Mittwoch, 24. August 2022
Konräteslust Kap. 1–8


1

Der Zug nach Konräteslust war nicht zu übersehen. Er stand auf dem einzigen Gleis, das auf der Westseite des kleinen Umsteigebahnhofs Bufleben abging. Die Lackierung des stromlinienförmigen Kurzzugs zeigte die gleichen schrägstehenden geschlängelten Felder, die Achim in der Broschüre gesehen hatte, die in seinem Rucksack steckte. Dort prägten sie als mittig verlaufendes Band das Stadt- und Republikwappen von Konräteslust. Die schmalen Felder waren abwechselnd schwarz und rot gefärbt. Dem flotten Zug verliehen sie eine Art Sprungkraft nach vorn. Das Übermütige daran wurde von einer Linde abgemildert, die den Zug beschirmte. Sie war noch weitgehend grün, da wir erst Ende September hatten. Während Achim durch ihren Schatten tauchte, sagte er sich allerdings, bei einer eingleisigen Strecke mochte die Lackierung in der Gegenrichtung bremsend wirken, falls es in Konräteslust keine Wendeschleife gab. Ein Mensch mit prophetischer Gemütsverfassung hätte von daher womöglich befürchtet, nicht so schnell wieder von Konräteslust loszukommen, aber der 44jährige Berufsmusiker Achim Dömmersbach war eher ein unerschrocken gestimmter Mensch. Außerdem hatte er spätestens in 10 Tagen wieder in Berlin zu sein, waren doch dann die Orchesterferien vorüber.

Der Zug aus Gotha hatte rund ein Dutzend Leute entlassen, die jetzt den Zug nach der Zwergrepublik an der Nesse bestiegen. Die Kreisstadt Gotha lag keine fünf Kilometer südlich von Bufleben. Nach wenigen Minuten folgten noch einige Fahrgäste, die von Mühlhausen her kamen. Die Bahnhofsuhr ging auf 12 Uhr 45. Während Achim auf einem Fensterplatz sein Vesperbrot nebst Apfel aus dem Rucksack kramte, setzte sich der schwarzrote Kurzzug in Bewegung. Die gepolsterten Bänke waren nur mit einem schlichten grauen Stoff bezogen. Dadurch vermieden sie es immerhin, sich mit der farbenfrohen Kleidung der Fahrgäste oder deren hier und dort angeschnallten Fahrrädern zu beißen. Andererseits wurden die Republikfarben offenbar auch vom Personal getragen. Achim hatte kaum in seine Klappstulle gebissen, als sich eine etwas füllige Frau um 50 aus der Fahrerkabine zwängte und die ihr am nächsten sitzenden Fahrgäste um ihre Fahrausweise bat. Zwar steckte sie nicht in Uniform, aber ihr hübscher brauner Schopf wurde von einem Stirnband gebändigt, das just dem Mittelstreifen des erwähnten Stadtwappens glich. Ihr kontrollierendes Amt übte sie erfrischend unverkrampft aus. Verschiedentlich gab es sogar Gelächter, weil sie einen Scherz gemacht hatte. Wie Achim auffiel, wiesen die meisten Fahrgäste nicht die üblichen Scheine der Bundesbahn vor, vielmehr eine Art Blechmarke, die ihn im ersten Moment unangenehm an Polizei erinnerte. Manche Leute hatten sie um den Hals hängen, womit sich ein Hervorkramen erübrigte. In diesen Fällen konnte sich die Schaffnerin auf ein Nicken beschränken. Wie er am Hals eines jungen Mannes ablas, der ihm schräg gegenüber saß, zeigten die ovalen Marken ein geprägtes Bild ähnlich wie große Münzen, aber weder Zahl noch Schrift. Es schien sich freilich nicht unbedingt bei allen Leuten um das gleiche Bild zu handeln. Als die Schaffnerin bei Achim eingetroffen war, erkundigte er sich nach der Bewandtnis der Marken.

»Sie waren noch nicht in Konräteslust?« reichte sie ihm lächelnd seinen in Berlin ausgestellten Fahrschein zurück. »Wir sind ja etwas kleiner als die deutsche Hauptstadt. Die Marken sind unsere Republikausweise. Darauf können wir alle Einrichtungen der Republik umsonst nutzen.«

Sie kramte ihre eigene Marke aus der Hosentasche, ließ Achim einen kurzen Blick darauf werfen, nickte freundlich und wandte sich den hinter ihm sitzenden oder stehenden Fahrgästen zu. Täuschte sich Achim nicht, hatte die Prägung ihrer Marke einen Steg über einen Bach angedeutet.

Die Fahrt ging über leicht gewelltes Land. Der Zug hielt in jedem Dorf. Ohne die Gründung der Zwergrepublik wäre diese Nebenstrecke vermutlich wie zahlreiche andere in Thüringen oder Brandenburg dem sogenannten Aufbau Ost zum Fraße gefallen. Sie war nur 12 Kilometer lang. Wie Achim der Broschüre entnommen hatte, besaß die Republik einen kaum kündbaren Pachtvertrag über die Strecke und betrieb sie selbst. Durch die Broschüre wußte er auch den früheren Namen des Städtchens, in dem der Endbahnhof der Stichstrecke lag: Konradslust. Er leitete sich von einem Gothaer Herzog her, der um 1680 darauf erpicht gewesen war, im hübschen Nessetal ein »Klein-Versailles« zum Zwecke der Sommerresidenz und natürlich des Prahlens errichten zu lassen. Um das Schloß wuchs dann das Städtchen. Später kam noch eine ebenfalls barocke mächtige Stadtkirche hinzu. Ohne den Fingerzeig auf Iris' möglichen Verbleib hätte Achim vermutlich von der Existenz des Nessetals so wenig erfahren wie von der 1991 ausgerufenen Republik Konräteslust, nämlich gar nichts.

Inzwischen hatte sich die Strecke vom gewundenen Flußlauf entfernt. Zur Linken zog sich Auwald hin, während zur Rechten ein Hang anstieg. Mit dem Ende des Waldes wurde der Blick auf Häuser frei, die von zwei Türmen beherrscht waren. Beide wiesen Schieferhauben mit »Griffen« auf – die Form erinnerte an die Bimmeln der längst ausgestorbenen Milchmänner und Lumpensammler. Das mußte Konräteslust sein. Tatsächlich war der Name bereits auf der elektronischen Anzeigetafel erschienen. Er wurde zudem von der nüchtern klingenden männlichen Lautsprecherstimme angesagt, die Achim bereits kannte. Er schob sich den Grips seines Apfels zwischen die Zähne, verschloß seinen Rucksack, stand auf und zog ihn über. Erfreulicherweise verzichtete der Ansager darauf, Durchhalteparolen oder einen Verhaltenskatalog für die Touristen unter den Fahrgästen auszugeben. Vielleicht hatte Achim mit so etwas gerechnet, weil sie durch die ehemalige DDR fuhren. Er war nicht in ihr geboren worden, vielmehr in Bremen; aber sein Vater hatte ihr viel Sympathie entgegengebracht. Sein Vater war ein betrübliches Kapitel in Achims Leben.

Das zweigeschossige Bahnhofsgebäude aus dunkelrotem Backstein erinnerte noch an die DDR. Es war nicht »aufgehübscht« worden, wie sich Iris in solchen Fällen gern ausgedrückt hatte. Nur seine schwarz auf Weiß gemalte Inschrift – Republik Konräteslust – wirkte frisch. An Tischen auf dem Bahnsteig saßen einige Gäste der Bahnhofsgaststätte. Mehrere Ankommende gesellten sich gleich zu ihnen. Auch im Gebäudeinneren saßen Gäste, wie Achim durch die aufstehende Flügeltür sah. Neben der Tür fand sich die Kurzform des vermißten Verhaltenskatalogs. Er hing zwischen dem Fahrplan und dem Stadtplan – wie diese – in einem Schaukasten. Verehrte Gäste aus dem geplagten Westen! lautete die Überschrift. Da Achim nach wenigen Sätzen merkte, sie bereits in der Broschüre gelesen zu haben, wandte er sich dem Stadtplan zu und verglich ihn mit den Ausblicken, die er bislang erhascht hatte.

Der Bahnhof lag am Nordrand der Stadt. Jenseits der Schienen gab es keine Bebauung mehr. Hinter dem sogenannten Hutewäldchen stiegen Felder an. Laut markiertem Grenzverlauf gehörten sie noch zur Republik. Auch der Auwald und ein Wald im Süden lagen innerhalb der Republikgrenze. Rund 200 Meter hinter den Prellböcken stieß die Bahnhofsstraße auf die Hauptstraße, die das Städtchen von knapp 3.000 Einwohnern völlig durchzog. Im Zentrum berührte sie den Marktplatz mit der Stadtkirche und dem Rathaus, gleich dahinter das Schloß. Das Rathaus war bislang das einzige Ziel, das sich Achim gesteckt hatte, denn dort wollte er sich nach Iris erkundigen. Das Schloß barg teils das Libertäre Altenheim Erwin Chargaff, teils das Hotel Hexensabbat. Da der Touristenansturm der Sommerferien schon vorbei war, ging Achim davon aus, in dem Hotel notfalls ein Zimmer zu bekommen. Jetzt entschloß er sich, vor dem Fußweg ins Städtchen einen Capuccino zu trinken (sofern es einen gab) und sich nach einem Übungsraum zu erkundigen. Durch die lange Enthaltsamkeit während der Zugreise kamen ihm seine Lippen schon wie vertrocknete Apfelschnitzen vor.

Der Capuccino schmeckte sogar ausgezeichnet. Achim hatte sich gleich am Tresen auf einen Barhocker geschoben. Sein Blick schweifte durch den lichten Gaststättenraum, der fast das ganze Erdgeschoß einzunehmen schien. Es gab weder Bedienung noch Beschallung. Kamen die Gäste zum Tresen, um ihre Bestellung abzuholen, verfuhr der Barkeeper nicht anders wie schon die Schaffnerin: statt zu kassieren, begnügte er sich mit dem Anblick der Republikmarken, falls er die Leute nicht sowieso kannte. Im internen Verkehr Konräteslusts spielte das Geld keine Rolle mehr. Ein Tourist wie Achim würde selbstverständlich auch sein Hotelzimmer bezahlen müssen. Dann fiel ihm die Bemerkung aus der Broschüre ein, anfangs habe das Hotel im Schloß Hexenverbrennung gehießen. Es sei umbenannt worden, weil der Name vielen Gästen und sogar manchen Einheimischen gar zu makaber vorgekommen war. Achim wandte sich an den Barkeeper, der gerade Weingläser polierte:

»Entschuldigen Sie bitte – wissen Sie zufällig, wie man damals auf den ursprünglichen Hotelnamen Hexenverbrennung gekommen war?«

»Was heißt hier man?« erwiderte der Mann mit einem Lächeln, das durch etliche Furchen mit grauen Bartstoppeln verschmitzt wirkte. Achim schätzte ihn auf Mitte 60. Sein schütteres graues Kopfhaar war sorgfältig zurückgekämmt. Er warf sein Geschirrtuch beiseite, hakte seine Daumen in seine großkarierte Weste und nickte Richtung Schloß:

»Das Hotel verdankt sich ursprünglich einer Fraueninitiative. In den Sälen des Schlosses fanden die Frauen Kamine aus Marmor vor, die wuchtig genug waren, um sogar einen Dickwanst wie den Herzog Konrad darin zu verbrennen. Gemälde, die ihn zeigen, hängen im Gothaer Schloß Friedenstein. In Wahrheit hat natürlich der fette Herrscher Hexen verbrennen lassen, wenn auch nicht in seinen wertvollen Kaminen. Daran wollten die Frauen mit ihrer Namensgebung erinnern.«

Achim gluckste, nickte verständnisvoll und griff in seine Jacke. »Danke für die Auskunft! Was bekommen Sie von mir?«

»80 Cent.«

»Was – mehr nicht!?«

»Naja, wenn Sie steinreich sind, können Sie auch gerne 10 Euro zahlen«, hob er seine in der Weste eingehakten Hände. »Wandert alles in die Stadtkasse!« Dann nahm er ein mit leeren Tassen und Kuchentellern gefülltes Tablett entgegen, das ihm eine Gästin zuschob, und machte sich ans Spülen.

