Donnerstag, 5. Juli 2012
Matthäi
Enthalten in meinem Stockraus von 2009


Während Kommissar Bärlach aus Friedrich Dürrenmatts Erzählung Der Richter und sein Henker (1950) eher an den biederen Tyrannen Maigret erinnert, läßt er seinen Kommissar Matthäi aus dem Roman Das Versprechen von 1958 in der Gosse enden. Vorher verprügeln die Fahnder, die einen Kindermörder suchen, ein Kind. Gegen ihre Verhörmethoden hätte Maigret nichts eingewendet. Das widerrechtliche 20-Stunden-Verhör, das sie gleich eingangs dem tatverdächtigen Hausierer Von Gunten zumuten, gibt ihm auch schon den Rest; wenig später baumelt er am Fensterkreuz seiner Zelle. Zwar hat er im Verhör ein Geständnis abgelegt, doch er ist es gar nicht gewesen. Kommissar Matthäi gelingt es, die Ermordung der kleinen Gritli in einem Wald bei Zürich mit zwei zurückliegenden Kindesmorden aus den Kantonen Sankt Gallen und Schwyz zu verknüpfen. Eine Kreidezeichnung von Gritli, die er aus der Schule entwendet, sowie eine Diskussion mit einem Irrenanstaltsleiter, der ihn, den Kommissar, am liebsten gleich in seiner Anstalt behalten hätte, führt zu Matthäis Theorie, der nächste Mord an wieder einem rotgekleideten, blondhaarigen Mädchen werde schon in Kürze im Kanton Graubünden stattfinden. Darauf baut und stellt er seine Falle.

Der Anstaltsleiter war vom Züricher Polizeikommandanten bereits ins Bild gesetzt worden. Matthäi sei nicht mehr im Dienst. Er habe in letzter Minute einen prestigeträchtigen Job in Jordanien ausgeschlagen und sei sowieso verrückt. Doch diese Kreidezeichnung – diesmal von Dürrenmatt angefertigt – kommt mir gar zu dürr vor. Offenbar zählt er den Kommissar ähnlich wie den Hausierer zu den Außen-seitern. Matthäi neigt zum Grübeln und Eigenbröteln. Unverheiratet, wohnt er seit Jahren in einem Züricher Hotel. Vielleicht zigeunert es auch in seinem Inneren, denn jetzt, auf den Trümmern seiner Karriere, fängt er sogar das Rauchen und Trinken an. Doch es bleibt unklar, warum er sich so besessen auf diesen Mordfall wirft und daran schließlich in der Tat verrückt wird. Das Versprechen an Gritlis Eltern, er werde nicht ruhen, bis der wahre Täter gestellt sei, bleibt nackt. Warum gab er es? Wieviele Beweggründe waren im Spiel? Suchte Matthäi am Ende die Gemeinschaft mit seinen zahlreichen kriminellen „Kunden“ und Opfern, nämlich in der erwähnten Gosse? Trieb ihn Schuldgefühl? Welche Rolle spielte das Kind in ihm?

Über dies alles läßt Dürrenmatt kein Tönchen verlauten, obwohl man ihm keineswegs Wortkargheit vorwerfen kann. Den zurecht berühmten Henker einmal ausgenom-men, neigt er in seiner Prosa zu Geschwätz und Weit-schweifigkeit. Zudem sucht er im Versprechen mit einer Rahmenhandlung zu glänzen (Schriftsteller trifft Polizei-kommandanten), die ich bei der ersten Überarbeitung sofort in den Ofen gesteckt beziehungsweise eingebaut hätte. Offenbar sind die Wonnen der nachkriegsmäßigen „Kahlschlag-Literatur“ in der vergletscherten neutralen Schweiz nie angekommen. Dafür hat Dürrenmatt die großartige Idee, den stellungslosen Kommissar zum Tankwart zu machen. Matthäi pachtet eine vielbesuchte Tankstelle an einer Graubündener Kantonstraße. Er zieht selber den blauen Overall an, um seiner Kundschaft Benzin und Öl nachzufüllen. Im Hauptberuf hat er sich allerdings einem anderen Wartungsdienst verschrieben. Als Lockvogel hüpft die blonde Annemarie, in einem roten Kleidchen steckend, um die Zapfsäulen und Autos. Die ermordete Gritli hatte nämlich von ihren Begegnungen mit dem „Igelriesen“ her eine schwarze Limousine gemalt. So wartet Matthäi auf den motorisierten Mörder.

