnmacht erweckt hatte. Er ließ Zett zunächst das bunte Schild mustern, das auf dem Flachmann klebte.

Zett rümpfte die Nase. »Bitterer Schwedentropfen«, las er von dem Schild ab. »0,2 Liter … In der Original-Rezeptur von Maria Treben … Mein Gott, was die nicht alles schreiben!«

Doch plötzlich erhellte sich seine Miene. »Alkoholgehalt 32 Prozent!«

Daraufhin riß er den Flachmann beinahe an sich. Er schraubte den Deckel ab und trank mit gierigen Schlucken. Zwar schüttelte er sich mehrmals wie eine Wasseramsel, doch andererseits sackte er sichtlich in sich zusammen. Schließlich fielen ihm die Augen zu. Die leergetrunkene Flasche entglitt ihm. Dann fing er zu schnarchen an.


8

Der Baron hatte die Nordseite seines Anwesens in Angriff genommen. Der Kahn glitt zwischen der Bruchsteinmauer und einem Kartoffelacker dahin. Da die Kartoffeln gerade blühten, wirkte der Acker mal weiß, mal rosa, mal violett angehaucht. In einiger Entfernung schienen sich die blühenden Kartoffelkrautzeilen gegen eine bewaldete Anhöhe zu stemmen. Für den Baron lag der Grund dafür auf der Hand.

»Sehen Sie den großen Vogel, der über der Anhöhe kreist, Herr Achse?«

Er hielt »Achse« für den Nachnamen des Rotschopfes. Der hatte inzwischen an Zetts Stelle das Heckbrett eingenommen. Zett war nämlich vom Schlaf überwältigt in seinen Koffer und das Eßgeschirr gekippt. Daraufhin war der Deckel des Koffers heruntergefallen. Zett focht es nicht an: Zum Heck hin ragten seine Schuhe, zum Bug hin seine feine schnarchende Nase aus dem Koffer.

Achse beschirmte seine Augen mit der Hand, obwohl er die Sonne im Rücken hatte, verkniff sie und nickte. »Tatsächlich! Der ist aber verdammt groß, Herr Baron. Vielleicht ein Adler?«

»Viel schlimmer, Herr Achse!« raunte er unheilschwanger. »Haben Sie nicht den langen nackten Hals bemerkt? Es ist der schreckliche Gemüsegeier!«

Achse wurde blaß, obwohl er den Vogel nicht besonders gut kannte. Wie der Baron mit unterdrückter Stimme erläuterte, pflegte sich der Unhold streng vegetarisch zu ernähren, dabei vorzugsweise von Kartoffelkraut.

»Auweia!« Achse deutete auf die Umhängetasche. »Da Ihre Dogge nicht da ist, nehme ich an, Sie sind bewaffnet?«

Der Baron winkte mit überlegenem Lächeln ab und machte seine Gast auf die zwischen den Kartoffelzeilen verlaufenden Rohre aufmerksam. Achse tippte auf eine Beregnungsanlage.

»Gewiß! Aber sie ist überall mit speziellen Sensoren versehen, die auf Gemüsegeierschatten ansprechen! Ich hoffe, jetzt sind Sie platt.«

»Und warum sollte ich?«

»Ach so!« Der Baron hob entschuldigend die Hände, bevor er wieder ruderte. »Als Laie können Sie natürlich kaum wissen, daß Gemüsegeier ausgesprochen wasserscheu sind. Sobald es auch nur zu regnen anfängt, ergreifen sie in panischer Angst die Flucht. Deshalb haben sie diese langen Hälse. Können sie nicht schnell genug entkommen, kriegen sie immerhin ihre Köpfe ins Trockene.«

Jetzt begriff Achse. »Genial, Herr Baron! Sie schlagen den Gemüsegeier mit seiner eigenen Schwäche, und es kostet Sie keinen Pfennig. Denn beregnen müssen Sie die Kartoffeln ja sowieso.«

»Sie sagen es«, nickte der Baron.