Das habe ich nun davon! dachte Achim belustigt, zupfte einen Fünf-Euro-Schein aus seiner Geldbörse und wedelte mit ihm über dem Spülbecken. »Der Capuccino war prima. Ich habe noch ein Problem, denn ich bin Flötist und muß täglich üben. Wüßten Sie in der Stadt einen öffentlichen Raum, wo ich damit niemandem auf die Nerven falle?«

Der Spüler grinste, nahm Achim den Geldschein ab und überlegte nicht lang. »Besser Flötist als Terrorist! Gehen Sie einfach in die Stadtkirche. Soweit ich weiß, findet dort im Moment keine Veranstaltung statt … Können Sie auch Ravels Bolero spielen?«

Achim lächelte und nickte. Die Frage war fast beleidigend, selbstverständlich ohne Absicht.

»Dann spielen Sie ihn in der Kirche für mich.«

»Mach' ich!« versicherte Achim und bückte sich nach einer grüßenden Handbewegung zu seinem Rucksack.



2

Beim Gang durch die gewunde Hauptstraße wurde Achim klar, daß er sich nicht mehr in Deutschland befand. Die Leute, die ihm zu Fuß begegneten, gingen zumeist auf der Fahrbahn. Alle grüßten ihn. Die alten Bürgersteige waren insofern unwegsam, als sie dazu benutzt worden waren, neue Alleebäume zu pflanzen. Dafür waren weder Verkehrsschilder noch Reklamen zu entdecken. Als Fortbewegungsmittel dienten Fahrräder, oft mit Anhängern, daneben weitaus spärlicher Pferdefuhrwerke. Niemand zeigte Eile. Vor einer Bäckerei mit dem unpersönlichen Namen Brotkorb Nord standen ein paar Leute zusammen und unterhielten sich angeregt. Eine Schusterin nickte ihm sogar durch ihr Ladenfenster zu. Aus der überwölbten Einfahrt eines alten Bauerngehöfts quoll ihm Kinderlärm entgegen; über dem Tor war Rote Rüben zu lesen. Im Erdgeschoß eines stattlichen Eckhauses herrschte Betriebsamkeit, wie Achim durch einige Schaufenster sah. Er versuchte die BesucherInnen des Norddepots – so stand es über der Ladentür – zu mustern, obwohl es recht unwahrscheinlich war, Iris gleich nach seiner Ankunft aufzuspüren. Wie er aus dem Namen und dem sichtbaren »Warenangebot« schloß, handelte es sich um eine zentrale Verteilungsstelle für Lebensmittel und Gebrauchsgüter aller Art. Er löste sich von den Scheiben. Als ihm eine graugestreifte Katze auswich, die aus einer Kellerluke geschlüpft war, ging Achim auf, daß er bislang nicht genötigt worden war, auch nur einen Hundehaufen zu verwünschen. Achim stand allen »linken Projekten« eher skeptisch gegenüber, doch diesen Mangel an Hundekot konnte er als Berliner nur erfreulich nennen. Auch an seinen Vorbehalten war übrigens sein Erzeuger schuld.

In der Republik herrschten zwei Generalverbote, auf die gleich unter den Ortsschildern an der »Staatsgrenze« auf gesonderten Tafeln hingewiesen wurde. Diese Tafeln zeigten auf weißem Grund einen stilisierten Hund und ein stilisiertes Auto. Beide Abbildungen waren durchkreuzt. Dadurch erklärten sich sowohl die beiden großen Parkplätze am nördlichen und südlichen Stadtrand wie das Nichtvorhandensein von Hundehaufen im gesamten Stadtgebiet. Was die Autos anging, machte man Ausnahmen bei gewissen Bau- und Transportfahrzeugen, etwa für Kranke, oder für das Gepäck einer Musikgruppe. Musik aller Gattungen stand in Konräteslust hoch in Kurs. Das mochte zum Teil der Wiegenmusik der Republik geschuldet sein, war doch der legendäre »Sturm aufs Schloß« im April 1990 durch ein Konzert ausgelöst worden, das die Klaus Renft Combo just in der Stadtkirche gegeben hatte.

Achim hatte den Turm bereits im Blick gehabt. Der Marktplatz öffnete sich als ausgedehntes Rechteck links von der Hauptstraße. Die Kirche aus hellem Sandstein nahm fast die ganze südliche Längsseite ein. Tatsächlich ein Zentralbau, wirkte sie gleichwohl oval. Man dachte fast an ein Opernhaus. Doch in der Längsachse war der wuchtige, quadratische Turm vorgebaut. Er zeigte zur Hauptstraße. Ein schlichtes barockes Gebäude mit dem typischen Mansardendach, das den etwas ansteigenden Marktplatz im Osten krönte, war offensichtlich das Rathaus. Es war der große Bruder der Wohn- und Geschäftshäuser, die den Rest des mit hellen Granitsteinen gepflasterten Platzes umschlossen. Allerdings schien es gar keine Geschäfte im üblichen Sinne zu geben. Achim entdeckte nicht eine Boutique und nicht einen Mobilfunkshop. Auch der sonst beliebte einträgliche Handel mit »revolutionären« Andenken und Reliqien hatte keine Stätte. Neben Cafes schienen die früheren Läden die unterschiedlichsten öffentlichen Einrichtungen zu beherbergen. Vor den Cafes saßen viele Leute. Immerhin hatten wir Mittagszeit. Der Platz selber war von Blumenrabatten gesäumt. Bäume flankierten nur das Rathaus und den gegenüberliegenden Brunnen, der den Fuß des Platzes beherrschte. Durch die Hauptstraße war gewährleistet, daß die Bäume am Brunnen nicht die Sicht auf die westliche Häuserfront versperrten. Das große, ovale, niedrig eingefaßte Brunnenbecken wurde von mehr oder weniger nackten Kindern belagert. Das milde Septemberwetter ließ es noch zu. Achim mußte sich von diesem Anblick losreißen, weil er an eine Szene mit der kleinen Iris gedacht hatte. Er hielt auf das Kirchenportal zu, das im Turm lag. Da er es versäumt hatte, sich nach den Öffnungszeiten des Rathauses zu erkundigen, wollte er jetzt nicht trödeln. Ein Berufsflötist spielt Tag für Tag fünf bis acht Stunden. Wenn er heute ausnahmsweise auf nur zwei Stunden kam, konnte er abends vielleicht noch ruhigen Gewissens schlafen.



3

Achim setzte das blitzende, silberne Rohr von den Lippen ab und legte es neben dem schwarzen Etui auf den Altar aus rötlichem Sandstein, der erfreulicherweise mit einem dicken gewebten Tuch bekleidet war. Das Tuchmuster müssen wir nicht erraten: rot-schwarz gewellt. Er bückte sich nach seinem Rucksack, weil er ein Notenheft hervorziehen wollte. Dabei streifte sein Blick die Ränge der Marktseite, was ihn etwas stutzen ließ. 1993 waren das Gestühl und die drei ovalen Emporen der Stadtkirche abgeschlagen worden, um sie mit einer steilen Tribüne in Hufeisenform zu vertauschen. Sie ruhte auf einem Stahlgerüst, doch ihre ungefähr 30 Stufen waren aus Holz und mit einem hellgrauen Teppichboden belegt. Hier fanden 1.800 Personen Platz, obwohl die Tribüne die hohen, weißverglasten Fenster der Kirche aussparte. Der herrliche bunte Marmorfußboden der Kirche war übernommen worden. Diese Arena, die in Gestalt der prächtig ausgemalten Kirchendecke sogar ein kostbares Dach besaß, konnte sowohl vom Altarpodest her wie durch die Aussparungen an den Kirchenfenstern betreten werden. Achim hatte sich von den wenigen Touristen, die sich den »Plenarsaal« der Republik angesehen hatten, nicht ablenken lassen. Er hatte sich jetzt – nach einer halben Stunde – eingespielt und wollte die Saint-Saens-Partitur studieren. Doch in etwa 20 Metern Entfernung saß diese Frau auf der Tribüne, die verdammt noch mal schon wieder dieses schwarzrote Stirnband trug! Im Gegensatz zur Schaffnerin hatte sie allerdings kurzes rabenschwarzes Haar. Sie mußte auch jünger sein. Die rockfreien Knie übergeschlagen, sah sie ihn stirnrunzelnd an. »Habe ich Sie gestört?«

»Ach woher!« winkte Achim mit dem Partiturheft ab. »Ich wundere mich nur über dieses Stirnband, das ich vorhin an einer Zugschaffnerin sah. Stehen Sie ebenfalls in Diensten der republikanischen Eisenbahn?«

Sie lachte. »Nein! Ich gehöre zu den Hündchen der Republik. Die Stirnbänder werden von Republikanern getragen, die gewisse amtliche Befugnisse haben und daher auch gekennzeichnet und erkennbar sein müssen.«

Achim sah von seinem Heft auf, in dem er bereits blätterte. »Hündchen? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«

Sie lachte. »Nein. Die Hündchen sind so eine milde Art von Polizei.«

Achim machte große Augen. Die Frau wirkte nicht unsympathisch, und ihre helle längsgestreifte Bluse spannte sich ja wohl kaum über einem Schießeisen. Dann grinste er. »Sie werden mich gleich verhaften? Störung der Öffentlichen Ordnung und der Weihe dieses Raumes?«

»Ganz im Gegenteil! Ich hörte die Flöte und hatte schon befürchtet, die Ankündigung eines Konzertes verpaßt zu haben. Was war das für ein wunderbares Stück, das Sie zuletzt gespielt haben?«

»Ravels Bolero

»Ach ja …« Das klang ein wenig betreten. »Es kam mir irgendwie bekannt vor.«

Sie erhob sich und strich ihren Rock zurecht. »Geben Sie bei uns ein Konzert?«

»Nein. Ich muß gleich aufs Rathaus, eine Auskunft holen. Bis wann ist da Sprechzeit, wenn ich fragen darf?«

Sie winkte beruhigend ab und wandte sich zur nächsten Fensteraussparung. »Bis 18 Uhr immer.«

Achim hakte hastiger nach, als ihm lieb war: »Sie müssen schon gehen?«

»Ja. Die Kollegen warten – eine Besprechung.«

Sie tippte noch einmal lächelnd an ihr »amtliches« Stirnband und verschwand in der Fensteraussparung. Das Licht modellierte dabei nicht nur den angenehmen Schwung ihrer Hüften, sondern auch die Pistolentasche, die an ihrem Gürtel klemmte. Achim schüttelte den Kopf und griff nach seiner Querflöte. Dieses Rohr war ihm sympathischer.



