Freitag, 26. August 2022
Konräteslust Kap. 26–32


26

Das Einsiedlerhäuschen des Schriftstellers Heinz Jäckel zeigte den gleichen dunkelroten Backstein wie der Bahn-hof. Die kleinen, aber zahlreichen Fenster erinnerten noch an die frühere Nutzung als Toiletten- und Waschhaus. Über den leicht geschwungenen Fensterstürzen lief ein abgesetzt gemauertes Ornamentband nach Art eines Frieses ums Haus. Achim sah es bei einem Rundgang um das Häuschen, denn Birgit war zunächst einmal auf die Bahnhofstoiletten geeilt, weil Jäckels Klause in sanitärer Hinsicht zu wünschen übrig ließ. Die Bahnhofsuhr zeigte kurz nach 11. Der Himmel war verhangen. Das Häuschen hatte drei Außentüren. Es maß höchstens fünf mal acht Meter. Der niedrige Dachstuhl, der nur einen Kriechboden bergen konnte, war mit okerfarbigen Ziegeln gedeckt. Auf der anderen Seite der bucklig gepflasterten Bahnhofs-straße, die einstmals so manchen Trabi in ein Trapez verwandelt haben mußte, zog sich eine Zeile geduckter Vorstadthäuschen bis zur Hauptstraße hin. Dieser Zeile war Achim vor wenigen Tagen gefolgt ohne zu ahnen, daß sie an einem Liebesbrief schrieb.

Jäckels Vordertür aus beinahe gelber Eiche wirkte neu und gediegen. Sie klingelten. »Ist auf!« erscholl es von drinnen. Birgit drückte die Klinke: es stimmte. Sie erblickten den Schriftsteller, der laut Birgit Anfang 50 war, durch zwei andere Türen vor einem großen Kachelofen, den er gerade schürte. Sie schlossen die Tür und gingen zu ihm. Er richtete sich auf, wetzte seine klobigen Hände zwecks Säuberung aneinander und reichte ihnen die Rechte. »Hallo, Hallo! Achim? Freut mich. Ich beneide Musiker-Innen.«

»Warum?« wollte Birgit wissen.

»Sie können ihre Noten immer schön übereinander schreiben, damit man alles gleichzeitig hört. Mach das mal mit Buchstaben in einem Text!«

Sie schmunzelten. Jäckel hatte etwas von einem derben Kobold oder Waldschrat. Jedenfalls sah er nicht wie die SchriftstellerInnen aus, die die Edelfotografin Isolde Ohlbaum ins rechte Licht zu rücken pflegte. Immerhin paßte sein etwas gestauchter Schädel mit den ausgeprägten Stirnknochen und der breiten Nase zu seiner ganzen gedrungenen Gestalt. Sein brünettes Kopfhaar trug er kurz, doch hatte er buschige Augenbrauen, die seine Angriffslust eher unterstrichen als verbargen. Jetzt nickte er auf den Kachelofen, tätschelte ihn wie einen Ackergaul und erklärte Achim:

»Mein bestes Stück! Oder auch: das Herzstück dieser bescheidenen Villa. Wir legten Ofen und Kamin beim Umbau zentral an, sodaß sich hier die wesentlichen Zwischenwände treffen. Der Ofen strahlt in alle Zimmer, wird aber nur von hier aus befeuert, wie du siehst. So bleibt der Dreck in der Werkstatt.« Er nickte auf eine Außentür, die zum Bahnhof ging: »Ab und und zu fege ich ihn kurzerhand aus der Tür – fertig!«

Achim nickte. Die kleine Werkstatt enthielt auch das Brennholz, einen Sägebock und Jäckels Fahrrad. Sie gingen nach vorn. Nach dem Pufferzimmerchen mit Duschkabine und einem Holzkasten, in dem Achim das Klo vermutete, standen sie wieder in Jäckels Küche, die auch als Flur diente. Sie betraten das Hauptzimmer, das allein die Westhälfte des Häuschens einnahm.

»Nehmt Platz, seht euch um, wie ihr wollt!« sagte Jäckel. »Soll ich uns drei Cappuccinos aus dem Bahnhof holen?«

»Ich Eselin!« nickte Birgit. »Die hätte ich gleich mitbringen können; ich war eben auf dem Klo.«

»Macht nichts!« winkte Jäckel ab und verschwand.

Das Zimmer war spärlich und schlicht möbiliert. Auf dem Bett lagen ein paar Kissen. Gardinen gab es überhaupt nicht, Bilder nur wenige. Eins von ihnen, das Plakatgröße besaß, war merkwürdigerweise umgedreht. Eine Ausnahme unter den Möbeln bildete ein gepolsterter Schaukelstuhl aus schöngemasertem, hellem Holz, der an einen Schlitten erinnerte. »Esche«, sagte Birgit, die Achims Blick sah. »Heinz hat ihn von seiner Großmutter geerbt und in der Wolkenbank aufarbeiten lassen. Das ist unsere Polsterei.«

Der Schaukelstuhl stand unweit der verglasten Hintertür, die Achim bereits von außen gesehen hatte. Er nahm Platz und schaukelte Probe. »Nicht übel, das Ding!« Dann zog er sich den offensichtlich dazu gehörenden gepolsterten Schemel herbei, legte seine Waden auf ihn und blinzelte durch die »Terrassentür« zum Hutewäldchen, das gleich jenseits der Gleise begann. Über den Baumwipfeln lugte Montaigne hervor, der Weinberg. Dann sah er sich nach Birgit um, die sich den Hals vor Jäckels verglastem Bücherschrank verrenkte.

»Was ist denn so primitiv an Jäckels Klo?« erkundigte er sich.

Sie kicherte. »Kannst ja reingucken!«

Prompt stand er auf und ging durch die Küche zu dem Holzkasten neben Jäckels Duschkabine zurück. Er nahm den Einlegedeckel ab und sah den üblichen ovalen Ausschnitt eines Klositzes. Er schnupperte – kein nennenswerter Gestank. Unter der Sitzöffnung stand ein hochformatiger Henkeltopf auf einem kräftigen Pappkarton. Dieser Topf hatte auch wieder einen Deckel, den Achim vorsichtig lüftete, weil er sich inzwischen denken konnte, was der Topf enthielt. Er war mit einer Zeitung ausgeschlagen und halb mit Kot und Klopapier gefüllt. Der entweichende Geruch war erträglich. Achim schloß beide Deckel wieder und musterte ein graues dünnes Abwasserrohr aus Plastik, das von einer Ecke des Sitzkastens zur Decke und durch diese vermutlich auf Jäckels Kriechboden führte.

»Das Entlüftungsrohr!« sagte Birgit, die inzwischen herbeigetreten war.

»Verstehe«, erwiderte Achim. »Und warum setzt er sich nicht gleich auf den Topf?«

Sie lachte. »Na hör mal! Er wollte den üblichen Sitzkomort, bei seinem breiten Hintern auch kein Wunder.«

»Und was macht er mit dem Topf, wenn er voll ist?«

Sie nickte zum Zimmer. »In dem Dickicht auf der Westseite hat er einen Komposthaufen mit mehreren Fächern, da kippt er ihn aus.«

»Und wo läßt er seinen Urin?«

»Eben das ist ja das Problem. Für Frauen ist seine Erfindung kaum geeignet. Er selber geht zum Pinkeln raus ins Dickicht, da hat er eine Art Pissoir in Form einer Lehmwand. An ihr kristallisiert sich der Urinstein an.«

»Mitten in einer klirrenden Winternacht, in der es auch noch schneit, geht er hinaus ins Dickicht?«

Sie grinste und deutete auf einen 5-Liter-Kanister, der auf den Dielen stand. »Dann nicht! Dafür hat er diesen Behälter.«

Achim schüttelte belustigt seinen Kopf, während sie wieder ins Zimmer gingen. »Das hat er ja wirklich fein ausgetüftelt.«

Sie setzten sich an einen alten Küchentisch, der Jäckel zugleich zum Essen und Schreiben diente. Birgit stellte Jäckels Laptop beiseite und versicherte Achim: »Und viel trainiert! Das hat er mir jedenfalls mal erzählt. Er muß ja nicht nur den Topf oder seinen Hintern in die günstigste Stellung bringen – er muß auch noch üben, nicht zu pinkeln, falls er mal dringend scheißen muß. Das ist nämlich gar nicht so einfach.«

»Ach so … Man muß das Trennen erst lernen! … Wäre Jäckels Verfahren Standard, könnte man ja gleich die kleinen Kinder trainieren, sobald sie aus den Windeln sind.«

Birgit grinste und sah zur Küche.

»Na, ich hoffe, ihr habt euch nicht gelangweilt!« sagte Jäckel und bugsierte sein Tablett mit den dampfenden Tassen durch die Eingangsecke.

Achim zwinkerte zu Birgit und erwiderte: »Nicht die Bohne!«

Jäckel schob das Tablett auf den Tisch und setzte sich zu ihnen. Nach den ersten Schlucken fuhr er mit den Augen durchs Zimmer und fragte Achim:

»Genehmigt? Was hälst du von dem Ort meines Ringens um Weisheit und die richtigen Worte?«

»Sehr hübsch. Ich nähme ihn auch. Allerdings fürchte ich, das Bahnhofscafe wäre eine große Versuchung für mich. Wieviele Cappuccinos oder gezapfte Biere holst du dir denn so am Tag?«

Jäckel winkte ab. »Ich schreibe lieber wie im Rausch. Da vergesse ich oft sogar das Wassertrinken.«

»Trotzdem«, erwiderte Achim, hob seine Tasse und nickte zur Küche. »Wäre es nicht billiger, den Kaffee selbst aufzubrühen?«

»Wieso? Den Kaffee muß die Republik sowieso einführen; die Maschine im Bahnhofscafe läuft sowieso; das Geschirr mußt du hier wie dort spülen. Alles ein Topf!«

Achim sah ihn nachdenklich an. »Und das Geld, das deine Bücher oder Artikel außerhalb der Republik einbringen, wandert auch in den Topf?«

»Selbstverständlich.« Er lächelte kokett, ließ seinen Brustkorb anschwellen und tippte mit dem Daumen darauf. »Ich zähle zu den Devisenbringern – zu den Säulen der Republik! Übertreibe ich etwa, Birgit?«

Da sie ihm sofort das Schulterblatt klopfte, zog er seine Brust wieder ein und lächelte befriedigt.