9

Auf der Ostseite wurde der Wassergraben von einer Wiese begleitet, auf der eine Schafherde graste. Das Rupfen der Schafe ging wie ein Munkeln durch ihre Reihen – aber womöglich auch durch die Gehirnwindungen des im Koffer schnarchenden Zetts. Träume hatte er ja vermutlich, und die Schafweide war ungefähr sein Traumniveau. Hin und wieder entquoll dem Wanst eines Schafes ein rülpsendes »Böh!«, während die Lämmer dünne »Mähs!« von sich gaben. Da die Schafe ähnlich den 12 Millionen täglichen Bild-Zeitungs-Lesern für die Feinheiten menschlicher Sprache nicht empfänglich waren, entschloß sich der gelassen rudernde Baron, Herrn Achse in ein noch größeres Geheimnis einzuweihen – ungleich bedeutender als jene auf Gemüsegeier zugeschnittene Beregnungs-vogelscheuche. Es gehe um eine Erfindung auf seinem Spezialgebiet. Vor wenigen Tagen erst habe er seinem Prototyp den letzten Schliff gegeben. Für die kommende Woche habe er bereits eine Pressekonferenz anberaumt. Dort werde er seine revolutionäre Erfindung der Öffentlichkeit vorstellen.

»Großartig«, nickte Achse etwas zerstreut, weil er von den weidenden Schafen gefesselt war. »Um was handelt es sich denn?«

»Um ein Bügeleisen.«

Achse schluckte. »Sind Sie sicher? Ich glaube, meine Mutter hatte auch schon eins.«

Der Baron ließ die Ruder los, um verächtlich abzuwinken. »Unsere Mütter! Unsere Mütter haben gleichermaßen ihre Wäsche wie sich selbst vergewaltigt. Mit Bügeleisen, die Dampfschiffen oder Motorbooten gleichen, ziehen sie wider die Natur! Aber das Leben verläuft nicht in Kanälen. Es kennt keine Zielstrebigkeit. Die 'Teleologie' der Profitraten und Vernichtungsfeldzüge ist ihm fremd. Vielmehr hat es etwas Kreisläufiges und Spielerisches ..!«

Achse machte ein ratloses Gesicht. Der Baron hatte einen Ausdruck der Verzückung angenommen. Jetzt fing er an sich zu wiegen, wobei seine schönen, schmalen Hände über dem Koffer, der zwischen ihnen lag, tänzerische, ja geradezu anmutige Figuren beschrieben. Was hatte das noch mit Bügeln zu tun?

»Holla!« rief Zett und schnellte empor, sodaß er in seinem Koffer zum Sitzen kam, den Deckel und die Bootswand im Rücken. »Ich habe alles mitangehört.«

Er blickte triumphierend zwischen Achse und dem Baron hin und her, um sich an deren Verdutztheit zu weiden. Schließlich war er kein Schaf. Nun leitete er mit einer huldvollen Handbewegung den geschäftlichen Teil der Unterredung ein.

»Ich bin ganz Ohr, Herr Baron. Was ist mit Ihrem Bügeleisen? Bringt es zwei oder 20 Millionen ein?«

Der Baron lächelte nachsichtig. »Mein Bügeleisen hat die Form einer Niere, die eine Nase hat. Damit ist in jeder Hinsicht für Anschmiegsamkeit, Selbstvertrauen und Erfolg gesorgt. Das Bügeleisen liegt vollendet im Handteller. Die Hand vollführt die Bewegungen, die ich vorhin angedeutet habe, gleichsam automatisch. Wie sich versteht, ist das Bügeleisen schnurlos; es wird in einer Art Apfeltasche aufgeladen und zugleich verwahrt. Durch die Nase des Bügeleisens sind auch die unzugänglichsten Winkel des Kleidungsstücks erreich- und formbar. Ein schmaler Wulst, der wie ein Keder um das Bügeleisen läuft, schützt die Fingerkuppen. Eine leichte Narbung der Oberfläche vervollkommt die Griffigkeit. Mit meinem Bügeleisen wurde der Glättstein fünf Stufen höher gehoben. Obwohl das Gehäuse aus Kunststoff ist, steht es dem Glättstein auch in ästhetischer Hinsicht nicht im geringsten nach. Die genarbte gewölbte Oberfläche ist türkisfarben, der umlaufende Keder gelb lackiert. Vielleicht möchten Sie meinen Prototyp einmal besichtigen, Herr Doktor Zett?«