4

Achim hielt auf das Rathaus zu. Die Cafes und die Bänke vor den Blumenrabatten zu seiner Linken waren noch in Sonne getaucht und entsprechend besetzt. Die Kirchturmuhr in seinem Rücken ging bereits auf fünf. Nach der beruhigenden Auskunft die Sprechzeit betreffend hatte er sich mehr Übungszeit bewilligt. Es war eine Freude, in diesem »Plenarsaal« Flöte zu spielen, denn er verfügte über eine ausgezeichnete Akustik. Das konnte man von Kirchen in der Regel nicht behaupten; sie hallten zu sehr. Wahrscheinlich war dieser Makel in der Stadtkirche beiläufig durch den Einbau der Tribüne beseitigt worden.

Aufgrund des leichten Geländeanstiegs besaß das Rathaus ein aus Sandstein gemauertes Kellergeschoß, das durch eine breite, beiderseits abgerundete Vortreppe überwunden wurde. Die beiden Obergeschosse waren weiß verputzt. Das schiefergraue Mansardendach erhob die Schlichtheit dieses Gebäudes zur Schönheit. Von den Fenstereinfassungen aus Sandstein einmal abgesehen, war das Stadt- und Republikwappen über dem nur sanft geschwungenen Portal sein einzige Schmuck. Das uns schon bekannte schwarzrote Band saß genauer beschrieben im unteren Drittel des Wappens. Es lief über einen grünen Laubbaum vor hellblauem Grund. Da sich das bewegte Band im Hintergrund wieder zu schließen schien, konnte man an einen Reigen denken – an einen Tanz um den Maibaum etwa.

Die beiden Flügel der hohen Eingangstür standen auf. Ihr Eichenholz zeigte ein Muster aus großen Rauten und schimmerte wie Honig. Die große Eingangshalle mit dem Treppenhaus im Hintergrund diente offenbar als Empfang. Ein zentraler kreisförmiger Tresen wurde von einer Frau um 40 beherrscht, die beim Telefonieren hin und her ging, viel lachte, ihre langen blonden Haare warf und auch noch an zwei verschiedenen Bildschirmen nach irgendwelchen Informationen suchte. Jetzt kam ein schlaksiger Grauhaariger mit Messingbrille aus einem Seitengang geschlendert, schob der Empfangsdame mit triumphierendem Nachdruck ein gebundenes Dokument auf den Tresen und wandte sich nach einem genickten Gruß Richtung Achim zur Treppe. Die Blonde hatte ihm mit einem ironischen Knicks gedankt, ohne sich im Telefonieren und Lachen zu unterbrechen. Auf bequemen Freischwingerstühlen in der Ecke links der Eingangstür saßen ein paar Leute im Kreis, die sich aufmerksam zuhörten. Es sah nach einer kleinen Konferenz aus. Sie wurde von der einzigen Topfpflanze der Halle beschirmt, einem hohen Farn. Die Ecke gegenüber präsentierte ausgedehnte Informationstafeln. Hier standen mehrere Leute, die etwas lasen oder etwas eintrugen. Zwei Stehpulte zum Schreiben oder Dösen gab es auch. Achim wollte sich gerade zu ihnen begeben, als die Blonde ihr Telefongespräch beendete und ihn mit einer freundlichen Handbewegung zum Nähertreten aufforderte. »Was haben Sie auf dem Herzen?«

»Ich suche meine Tochter. Es ist nicht sicher, daß sie sich in Konräteslust aufhält, aber auch nicht unwahrscheinlich. Sie heißt Iris Dömmersbach.«

Die Blonde verstülpte ihre Lippen und schien erst einmal zu erwägen, was von Achims Auskunftsbegehren zu halten sei. Sie war keineswegs die übliche Sekretärin. Sie war die Rätin für Gesundheitsfragen, fungierte aber für heute als »Chefin vom Dienst« im Haus. In dieser Funktion wechselten sich die zwölf Räte oder Rätinnen der Republik täglich ab. Morgens um neun fand stets eine »Übergabe« von etwa einer Viertelstunde statt, damit nichts unterging. Abzüglich einer Mittagspause dauerte der Empfangsdienst acht Stunden – für republikanische Verhältnisse hart. Über den Chef vom Dienst liefen fast sämtliche Außenkontakte. Dadurch konnten sich die übrigen Räte weitgehend unbehelligt ihren eigentlichen Aufgaben widmen, darunter etlichen aus verschiedenen Republikanern gebildeten Arbeitsgruppen. In dringenden Fällen durften Chef oder Chefin vom Dienst als Bevollmächtigte der Republik sprechen oder handeln.

»Wie alt ist denn Ihre Tochter?«

»Im Frühjahr ist sie 18 geworden. Möglicherweise hält sie sich auch seit diesem Zeitpunkt hier auf.«

»Nun ja«, lächelte die Rätin entwaffnend, »dann ist sie ja immerhin volljährig … Was soll sie denn ausgefressen haben?«

»Nichts. Aber wenn ich mich als ihr Vater für ihr Wohler-gehen oder auch nur für ihren Verbleib interessiere, ist es ja nicht unbedingt eine Schande. Oder finden Sie doch?«

»Es kommt darauf an ..!« gab sie spitzbübisch zurück.

Sie schob sich vor den rechten Computer und suchte eine Weile. Dann schüttelte sie ihre blonde Mähne. »Nicht eine Iris in der gesamten Republik! Dabei ist es ein hübscher Name. Nicht als Mitglied, nicht als ProbezeitlerIn, nicht als gemeldeter Gast. Was machen wir jetzt?«

Achim rieb sein Kinn. »Darf sie hier gegebenenfalls unter einem Decknamen leben?«

Die Rätin zeigte sich belustigt, räumte aber ein, das sei nicht völlig ausgeschlossen. Lediglich neue Mitglieder müßten ihre deutschen oder ausländischen Personaldokumente vorweisen. Ob er ein Foto von Iris dabei hätte? Achim nickte. Während er es aus seiner Geldbörse fischte, schlug die Rätin vor, das Foto mit einer Suchmeldung ins Intranet der Republik zu stellen, das von mindestens der Hälfte aller RepublikanerInnen sehr oft besucht werde. Bei einem Mißerfolg könne man später vielleicht noch die Nessedepesche bemühen, das Monatsblatt der Republik. Das nahm Achim gerne an. Sie scannte das Foto, setzte die Meldung auf, schickte das Ganze auf irgendeine Intranetseite. Dabei fand sie noch Zeit, mit einem Journalisten aus Leipzig zu sprechen, denn das Telefon hatte geklingelt. Sie vereinbarte einen Termin mit dem Mann. Dann wollte sie von Achim wissen, wie und wo er erreichbar sei, falls ein Hinweis eingehe.

»Ich lebe in Berlin. Aber ich hätte Zeit, ein paar Tage zu bleiben. Vielleicht im Hotel Hexensabbat

Sie sah ihn stirnrunzelnd an und sagte etwas mißbilligend: »Das Hotel ist belegt. Wir haben zur Zeit ein großes Symposium. Haben Ihnen das Ihre EinladerInnen nicht gesagt?«

»Meine EinladerInnen?«

»Ja.« Die Mißbilligung wurde schärfer. »Wir gestatten Übernachtungen nur, wenn der Besuch von irgendeinem Einheimischen eingeladen worden ist. Wußten Sie das nicht?«

Achim war ein wenig betreten. Dann fiel ihm die Broschüre ein. Er holte sie aus dem Rucksack und zeigte sie der Rätin. »Steht das da drin?«

»Ganz genau!« Allerdings lächelte sie schon wieder leicht. »Im letzten Abschnitt, wenn ich mich nicht irre.«

»Dann habe ich es wohl übersehen. Sie müssen entschuldigen, ich habe mich recht kurzfristig zu der Reise entschlossen und die Broschüre nur flüchtig lesen können. Ich hole das nach!«

Sie zeigte sich versöhnt, denn der braunäugige Vater von Iris war nicht ganz ohne Charme, das mußte sie ihm lassen. Ihr war zudem sein geschmeidiger Gang aufgefallen; er wirkte selbstbewußt, ohne seine Mitwelt einschüchtern zu müssen. »Und Sie kennen wirklich keinen Menschen in Konräteslust?«

Achim dachte nach. »Naja – kennen wäre vielleicht zu viel gesagt. Ich hatte im Bahnhof ein interessantes Gespräch mit einem grauhaarigen Barkeeper. Am Ende trug er mir auf, in der Stadtkirche den Bolero für ihn zu spielen.«

Sie blickte verblüfft zur Kirche und wieder zu ihm. »Sie waren das? Das haben wir bis hierher gehört.« Sie wandte sich zu dem Kreis unweit des Farns und rief: »Stimmt es, Georg – vorhin haben wir ganz andächtig auf die Flöte aus der Kirche gelauscht?«

Georg sah schmunzelnd auf und bestätigte es durch eine Handbewegung.

»Na sehen Sie«, sagte die Chefin vom Dienst befriedigt zu Achim und griff nach ihrem Telefon. Sie nannte den Barkeeper Phil. Sie meldete ihm die Erfüllung seines musikalischen Auftrags. Nach zwei Minuten hatte sie Phil – der offenbar noch an seiner Arbeitsstelle war – nicht nur zu Achims Einlader, sondern auch zu dessen Herbergs-vater gemacht. In Phils Kommune war jemand verreist, dessen Zimmer Achim haben könne. Phil werde sich auch gerne darüber hinaus um den Besucher kümmern.