»Angenommen«, sagte Achim, »die republikanische Idee ergreift den ganzen Planeten und überall wird so gewirtschaftet wie hier. Wer kauft dann deine Bücher? Aus mit den Devisen – Kaffee gesperrt.«

Birgit lachte. Der Einwand bestach im ersten Augenblick.

Jäckel verstülpte die Lippen und drohte Achim mit dem Zeigefinger. »Denkfehler! Die Devisen erübrigen sich in diesem Fall, weil wir keinen Kaffee mehr kaufen müssen. Er gehört dann ja ebenfalls uns. Es ist nur noch ein Verteilungsproblem, ein logistisches!«

Birgit sah ihn strafend an. »Jetzt untertreibst du aber, Heinz! Es ist ein gewaltiges Problem.«

»Ich gebe es zu.«

»Im Weltmaßstab«, fuhr Birgit fort, »riesige Güterströme ohne Tausch, Verrechnung, Plan zu lenken, das ist ein großes Problem, sofern kein Chaos entstehen soll. Zudem dürfte die Gefahr von Betrug und Machtballung groß sein. Da lauert dann wirklich die Versuchung. Bei uns haben wir unmittelbarste soziale Kontrolle, aber wie willst du die Leute und Gremien kontrollieren, denen diese planetarische Logistik obliegt?«

Jäckel kratzte sich hinterm Ohr. »Da bin ich im Moment überfragt. Wie man liest, gibt es inzwischen hier und dort Ökonomen, die bereits über diesem Problem brüten. Nur wenn sie dann ihre Lösungen vorstellen, sind sie so schlecht geschrieben und dargestellt, daß sie irgendein Jäckel erst bearbeiten muß …«

Achim warf Birgit einen Blick zu, den sie verstand. Sie sagte: »Heinz, wenn alle SchriftstellerInnen so eitel sind wie du, kann die künftige Weltrepublik höchstens ein Dutzend davon verkraften!«

»Ich gebe es zu.«

Achim lachte. Dann unterbrach er sich aber, spitzte die Ohren und sah an Jäckel vorbei zur Bahnhofsstraße. Jäckel kannte dieses Straßengeräusch natürlich schon: Hufschlag und Rasseln. Das DDR-Granitpflaster verstärkte es, als säßen sie in einem Tunnel. Gleich darauf schob sich ein zweispänniges Pferdefuhrwerk Richtung Bahnhof an Jäckels Vorderfensterchen vorbei. Der Wagen war schwer mit Möbeln beladen. Birgit erklärte, vermutlich sei die Fuhre für die ehemalige Saatgutzuchtstation bestimmt, in der sich die zentralen Möbel- und Kleiderlager befänden.

»Glück, daß es nicht regnet«, sagte Achim.

Jäckel winkte ab. »Es gibt Planen.«

»Aber verdammt laut!« ließ Achim nicht locker.

Jäckel grinste. »Ich gebe es zu.« Es schien sein Lieblingssatz zu sein. »Schopenhauer hat sogar die Flüche der Frankfurter Fuhrknechte verflucht, nicht nur das Wiehern, Dröhnen und Rasseln! Im Frühjahr habe ich eine Arbeitsgruppe gegründet, die sich leider etwas mühsam und unentschlossen dahinschleppt. Wir sammeln die Erfahrungen mit Plastikhufeisen und Wagen, die Hartgummi- oder Luftreifen haben. Manche auswärtigen Kutscher empfehlen Wechselreifen, weil das Hartgummi auf Pflaster genauso lärmt, außerdem schnell abbröckelt. Mit den Luftreifen kriegen sie dafür leicht einen Platten. Klaus von Fahrtwind meint, das A&O sei eine gute Wagenfederung. Es ist alles nicht so einfach …«

Sie schmunzelten. Achim fragte: »Hast du nicht manchmal Lust gehabt, dir von deinen Einkünften ein flottes Auto zu kaufen, das dich im Nu ins Nationaltheater Weimar trägt? Oder zu deiner auswärtigen Geliebten?«

Jäckel schüttelte ernst und nachdrücklich den Kopf. »Nie und nimmer. Der moderne Autoverkehr ist die organisierte Kriminalität auf Erden!«

Achim blickte zu Birgit und seufzte. »Das kann man wohl sagen.«

»Und nicht nur wegen Gaston!« fuhr Jäckel fort. »Du weißt es, Birgit. Der Autoverkehr zerstört alles. Landschaft, Luft, soziale Beziehungen, Bodenschätze, Stille, Gesundheit und alle möglichen Potenzen, die im Menschen schlummern – und nicht zuletzt das Pferd …«

Jäckels Bemerkung weitete sich zu einem kleinen Referat über die tausend Vorzüge einer aufs Pferd setzenden Gesellschaft aus. Als er's nicht sah, verdrehte Birgit ihre Augen. Bei der nächsten Gelegenheit schlug Achim kühn eine Presche in Jäckels Redefluß, deutete auf das umgedrehte Bild an der Wand und stellte fest, dieses Pferd sei offensichtlich falsch herum aufgezäumt.

Jäckels Augen blinkten erfreut auf, doch dann gab er sich gelangweilt und winkte ab. »Ich kann es nicht immer ertragen. Von Zeit zu Zeit muß ich es umdrehen.«

»Was zeigt es denn? Eine Herde stürmender Pferde?«

»Bei dem Hochformat nicht. Nein, viel besser!« Dabei zwinkerte er Birgit zu.

»Laß dich nicht veräppeln, Achim. Das ist Heinz' Glanznummer, die bringt er bei jedem neuen Besucher. Das Bild hat er vorhin um drei Minuten vor 11 umgedreht, jede Wette.«

»Ich gebe es zu … Also erzähle ihm die Geschichte, Birgit!«

»Ich nehme an, du kannst dich noch an die millionenschwere Kampagne Du bist Deutschland erinnern, die vor einigen Jahren unter bewährter Bertelsmann-Führung von 25 Medienkonzernen ins Werk gesetzt wurde? Na siehst du. Das im großen und ganzen mehr erfreuliche als unerquickliche DDR-Überbleibsel Junge Welt kam den Bertelsmännern damals auf die Schliche. Die Zeitung brachte ein Foto aus dem Ludwigshafener Stadtarchiv, das altmodisch gekleidete Menschen zeigte, die unter Straßenbäumen sowie einer gemalten Hitler-Visage ein langes Transparent in die Kamera hielten. Der Schriftzug Denn DU bist Deutschland war von authentischen Hakenkreuzen eingerahmt. Das Foto stammte von 1935. Jetzt ist Heinz dran.«

Jäckel hatte sich bereits vom Stuhl gestemmt. Er ging zu dem Bild, drehte es um und trat erwartungsvoll beiseite.

Es handelte sich in der Tat um ein Plakat. Man hatte ein Foto verwendet. Die Bildmitte wurde von einem Mann mittleren Alters im blauen Overall beherrscht, der sehr kämpferisch wirkte. Er war brünett wie Jäckel. Er war umgeben von Roten Fahnen und glänzenden Gesichtern. Die in großen Lettern ausgegebene Parole hieß: Die DDR, das sind WIR.

Achim grinste und schüttelte ungläubig seinen Kopf. »Wo habt ihr das her?«

»Jemand stöberte es beim Umbau der Ziegelei auf dem Speicher der Bürobaracke auf, rettete es und schenkte es mir, als ich ihn darum bekniete«, erklärte Jäckel voller Genugtuung. »Hämmerchen sagt, das hätten sie wiederholt bei Maiaufzügen durch Konradslust getragen. Vermutlich sah es in Eisenach oder Weimar nicht anders aus.«

»Auch so eine organisierte Kriminalität«, bemerkte Birgit trocken: »Patriotismus.«

Jäckel ging zu einem Vorderfenster und blickte kurz Richtung Bahnhof hinaus. Er nickte, öffnete seinen Bücherschrank, zog eine Mappe heraus, blätterte und nickte abermals. »Wenn es dir recht ist, Achim, lese ich dir den Schluß einer Kolumne vor, die ich vor Jahren zu diesem Fund schrieb. Anschließend können wir ja Essen gehen, es ist gleich eins. Dann erzählst du mir einmal ein paar Takte aus dem Berliner Musikleben. Oder was meinst du, Birgit?«

Da beide einverstanden waren, trug er im Stehen vor:

>>Bedenke ich den gleichsam naturwüchsigen Nationalstolz anderer Völker, kommt mir der Verdacht, den Deutschen müsse man ihn mit gewaltigem Brimborium regelmäßig einhämmern, weil es ihnen von Natur aus an jeder Selbstachtung mangelt. Wo sollten sie diese auch hernehmen? Ob französische Revolution oder Verteidigung der spanischen Republik – von so etwas haben die Deutschen immer nur geträumt. Die DDR ist ihnen von den Russen in den Schoß geworfen worden. Wird es ernst, reißen sie aus und lassen sich von ihrem psychopathischen König nachrufen: »Hunde, wollt ihr ewig leben?« Nein, sie wollen Ruhe und Ordnung. Schon die sogenannte Novemberrevolution im Jahr 1918 war ein Treppenwitz, den sie sich spätestens von den reaktionären Freikorps zertrampeln ließen, die ihr sozialdemokra-tischer Nasführer Friedrich Ebert nach dem Kapp-Putsch zur Hilfe gerufen hatte. Aber wie kläglich ebneten sie erst der blutigen Posse die Bahn, die Adolf Hitler im Frühjahr 1933 aufzog! Sebastian Haffner schildert und beklagt es 1939 in seiner Geschichte eines Deutschen. Der junge, eher rechtsliberal gestimmte Jurist aus Berlin beobachtet eine derart feige, kampflose, schäbige Abtretung der Staatsgewalt an die braunen Banden, daß er seinem Vaterland nur noch eine »ungeheuerliche moralische Wesensschwäche« bescheinigen und für fernere Tage sogar die Selbstauflösung prophezeien kann – mangels eines »festen, durch Druck und Zug von außen nicht zu erschütternden Kerns, einer gewissen adligen Härte, einer allerinnersten, gerade erst in der Stunde der Prüfung mobilisierbaren Reserve an Stolz, Gesinnung, Selbstgewißheit, Würde. Das haben die Deutschen nicht.«