»Mit Vergnügen, Herr Baron, mit Vergnügen!« rieb sich Zett die Hände. »Vielleicht ließe sich die Besichtigung Ihrer Elektrowerkstatt mit Stippvisiten in Ihrer Speisekammer und in Ihrem Weinkeller verbinden?«

Der Baron hob leicht die Hand. »Das ist doch selbstverständlich, Herr Doktor.«

Da schnellte Zett mit einem erneuten Holla-Ruf aus seinem Koffer. Schon hatte er den Baron von der Mittelbank auf den Platz im Bug genötigt. Dann griff er taten- und weindurstig in die Riemen, daß die Dollen kreischten. Der Kahn schoß los. Achse hätte es kaum für möglich gehalten. Selbst die Schafe staunten nicht schlecht.


10

Der Kahn tauchte in den Schatten der Torhausbrücke und lief mit einem Schurren auf dem sandigen Uferstreifen auf. »Alles Aussteigen!« rief Zett und bückte sich nach seinem Koffer. »Kassieren tue ich nach dem Essen!«

Nachdem sie die Uferböschung erklommen hatten, betraten sie die Brücke. Der Baron ging voran. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, den schweren Koffer des Doktors zu tragen, doch nun hätte er ihn beinahe fallen gelassen. Der Baron blieb wie angewurzelt stehen und starrte in die gewölbte Durchfahrt: sie war vergittert. Jemand hatte die beiden schmiedeeisernen Torflügel eingehängt.

Zett konnte es auch nicht fassen. »Spukt es denn hier?« jammerte er. »Vorhin waren doch gar keine Torflügel da!«

»Nun ja«, strich sich der Baron mit seiner freien Hand gedankenvoll durchs schulterlange Haar. »Sie lehnten seit Jahren um die Ecke an der Torhauswand. Als Bügelkundler, bei dem sich auch die eigene revolutionäre Woge schon geglättet hat, habe ich ja eigentlich keine Überfälle zu befürchten. Vielleicht hat sich jemand einen Scherz erlaubt.«

Zett lachte höhnisch. »Schwerer Scherz! Jeder Torflügel wiegt mindestens so viel wie das Ihnen wohlbekannte dicke Pferd mit den Klumpfüßen. Sie haben uns aber versichert, Sie bewohnten dieses Anwesen allein mit Ihrer zartgebauten Tochter. Oder sollte sie sich im Gutsteich gerade mit ihrem Bräutigam Gulliver suhlen?«

Der Baron ließ sich im Striegeln seiner Haare nicht erschüttern. Während er es nicht für ausgeschlossen hielt, Dogge und Pferdchen hätten geholfen, schüttelte Achse unwirsch seinen Kopf. Offenbar fühlten sich seine Begleiter blockiert. Sie schienen wie selbstverständlich davon auszugehen, das Tor sei verschlossen. Achses Naturell dagegen war es ziemlich fremd, stets das Schlimmste anzunehmen. So schritt er zum Tor, um daran zu rütteln. Prompt gab es nach, wenn auch widerstrebend. Als er beiden Torflügeln kräftige Tritte mit der Fußsohle versetzte, schwangen sie kreischend auf und fingen sich erst an den gewölbten Torhauswänden, wobei ein bißchen Putz herunterfiel.

»Na also!« knurrte Achse und wandte sich um. Arme in die Hüften gestemmt, fügte er hinzu: »Wenn die gebildeten Herren vielleicht nähertreten wollten ..?«

Plötzlich zuckte er zusammen. In seinem Rücken war ein scharfes Kommando zu vernehmen, gefolgt von einem Aufwiehern. Gleichzeitig gingen die Münder sowohl des Barons und wie Zetts auf – vor Überraschung und Entsetzen.

Achse fuhr herum. Das bullige Pferd! Die befransten dicken Füße voran! Es stürmte die Durchfahrt!