»Wann soll er denn kommen? … Gut. Ich erkläre ihm den Weg.«



5

Sobald eine Gesellschaft mehr als ein paar Dutzend Köpfe umfaßt, muß sie ihre einzelnen Mitglieder aufgrund des einen oder anderen Merkmals aufteilen, also einander zuordnen; sonst wäre sie unverwaltbar. Sie versänke im Chaos. Ihre Mitglieder nach Blutsverwandtschaft, Hautfarbe oder Sprache/Dialekt zu sortieren, hätte freilich die barbarischen Folgen, die sich an der Geschichte der Zivilisation studieren lassen. Etwas weniger schlimm wäre eine Zuordnung nach Art oder Ort der Arbeit. So könnten alle Frauen und Männer, die in einer Fabrik X arbeiten, als Angehörige derselben Grundorganisation X gelten. Konräteslust besaß allerdings nur ein paar kleinere Manufakturen. Aber selbst bei der früheren herzöglichen Domäne, die an den Wassergraben des Schloßgartens grenzte, müßte dieses Zuordnungsprinzip versagen, denn auf ihr arbeiteten, je nach Saison und Bedarf, die unterschiedlichsten Kräfte. Landwirtschaft und Viehzucht waren dort zwar auf ein überschaubares Maß gedrosselt worden, doch sie diente auch als städtischer Bauhof. Das hieß freilich nicht, ihr Radlader oder Bagger werde stets von einem Belegschaftsmitglied der Domäne gefahren. Jede Grundorganisation konnte sich den Bagger des Bauhofs ausleihen, und man durfte 9:1 darauf wetten, daß sich in jeder Grundorganisation mindestens ein Mensch befand, der einen Bagger fahren konnte. Das Ordnungsprinzip »Arbeit« taugte in Konräteslust nicht, weil die Arbeit hier weitgehend ihren Zwangs- oder Schicksalscharakter verloren hatte. Selbst die blonde Gesundheitsrätin durfte bestenfalls für ein Jahr im schönen Mansardengeschoß des Rathauses amtieren.

Wohnen muß jeder, und für gewöhnlich zieht selbst ein Freigeist nicht alle drei Tage um. Deshalb basierten die Konrätesluster Grundorganisationen (GOs) auf dem Wohnort. Die Stadt war in knapp 50 Gebiete aufgeteilt, nach denen sich die Zugehörigkeit der RepublikanerInnen bemaß. Die Zahl der BewohnerInnen eines Gebiets hielt sich – Kinder eingeschlossen – ungefähr zwischen 50 und 100. Diese 50 oder 100 Leute bildeten eine GO. Jeder mußte einer GO angehören. Nur sie regelte die Mitgliedschaft in der Republik. Damit stellte auch nur sie jene »Blechmarken« aus, die zumeist um den Hals oder am Gürtel getragen wurden. Ihre Symbole zeigten gleichsam das »Wappen« der betreffenden GO. Im Volksmund der Republik hießen sie scherzhaft »Hundemarken«. Jede GO verwaltete ihr Gebiet weitgehend selbst. Allerdings blieb es Gemeineigentum der Republik. Jeder Angehörige der GO hatte alle erdenklichen Mitwirkungsrechte – doch stand er durch seine Einbindung auch unter »sozialer Kontrolle«. In den GOs durfte nur nach dem Konsensprinzip entschieden werden. Lediglich in den seltenen Fällen von Ausschlüssen galt das Prinzip Konsens minus eins.

Phil gehörte der GO Ziegelei an, die am westlichen Stadtrand lag. Seine Erkennungsmarke zeigte den hohen Schornstein und ein Stück des gezackten Dachs der längst stillgelegten Ziegelei. Diese war zum Teil umgebaut worden, sodaß sie den rund 80 Personen der GO als Kantine und Versammlungsraum dienen konnte. Phils Kommune bestand lediglich aus neun Personen, die ein unauffälliges älteres Zweifamilienhaus bewohnten. Ein knorriger Walnußbaum neben dem seitlich angebauten Windfang war die größere Sehenswürdigkeit. In der Abendsonne schimmerte seine Rinde wie angelaufenes Tafelsilber. Es gab nur eine Klingel. Achim wurde von einem vielleicht 10jährigen braunhäutigen Jungen mit Kulleraugen eingelassen, der ihn in die geräumige Wohnküche der Kommune führte. An einem großen ovalen Tisch saßen mehrere Leute beim Abendbrot, darunter Phil. Der kleine Schwarze schob sich wieder zwischen sie. Phil begrüßte Achim, indem er sich überschwenglich für den Bolero bedankte, erbat sich die Erlaubnis zum Duzen und nannte ihm die Namen seiner anwesenden Wohngenossen, bevor er ihn auf einen freien Stuhl nötigte und ihn mit Eßgeschirr versah. Die Namen konnte sich Achim sowieso nicht merken, aber weder seine Tochter noch das Hündchen aus der Stadtkirche saßen am Tisch, das war sicher. Phil schenkte ihm Tee ein und wies auffordernd zum Brotkorb. Achim nickte dankbar; schließlich hatte er seit über sechs Stunden nichts mehr gegessen.

Verständlicherweise wurde er gefragt, was ihn zu seinem Besuch bewogen habe. Er verzichtete darauf, ein drängendes Interesse an der Republik zu heucheln. Da er auch kein Gastspiel als Musiker vorschieben konnte, erwähnte er wahrheitsgemäß den Streit, den er Anfang des Jahres mit seiner Tochter Iris gehabt hatte. Sie lebte damals schon seit zwei Jahren in einem besetzten Haus. Obwohl er das mit zwiespältigen Gefühlen sah, unterstützte er Iris mit einer monatlichen Zuwendung. Sie verstand sich als Punkerin. Dann wollte sie plötzlich auch die Schule schmeißen – ein halbes Jahr vorm Abitur! Er versuchte vergeblich, es ihr auszureden. Schließlich drohte er mit Entzug der finanziellen Unterstützung. Natürlich wählte er sanfte Worte – gleichwohl hatte er seine ökonomische und juristische Überlegenheit eingesetzt, also den Machthaber gegeben. Das bereute er nach wenigen Tagen, aber da war es schon zu spät: sie war spurlos abgetaucht. Immerhin kam dann im Sommer eine absenderlose Postkarte von ihr als Lebenszeichen. Er möge sich keine Sorgen machen. Die Karte war in Erfurt abgestempelt worden. Eine Kollegin aus dem Orchester, mit der er eng befreundet sei, habe ihm darauf von Konräteslust erzählt.

Achim ließ das Foto herumgehen, das Iris mit trotzigem Mund zeigte. Alle paßten, schienen aber von dem Streitfall nicht verblüfft zu sein. Der bärtige Klaus gab ihm das Foto zurück und bemerkte dabei beschwichtigend, er habe auch kein Abitur.

»Was machst du denn?«

»Zum Teil arbeite ich bei Fahrtwind Konradslust – Konrad mit weichem D.«

»Ein Sportclub?«

Klaus sah belustigt zu Phil. Der lachte und erwiderte: »Nein. Eine Manufaktur, die ursprünglich nur Fahrräder und Anhänger für Fahrräder herstellte, inzwischen aber auch diverse Pferdfuhrwerke baut. Klaus ist gelernter Schlosser. Die Leute da erfinden und entwerfen alles selber, ohne daß sie auch nur einen Ingenieur hätten – stimmt's, Klaus?«

»Stimmt. Unsere Sachen scheinen sich zu bewähren; wir liefern schon zu über 60 Prozent ins 'feindliche Aus-
land' …«

»Freut mich!« erwiderte Achim. »Aber gerade in diesem 'feindlichen Ausland' wird unzähligen jungen Leuten eine anständige Ausbildung verweigert. Da wäre doch die Chance, das Abitur zu machen, wenigstens besser als gar nichts?«

Klaus wog sein bärtiges Haupt. »Damit sie nach ihrem kostspieligen Bezahlstudium Hartz IV bezieht und auf Ein-Euro-Basis 20 Stunden in einem Archiv herumsitzt ..?«

Die Köpfe wandten sich zur Küchentür, weil Mahmud – so hieß der kleine Schwarze – von einem Mädchen mit blonden Zöpfen lautstark aufgefordert wurde, zu einem Lagerfeuer auf dem Hof von Hämmerchen zu kommen. Mahmud schlüpfte sofort aus der Küche. Einige Kommunarden benutzten den Anlaß, ihr Abendbrot für beendet zu erklären und ihr Geschirr wegzuräumen. Phil schlug Achim vor, sich das Bad und sein Zimmer anzusehen. Sie könnten sich ja später ebenfalls zu dem Feuer begeben und noch ein bißchen miteinander bekannt machen.

Darauf ging Achim gerne ein. Er erfrischte sich ein wenig und spielte nochmals ein Stündchen Flöte. Da es ihm unangenehm gewesen wäre, dem ganzen Obergeschoß in den Ohren zu liegen, hatte ihm Phil das »Tobezimmer« der Kinder im Kellergeschoß beschrieben, das jetzt verwaist war. Hier steckte er seine Flöte zusammen. Der schmale Kunststoffkoffer, in dem die drei Teile in Samt gebettet lagen, war kaum platzraubender als sein Unterarm und deshalb leicht in jedem Rucksack zu verstauen oder auch unter die Achsel zu klemmen. Durch die Glastür des Tobezimmers, die auf einen Garten ging, konnte Achim beim Üben sogar entfernt den züngelnden Widerschein des erwähnten Lagerfeuers sehen. Es war draußen schon dunkel. Gegen neun holte ihn Phil im Keller ab. Sie benutzten gleich die Glastür. Achim hatte sich in der Tat seinen Flötenkasten unter den Arm geklemmt, denn er wußte ihn ungern aus seinen Augen. Marktwirtschaftlich betrachtet, war sein Instrument knapp 3.000 Euro wert. Phil knipste eine Stabtaschenlampe an; andernfalls wäre sein Gast womöglich mitsamt der silbernen Fracht in den Boberbach gefallen. Dieser bildete die Grenze zwischen dem Garten der Kommune und Hämmerchens altem Bauernhof. Auf einem Steg mit Geländer kamen sie sicher hinüber. Das Feuer flackerte genauer hinter Hämmerchens Scheune auf einem Kartoffelacker, der ihm in Form von Kartoffelkraut auch die Nahrung lieferte. Es wurde heute – unter Verzicht aufs standesgemäße Kartoffelbacken – nur den quengelnden Kindern zuliebe veranstaltet, denn die Kartoffelernte war noch keineswegs vorüber. Außer Hämmerchen und seiner Tochter, die die Kinderschar beim Feuerschüren beaufsichtigte, waren keine Erwachsenen anwesend. Hämmerchen begrüßte sie, holte ein paar Kisten als Hocker aus der Scheune und fragte sie, ob sie ebenfalls eine Flasche kühlen Bieres wollten. Er verschwand, um das Bier zu holen.