Haffner behauptet mit überzeugenden Argumenten, eine wirksame Abwehr, ja sogar eine linke Revolution sei damals durchaus möglich – aber offenbar nicht erwünscht gewesen. Jene »völlige Abwesenheit von Rasse« sieht er genauso bei den kapitulierenden Führern von Sozialdemokraten, Kommunisten (»Schafe im Wolfspelz«) und Nationalliberalen wie an den Arbeitern und Kleinbürgern, die aufgrund des Verrats ihrer Führer wie auch durch Angst, Rachsucht und Konjunkturgesinnung in hellen Scharen zu den Nazis überlaufen. Und was ist 1989/90 in der DDR gegeben worden? Die wievielte Farce einer Volkserhebung? Kaum war die Grenze offen, stürzte »das Volk sind wir« in den nächsten Konsumtempel – und verließ ihn jeder durch eine andere Tür.<<



27

Die GO Bahnhof hatte ihren Speise- und Versammlungs-raum in der ehemaligen Güterabfertigung eingerichtet. Gleich nach dem Essen verabschiedete sich Jäckel, weil es ihn an den Laptop drängte. Durch die verglaste Flügeltür, die den Saal vom Bahnhofscafe trennte, sahen sie ihn auf die Bar zuhalten, wo er sich einen Espresso fertig machen ließ. Keeper war nicht Phil, sondern eine junge Frau, der Jäckel auch gleich ein paar Komplimente zu verabreichen schien. Als er mit dem Tablettchen in der Hand davonpflügte, meinte Achim mit einem Nicken:

»Sein Glas Wasser!«

Birgit kicherte. Sie blickten dem Magier des Wortes noch durch die großen Saalfenster nach. Unter diesen zog sich die Rampe der ehemaligen Güterabfertigung hin, die im Sommer gern als Terrasse benutzt wurde. Über den Dächern lugten die Stadtkirche und der ebenfalls zipfelartige Glockenturm des Schlosses hervor. Der Himmel war ähnlich grau wie der Schiefer.

Birgit setzte ihre Kaffeetasse ab. »Ist dir eigentlich aufgefallen, daß der Held der Arbeit auf dem Ziegelei-Plakat die gleichen brünetten Haare wie Jäckel hat?«

»Nein. Willst du behaupten, Jäckel spiegele sich Tag für Tag im Anblick dieses umjubelten Helden? Der Blaumann ist doch viel schlanker und größer als Jäckel, zudem jünger.«

»Vielleicht gerade deshalb.«

»Ja, wer weiß … Hat er eine Geliebte?«

»Er hat einen Geliebten, denn Jäckel ist schwul. Ein Orthopäde, glaube ich, aus Gotha; ich kenne ihn nur flüchtig. Kommt der Geliebte zu ihm, stellt er seinen BMW brav auf dem großen Parkplatz drüben ab; fährt Jäckel zu ihm nach Gotha, nimmt er brav unsren Zug.«

Achim nickte. Sie hatten den Zug inzwischen mehrmals gesehen oder vernommen, denn er fuhr stets um Voll und um Halb nach Bufleben ab. Achim ließ verschiedene herausgehobene Männer an sich vorübergleiten.

»Jäckel der Schriftsteller; sein Geliebter Orthopäde; Birgit Hündchen; Dömmersbach Erster Flötist; aber Jonny der größte Redner und Seelenarzt der Republik, den muß Dömmersbach erst mal ausstechen … Das sind alles interessante Leute, und wenn sie gegeneinander um die Gunst des Publikums oder eben des Hündchens buhlen, spielen sie die Karte ihrer Interessantheit aus. Oder übertreibe ich?«

Birgit hatte ihre Stirn gerunzelt. Sein Gedankengang kam etwas unerwartet. Sie ließ die Fingerspitzen ihrer gespreizten Händen aufeinander tippen.

»Du vereinfachst vielleicht zu sehr. Diese Leute sind ja nicht nur ihre Funktion.«

»Aber in dieser oder mit dieser heben sie sich heraus. Von Klaus dem Schlosser nehme ich das weniger an, so wie ich ihn bislang erlebt habe. Er stellt nichts Besonderes dar.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Auf gar nichts. Jedenfalls nicht bewußt. Aber du wirst zugeben, mit der Gleichheit aller Menschen, das ist schon ein Problem.«

Er legte besänftigend seine Hand auf ihren Arm; sie ließ ihn gewähren, ohne etwas zu erwidern.

»Was war denn Gaston, wenn ich fragen darf?«

Sie lächelte und rührte sich. »Nichts Besonderes! Kein Abitur, keinen erlernten Beruf. Aber er war unglaublich wißbegierig und entsprechend vielseitig. Bügeleisen kaputt? Kein Problem, Gaston repariert es. Lokführerin erkrankt? Gaston fährt den Zug. Und so weiter. Kurz vor seinem Tod war er allerdings als Stadtrat für Auswärtiges vorgeschlagen worden. Seine Zugriffsfreude ist eigentlich erstaunlich, denn auf der anderen Seite war er ein ziemlich vorsichtiger Mensch, ein Zauderer.«

»Angst?«

»Ja, ein ängstlicher Mensch. Er nannte sich selber gern patte de lapin.«

»Pött de Lapá?«

Sie lachte. »Ja – Hasenfuß.«

»Ach … Obwohl er mit dir über das Jenseits scherzte und sich verbrennen ließ?«

»Angst vor dem Tod hatte er nicht. Eher vor dem Leben! Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Wenn ich krank werde? Wenn etwas dazwischen kommt? Wenn sie mich im Stich lassen? Und so weiter.«

»Ein Hypochonder?«

»Manche nennen es so. Er war eben sehr widersprüchlich – wie alle interessanten Menschen.«

Achim hob die Brauen – und lachte. »Da haben wir es wieder!«



28

Bei über 30 BGs im Städtchen konnte man hinsichtlich der Unterrichtsorte nicht wählerisch sein. Kleine BGs, die vielleicht nur fünf Köpfe zählten, tagten in privaten Zimmern, gern auch reihum. Für die größeren Gruppen um 15 Personen kamen die Plenarsäle der GOs leider nicht in Frage, weil es dort viel zu unruhig war. Lydia hatte sich für ihre BG Prokofiev die Konradsluster Friedhofskapelle ausgeguckt. Es war ein schmuckloses Gebäude in Barackenform, das nur durch einen kleinen Glockenturm an eine Kirche erinnerte. Im Inneren waren Tische zu einem Oval angeordnet. Auf dem Podium standen ein Klavier und ein Gestell mit Schreib- oder Zeichenblock. Das Deckenlicht war eingeschaltet, weil es draußen so trübe war. Während die letzten »SchülerInnen« eintrudelten, lehnte Achim am Kachelofen der Kapelle. Laut Lydia, die an einem Tisch in ihre Unterlagen sah, erfüllte der Kachelofen neben physikalischen auch pädagogische Zwecke. Er wurde, falls nicht ohnehin eine Trauerfeier stattfand, jeden Mittag von einem anderen Schüler angeschürt. Um 15 Uhr war es dann warm genug. Versäumte jemand den Ofendienst, klapperten 12 oder 14 Gebisse Strafe genug, um zu seiner Läuterung beizutragen. Die Weihe des Ortes konnte Lydias Schützlinge nicht vom Durcheinanderschnattern abhalten. Sie waren überwiegend zwischen 15 und 17. Eine 11jährige wäre hier fehl am Platz gewesen, wie Achim bald merken sollte.

Lydia streifte ihr dunkelblondes Haar über die Schulter und sah in die Runde. Dann griff sie nach ihrer Stimmgabel und hielt sie auf die Tischplatte. Der Ton ließ die Jungen und Mädchen verstummen.

»Ich grüße euch. Wir sind vor einigen Tagen im Zuge der russischen Oktoberrevolution in das Thema Technik geschliddert. Gestern warnte uns Mario, sie nicht in Bausch und Bogen zu verdammen. Da kommt ihm möglicherweise der Gast am Kachelofen gelegen: Achim Dömmersbach aus Berlin.«

Sie blickte wie ihre SchülerInnen zu dem Genannten und fuhr fort: »Du trägst da diesen schwarzen Kasten unterm Arm, Achim. Ist der Inhalt streng vertraulich?«

»Ach woher!«

Lydia sah lächelnd und fragend in die Runde: »Also, ihr Lieben – was ist drin?«

»Bestimmt ne Verarschung für mich«, brummte ein flaumbärtiger Junge mit Brille. »Ein zerlegtes Kleingewehr!«

Einige lachten, denn es war der besagte Mario.

»Präzisionswerkzeug von einem Uhrmacher oder so!« rief ein blondes Mädchen.

»Schon nicht schlecht«, erwiderte Achim, während er an einen freien Platz des Ovals trat und seinen Kasten auf den Tisch legte.

»Mir dämmerts«, krähte ein kleiner Zappelphilipp, der einem Wiesel ähnelte. »Musikinstrument!«

»Richtig!« Achim klappte den Kasten auf und zeigte ihn umher.

»Eine Querflöte!« erscholl es aus mehreren Mündern.

Achim nickte und setzte sein Instrument zusammen. In den nächsten Minuten erläuterte er, wie die Töne durch das Zusammenspiel von Rohr, Fingern, Lippen und Zwerchfell zustande kommen. Das unterstrich er durch Demonstrationen. Er betonte, die ganze Anblas- und Fingertechnik sei vergebens, wenn sie nicht auf der Atmung des Spielers oder der Spielerin fuße. Flötespielen sei deshalb nicht nur Musik, sondern auch Meditation. Manchmal sei es auch Krach, fügte er zwinkernd hinzu und entlockte dem blitzenden silbernen Rohr zum Abschluß seiner Demonstration ein paar »überblasene« peitschende Läufe, bei denen sich Flötenton und Gesangsstimme mischen oder besser reiben. Die Technik war dereinst durch Ian Anderson von Jethro Tull in der Rockmusik populär geworden.