Achse rannte in panischer Angst davon. Da ihm freilich Zett im Wege stand, gingen beide Freunde zu Boden. Der Baron kicherte.


11

»Ein rassiges Roß!« nickte Zett mit Kennermiene. »Auch ungewöhnlich klug; man sieht es an den großen Füßen.«

Achse verstülpte seine Lippen. Immerhin hatte der schwere Tinker noch rechtzeitig gebremst, obwohl er zusätzlicher Schubkraft durch angespannte Last unterlegen hatte. »Ich muß sagen, die Kutsche wirkt praktisch. Auf den beiden gepolsterten Bänken könnten sogar Leute schlafen.«

Der Baron nickte lächelnd und dachte bei sich, die Leute dürften nur nicht gerade vom Format Gullivers sein. Sie gingen langsam um das Fuhrwerk, das auf der Brücke stand, um sich alles genau zu besehen. Die beiden Bänke, zueinander gewandt, waren aus Roßhaar gepolstert und mit schwarzem Leder bezogen, wobei die Rücken eine wunderschöne Heftung in Zeilen von kleinen rautenförmigen Kissen zeigten. Das zurückgeklappte Verdeck und das Gestell der Kutsche dagegen waren weiß. Wie es aussah, war die Kutsche auf das Pferd abgestimmt worden. Tinker stand wieder wie aus Stein gehauen in der gabelförmigen Deichsel; nur sein langer Schweif zuckte nach den Fliegen. Die Zügel waren am Geländer des Kutschbocks verknotet, der etwas dünner als die Innenbänke gepolstert war – wohl um das Einschlafen beim Kutschieren zu verhindern. Zett deutete auf eine lange Rute, die seitlich am Kutschbock in einer Röhre steckte:

»Vermutlich die Antenne vom Autotelefon?«

»Nein«, erwiderte der Baron. »Die Peitsche.«

»Und das?« Achse klopfte gegen einen Kasten, der zwischen den beiden Achsen unter dem Fahrgestell hing.

»Der Kofferraum. Ich glaube, zur Zeit liegen nur zwei Campingstühle und ein Klapptisch drin. Der Tisch ist so schmal, daß er auch in der Kutsche aufgebaut werden kann.«

»Wie praktisch!« schwärmte Achse erneut.

Zett hatte Mühe, ihn nicht nachzuäffen. Er wurde allmählich ungehalten, weil er trotz seiner beflissenen Lobeshymnen in einem fort an die Speisen und Weine im Schloß denken mußte, die ihnen der Baron versprochen hatte. Jetzt stellte die kleine Ausfahrt, die der Baron offenbar arrangiert hatte, wieder eine Verzögerung dar. Vielleicht sollte ich ihm ganz vornehm mein Befremden zeigen, dachte Zett. Er wandte sich ihrem Gönner auch schon zu – jedenfalls vermeintlich. Denn der Baron stand gar nicht mehr neben ihnen.

Zett stieß Achse an. »Hast du den Baron gesehen? Eben war er doch noch da!«

Achse schüttelte nur zerstreut seinen Kopf. Er stand gerade im Bann der niedrigen Tür, die über dem Kasten der Kutsche in die Seitenwand eingelassen war. Er machte sie auf und zu; sie war gut geölt. Auf der anderen Kutschenseite gab es ebenfalls eine. Sehr praktisch! Von wo man auch kam, man hatte immer einen Fluchtweg.

Jetzt fluchte Zett sogar. Er fuhr Achse an, er möge endlich die blöde Tür in Ruhe lassen und stattdessen lieber zum Torhaus glotzen: da hätten sie den Salat!

In der Tat, das Tor war wieder geschlossen. Mehr noch, es war so zu wie nie, prunkte doch nun eine dicke Kette mit einem Vorhängeschloß über der Klinke. Da machte selbst Achse ein langes Gesicht.

Zett schäumte. »Sollen wir jetzt das Pferd schlachten? Ich komme vor Hunger gleich um!«

Plötzlich blickten sie vereint nach oben. Über der Durchfahrt wurden zwei Fensterflügel aufgestoßen. Der Mann, der sich hinauslehnte, war der Baron.