Da die Kinder eifrig im Feuer stocherten, hin und wieder auch Stücke von Abbruchholz hineinwarfen, stoben die Funken. Die Kinder äußerten ihre triumphalen Rufe nur mit unterdrückter Stimme. Nicht der geringste Verkehrslärm war zu hören. Ein gestirnter Himmel sah den Funkenflug des kleinen Feuers auf dem zerwühlten Kartoffelacker mit Mitleid an. Eine dünne Mondsichel stand knapp über dem Dachfirst der Scheune. Man hätte am liebsten seine Jacke daran gehängt, war es am Feuer doch sowieso zu heiß. Eine Katze drängte sich an Achims Fußknöchel; er kraulte sie gedankenverloren. In einer Erle am Boberbach mochte eine Eule hocken, die das befremdliche Geschehen in ihrem Jagdrevier scharf beobachtete. Der Bach – durch sein dunkles Ufergesträuch kenntlich – lief vom Bauernhof weg. In der Ferne stieß er auf eine hohe Baumzeile. Phil war Achims Blick gefolgt und erklärte:

»Die Pappeln da hinten stehen an der Nesse. In diesem südlichen Winkel bildet unser Fluß die Republikgrenze. Gott sei Dank – unsere Republik ist noch überschaubar.«

Achim nickte lächelnd. Hämmerchen kam mit dem Bier, teilte aus und ließ sich auf eine freie Kiste sinken. Nach einem tiefen Zug aus seiner Flasche leckte er sich genüßlich seine wulstigen Lippen. Der untersetzte Bauer war fast so breit wie hoch, wie Achim auf Anhieb bewundernd festgestellt hatte. Die Bierflasche wirkte in seiner Pranke wie ein Bleistiftstummel. Auf seinem kantigen, fast halslosen Schädel kräuselte sich dichtes kräftiges Haar; es war schon grau wie bei Phil. Hämmerchen hatte die Angewohnheit, sich mit den Fingerkuppen in seiner Drahtwolle auf dem Kopf zu jucken. Achim dachte an die Katze, die inzwischen verschwunden war. Sie mochte so ihre Krallen schärfen. Aber bei dem grobschlächtigen Bauern merkte man sofort, daß man einen rundum gutmütigen Menschen vor sich hatte. Phil bestätigte es später. Hämmerchen verströme seine Gutmütigkeit durch die großen Poren seiner derben Haut, behauptete Phil.

Phil prostete Hämmerchen zu und wünschte ihm ein langes Leben. »Wir zählen beide zu den Männern und Frauen der ersten Stunde«, erklärte er Achim. »Allerdings war ich kein Einheimischer. Ich kam aus Arnstadt, nachdem das Schloß besetzt worden war. Als erstes haben wir den Jugendwerkhof aufgelöst, der im Schloß untergebracht war – eine Art Jugendknast, vestehst du? Wir wollten ja Kommune machen. Ein paar von den Zöglingen sind gleich dageblieben; zwei andere hat zum Beispiel Hämmerchen bei sich auf dem Hof aufgenommen. Mein Gott – was hat sich in diesen knapp 20 Jahren alles bei uns getan! Habe ich recht, Hämmerchen?«

Sie schlugen sich auf die Schultern und ließen ihre Bierflaschen klingen.

»Was warst denn du von Beruf?« wollte Achim von Phil wissen.

Phil kicherte. »Museumswissenschaftler! Aber du wirst dir denken können, hier hatten wir erst einmal andere Sorgen. In den ersten Jahren habe ich tausend Sachen gemacht. Unser Museum am Waisenhausplatz habe ich erst 2001 zusammen mit Gabi eingerichtet, aber 2003 bin ich schon wieder ausgestiegen. Stadtrat für Kultur war ich auch einmal. Jetzt mache ich die nicht sonderlich umfangreiche Logistik des Bahnhofscafes und außerdem zwei Schichten pro Woche hinter dem Tresen. Das genügt mir. Immerhin werde ich bald 70.«

Achim staunte. »Stadtrat für Kultur? Hauptberuflich?«

Phil machte eine abwehrende Handbewegung. »Von hauptberuflich im Gegensatz zu ehrenamtlich zu sprechen, macht bei uns keinen Sinn. Die Lohnarbeit ist ja abgeschafft. Für uns gibt es nur Tätigkeiten, die mehr oder weniger sinnvoll sind, je nach unseren Prioritäten. Die sinnlosen verpönen wir. Bei uns landen sowieso keine Leute, die ihr Vergnügen darin finden, den ganzen Tag Skat zu spielen oder zweimal im Jahr zum Mond zu fliegen um nachzugucken, ob die Amiflagge noch genug Wind hat. Sinnvoll ist natürlich alles, was dem Wohlergehen unserer Republik oder befreundeter Projekte dient. Du hast Maria, die Gesundheitsrätin, erwähnt. Sie könnte genauso hier am Feuer die Kinder hüten, während Hämmerchens Tochter Dörte im Rathaus über irgendwelchen Beschlußvorlagen brütete. Beides sind wichtige Tätigkeiten für das Wohlergehen unserer Republik. Wir verschmähen es, sie gegeneinander aufzurechnen. Unter anderem deshalb haben wir das Geld abgeschafft.«

»Gut«, nickte Achim. »Aber unser Bedürfnis, die Dinge zu bewerten, pflegt sich doch auch ohne Geld – geltend zu machen. Nimm nur die Liebe. Diese Frau ist mir wichtiger als diese andere Frau. Sie ist auch schöner – und so weiter. Wir vergleichen ständig und ziehen dem einen das andere vor.«

»Schon richtig. Nur brauchst du zum Vergleichen einen gemeinsamen Maßstab – und den haben wir in Sachen Arbeit mit dem Geld ausgehebelt. Dörte braucht sich nicht zu schämen, weil sie heute weniger als Phil geleistet hätte, der sechs Stunden am Bahnhofstresen stand, während sie nur drei Stunden auf dem Kartoffelacker war und dann noch abends zwei Stunden Kinder gehütet hat. Die sogenannte Arbeitszeit wird bei uns gar nicht mehr erfaßt; ich habe das Beispiel nur konstruiert. Diese ganze Aufrechnerei ist grober Unfug, wie schon Kropotkin erkannte. Vielleicht ist Dörte noch die halbe Nacht auf den Beinen, weil sich ein Ackergaul in Koliken wälzt. Vielleicht mache ich morgen mit meiner Geliebten einen blauen Tag im Hainich, weil das Wetter gerade günstig ist, sitze aber am Sonntag stundenlang über dem halbjährlich zu gebenden Rechenschaftsbericht des Bahnhofscafes. Über diese Aufwände Buch zu führen, wäre die reinste Zeitvergeudung. Genauso kommt hier keiner damit, er sei als Gesundheitsrat besonders wertvoll, weil er dereinst 27 Semester Medizin und Verwaltungskunde studiert habe. Frage mal Hämmerchen, wie entbehrungsreich die drei Jahre waren, in denen er zu DDR-Zeiten den Knast studiert hat! Auch dieses Studium kommt jetzt der Republik zugute.«

Achim nickte Hämmerchen freundlich zu. »Das glaube ich unbesehen. Aber habt ihr nicht irgendwelche Richtwerte für den Einsatz, den jeder pro Tag oder pro Woche leisten sollte?«

»Nö«, brummte Hämmerchen. »Das könnten ja auch wieder nur Zeitvorgaben sein. Sagen wir: 20 Wochen-stunden. Zählt dann Phil die Stunde hier am Feuer, in der er einem hochgestellten Ausländer ökonomische Sachverhalte darlegt, dazu oder nicht dazu? Vielleicht verteidigt uns der hohe Gast nach seiner Rückkehr in die Heimat, das wäre ein Gewinn für die Republik; vielleicht bewirft er uns aber auch mit Schmutz.«

Hämmerchen grinste. Das zog ihm die Mundwinkel bis zu den fleischigen Ohren, die den Heißhunger einer ganzen Eulenbrut gestillt hätten. Er tippte mit seiner Bierflasche an den schwarzen Kasten, der neben Achim auf der Kiste lag, und ergänzte:

»Vielleicht ist er Waffenhändler?«

»Er spielt Querflöte, Hämmerchen«, erklärte Phil. »Das wäre für dich nichts; du würdest das Mundstück verschlucken.«

Hämmerchen deutete einen Flaschenwurf an. Phil wandte sich an Achim. »Nein, die Festlegung und Beurteilung des eigenen Einsatzes ist dem Gutdünken oder dem Gewissen jedes einzelnen überlassen. Allerdings ist er auch in eine Grundorganisation eingebunden. Bekomme ich mit, das Hämmerchen den ganzen Tag auf dem Heuboden liegt und Comics liest, werde ich ihn darauf ansprechen.«

»Klar«, bekräftige Hämmerchen mit seinem sanften Brummbaß. »Ich werde dir ein paar Heftchen ausleihen.«

»In Wahrheit ackert er wie seine Gäule«, sagte Phil zu Achim. »Er braucht das eben. Andere brauchen das nicht so stark.«

»Und wenn Not am Mann ist? Im Brotkorb Nord haben sie so viele Kranke, daß 200 Republikanern leere Frühstückskörbchen drohen? Wenn einen Tag vor dem Plenum der Republik die Tribüne in der Stadtkirche zusammenbricht – mitten im Winter? Wenn auf der einen Seite die Heizungsfachleute fehlen, auf der anderen die MusikerInnen ins Kraut schießen?«

»Bislang sind die Lücken noch immer geschlossen und die Kräfte ausbalanciert worden. Alle denken ja mit. Alle sind bereit zu Verhandlungen und Zugeständnissen. Und wem diese Bereitschaft und ein ausgeprägtes Verantwortungs-gefühl abgeht, kommt in so eine Republik gar nicht hinein. Deine Probezeit in der Grundorganisation, die deinen Aufnahmeantrag entgegen genommen hat, dauert mindestens neun Monate. Ich darf ohne Prahlerei behaupten, auf diesem Flecken von rund 40 Quadratkilometern haben sich die besten Köpfe Europas versammelt. Zwei Asiaten haben wir, glaube ich, auch. Köpfe mit Charakter, Sinn für Solidarität, Herz. In den Gründungsjahren sah das natürlich noch weniger rosig aus. Irre ich nicht, sind von der einheimischen Bevölkerung des Städtchens nach der Ankündigung der Republikgründung rund 30 Prozent hiergeblieben, und darunter gab es schon einige heikle Fälle. Vielleicht gibt es noch immer ein Dutzend schwarze Schafe, aber die fallen nach 20 Jahren gar nicht mehr ins Gewicht. Wie geht's denn deiner Schwiegermutter, Hämmerchen?«

Hämmerchen winkte mit seiner Bierflasche nur ab. Phil erklärte: »Seit einiger Zeit sitzt sie im Rollstuhl, da kann sie nicht mehr ganz so viel Unheil anrichten …«

Über diesen Sarkasmus mußte Achim doch seinen Kopf schütteln. Dann hakte er nach: »Wie kommt denn Ordnung in die Aufteilung der Arbeit bei so vielen Leuten? Man muß doch verhindern, daß die Grundorganisationen unbeabsichtigt gegeneinander arbeiten.«

»Völlig richtig. Unser Rat für Ökonomie hat die gesamte Struktur der Ressourcen und Beschäftigten in seinem Computer. Normalerweise wird ihm auch jede Veränderung oder jeder Wunsch danach gemeldet. In der Anfangszeit gab es da ohne Zweifel manche Schlamperei, aber inzwischen hat sich das so gut eingespielt, daß man schon automatisch Rücksprache hält und Absprachen trifft. Wird etwa ein Ersatz für Klaus, den Schlosser und Konstrukteur, gesucht, weil er eine Auszeit von sechs Monaten nehmen will, findet sich über unser Intranet rasch einer, sofern ihn Klaus nicht schon selbst besorgt hat. Findet sich keiner – es kann ja mal vorkommen – wird eben die Produktion bei Fahrtwind gedrosselt. Das ist alles kein Beinbruch. Wir unterliegen in der Produktion so wenig den ringsum beschworenen 'Wachstumszwängen' wie im Kindermachen oder bei der Aufnahme von Probezeitlern.«

Hämmerchen gähnte und murmelte, er müsse einmal daran denken, ins Bett zu kommen. Vielleicht hatte ihn das Stichwort vom Kindermachen auf seine Müdigkeit aufmerksam gemacht.