Einige SchülerInnen schnalzten mit den Fingern. Achim deutete eine Verneigung an und setzte sich. Nach kurzer Überlegung sagte Lydia:

»Achim hat von Anblas- und Fingertechnik gesprochen. Sicherlich spricht man auch von einer Atemtechnik, aber ich glaube, das ginge hier am Kern der Angelegenheit vorbei. Achim betont ja, die Atmung sei die Basis des ganzen Flötespielens. Dessen Seele sozusagen. Was könnte uns dieser Vergleich hinsichtlich unseres Themas Der Mensch und die Technik lehren?«

Ein Mädchen mit rötlichem Bürstenschnitt hob leicht den Finger vom Tisch. »Na, daß sie eben dem Menschen zu dienen hat, die Technik. Seiner Entfaltung, meine ich. Behindert sie seine Entfaltung, ist sie schlecht.«

»Oder nur Selbstzweck«, warf der wieslige Junge ein.

»Sie ist auch schlecht, wenn sie einige Leute als Machtmittel mißbrauchen«, stellte ein Mädchen fest, das durchaus kräftig wirkte.

Lydia nickte. »Ich sehe, ihr denkt mit und wir sind mitten im Thema. Jaromir, du wolltest dich mit ein paar Texten von führenden russischen Revolutionären befassen. Was äußern sie über Industrialisierung, Verstaatlichung und dergleichen? Traust du dir zu, uns einen kurzen Überblick zu geben?«

Der großgewachsene, blonde Lockenkopf versuchte es. Er sprach mit leichtem Akzent. Er stützte sich auf einen Wust von Zetteln, las aber nicht ab. Seine MitstreiterInnen notierten sich gelegentlich Stichworte. Jaromir knüpfte an Lenins vielzitierten Ausspruch an, Kommunismus sei Sowjetmacht plus Elektrifizierung, der sogar Achim nicht fremd war. Das riesige »rückständige« Land sollte mit Gewalt industrialisiert werden. Man träumte davon, so viele Waren produzieren und konsumieren zu können wie der Goldene Westen. Das geschah natürlich auf den Knochen der ArbeiterInnen – und auch der Bauern. Deren erzwungene Kollektivierung forderte gewaltige Opfer. Die Hungersnöte wurden durch diese Dampfwalze der »nachholenden Modernisierung«, wie KritikerInnen sie später nannten, keineswegs aus der Welt geschafft, im Gegenteil. Die Bürokratie führte zu außerordentlicher Mißwirtschaft. Die Elite sorgte für ihre Privilegien. Die beiden Weltkriege erschwerten die Lage zusätzlich. Und dann sei ja der Witz gewesen, daß Lenins »Sowjetmacht« schon um 1920 im Keim erstickt worden sei. Weder in den Betrieben noch in den Gemeinden war Selbstverwaltung erwünscht. Das Sagen hatte eine Partei- und Staatsmacht, die an allen Hebeln der Fabrikkombinate saß und die natürlich auch die Armee befehligte. Für Denker wie Friedrich Georg Jünger hatte sich dem westlichen Maschinenkapitalismus ein östlicher Maschinensozia-lismus hinzugesellt. Daß sie sich im Grunde nichts genommen hätten, erweise sich seit 1989, schloß der Referent. Jetzt sei alles wieder eine Banane.

Jaromir wischte sich die Schweißtropfen aus den Stirn-locken und sah seine Gruppenleiterin etwas verlegen an.

Lydia nickte ihm mit anerkennendem Lächeln zu. »Danke für die Mühe, Jaromir. Das ist doch eine ausgezeichnete Grundlage, um einzuhaken, denke ich. Was meint ihr?«

Nach dem üblichen Blickaustausch zwischen teils unsicheren, teils mutwilligen Jugendlichen deutete »das Wiesel« zur Saaldecke und erkundigte sich lauernd:

»Müssen wir die jetzt ausschalten ..?«

Achim war nicht der einzige im Saal, der lachte. Wiesel hatte die Deckenleuchten gemeint.

Daraus entspann sich ein lebhaftes Gespräch über ein konkretes Problem. Kerzen wachsen nicht auf den Feldern; sie kosten ebenfalls Geld oder Arbeit, vielleicht sogar mehr als unser Strom, den uns nach Abschreibung der beiden geplanten Windräder die Wettergötter umsonst liefern. Kerzen verderben das Augenlicht. Ja sicher, warf jemand ein: Glühbirnen nicht, aber es wäre mir neu, sie wüchsen auf Bäumen. Für Glühbirnen bedürfe es ja schon einer richtigen Fabrik! Das war der Referent. Sollen wir die Kerzen in Heimarbeit gießen oder drehen? Ja, warum denn nicht!

Man stieß auf das Problem der Abhängigkeit. Kerzen lassen sich tatsächlich von Einzelnen oder von kleinen Gruppen recht einfach herstellen. Wird auch das Wachs selbstproduziert, ist die Autonomie perfekt. Dagegen ist der moderne Wohlstandsmensch von einer Megamaschine und von tausend sogenannten, jeweils anders zuständigen Experten abhängig. Eine Panne, und ganze Stadtviertel oder Großstädte sitzen im Dunkeln. Ein Defekt im Ölbrenner, und der Experte läßt Familie Hurtig zwei Tage frieren, ehe er kassiert. Hinzu kommt der Machtfaktor, auf den Jaromir ja schon hingewiesen hat. Beherrsche ich die Produktion, beherrsche ich die Menschen. Indem uns die Megamaschine enteigne, entmündige sie uns, formulierte Lydia. Sie nehme uns dankbar alles ab: die Sorge um unser Stück Land, das sie gleich mit 50 anderen Stücken verschmilzt; unser letztes Geld, weil wir uns gegen Notfälle versichern müssen; den Rest unserer Menschenwürde, den wir beim Shoppen und Zappen noch nicht eingebüßt haben.

Aber die Erleichterung, die uns Technik oft gewähre, lasse sich auch nicht so einfach wegreden, gab die Rötliche mit dem Bürstenschnitt zu bedenken. Wer das Brennholz für die ganze Kommune nur mit der Hand sägen wollte, käme zu keiner BG-Sitzung mehr, vom Muskelkater ganz zu schweigen. In der Ziegelei liefen die Band-, Kreis- und Kettensägen den ganzen Tag. Verstoße das gegen den Anarchismus?

»Tja, der Streit ist alt«, sagte Lydia lächelnd. »Der Engländer William Godwin gilt als Begründer des politischen Anarchismus. Er will bereits um 1800 – als die Industrie noch in den Kinderschuhen steckt – alle Möglichkeiten der Automation ausgeschöpft wissen; er sei davon überzeugt, dadurch könne die täglich notwendige physische Arbeit des Menschen auf eine halbe Stunde verringert werden. Nichts anderes glaubten Leute wie Lenin und Zuse, der Erfinder des Computers. Wer weiß, daß Godwin ursprünglich evangelischer Prediger war, könnte hier einen uralten Menschheitstraum als Vater des Gedankens wittern …«

Sie blickte fragend in die Runde. Das Wiesel krähte: »Schlaraffenland! Paradies!«

»Ganz genau, Tim. Und ich wage zu bezweifeln, die Bestimmung des mit Würde begabten Menschen liege darin, wie ein Säugling an der Brustwarze der Megamaschine zu hängen. Ist es nicht vielmehr so, daß wir überhaupt erst durch die Aneignung unserer Umwelt zu Menschen werden?«

Die »Aneignung« war selbst Achim zu hoch. Eine Diskussion ergab: Die Notwendigkeit, für unseren Lebensunterhalt, für unser Fortkommen zu sorgen, gestaltet uns selbst nicht weniger, wie sie unsere Umwelt gestaltet. Der Mensch »erschafft sich« im Prozeß seines Eingreifens – durch Arbeit im weitesten Sinne.

»Nun ja«, wagte Achim zu bemerken. »Es kommt vielleicht doch auf die Art der Arbeit an. Gestern half ich in der Mosterei der Bornmühle mit. Wenn da einer im Stehen stundenlang einen Plastikschlauch in leere Flaschen tunken muß, trägt er wohl kaum zu seiner eigenen Vervollkommnung bei – er ist vor allem geschafft. Und wenn er nicht gut auf sich aufpaßt, kommt er sogar dümmer aus der Mosterei heraus, als er hineinging.«

Zustimmendes Gelächter. Die Runde einigte sich darauf, es gebe keine Pauschallösungen. Man müsse von Fall zu Fall entscheiden, ob Einsatz von mehr Technik sinnvoll sei oder nicht. Dabei seien sich die meisten Menschen nicht darüber im klaren, wie komplex die zu entscheidende Frage sei, betonte Lydia. Jedem Vorteil stehe ein Nachteil gegenüber, und es gebe immer Dutzende dieser Paare. Achim unterstützte sie. Man bedenke nur, was alles an einem Auto hänge, sagte er im Gedenken an Heinz Jäckels Vortrag über die Pferde. »Doch meinem Vater winkte aus jedem abbiegenden VW-Käfer, dem er neidisch nachblickte, nur die große Freiheit aufzubrechen, wohin er will – die man nach Hölderlin allerdings verstehen lernen muß. So in seinem Gedicht Lebenslauf

Ein bislang schweigsames Mädchen, das viel mitschrieb, hatte offenbar über irgendetwas gegrübelt. Jetzt sagte es ziemlich bestimmt:

»Abwägen ist ja schön und gut – nur hat die Sache einen Pferdfuß. Es wird nämlich immer schwieriger und irgendwann sogar unmöglich. Harry – das ist mein Vater – sagt, es liegt an der Verselbständigungstendenz der Megamaschine. Sie drückt uns ihre Bedürfnisse auf, sie fordert ihr Recht. Das nennt man dann Sachzwänge. Jedenfalls sei es im kapitalistischen Ausland so. Welcher deutsche Bundesbürger könne denn noch auf ein Auto verzichten, ohne gesellschaftlich abgehängt zu werden? Und wenn die BRD auf die Autoproduktion verzichte, bräche die halbe Wirtschaft zusammen. Harry verhöhnt die vielen angeblichen Linken, die neuerdings vom notwendigen Umbau der Industriegesellschaft sprechen – wartet mal …«

Sie kramte in ihren Papieren, bis sie fündig geworden war. »Er hat mir eine Stelle aus Lenins Staat und Revolution gezeigt, das in seinem Bücherregal steht. Da schwärmt der Führer des Proletariats von einer Schule der Fabrik, die den revolutionären Erfordernissen – also dem bürokratischen Zentralismus – sehr zugute komme. Mit der Maschine oder Keule revolutionärer Geschlossenheit werde nach und nach weltweit jede Ausbeutung erdrückt und erst, wenn sie restlos vom Erdboden getilgt sei, werden wir diese Maschine in den Winkel stellen. Dann wird es weder Staat noch Ausbeutung geben. Das verhöhnte Harry mit einem Beispiel aus dem Reich der Haustiere. Lenin kauft sich einen kleinen Kläffer, den der Hundezüchter als Pinscher bezeichnet. Nach zwei Wochen macht Lenin Urlaub in Konräteslust, wo ja Hundeverbot herrscht. Zurückgekehrt, hat sich sein angeblicher Pinscher, unter der Obhut seiner Haushälterin, zu einem Säbeltiger ausgewachsen. Lenin erschrickt nicht; er holt schnell einen Keks aus der Küche, um den Säbeltiger damit ins Tierheim zu locken. Lenins Ende könne ich mir wohl selber ausmalen.«

Sie erntete Gelächter. Lydia blickte zur Wanduhr: kurz vor halb vier.