»Sie müssen mich vielmals entschuldigen! Ich hatte ganz vergessen, daß ich einen Termin mit meinem Patentanwalt habe; Sie wissen schon, wegen des Bügeleisens. Sie werden den kleinen Imbiß ohne mich einnehmen müssen.«

»Den kleinen Imbiß?« rief Zett. »Wo ist er denn, der Kleine?«

»Klappen Sie nur das Sitzbrett vom Kutschbock hoch! Dort finden Sie auch die Bedienungsanleitung.« Damit hob er grüßend die Hand und schloß das Torhausfenster wieder.

Sie enterten sofort den Kutschbock, der eine schmale Plattform besaß. Von dieser aus lüfteten sie Schulter an Schulter das Sitzbrett und steckten ihre Nasen in die Truhe, die so zum Vorschein kam. »Oooh!« riefen sie im Chor.

Die Truhe war randvoll mit Essen und Getränken. Der Zett entdeckte sogar ein Schraubglas mit Kaviar. Achse roch köstlichen Kuchen. Doch zunächst hieb er Zett auf die Finger. »Willst du wohl warten? Unter den Augen des Barons doch nicht! Wir suchen uns zum Picknick ein schattiges Plätzchen in der freien Natur – wozu sind wir motorisiert?«

Das sah Zett ein. Er hatte inzwischen eine Tasche aus Klarsichtfolie auf der Innenseite des Sitzbretts entdeckt. Er zog ein Heft heraus, klappte die Truhe zu und las Achse in feierlichem Tonfall den ganzen Hefttitel vor. Wie kutschiert wird und wie das Pferd zu versorgen ist. Er schlug das Heft auf und fügte auch die handschriftliche Bemerkung hinzu, die mit »Baron Arnfried vom Schlangenbruch« unterzeichnet war. Danach stellte das Fahrzeug eine zeitlich unbegrenzte Leihgabe an die Herren Heribert Achse und Meingard Zett dar.

»O wir Glückspilze!« rief Achse mit leuchtenden Augen. »Jetzt sind wir fahrendes Volk. Nie mehr Rucksack schultern! Nie mehr Koffer schleppen, alter Zett!«

Zett war wie umgewandelt. Er hüpfte auf die Brücke, stieß seinen Koffer in die Kutsche und schwang sich schon wieder auf den Bock. Nachdem er die Bedienungsanleitung überflogen hatte, warf er das Heft – über seine Schultern – verächtlich hinterher. »Die Sache ist kinderleicht!«

Damit löste er die Zügel vom Geländer, die allerdings Leinen hießen. Er nahm sie vorschriftsmäßig in die Linke, zog mit der Rechten die Peitsche aus der Röhre und setzte sich kerzengerade auf. Dann gab er Leine nach, legte die Peitschenschnur ohne zu knallen an Tinkers Flanke an und machte »Hüh!« – prompt ruckte die Kutsche. Tinkers mächtiges Hinterteil begann zu schaukeln; die Kutsche gewann an Fahrt.

Zett sah Achse Bestätigung erheischend an. »Was habe ich gesagt? Ein Kinderspiel. Soll ich Tinker mal traben lassen?«

Achse nickte nur. So schlug ihnen der Fahrtwind noch erfrischender um die Nasen. Die Staubwölkchen, die Tinker mit seinen dicken Füßen aufwirbelte, wurden von seinen wippenden Fußfransen in Schach gehalten. Während die Schatten der Alleepappeln über Tinkers Kuppe huckelten, flogen in einem Spargelfeld Kiebitze auf. Ihre kläglichen Rufe brachten Achse auf eine Idee. Er zog seine Mundharmonika aus der Lederhose und stimmte ein schmissiges Volkslied an. Bei den christlichen Pfadfindern war es meist gemieden worden. Dem großen Schürzenjäger Dr. Zett schien die damit verbundene Ironie zu entgehen, denn er summte gleich mit. Es handelte sich um das bekannte Lied Jetzt kommen die lustigen Tage, Schätzle ade
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