Achim hatte seine Zweifel an dem, was ihm geschildert worden war, und er hätte noch viele Fragen stellen können, aber als Musiker wußte er, man sollte Stimmungen nicht überstrapazieren. Die letzten Kinder waren schon vor einer halben Stunde von Erwachsenen abgeholt worden; Dörte hatte sich neben ihrem Vater auf eine Kiste gesetzt, aber noch keinen Ton gesagt. Die Feuerstelle glimmte nur noch. Die Katze saß jenseits von ihr reglos auf dem Acker wie aus Ton gebrannt und schwarz lackiert. Jetzt deutete Dörte auf Achims Flötenkasten und fragte den Gast, ob er nicht noch etwas spielen könne, bevor sie auseinander gingen. Das hielt Phil für eine ausgezeichnete Idee. »Dreimal darfst du raten, was du uns jetzt zu Gehör bringen wirst, lieber Achim!«

Die reine Melodie des Bolero fügte sich nicht übel in die nächtliche Szene ein. Sie wirkte trotz ihrer Bewegtheit getragen. Im ganzen fiel sie ab – als sei sie mit Hilfe des Scheunenfirstes vom Mond herabgeklettert, um sich über der Restglut noch einmal die Hände zu wärmen, vielleicht sogar aufzubäumen, bevor sie sich in den bislang nicht umgebrochenen Kartoffelzeilen verkroch.



6

Judith Lämmerhirt lebte seit einigen Jahren nicht mehr in Konräteslust, doch aus den Annalen der Zwergrepublik an der Nesse ist sie nicht zu tilgen. Ohne die damals junge Frau und den glücklichen Umstand, daß sie zur rechten Zeit auf der Nessebrücke stand, wäre es nämlich mit hoher Wahrscheinlichkeit nie zur Republik gekommen. Das war im März 1991. Im Gefolge der Schloßbesetzung und der Auflösung des Jugendwerkhofes waren bis dahin immerhin mehrere Kommunen und die »neue« Bornmühle entstanden, zudem fanden bereits Verhandlungen mit dem Landratsamt über die Übernahme der Domäne durch eine ökologisch und rebellisch gestimmte Gruppe statt. Aber von einer ganzen, nahezu autonomen Republik wagten damals noch nicht einmal jene Aktivisten zu träumen, die dann die ersten Konrätesluster Stadträte stellten. Die Unbilden des Kampfes gegen einen übermächtigen Staat und dann auch die Mühen der Selbstverwaltung hätten das Wohlwollen der Einheimischen überstrapaziert, obwohl sie ohne Zweifel mehrheitlich keine Lust auf Kohls Kapitalismus hatten. Sie unterstützten die ersten Kommunen, erhofften sich Lohnarbeit von der neuen Domäne und nutzten im Herbst 1990 dankbar die in Windeseile in der Bornmühle eingerichtete Mosterei. Das Projekt »neue Bornmühle« – weil das Fallobst zum Zwecke des Auspressens in einer vergleichsweise winzigen elektrisch betriebenen Mühle geschrotet wurde – war ein Glücksgriff der Pioniere gewesen, denn die nächsten Mostereien lagen erst in Gotha oder Waltershausen. Die Presse in der Bornmühle stand bis in den November hinein kaum eine Stunde still. Doch die Verhandlungen über die Domäne zogen sich quälend über den Winter hin; die Gothaer Bürokraten ver-schleppten. Im März schließlich gelang es einer dreiköp-figen Delegation, eine Audienz beim Landrat persönlich zu erwirken. Damit kamen die Steine ins Rollen.

Der Auftritt der Delegation beeindruckte Wenkenmöller so sehr, daß er sich zu einem inoffiziellen Lokaltermin bereit erklärte. Er wolle sich die hoffnungsvollen Projekte einmal mit eigenen Augen ansehen. Er kam an einem Sonntag in Begleitung seiner Gattin und seines Söhnchens, das gerade laufen lernte. Ein Pulk aus Einheimischen, Besuchern und Journalisten, mittendrin die Delegierten, stand auf der Nessebrücke und blickte zum nahen Schloß. Hier verläßt die Hauptstraße den Ort Richtung Süden. Die Uferwiese vor den ersten Vorstadthäuschen grünte bereits, aber es war noch kühl. Gerade malte ein Delegierter den Südflügel des Schlosses zu dem preiswerten Hotel aus, das die BesetzerInnen dort einzurichten gedachten. Plötzlich ein Aufschrei am Brückengeländer. Das Söhnchen hatte sich neben den schwarzbestrümpften Beinen der Landratsgattin an das rostige dünne Gitterwerk geklammert und rüttelte daran, ohne einen Gedanken an die bekannte Materialknappheit in der ehemaligen DDR zu verschwenden. Kurz, das Gitter brach; das Söhnchen stürzte in die Nesse. Es wurde sofort unter die Brücke gerissen, weil das Flüßchen durch Schmelzwasser vergleichsweise tief und reißend geworden war. Aber auf der anderen Seite der Brücke stand Judith am Geländer. Sie erfaßte die Lage blitzschnell und warf bereits ihre Jacke ab. Gleichzeitig kamen Leute aus dem Pulk zum Geländer gestürzt. Sie rief, man möge ihr aufs Geländer helfen und sie halten. Schon drückte sie sich ab und klatschte mit einem Hechtsprung ins Wasser. Nach wenigen Schwimmstößen hatte sie das Söhnchen am Wickel und zog es ans Ufer. Dort stand bereits eine Konradsluster Ärztin, die zu den Sympathisanten der Schloßbesetzer-Innen zählte; sie war in dem Pulk auf der Brücke gewesen und rang noch selber nach Atem. Sie erleichterte das Söhnchen um ein paar Liter Flußwasser. Es überstand das Unglück ohne bleibende Schäden. Auch Judith hatte Glück. Ein weniger durchtrainierter Mensch hätte sich womöglich einen Herzschlag geholt – sie kam mit einer Erkältung davon.

Jetzt witterten die Aktivisten ihre Chance. Schon bei der Kaffeetafel, die den Lokaltermin abschloß, gelang es ihnen, den überglücklichen und verständlicherweise dankbar gestimmten Landrat – nicht zuletzt wegen der leidenschaftlichen Fürsprache seiner Gattin – für ein einzigartiges soziales Experiment zu erwärmen. Er machte sich für die Sache stark. Nach wenigen Wochen brachte seine in Erfurt regierende Partei im Landtag die Gesetzesvorlage ein, wonach in Konradslust eine weitgehend autonome Republik geduldet werde, sofern die noch zu entwerfende Verfassung eine Dreiviertelmehrheit der neuen Einwohnerschaft bekomme. Dies vorausgesetzt, seien der Republik Schloß, Domäne, Kirche und ähnliche Liegenschaften des Landes oder der Landeskirche zu übertragen. Den Umgang mit den in Privatbesitz befindlichen Grundstücken und Gebäuden regle die Republik ohne Einmischung von außen. Einheimische, die sich vor der Volksabstimmung zum Auswandern entschlössen, seien jedoch für ihren zurückbleibenden Besitz zu entschädigen. Dafür stelle das Land einen zweckgebundenen Etat zur Verfügung. Das Experiment werde zunächst auf fünf Jahre befristet. Die Vorlage wurde angenommen. Vor Ort ging dann auch die Verfassung durch. So kamen die Blütenträume, die manche ostdeutschen Rebellen 1989/90 für das Territorium der gesamten DDR gehegt hatten, durch Judiths beherzten Hechtsprung wenigstens auf rund 40 Quadratkilometern an der Nesse zur Entfaltung.



7

Achim richtete sich ächzend auf und trug seinen Korb mit Kartoffeln zu einem der Säcke, die die neuen Furchen im Acker wie Leitpfosten begleiteten. Hämmerchen, der die Kartoffeln ein Stück weiter mit seinen Pranken in den Drahtkorb schaufelte, warf ihm einen belustigten Blick zu. Er hatte Achim beim nächtlichen Abschied »eingeladen«, am nächsten Vormittag für ein paar Stunden zu helfen. Mittags könnten sie dann gemeinsam in die Ziegelei zum Essen gehen; er müsse sich nur bis 10 dort anmelden. Das geschah über Intranet. Das Kartoffellesen ging ins Kreuz. Immerhin hatte sich das freundliche Wetter gehalten, sodaß die Kartoffelsäcke schon nach einer halben Stunde von lauter bunten Jacken und Halstüchern umgeben waren und wahrscheinlich in den Augen der Schleiereule, die im Scheunengiebel nisten sollte, wie künstlich aufgepäppelte Blumen wirkten. Auf dem Acker hatten sich um neun ein knappes Dutzend Leute eingefunden. Die junge Lisa aus Phils Kommune war auch dabei. Sie verteilten sich an der umgebrochenen Kartoffelzeile und arbeiteten nach der einen oder anderen Seite aufeinander zu. Die Drahtkörbe für die »guten« Kartoffeln waren muldenförmig gehalten und mit umklappbaren Bügeln zum Tragen versehen. Die »Schweinekartoffeln« dagegen – das waren die verletzten und die sehr kleinen Kartoffeln – wanderten in schnöde Plastikeimer, weil den Schweinen ein paar Erdkrumen nichts ausmachten. Die Verletzungen rührten vom Zinkenrad des einfachen Roders her. Quer zur Zeile stehend, warf es die Kartoffeln ähnlich wie ein Mühlrad Wasser aus. Der Roder wurde von einem niedlichen, giftgrün lackierten alten Porsche-Traktor gezogen, dessen Achsen soeben das Kraut einer Kartoffelzeile überbrückten. Hämmerchens Tochter Dörte bestieg ihn, sobald die frische Furche restlos abgeerntet war. Bis dahin las sie mit.