»Vielleicht sollten wir das zunächst einmal so stehen lassen; die Zäsur bietet sich an. Ich schlage vor, wir bewegen uns etwas und kochen Kaffee, bevor wir noch eine Stunde Russisch machen. Jaromir hat übrigens einen Kuchen mitgebracht.«

Jubel! Die SchülerInnen erhoben sich. Jaromir verschwand höchstpersönlich in einer Tür, um den Kaffee aufzubrühen. Während andere nach draußen gingen, setzte ein dürres Mädchen einen CD-Player in Gang, den es bereits mit lüsternen Blicken angepeilt hatte. Es begann sofort, sich in dem beachtlichen, marschmäßigen Groove des schlichten Popsongs zu bewegen, der erklang. Eine Frauenstimme sang in irgendeiner slawischen Sprache. Doch beim Refrain wechselte sie ins Deutsche! Eins zwei drei schicke schicke Schweine sang sie – etwas lispelnd, dazu frivol. Die Dürre sang verzückt mit. Als der Song vorbei war, machte sie den Player wieder aus.

»Wer singt das?« wollte Achim von ihr wissen.

»Glukoza.«

»Glukoza?«

»Ja, eine geile russische Sängerin. Ganz jung ist sie noch. Und sie hat ein Video zu dem Lied gemacht, das ist noch geiler! Steht im Internet.«

»Worum geht es denn?«

»Die Schweine sind die Nazis. Sie haben auch scharfe Doggen, also Hunde, und Kampfflugzeuge. Aber dann kommt Glukoza mit ihren Freunden und macht sie alle nieder.«

»Ah ja«, sagte Achim. »Man lernt nie aus, danke.«

Die Dürre lief nach draußen. Lydia hatte lächelnd zugehört. Jetzt schüttelte sie ihren Kopf. »Peggy ist in ihr Spiegelbild verliebt! Sie vergaß zu erwähnen, daß wir Glukoza, so witzig sie immer sein mag, auch kritisiert haben. Vor allem werden die Nazis in dem Video nur als blutrünstige Horden jenseits aller politökonomischen Zusammenhänge dargestellt. Sie waren ja immerhin die Speerspitze des traditionell aggressiven deutschen Kapitals.«

»Ah ja«, wiederholte Achim fast verdutzt. »Noch mehr gelernt!«

Er grinste und eilte in der Annahme, dort befänden sich Sanitärräume, zu der Tür, in der Jaromir verschwunden war. Damit lag er nicht falsch. Er fand ein freies Kompostklo, wie er es bereits aus der Bornmühle kannte. Ein Waschbecken befand sich im Vorraum, wo Jaromir gerade die Kaffeemaschine einschaltete. Während sich Achim die Hände wusch, erklang das Klavier; das war vermutlich Lydia. Dann musterte er das Wasserrohr an der Wand. Zwar war es ummantelt, doch es lief ein paar Meter um die Wände, ehe es im Fußboden verschwand. Er wandte sich an Jaromir, der Geschirr auf ein Tablett stapelte:

»Was macht ihr denn bei anhaltendem Frost, Jaromir? Droht dann nicht das Wasser einzufrieren?«

Der junge Referent schüttelte seinen Lockenkopf und deutete mit einem überlegenen Lächeln auf die Zuleitung: »Sieh mal genau hin. In den Lücken an den Schellen siehst du es.«

Achim war überfordert; er sah und verstand nichts.

»In der Isolation läuft ein Heizkabel mit«, erklärte Jaromir nachsichtig. »Es wird durch einen Fühler geschaltet, der auf Frost reagiert. Da passiert nichts!«

»Ach so«, rieb sich Achim die kalten Hände. »Und womit heizt das Kabel?«

»Richtig!« grinste Jaromir und nahm das Tablett auf. »Mit Strom.«

Achim schmunzelte und folgte ihm. Durch die Fenster sah er einige SchülerInnen, die auf dem Vorplatz der Friedhofskapelle schnell eine Runde Kubb spielten. Die im Saal verbliebenen machten Gymnastik, unterhielten sich, blätterten in ihrer russischen Grammatik, halfen Jaromir beim Decken der zusammengeschobenen Tische. Lydia saß noch am Klavier, aber verkehrt herum. An den geschlossenen Deckel und einen Teil des Aufbaus gegossen, blinzelte sie gegen die Saaldecke und dehnte und reckte sich dabei. Ein reizendes Bild!

Achim zog sich einen Stuhl herbei. Als sie ihn fragend anlächelte, erzählte er die Geschichte vom Heizdraht.

Sie lachte. »Du bringst mich auf eine Idee! Jede Wette, daß die Hälfte meiner Schützlinge keine Ahnung davon hat, was Strom eigentlich ist. Sollten sie es in der Grundschule gelernt haben, haben sie es längst vergessen. Also machen wir demnächst eine Einheit über Elektrizität. Sie darf natürlich nicht nur aus Theorie bestehen. Ich frage die Lieben mal, ob sie vielleicht RepublikanerInnen kennen, die Sicherungskästen anschließen oder wenigstens Bügeleisen reparieren können.«

»Gaston«, sagte Achim wie ein Automat.

»Gaston? Birgits Gaston?«

»Ja – entschuldige bitte! Er konnte Bügeleisen reparieren. Allerdings ist er tot.«

»Allerdings!« sagte Lydia bitter. »Man könnte Christus vom Kreuz reißen, wenn es hier noch eins gäbe.«

Achim schlenkerte mit seinem Handrücken. »Verscheuchen wir die Traurigkeit! Ihr seid ja wirklich gut aufgelegt hier. Das Schulklima gefällt mir. Und das Engagement der jungen Leute! Wie erreicht man das?«

Sie verstülpte die Lippen und dachte nach. »Vielleicht zuerst: Keine Pädagogik! Die Mädchen und Jungen müssen als künftige RepublikanerInnen ernst genommen werden.«

»Gilt bei euch die bundesdeutsche Volljährigkeitsgrenze?«

»Ja. Sie beläuft sich aber darauf, daß eine 17jährige kein Vetorecht und keinen Zugriff auf die Bank hat. Ansonsten gestaltet sie mit wie jeder Erwachsene.«

»Und was wäre noch wichtig?«

»Keine Schulpflicht! Selbst in unsere Grundschulen wird kein Kind gezwungen. Wir brauchen den freiwilligen Einsatz und die selbsterrungene Erkenntnis des jungen Menschen – nicht seine Unterwürfigkeit. Während Lenin, wie wir hörten, die Schule der Fabrik rühmte, geißelte der von mir angeführte Godwin die Sklaverei des Schuljungen – 120 Jahre vor Lenin. Und du wirst ja selber wissen: nötige ich ein Kind ans Klavier, kommt nur Krampf dabei heraus.«

Achim lächelte etwas schwermütig, denn bei ihm war es so gewesen. Dann hakte er nach: »Ihr trefft euch an fünf Nachmittagen der Woche jeweils für drei Stunden, hat mir ein Mädchen gesagt. Zwängende Zeitrahmen lehnt ihr also nicht ab?«

»Sie werden oft überdehnt, manchmal auch gesprengt. Heute sitzen wir bestimmt noch bis halb Sieben hier. Im Sommer kann es geschehen, daß wir zur Nesse rennen, um uns hineinzustürzen. Das Entscheidende ist gar nicht die Unterrichtsdauer, sondern die Vorbereitung auf den Unterricht, die die Mädchen und Jungen individuell oder in Untergruppen leisten. Vorträge vermeide ich. Es gibt Bücher, es gibt das Internet – bei uns wird gebündelt. Oder auch mal experimentiert.«

»Die Gruppen laufen stets ein Jahr?«

»Richtig. Gegen Ende des Kursjahres wird überlegt, wer wo weitermacht, denn im Grundmuster wiederhole ich dann mit Neulingen meinen Kurs. Diese Muster der BGs stehen im Intranet. Es kommen mal neue hinzu, mal fällt etwas fort.«

»Wird dir selbst die Wiederholung nicht langweilig?«

»Bislang nicht. Ich gebe den Kurs erst zum zweiten Mal. Ich bin oft noch unsicher.«

Sie waren inzwischen an die Kaffeetafel gewechselt und ließen sich Jaromirs Pflaumenkuchen schmecken. Neben zwei Thermoskannen mit Kaffee hatte er sogar eine Schüssel mit Schlagsahne gebracht. Die Kubb-SpielerInnen waren gern hereingekommen.

»Ich könnte mir denken, die Kurse gewinnen oder verlieren auch stark durch ihre jeweilige Leitung?« hakte Achim nach.