Achim hockte inzwischen wie ein Frosch in der Furche, weil er die Taktik gewechselt hatte. Durchs Hocken ersparte man sich das Bücken und die entsprechenden Schmerzen im Kreuz, hoffte er. Ein Mensch, der keine Orang-Utan-Arme besaß, war bei dieser Taktik allerdings gezwungen, in der Furche wie eine Ente vorwärts zu watscheln. Und war der Korb gefüllt, mußte er sich erst einmal aus den eingerosteten Knieen bringen. Offenbar war die erdnahe Landwirtschaft kein Deckchensticken. Immerhin hatte ihm Dörte dünne Gärtnerhandschuhe gegeben, sonst hätte er auch noch den Verdruß mit verspachtelten Fingernägeln gehabt. Halbmonde hatte Achims Mutter schwarze Fingernägelbögen genannt.

»Ohlala – sie läßt mich nicht im Stich!«

Das war Hämmerchens Baß gewesen. Der Bauer blickte erfreut einer Frau entgegen, die von der Scheune her den Acker betrat. Das kurze schwarze Haar und der schwingende Gang kamen Achim bekannt vor. Tatsächlich, es war das Hündchen aus der Kirche. Mein Gott, dachte Achim, und ich in dieser Hose! Phil hatte ihm eine alte Hose abgetreten, die kaum über Achims Waden reichte. Zum Glück hockte er.

Hämmerchen hatte sich erhoben, um seine alte Freundin zu begrüßen. Sie hatte eine Zeitlang hier in der GO Ziegelei gelebt. Wie Achim hörte, hieß sie Birgit. Die beiden umarmten sich fast stürmisch. Birgit war zwar etwas größer als Hämmerchen, aber höchstens halb so breit. Hoffentlich erdrückte sie der gutmütige Bauer nicht.

Die Einheimischen auf dem Acker wußten, daß sich dort zwei in Konräteslust ähnlich beliebte oder jedenfalls geachtete Menschen begrüßten. Hämmerchen, bekannt wie ein bunter Hund, nahm durch seine Gutmütigkeit und Hilfsbereitschaft sowieso jeden für sich ein, der seinen gedrungenen Schatten kreuzte. Und bei einem »Hündchen« verstand sich das hohe Ansehen fast von selbst, weil diese verantwortungsvollen und äußerst heiklen Posten nur an RepublikanerInnen vergeben wurden, die besonders erfahren, charakterfest und entsprechend vertrauenswürdig waren. Man könnte befremdet einwenden, ob in einer solchen Freien Republik nicht alle Menschen gleich seien? Sicher sind sie das. Konkurrenzgebaren und Buhlen um Beifall waren in Konräteslust so gut wie ausgestorben. Aber die Hochachtung vor solchen »Säulen der Republik« wie Hämmerchen, Birgit oder gar Jonny war weder vermeidbar noch verdammungswürdig. Es wird und muß sie in jeder egalitären Gemeinschaft geben. Sie sind gut, um sich an ihnen aufzurichten. Den gebürtigen Schotten John Easten hatte Achim übrigens schon flüchtig gesehen: der schlaksige Graukopf mit der Messingbrille hatte ihm in der Eingangshalle des Rathauses zugenickt. Er wurde mit schöner Regelmäßigkeit alle zwei Jahre – denn für ein Jahr hatte er gemäß Republikverfassung zu pausieren – als Rat für Verkehrsformen wiedergewählt. Wie sich versteht, kümmerte er sich nicht um die Reform der Straßenverkehrsordnung – es gab keine – sondern um die Verständigungswege in der Republik: solidarisches Verhalten, Entscheidungsfindung, Konfliktbewältigung waren sein Metier. Damit unterstanden ihm auch die acht Hündchen der Republik.

Birgit steckte in einer knallroten Latzhose. Das Stirnband fehlte. Sie hatte sich inzwischen mit Korb und Eimer bewaffnet und sah Hämmerchen fragend an. Der nickte zu Achim und sagte: »Zwäng dich zwischen uns, wir rücken auseinander.« Er machte entsprechende Gebärden zu den übrigen KartoffelleserInnen auf beiden Seiten.

»Ach«, rief sie überrascht aus, »Sie sind auch hier?! Freut mich. Hallo!«

Sie kam zu Achim, um ihm die Hand zu geben. Da er ein höflicher Mensch war, mußte er sich notgedrungen erheben, außerdem einen Handschuh abstreifen. Ihr Händedruck war fest. Achim bemerkte das, weil er in Berlin eine Bekannte hatte, die einem stets eine weichgekochte, bereits erkaltete Kartoffel in die Hand zu legen schien.

Birgit war in der Kirche der raffiniert geschnittene und sicherlich nicht ganz billige weiche, helle Sommeranzug des Flötisten aufgefallen. Jetzt musterte sie ihn belustigt und erkundigte sich, ob er überfallen und des Anzugs beraubt worden sei. Achim lächelte etwas verlegen. Er erklärte, er sei im Walnußhaus untergekommen. Hämmerchen rief von hinten dazwischen:

»In meiner Jugend hatte man mit solchen Hosen Hochwasser! Was ist man doch wegen so einem Scheiß gehänselt worden! Drei Jahre später wird man wegen dem gleichen Scheiß bewundert … Du kannst ihn ruhig duzen, Birgit, ich habe Achim schon gestern abend am Kartoffelfeuer überprüft

Sie lachten sich an. »Gut, Achim«, sagte Birgit und ging zu ihrem Korb zurück. Er seufzte innerlich und vermied es, ihr hinterher zu starren. Eigentlich suchte er ja seine Tochter … Als sie sich nach einigen Korbfüllungen wieder einander genähert hatten, sagte Birgit:

»Hockst du freiwillig wie ein Frosch auf dem Acker? Ich habe das mal zwei Stunden so gemacht und hatte noch drei Tage später einen furchtbaren Muskelkater in den Oberschenkeln.«

Er sah zu ihr auf. Sie bevorzugte das Bücken, wobei sie sich mit dem jeweils freien Arm auf einem Oberschenkel abstützte. Die meisten anderen LeserInnen hielten es genauso. Aber er sagte:

»Ich lasse es einmal darauf ankommen. Mein Kreuz hat mir wehgetan.«

»Ja, das schon. Ich glaube, es hilft, wenn du dich öfter reckst.«

Sie machte es ihm gleich vor. Ihr Leib schien sich wie ein Stengel des Blutweiderichs vom nahen Boberbach im Wind zu wiegen, nur heller im Rot.

Achim hielt an der Hocke fest. Man sah so besser. Bei den folgenden Begegnungen in der Furche erzählte er Birgit von der Sache mit Iris, denn sie hatte nach dem Anlaß seines Besuches gefragt.

»Was sagt denn die Mutter von Iris dazu?«

»Nichts. Sie überläßt alles mir. Für sie gibt es nur ihre Karriere. Sie singt an der Scala in Mailand und wirft ungefähr jedes halbe Jahr eine neue CD auf den Markt.«

Dazu sagte auch Birgit nichts. Später ließ sie sich Achims musikalische Aktivitäten schildern. Er spielte in einem Sinfonieorchester, hatte einen Lehrauftrag an der Berliner Musikhochschule und war offenbar auch als Solist gut beschäftigt. Von ihr erfuhr er lediglich, sie lebe inzwischen in der Bornmühle und mache selber keine Musik. Die Mühle lag etwas außerhalb im Osten der Republik unmittelbar an der Nesse.

Gegen eins schlug Dörte den »Abmarsch in die Ziegelei« vor. Alles seufzte erleichtert auf und reckte sich. Die Jacken und Halstücher blieben liegen.



8

Die helle Kantine in der ehemaligen Fabrikhalle war schon gut besetzt. Sie unterschied sich wohltuend von den Schulmensen und Theaterkantinen, die Achim kannte. Die Tische waren ähnlich bunt zusammengewürfelt wie das Geschirr. Hier und dort thronten Kleinkinder in Hochstühlen. Die Wände waren zum Teil mit Szenen aus der Republikgeschichte bemalt, wie ihm Lisa erklärte. Zwei Glastüren beiderseits eines Podiums führten in die Küche. Dazu zählte auch die zentrale Waschküche der GO. Das Büro lag auf der anderen Seite. Die lange Anrichte stand mitten im Saal; jeder bediente sich selbst. Aus einigen großen Töpfen dampfte es verführerisch. Weder die Kartoffeln noch der Blumenkohl waren zerkocht. Dazu gab es wahlweise gebräunte Butter oder Specksoße, beide mit Kräutern. Außerdem erblickte Achim Salat, eine Creme als Nachtisch, beschriftete Kannen mit Tee oder Kaffee, ferner Most, Wasser. Das war alles.

Achim ging mit Lisa zu einem Tisch, wo sich die halbe Ackerbelegschaft versammelte, darunter Hämmerchen und Birgit. Diese hatte ihm an einer Ecke des Tisches den Nachbarstuhl freigehalten. Von ihr erfuhr er, daß die rund 50 Erwachsenen im Saal nicht unbedingt ausschließlich der GO Ziegelei angehören mußten. Zwar hatte jede GO ihre eigene zentrale Kantine, doch welche man besuchte, stand jedem frei. Es war nur Gepflogenheit, sich – oder seine Gäste – bis spätestens 10 Uhr im Intranet entsprechend einzutragen, damit die Küchen kalkulieren konnten. Wie sich versteht, trugen sich viele Leute nach ihrem Arbeitsort, viele aber auch nach dem Angebot der unterschiedlichen Speisekarten ein. So kamen ein streng vegan lebender Mensch oder eine Liebhaberin asiatischer Speisen fast immer auf ihre Kosten. Mancher durchquerte für eine Thüringer Rostbratwurst mit Ananassauerkraut die ganze Republik – mit dem Fahrrad fünf bis sieben Minuten. Die Küchen hatten durchweg feste Belegschaften, meistens drei oder vier Leute. Den Pionieren der Republik hatte zunächst eine zentrale Küche für die ganze Republik vorgeschwebt, wie sie etwa im südindischen Auroville bestand, doch das war später verworfen worden. Man wollte keine Großbetriebe. Sie laden zu Machtballung und Uniformierung ein. Außerdem sind sie ideale Ziele für Raketen oder Bakterien. War in der Ziegelei der Speck verdorben, traf es nicht gleich die ganze Republik. Da die Kantinen auch stets die Plenarsäle der GOs waren, stärkten sie den lokalen Zusammenhalt. Andererseits erschwerte die Wahlmöglichkeit ein Schmoren im eigenen Saft. Man oder Frau sähen immer mal wieder neue Gesichter, wie sich ja gerade beweise, sagte Birgit und winkte mit ihrem auf die Gabel gespießten Kartoffelstück.

Achim lächelte. Sie hätte ihn fast von seinen Einwänden abgelenkt. Ihr eher eckiges als rundes Gesicht war angenehm geschnitten, doch die kräftige Nase rückte sie aus der Nähe von Fernsehansagerinnen oder einer Frau, die ihr Lebensglück durch eine ganz bestimmte Zahncreme gefunden hat.

»Ich nehme aber an, eine zentrale Republikküche wäre effektiver«, gab Achim zu bedenken. »So und so viele Küchenausrüstungen, Einkäufe, Köche und so weiter würden sich erübrigen.«

»Sage das Wort Effektivität in Konräteslust nicht zu laut, man könnte dich schief ansehen. Wir wollen nicht effektiv, sondern gut leben. Entsprechend nehmen wir uns für eine erwünschte Einrichtung Zeit und stellen das erforderliche Mobiliar und Personal auf die Beine. Wir haben ja genug Leute. Und zum Glück sind wir nicht darauf angewiesen, sie als sogenannte ArbeitnehmerInnen im Rahmen der vereinbarten Mietzeit wie Zitronen auszupressen.«

Achim nickte leicht belustigt, ohne sich gekränkt zu fühlen. Birgit spürte es und dachte an Jonny, der einmal unvermittelt bemerkt hatte, ein glücklicher oder zufriedener Mensch – einer, der mit sich selber in Frieden läge – sei unkränkbar. Die Anwürfe glitten an ihm ab wie Wassertropfen auf einer Zitrone. Wenn uns etwas kränke, hätte dieses Etwas einen wunden Punkt von uns getroffen. Aber davon wollte sie jetzt nicht sprechen. Stattdessen ergänzte sie:

»Das Wort Einkauf ist übrigens fehl am Platz. Die KonräteslusterInnen kaufen nicht ein; sie versorgen sich mit dem oder dem.«

»Mit Kartoffeln auch?«

»Die Kommunen, Familien oder EigenbrötlerInnen kaum. Sie brauchen ja nicht zu kochen. Die GO-Küchen holen sich welche aus der Domäne. Von Hämmerchens Acker bleiben vermutlich gleich ein paar Säcke hier; der Rest wird auf die Domäne geschafft. In unseren vier Verteilungs-Depots wird nur Kleingemüse angeboten, weil die GO-Küchen wissen, das andere liegt in der Domäne bereit. Vielleicht liegt es auch gerade nicht bereit – das müßte normalerweise aus den Verzeichnissen im Intranet zu ersehen sein, die alle Güterströme erfassen. Es kann dir also widerfahren, daß du mitten im Mai vergeblich nach Spargel guckst. Na und? Dann kochst du eben etwas anderes. Wenn ich mich nicht täusche, versorgt sich die Republik gegenwärtig schon zu rund 63 Prozent selbst. Das gelingt ihr aber nur deshalb, weil sie nicht darauf besteht, zu Silvester Bananenbowle zu schlürfen oder der Geliebten ein Nerzmäntelchen zu schenken.«

Achims Belustigung hielt an. »Hämmerchens Acker? Ist der nicht Gemeinbesitz?«

»Doch, na klar. Nur die Bezeichnung hat sich gehalten. Er sitzt ja auf seinem alten Hof. Anfänglich wollte die Domäne Land im großen Stil bewirtschaften, aber jetzt kümmern sich meistens Leute darum, die gerade in der Nähe der verschiedenen Flurstücke leben. Das gilt auch für Vieh, etwa Schweine oder Milchkühe. Die Domäne hat vor allem die Pferdezucht in der Hand.«

»Und die 63 Prozent beziehen sich nicht nur auf Nahrungsmittel?«

»Richtig. Gemeint ist der gesamte Bedarf; elektrischen Strom, Bauholz, Maschinen und dergleichen eingeschlossen.«

»Allerhand!«

»Das Bauholz etwa gewinnen wir zum Teil aus unserem eigenen Wald.«

Achim überlegte und lächelte. »Und wenn er seiner Geliebten, statt des Nerzmantels, einen Restaurantbesuch schenkt? Darf er sie zu russischem Kaviar einladen? Dürfen sie gemeinsam eine ganze Badewanne voll russischem Kaviar auslöffeln?«

Birgit kicherte. »Das scheitert leider schon am Restaurantmangel. Es gibt bei uns keine Speiselokale.«

»Tatsächlich?« Achim war verblüfft. »Aber habe ich nicht allein am Marktplatz mehrere gesehen?«

»Nein. Bei uns gibt es nur Cafes, Weinstuben und Bierlokale. Da bekommst du zum Essen entweder nur Kuchen oder ein Käsebrot.«

»Na, das paßt ja«, sagte Achim, setzte sein geleertes Cremeschälchen ab und leckte sich anerkennend die Lippen. »Jetzt fehlt mir nur noch eine Tasse Kaffee zu meinem Glück. Willst du auch eine?«

Er hatte sich bereits halb erhoben, aber sie drückte ihn wieder auf seinen Platz. »Das mache ich. Du bist Gast.«

Achim nutzte die nette Geste zu einem Rundblick durch die Kantine aus. Das nicht meßbare Raumklima beeindruckte ihn. Worin bestand es? Von einem Säugling abgesehen, hatte er bislang keine erhobene Stimme vernommen. Lachte jemand, geschah es unaufdringlich. Es schien ihm überhaupt, es widerstrebe den Menschen hier, sich irgendwie herauszuheben. Er sah, wie die Leute gingen, saßen, sprachen – ja, das war es: man hatte nie den Eindruck, sie suchten zu gefallen. Dagegen hatte er sich selber zuweilen beim Bemühen ertappt, sich möglichst vorteilhaft an seinen Bücherschrank oder in die Türecke der Ubahn zu lehnen. Man machte es beinahe unwillkürlich – so wie sehr viele Frauen automatisch lächeln, wenn ein fremder Blick sie streift. Da tobte der Konkurrenzkampf, der Krieg auf der harmlosesten Stufe. Vielleicht gehörte auch das schon zur Gewaltlosigkeit: es nicht mehr zu wünschen und nötig zu haben, andere zu beeindrucken, einzuschüchtern, auszustechen.

Birgit nahm wieder Platz. Ihr Kaffee war gut. Leider wurde Achims Behagen durch ihre Bemerkung getrübt, sie werde nicht mit auf den Acker zurückgehen, weil sie nachmittags Wachdienst habe. Er ließ es sich freilich nicht anmerken. Immerhin wußte er inzwischen, wie sie hieß und wo sie wohnte.

»Wo schiebt man denn Wache? Oder Frau?«

»Im Rathauskeller. Die Wachstube ist auch die Meldestelle für Neuzugänge oder Umziehende, außerdem das Büro und der Besprechungsraum von uns acht Hündchen.«

»Schützt ihr die Stadträte?«

»Im Ernstfall schon. Wir hatten vor einigen Jahren einen Überfall durch Neonazis, die aus Arnstadt angereist waren, weil sie Phil kannten. Das war der Anstoß für den Plenumsbeschluß, den Wachdienst einzurichten. Vorher hatte den die Gothaer Polizei gar nicht von uns verlangt. Der unterstehen wir nämlich formal. Übrigens habe ich bei dem Scharmützel einen jungen Täter angeschossen. Zum Glück kam er wieder auf die Beine.«

Achim pfiff durch die Zähne. Offenbar hatte er Deutschland doch nicht verlassen. »Nun ja – was heißt: zum Glück? Damit er wiederkommt?«

Sie grinste siegerfüllt. »Er kam wieder. Ich hatte ihn im Krankenhaus besucht. Bald darauf beantragte er Probezeit. Er gehört jetzt der GO Nesseschlaufe an.«

»Donnerwetter!«

Achims Bewunderung bezog sich allerdings weniger auf den Schußwaffengebrauch des Hündchens mit dem schwarzen, zuweilen aufglänzenden Schopf. Eigentlich verabscheute er rohe Gewalt, wo immer sie angewendet wurde. Das war vielleicht noch das positivste Erbe, das ihm sein Vater aufgedrückt hatte. Der war in der Friedens- und Ostermarschbewegung aktiv gewesen und schleppte das Söhnchen auf jede Demonstration und an jeden Büchertisch mit, wo es sich die kurzen Beine in den Bauch zu stehen hatte. Wenn sich Achim nicht falsch erinnerte, hatte sein Vater besonders gern gegen das »Gewaltmonopol des Staates« gewettert. Später mußte er allerdings erkennen, daß Gewalt nicht unbedingt »roh« ausgeübt werden muß – wie ihm sein Vater bewies.

Achim schickte sich gerade an, in Sachen Schußwaffen nachzuhaken, als sich die KartoffelleserInnen zum Aufbruch rüsteten. So brachte auch er sein Geschirr zum nächsten Servierwagen und wandte sich in Begleitung von Birgit und Lisa zur Tür. Neben dieser hing eine Art Briefkasten mit der Aufschrift Gäste zahlen bitte pro Mahlzeit 2 Euro 50. Achim ließ einen Fünfeuroschein in den Kasten gleiten. Wahrscheinlich aß er ohnehin noch einmal hier.

Birgit kam mit, weil ihr Fahrrad auf Hämmerchens Hof stand. Auf seine entsprechenden Fragen versicherten ihm die beiden Frauen, die »Hundemarken« der Republikaner-Innen seien bestimmt nicht fälschungssicher, doch soweit sie wüßten, habe sich noch kein Ausheimischer der Mühe ihrer Fälschung unterzogen, nur um mal umsonst essen oder einkaufen zu können. Die Alternative dazu, nämlich sie einem Einheimischen zu entwenden, sei einmal vorgekommen, doch der Betrüger flog auf, weil eine Depotmitarbeiterin Verdacht schöpfte. Bei nur 3.000 Einwohnern und den häufigen Plena kenne man sich weitgehend vom Sehen. Darüber hinaus gebe es nur noch die üblichen bundesdeutschen Personalausweise und einige ausländischen Pässe. Von dieser Bedingung war das Land Thüringen bei den »Sezessionsverhandlungen« nicht abgegangen. Die Republik mache sie sich neuerdings bei den Plena zunutze, sofern bei wichtigen Entscheidungen – andere wurden dort gar nicht behandelt – kein Konsens zustande komme. Dann müßten alle an den 12 Scannern des Plenarsaales vorbeimarschieren, damit ihre Stimmberechtigung und ihr Votum – dafür oder dagegen – mit Hilfe der Personalausweise überprüft und erfaßt werden konnten. Die Ergebnisse erschienen sofort auf einer elektronischen Anzeigetafel. Zum Glück komme das aber selten vor. Die Tafel hatte Achim sogar mit Erstaunen bemerkt, als er in der Kirche übte. Da sie genau über der Kanzel hing, hatte er sich gefragt, ob es elektronische Gesangbuchsnummernanzeigetafeln für Anarchisten geben könne.

»Wieviel Prozent benötigt denn eine Mehrheitsent-scheidung?«

»80«, sagte Lisa.

»Und wenn es nur 78 sind?«

»Dann bleibt es einstweilen beim Status quo.«

Birgit nickte zwar beipflichtend, ergänzte jedoch unter Zwinkern und Händereiben: »Es sei denn, es kommt zu einem Aufstand und Umsturz …«

Dabei drehte sie bereits ab, weil sie die Scheune erreicht hatten. Sie winkte noch einmal, ehe sie um die Ecke bog. Achim war nicht sicher, ob das mehr Lisa, ihm selber oder doch eher Hämmerchen galt.
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