»Das wohl. Manche wählen ihre BG gerade nach diesem Gesichtspunkt aus. Aber ich glaube, unbeliebte LeiterIn-nen gibt es gar nicht mehr bei uns. Die halten sich nicht.«

Achim wandte sich an die Rötliche mit dem Bürstenschnitt, die ihm zufällig gegenübersaß. Dabei winkte er mit dem Daumen zu Lydia:

»Wie beliebt ist denn sie?«

Die Rötliche hob verzückt ihre Brauen, wobei auch ihr hübscher Mund aufging. Dann schob sie sich schlagfertig einen Teelöffel voller Sahne hinein und quetschte hervor:

»So!«

Lydia hielt sich die Hand vor ihren Mund und schüttelte ihren Kopf. Sie wirkte ungespielt verlegen. Achim nickte ihr mit ermunterndem Lächeln zu.

Kurz darauf sprach ihn Tim das Wiesel auf sein Berufsleben als Musiker und die Lebensqualität in der Hauptstadt an. Achim gab bereitwillig Auskunft. Was die Lebensqualität betreffe, gehe ihm erst in diesem freien Städtchen auf, unter welcher Dunst- und Lärmglocke sich die BerlinerInnen durch ihren Alltag zu zappeln hätten. Für MusikerInnen bestehe der heimtückischste Lärm in dem Gesäusel und Geschwafel, das schon bald flächendeckend aus den Lautsprechern des öffentlichen Raumes quelle. Einkaufen im Supermarkt: Berieselung. Warten beim Zahnarzt: Zwangsfernsehen. Kinobummel: Straßenmusikanten. Bildschirme auch in den Bahnhöfen der Fernzüge, und zur Krönung neuerdings die Beschallung verschiedener Ubahnhöfe mit Musik von Beethoven oder Dvorak. Angeblich würden dadurch die Penner vertrieben. Er glaube aber eher, dadurch würden Beethoven und Dvorak vertrieben. Alle paar Stunden wiederholten sich die gezielt ausgewählten Stücke. Musikern wie ihm drehten die Gänge durch solche Ubahnhöfe oder Einkaufspassagen natürlich den Magen um. Den Leuten, die dort Pizzen oder Liebesromane zu verkaufen hätten, wahrscheinlich auch, nur merkten sie es nicht.

Als Lydia den Abbruch der Kaffeetafel vorschlug, erhob sich Achim. »Ich werde mich jetzt zurückziehen, denn ehrlich gesagt, Russisch will ich nicht mehr erlernen. Ich war sehr gerne hier. Vielleicht gebt ihr Lydia und mir die Ehre eines Gegenbesuches. Am Samstag veranstalten wir nämlich ein Konzert für Klavier und Flöte in der Ziegelei, wie ihr vielleicht schon gelesen habt. 20 Uhr!«

»Was gebt ihr denn?« wollte die Rötliche wissen.

»Die Sonate opus 94 – von Prokofiev …«

Jubel! Achim nickte lächelnd, nahm seinen Flötenkasten und verließ den Saal.



29

Achim war zu Fuß gekommen. Der Friedhof lag am Südausgang der Stadt und damit nicht weit von der Ziegelei entfernt, wo er wieder Flöte üben wollte. Jenseits dieser Pflicht winkte ihm sein erster »freier Abend« seit der Bekanntschaft mit Birgit. Sie hatte im Gesundheitsball ein Ligaspiel mit ihrer Snookermannschaft. Er hatte sich keineswegs als zuschauender Fan angeboten, denn er fühlte sich inzwischen übermüdet – wohl zu sehr überhäuft von Eindrücken und zu sehr strapaziert durch einige heftige Liebesnächte. Er freute sich geradezu auf ein stilles Dämmerstündchen in seinem Gastzimmer.

Er nahm einen Weg längs des Boberbachs. Zur Linken zogen sich die Wiesen und Äcker bis zu Hämmerchens Scheune hin. Von einer Baumspitze aus spähte ein Bussard nach Mäusen. Der Bursche besaß weder Jagdschein noch Abitur. Um Kartoffeln lesen oder Flöte spielen zu können, war es ebenfalls überflüssig, sich der Folter zu unterziehen, über die ihm Iris oft genug ihr Leid geklagt hatte. Im Grunde stellte die Folterkammer moderne Schule eine Beleidigung für jeden halbwegs gesunden Geist dar. Sie zermalmte Neugier, Kreativität, eigenständiges Denken, Lust auf Verantwortung, Kritikfähigkeit, weil dies alles nicht auf den angebeteten Lehrplänen stand. Sie hämmerte das Faktenwissen in die Köpfe, das diese brauchen würden, um auf dem einen oder anderen Fließband rollen zu können. Es ging nur darum, »den Anforderungen gerecht zu werden« – nämlich des Kapitals. Man lernte nicht fürs Leben, sondern für Prüfungen. Man lernte für den Konkurrenzkampf. Das hieß, man lernte möglichst kurz zu leben – und sei es ab 45 noch 25 Jahre als Invalide.

Ungerufen fiel ihm das Lied Schicke schicke Schweine wieder ein. Das bewies, es war ein durchtrieben gemachter Ohrwurm. Man lernte für die Schweine, die Orwells Animal Farm beherrschten, und Glukoza stach sie mit einem Hit aus, der ihr vermutlich schon eine im Hafen von Jalta liegende Jacht eingebracht hatte.

Vom Schwarzen Brett des Ziegeleisaales grüßte ihn ein großes handgmaltes Plakat, das zum Konzert einlud. Neben der Prokofiev-Sonate waren Ragtimes von Scott Joplin angekündigt. Das war Achims Idee gewesen, denn er hatte 20 Stücke des schwarzen US-Komponisten für Klavier und Flöte bearbeitet. Der Name Lydia Schott war auf dem Plakat nicht kleiner geschrieben als der Name Achim Dömmersbach. Das befriedigte ihn. Früher wäre ihm der Sachverhalt kaum aufgefallen. Er zählte zur Creme der europäischen FlötenspielerInnen – ergo wurde sein Name stets in den entsprechend großen Lettern gedruckt.

Der Saal war mäßig geheizt. Vorsichtshalber erbat er sich im Büro erneut die Spielerlaubnis. Natürlich bekam er sie. Er konzentrierte sich heute auf die Prokofiev-Sonate, die selbst für Virtuosen schwer zu spielen war. Als er seine Flöte putzte und wieder einpackte, zeigte die Wanduhr bereits halb neun.

Aber was hieß schon »schwer zu spielen«, sagte er sich auf dem Weg zum Walnußhaus. Das galt ja im Falle des Virtuosen nur, weil er die Sonate besonders gut, makellos, göttlich vorzutragen wünschte. Er hatte schon öfter gedacht, 90 Prozent der ZuhörerInnen einer CD würden gar nicht merken, wenn statt Dömmersbach ein Schüler von Dömmersbach in das Metallrohr mit den vielen Röhrchen und Klappen blies. Den Unterschied hörten nur die überzüchteten Ohren der maßgeblichen Musikkritiker-Innen, die dem Publikum dann die Bedeutung des Virtuosen einzubläuen hatten. Ja, es war im Grunde krankhaft. Es war viel sinnvoller, die Laienmusik zu fördern und selber noch anderes zu machen als nur Musik – beispielsweise ein Bügeleisen reparieren oder einen Zug fahren wie Gaston. Birgit konnte sogar schießen und ein Feuerwehrauto bedienen!

Aus irgendeinem Grund hatte er neulich wieder in Friedrich Engels Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates geblättert, das er mit manchen anderen kackroten und kotzblauen Bänden von seinem Vater geerbt hatte. Sie waren wirklich in diesen Farben gebunden! Aber jetzt ahnte er jenen Grund. Es ging um den Mythos vom Fortschritt, dem er als Flötist nicht anders aufsaß wie der Fabrikantensohn aus Wuppertal. Mochte Engels auch kühn am Staat rütteln: er sei nicht von Ewigkeit her; Dutzende Gesellschaften vor uns seien prima ohne ihn ausgekommen; sie hätten gar nicht gewußt, was das sein solle, ein Staat. Aber da mußte man durch. Für Engels war der Staat irgendwann notwendig geworden. Und erst auf wieder einer anderen »Stufe der Produktivkräfte« könne er wieder überflüssig werden – der Kinderglaube von Lenin. Das Denken von Nieder nach Höher zieht sich bei Engels durch jeden Absatz, einerlei, was er beleuchtet. Sein Stufen-Schematismus schmerzt geradezu. Mochten die Irokesen die herrlichste egalitäre Gentilverfassung gehabt haben – ihre Zentralisierung im Rahmen des Irokesenbundes war ein Fortschritt. Dieser Stufen-Schematismus ist natürlich in allen ideologischen Lagern sehr bequem, weil es sich immer gut anhört, wenn etwas »notwendig« oder »zielstrebig« oder »fortschritt-lich« ist. Damit läßt sich alles rechtfertigen. Nicht mehr Gott will die »Erhöhung der Produktivkraft« – der Fortschritt will es. »Wachstum« möchte der Fortschritt. Nicht etwa der Kinder und unserer Anlagen und unserer Einsichten, vielmehr der Profitrate. Und genau auf dieser wurde auch der Spitzenflötist emporgetragen. Sein Profit war der Jubel, der ihn umbrandete, einerlei, ob er ihn in klingende Münze verwandelte oder nicht.

Von den Fenstern her schien das Walnußhaus ziemlich verwaist zu sein. Die Wohnküche war leer. Er machte sich einen Abendimbiß zurecht und nahm ihn mit in den 1. Stock. Bevor er ihn zu sich nahm, kümmerte er sich um den Zimmerofen. Bald prasselte das Feuer. Er zog sich den Schreibtischstuhl seines Zimmergebers und eine Stehlampe zum Ofen und steckte seine Füße unter die Decke des nahen Bettes. Da das Tablett mit dem Brot und der Flasche Wein unter ihm auf dem Teppich stand, konnte er auf sein Becken ein Kissen als Stütze für das Buch türmen, das er gestern aus dem Regal des Zimmergebers gefischt hatte: Nacht über der Prärie. Es war ein Roman aus einer US-Indianerreservation, verfaßt von einer gewissen Liselotte Welskopf-Henrich – was für ein ungeschickter Doppelname für eine Autorin! Aber er sagte ihm sowieso nichts. Dafür fesselte ihn der Roman sofort.

Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, als er aufhorchte. Jemand rief um Hilfe – nicht schrill, sondern eher unterdrückt. Er warf Buch und Kissen beiseite und ging zur Tür. Die gestöhnten Rufe drangen aus dem Zimmer von Phil. Jetzt erkannte er auch Phils Stimme. Er eilte über den Flur.

Ein Kissen an sich gepreßt, kniete Phil zusammenge-krümmt auf seinem Bett. Dabei stöhnte und wimmerte er. Auf die entsprechende Frage keuchte er:

»Die Brust! Verdammte Krämpfe! Weiß der Teufel, was das ist!« Er wog sich fast wie ein Autist, während er das Kissen zerknüllte.

»Nach Schweinegrippe sieht das nicht gerade aus«, sagte Achim. »Hast du dich vergiftet? Was Falsches gegessen?«

»Ach woher! Es ist, als hätte ich einen Berg erklommen … Die Lungen brennen … Man droht zu platzen … So eine Scheiße!«

Zwischen jedem Satz stöhnte er. Achim entlockte ihm, es habe vor einer halben Stunde begonnen und sei immer heftiger geworden.

»Kannst du laufen? Zum Gesundheitszentrum? Ich käme mit.«

»Ach woher! Ich würde ja schon die Treppe herunterfallen!«

»Gut«, sagte Achim und wandte sich zur Tür, »ich rufe den Krankenwagen.«

Im Flur prallte er fast auf Ingeborg. Wahrscheinlich war sie aufmerksam geworden, weil er Phils Zimmertür offen gelassen hatte. »Ein Anfall!« rief Achim, während er schon den Hörer des Flurtelefons abnahm. »Wo steht die Notfallnummer vom Gesundheitszentrum?«

»Drei mal drei und die Neun!«

Keine zwei Minuten und sie vernahmen die Sirene. Zum Glück war Konradslust klein. Die Besatzung des Krankenwagens – eine Frau und ein Mann – trug Zivil, schleppte aber verschiedene Taschen oder Koffer mit in Phils Zimmer. Die Frau schien die federführende Ärztin zu sein. Kaum hatte sie erfragt, was Phil auch schon Achim erzählt hatte, bedeutete sie ihrem Begleiter, eine Injektion gegen die Schmerzen fertig zu machen. Sie fragte weiter:

»Allergien, Phil?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Hast du Fieber?«

»Ich glaube nicht.«

»Aber du zitterst wie Espenlaub.«

»Ja«, stöhnte Phil.

»Du hälst dir den linken Arm. Strahlt der Schmerz in den linken Arm aus?«

»Ja, verdammt.«

Die Ärztin und ihr Begleiter, der die Injektion überwachte, sahen sich vielsagend an.

»Paß auf, Phil: der Schmerz läßt gleich nach. Aber wir müssen dich zur Beobachtung mit in die Klinik nehmen. Es besteht ein Verdacht auf Herzinfarkt. Laß dich davon nicht einschüchtern, wir haben noch Zeit genug. O.K.?«

Phil nickte, und so rollten sie ihre Bahre aus Segeltuch aus.



30

Achim hatte den Schreibtischstuhl ans Gartenfenster seines Zimmers gerückt. Er blinzelte ins Dunkel. Nur von Hämmerchens Hof her schimmerte etwas Licht. Das Buch schlug er nicht wieder auf. Der Anfall hatte ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht; vom süßen Verdämmern konnte vorläufig nicht mehr die Rede sein. Das war jetzt eher dem Abtransportierten gewährt. Prüfte Achim seine Empfindung, wurde sie statt vom Mitleid von einer Art Zerknirschung beherrscht. Er sah den geschlagenen Phil vor sich, wie er sich auf seinem Bette wand. Das Niederschmetternde dürfte darin liegen, diese Demütigung mitansehen zu müssen. Ein Mensch wird jäh zum Spielball ungebetener Kräfte gemacht – und man selber schaut hilflos zu. An diesen Kräfteverhältnissen änderte offenbar auch der Sturz des Kapitalismus nichts.

Vielleicht hatte Phil Glück und wurde wieder hergestellt. Er konnte freilich genauso gut auf dem Friedhof landen, den Achim neuerdings aus eigener Anschauung kannte. Achim gehörte nicht zu den Menschen, die sich alle zwei Tage in Angst und Schrecken versetzen, indem sie sich das bevorstehende Ende ihres irdischen Daseins ausmalen. Es gibt ja daran gar nichts auszumalen. Die Furcht wird von einer Schimäre genährt; sie entquillt einem Schwarzen Loch kosmischen Ausmaßes. Aber wer von der Erde abtritt, hinterläßt ebenfalls oft ein Loch. Mit diesem Umstand hatte sich Achim nie befaßt. Er hinterläßt mehr oder weniger viele Menschen, denen er fehlt; vielleicht vermißt ihn sogar eine ganze Republik. Komme ich morgen unter die Räder wie Gaston – was wird aus Iris, Birgit, meiner Querflöte, meinem Bankkonto, ja selbst aus dem Mülleimer in meiner Berliner Wohnung, den ich auszuleeren vergaß? Für nichts dergleichen hatte er Regelungen getroffen. Gaston hatte zumindest dafür gesorgt, daß seine eigene Asche in einer Urne landete. Friedrich Engels würde einen vielleicht mit dem Hinweis beruhigen: Keine Bange, mein Sohn, Vater Staat hat das schon für dich geregelt! Er nimmt sich gern deines Bankkontos an. Er zahlt den Wohnungsauflöser aus und dekoriert dich sogar mit einem schlichten Holzkreuz dritter Klasse.

Wie schon mehrmals zuvor, hörte er vom Treppenhaus her die Geräusche eines Heimkehrers oder einer Heimkehrerin. Er nahm einen Schluck Wein und erwog vorübergehend ernsthaft, mit dem Fahrrad in den Snookersalon oder die Bornmühle zu eilen, um bei Birgit Trost und Schlaf zu suchen. Hatte ihre Mannschaft eine Niederlage kassiert, läge das Trösten allerdings bei ihm. Nein, es kam nicht in Frage, Birgit in die Niederung seiner Unruhe zu ziehen. Dummerweise hatten die Hündchen gerade den 14tägigen Wechsel in ihrem Dienstplan, sodaß sie ab morgen die Frühschicht hatte; diese dann wieder jeden zweiten Tag. Da trank er lieber noch ein Glas Wein. Er schenkt sich nach und griff anschließend doch nach dem Indianerbuch, das auf der Fensterbank lag. Vielleicht konnte er sich wieder einlesen und das Buch dann mit ins Bett nehmen.

So verfuhr er. Ein halbe Stunde nach diesem Entschluß war er eingeschlafen. Bis zum Eintreffen Okutes (Seite 308) drang er nicht mehr vor. Der einstige Dakota-Häuptling hat die Reservation angesteuert, um seinem Wahlsohn Stein mit Hörnern alias Joe King, ehemals Gangster, jetzt Rancher, mit seinen Fahr-, Reit- und Schießkünsten beizustehen – und das mit 112 Jahren. Bei Joe beschließt er dann auch sein Leben. Weit entfernt, vom Fahrersitz seines Sportwagens oder vom Rücken seines Mustangs geschossen zu werden, legt er eines schönen Tages seinen Todestag fest, wie wir allerdings erst im zweiten Band der in der DDR erschienenen Pentalogie Das Blut des Adlers erfahren. Er begeht diesen Tag wie alle Tage zuvor; nur gegen Abend wird er müde. Er stirbt friedvoll in den Armen von Queenie King, auch Tashina genannt. Ein gar zu schönes und tröstliches Bild? Wer lange leben will, lebt auch lang? Dies nach dem Muster der Korbflechterin Sylvia gesagt?

Selbstverständlich wird Kämpfer Okute nur zufällig 112. Denn vorher sind zahlreiche Kugeln, Pfeile, Gifte, Keime, Geschwüre, Verwünschungen sowie Genickbrüche durch Steinschläge oder Autounfälle an ihm vorbeigegangen, die ihn genauso gut hätten treffen können. Diese Treffer hat Welskopf-Henrich in ihrer Pentalogie (5 Bände) auf anderes Personal verteilt, darunter etliche Kinder. Das Leben ist furchtbar schön.



31

Die Kantine der GO Domäne lag im 1. Stock des ehemaligen Gesindetrakts. Da etliche Zwischenwände herausgerissen worden waren, standen mehrere Pfeiler im Speise- und Versammlungssaal. Sie zeigten hübsche Mosaike aus Fliesen- und Keramikscherben. Die blanken Dielen aus beinahe rötlicher Lärche rochen nach Leinöl. Man saß hier sehr gemütlich, zumal die Südfenster auf den vom Wassergraben und einer Mauer umgebenen Schloßgarten gingen. Die Bäume winkten zum Teil schon mit buntem Laub gegen den Sprühregen an, der vormittags eingesetzt hatte. Da die Küche im Erdgeschoß lag, gelangte das Essen per Fahrstuhl in den Saal. Heute gab es eine hausgemachte Spezialität der Domäne, nämlich Spätzle. Deshalb saßen sie hier. Birgit war zwar Fränkin, keine Schwäbin (gottseidank!), aber in Spätzle war sie vernarrt. Die Domäne gab ihre Spezialität wahlweise nackt, mit angebratenem Hackfleisch nebst Pilzen oder in Käse gewälzt aus. Verschiedene Krautsalate kamen hinzu. Achim griff gerne zu, denn er hatte lange geschlafen und nicht gefrühstückt. Nach einer Flötenstunde hatte er Birgit aus dem Rathauskeller abgeholt. Sie hatten sich so stürmisch begrüßt, daß Birgits Kollege Bart rasch sein Stirnband aufzog, weil er eine »Kampfhandlung« witterte. Jetzt saß er mit am Tisch. Der hagere Bart van Flennigan, wahrscheinlich um die 40, war gebürtiger Flame, sprach aber nahezu akzentfrei.

Die Hündchen und andere Leute aus der Rathausbeleg-schaft aßen öfter in der Domäne, weil sie um die Ecke lag. Rathaus, Stadtkirche, die Bank im alten Postamt, Klinik, Friedhof, Kläranlage und dergleichen zählten zu den wenigen »exterritorialen« Orten der Republik, d.h. sie gehörten keiner GO an. So hatten die dort Beschäftigten in der Regel auch keine Kantine. Die Instandhaltung dieser Gebäude und Gelände oblag den betroffenen Stadträten, die sich wiederum HelferInnen aus den Reihen der Beschäftigten suchten. Wir hörten ja bereits, daß sich etwa die Hündchen um das Heizen und Saubermachen in Rathaus und Stadtkirche kümmerten. »Küster« der Stadtkirche war just Bart. Neben den Kunstschätzen galt sein Hauptaugenmerk verständlicherweise den Republikplena. Er hatte die äußerlichen Vorbedingungen für deren reibungslosen Ablauf zu schaffen. Morgen war es wieder so weit: Erster Sonntag im Oktober. Das Plenum begann um 20 Uhr. Gäste waren zugelassen, solange die Plätze reichten. Einerseits freute sich Achim, das Monatsplenum noch haarscharf »mitnehmen« zu können – andererseits hatte er sich spätestens am Dienstag 10 Uhr in Berlin einzufinden: Orchesterprobe. Zum Glück dachte er daran nicht, während er die Spätzle genoß und Bart nach dem flämischen Erzähler Piet van Aken fragte, gestorben 1984. Dieser besaß das Vermögen, Bauern und Proletarier agieren zu lassen, ohne den sprachlichen Vorschlaghammer schwingen zu müssen. Bart kannte und schätzte ihn selbstverständlich.

Der internationale Zug der Szene setzte sich am Nachbartisch fort. Dort wurde Englisch gesprochen. Ein junger Mann von der Domäne, den Birgit flüchtig kannte, hatte offenbar Wochenendbesuch von vier ebenfalls jungen Briten. Achim, Birgit und Bart verfolgten das Gespräch mit zunehmendem Interesse. Die vier Gäste gehörten einer Landkommune an, die irgendwo am Fluß Orwell, also in Südengland liegen mußte. Richtig, nach diesem Fluß hatte sich ein Schriftsteller namens Eric Blair umgetauft, der im Gegensatz zu Tony Blair nicht der Gattung der KriegstreiberInnen angehört hatte. Martin von der Domäne versuchte den Gästen inzwischen auseinander zu setzen, um 1990 sei die Volkswirtschaft der DDR einer beispiellosen Bande mehr oder weniger organisierter Schlips-und-Kragen-Gangster in die Hände gefallen, deren Vereinskneipe den umwerfenden Namen Treuhandanstalt getragen habe. Sie wollten es gar nicht glauben. Offenbar war die Kunde von den damaligen Vorgängen am Fluß Orwell nur verwässert angekommen. Das einzige, wenn auch nie erklärte Ziel dieser überwiegend westdeutsch besetzten Bande sei es gewesen, sich die DDR-Betriebe für einen Apfel und ein Ei unter den Nagel zu reißen, um sie entweder privat zu betreiben oder aber stillzulegen. In beiden Fällen konnten beträchtliche Subventionen kassiert werden. Das Stillegen hatte dann noch den angenehmen Nebeneffekt, sich eine ernst zu nehmende Konkurrenz vom Hals zu schaffen. Es sei nämlich gut belegbar, daß die DDR-Wirtschaft keineswegs »nur noch Schrottwert« besessen hätte, wie uns seit Jahren eingehämmert werde. Sie in den »maroden« Zustand zu überführen, gelang erst der Bande um die Treuhandanstalt. Unsere PolitikerInnen nannten das dann Aufbau Ost. Oder wie Kanzler Kohl es poetisch ausgedrückt hatte: man werde im Osten blühende Landschaften schaffen. Wer hätte ihm unterstellt, dabei Distelfelder auf Fabrikbrachen im Auge gehabt zu haben?

Die jungen Briten wollten es immer noch nicht glauben. Achim mußte zugeben, von der ganzen Tragweite der Angelegenheit Raubzug Ost erst jetzt zu hören und sie eigentlich auch noch anzuzweifeln. Martin versicherte den Gästen jedoch, sie sei inzwischen sogar durch etliche Bücher belegt, wenn auch auf deutsch. Ein Freund aus der Manufaktur Fahrtwind habe sie alle gelesen und über das Thema schon einige öffentliche Vorträge gehalten. Birgit erklärte Achim, gemeint sei Klaus der Schlosser aus dem Walnußhaus, was Bart durch Nicken bestätigte. Die Ziegelei und die kleine Maschinenfabrik, die jetzt Fahrtwind hieß, seien auch schon die einzigen größeren Betriebe in Konradslust gewesen. Diese industrielle Dürre habe sicherlich dazu beigetragen, dem Landtag in Erfurt die Abtrünnigkeit des Fleckens schmackhaft zu machen.

»Die Phönix-Gummiwerke in Waltershausen oder die Eisenacher Wartburg-Autofabrik hätten sie uns bestimmt nicht überlassen«, grinste Bart. »Die gingen an Conti aus Hannover und an Opel Rüsselsheim. Jetzt schieben die Kumpels Kurzarbeit – auf Steuergelder.«

Birgit erhob sich. »Trinkst du einen Kaffee mit, Bart?«

»Nein, danke!« Er stand ebenfalls auf. »Gesine wartet. Ich verschwinde!«

Sie einigten sich beim Kaffee auf einen Spaziergang durch den Schloßgarten. Birgit hatte einen großen Regenschirm mitgenommen. Anschließend wollten sie zum Gesundheitszentrum laufen, um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, nämlich einen Besuch bei Phil mit einer Partie Snooker. Achim hatte ihr natürlich schon von seinem durchkreuzten »Dämmerstündchen« im Walnußhaus erzählt. Sie erinnerte sich sogar, bei dem Ligaspiel im Gesundheitsball die Sirene des Kranken-wagens gehört zu haben.

»Mein Gott!« hatte sie angesichts dieser Erinnerung ausgerufen. »Hätte ich gewußt, daß Phil im Wagen liegt, hätte ich womöglich Gelb oder Grün verschossen! Es war der entscheidende Frame, mußt du wissen.«

»Und – hast du ihn gewonnen?«

»Ja sicher!« strahlte sie.

Achim hatte sich mitgefreut und sein Befremden für sich behalten. Hier war sie ja wieder: die haarsträubende Parallelität von glücklichen und unglücklichen Ereignis-sen. Wer will, kann sie auch im »Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten« finden.



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Sie begannen mit der Prokofiev-Sonate – das für alle Beteiligte Anstrengendste zuerst. Der Ziegeleisaal war gut gefüllt. Natürlich war es trotzdem mucksmäuschenstill. Birgit schätzte 300 ZuhörerInnen. Sie hatte sich weit nach hinten gesetzt, weil sie Achim nicht etwa ablenken wollte. Wahrscheinlich unterschätzte sie das Konzentrations-vermögen von Berufsmusikern.

Was für ein mitreißendes Stück! Gegen diese geballte Dramatik war Ravels Bolero geradezu zum Einschlafen. Die Leute hingen an Achims Lippen oder Lydias Fingerspitzen. Dabei kam es ja eigentlich bei Musik nicht auf das Sichtbare an. Für den französischen Denker Alain verdankt sie sich sogar ausdrücklich der Unsichtbarkeit. Über größere Strecken konnten sich unsere jagenden Urahnen nicht mehr sehen, also riefen sie. Durch ein Rohr verstärkt, mischten sich hier die natürlichen Obertöne in die Zurufe ein – die Musik war geboren. So gesehen, drohte nicht Birgit Achim abzulenken, sondern Achim das Publikum. Doch wieviele »Virtuosen« würden noch dabei helfen, die Statistik der Arbeitslosen zu frisieren, wenn sie sich beim Musizieren nicht mehr darstellen dürften? Wer würde heute noch von Franz Liszt, Nathalie Stutzmann oder Eric Clapton sprechen? Die Branche stürbe aus.

Nach knapp 24 Minuten war der Reißer vorbei. Bei dem allgemeinen Fingerschnalzen, das nun einsetzte, konnte man befürchten, zum Entgelt für die fortziehenden Rauchschwalben sei ein Schwarm Zikaden aus Südfrankreich eingefallen. Lydia war aufgestanden. Sie strahlte und zauste Achim kameradschaftlich im Haar. Er nickte ihr anerkennend zu und sah mit leisem Lächeln ins Publikum, das sich noch nicht beruhigt hatte. Plötzlich stutzte er.

»Mich laust der Affe!«

»Was ist denn?«

»Da sitzt meine Tochter!«

Iris saß gar nicht weit vor Birgit neben einem jungen Mann in Lederjacke, der sich offensichtlich über das Zusammentreffen amüsierte. Sie selber winkte neckisch mit den gekrümmten Fingerspitzen.

»Das Mädchen mit dem grünroten Bürstenschnitt?« fragte Lydia. »Na prima. Im Herbst soll man Farbe tragen.«

Achim brachte sich mit einem Kopfschütteln wieder zur Tagesordnung. Wo waren sie stehen geblieben? Was hatte er noch sagen wollen? Ach ja … Er drückte Lydia seine Flöte in die Hand, um mit beschwichtigenden Gesten seiner gespreizten Hände fürs Verstummen des Publikums sorgen zu können. Dann sagte er:

»Wir danken euch für die Aufmerksamkeit und Anerken-nung. Mir persönlich ist es ein Bedürfnis, die nun folgenden Ragtime-Stücke von Scott Joplin meinem hiesigen Gastgeber Phil Mönninger zu widmen, der leider seit zwei Tagen mit einem Herzinfarkt im Gesundheits-zentrum liegt. Viele von euch werden ihn kennen und schätzen. Ich habe ihn heute nachmittag besucht; danach sind seine Genesungsaussichten gut. Mögen die Stücke dazu beitragen, daß er rasch wieder auf die Beine kommt!«

Erneutes Schnalzen. Achim nickte Lydia zu und nahm ihr seine Flöte wieder ab. Sie schob sich auf den Klavierhocker und legte los.
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