Das kleine Mädchen Annemarie wurde von einer ehema-ligen Hure mitgebracht, die Matthäi den Haushalt führt, denn zur Tankstelle gehört ein kleines Wohnhaus. Hier hätten wir eine nächste fahnderische Brutalität. Wie sich versteht, hat Matthäi seiner neuen Haushälterin nicht auf die Nase gebunden, welche Aufgabe er ihrem Töchterchen zugedacht habe. Später wird die Ex-Hure bloß zu ihm sagen: „Sie Schwein.“ Nach wochenlanger Durststrecke des Wartens, die Tankwart Matthäi zunehmend mit Schnaps bekämpft, gibt der „Igelriese“ endlich ein Zeichen neuerlicher Annäherungsversuche. Annemarie muß ihn im nahen Wald getroffen haben, denn Matthäi kann ihr Trüffel, splittrige Schokoladenkugeln also, entwinden – die „Igel“ aus Gritlis Zeichnung. Matthäi eilt sofort nach Zürich und gewinnt den Polizeikommandanten für seine Sicht und seinen Plan. Jetzt wird der Ort des erhofften Stelldicheins, eine Waldlichtung, von morgens bis abends überwacht. Matthäi hat das Mädchen in der Schule krankgemeldet. Mehrere Beamte beobachten es Tag für Tag. So wälzen sich die Stunden dahin, während Anne-marie singend am Bach sitzt, wo sie offensichtlich auf etwas oder jemand wartet. Sie singt stets dasselbe Lied: „Maria saß auf einem Stein ...“

In diesem zähflüssigen Abschnitt der Geschichte bewährt sich Dürrenmatt als Dramaturg. Die Observierer beginnen zunächst das Lied zu hassen. Der Staatsanwalt brüllt ins Telefon und zieht die Hälfte der Leute wieder ab, weil er die Unternehmung für einen fruchtlosen Unfug hält. Die restlichen Observierer beginnen Annemarie zu hassen. Eine Woche lang sind sie bereits zermürbt worden. Der Staatsanwalt taucht im Wald auf und brüllt wie ein Hirsch. So gipfelt die gescheiterte Aktion in einem kaum erwar-teten Ausbruch von Wut und Gewalt. Der Staatsanwalt macht den Anfang. Plötzlich schreit er auch das Mädchen auf der Waldlichtung an, packt es und schüttelt es, damit es endlich sein Wissen über den „Igelriesen“ preisgebe. Schon schlägt auch der Polizeikommandant auf Annemarie ein. Sie läßt das Toben der frustrierten Männer vielleicht eine halbe Minute stumm über sich ergehen, bevor sie ihrerseits, auf den Kommissar gemünzt, mit grauener-regender Stimme brüllt: „Du lügst! Du lügst! Du lügst!“ Dies behält sie auch bei, während sie wie von Sinnen zum Waldrand und gleich darauf ihrer Mutter in die Arme läuft. Die Männer sind inzwischen von der Ernüchterung ereilt worden. Als sie zu brüllen anfing, ließen sie von Annemarie ab; jetzt schämen sie sich. „Wir sind Tiere, wir sind Tiere!“ keucht der Polizeikommandant. Die eindringliche Szene ist ein Lehrbeispiel dafür, wie schnell sich die Rollen von Tätern und Opfern vertauschen können oder wie verschwistert sie sind.

Das Mädchen nehme ich natürlich aus. Neben der Prügel-orgie muß Matthäi und seinen Mitstreitern sicherlich vorgeworfen werden, sie hätten eine tiefe Verstörung des Mädchens in Kauf genommen oder selbst angerichtet. Allein der gebrüllte Vorwurf Annemaries, Matthäi lüge, deutet auf einen schwerwiegenden Vertrauensbruch. Der Bezug bleibt mir unklar. Beklagte das Mädchen vielleicht, Matthäi habe nur vorgegaukelt, auf ein glückliches Familienleben aus zu sein? Ging es diesem insgeheim tatsächlich darum? Dürrenmatt kommentiert dies alles bestenfalls durch die Hintertür. Er führt den Lockvogel Annemarie noch einmal als 15- oder 17jährige vor. Eine glotzende Schlampe, steht sie in dem Tankstellenhäuschen hinterm Tresen, denn dort hat ihre Mutter inzwischen eine Lasterhöhle eröffnet. Matthäi sitzt draußen in seinem Tran auf der Treppenstufe. Er wartet nach wie vor. Einmal wird der Mörder kommen. Dann wird er mit ihm abrechnen.

So läßt Dürrenmatt die „eigentliche“ Geschichte mit der gescheiterten Polizeiaktion enden. Der Fall bleibt unauf-geklärt. Dadurch wird uns – der Hausierer Von Gunten konnte ihn ja keineswegs bieten – ein zweifelsfrei über-führter und somit sehr beruhigender Täter vorenthalten. Das ist so gemein wie konsequent, erinnert man sich der Vorhaltungen, die der Polizeikommandant zu Beginn der erwähnten Rahmenhandlung den Schriftstellern macht. Mit ihren logischen Handlungsverläufen und festen Rollenverteilungen setzten sich diese allzu bequem über das Zufällige und Unwägbare hinweg, das in der Realität allgegenwärtig sei. „Ihr versucht nicht, euch mit einer Realität herumzuschlagen, die sich uns immer wieder entzieht, sondern ihr stellt eine Welt auf, die zu bewältigen ist. Diese Welt mag vollkommen sein, möglich, aber sie ist eine Lüge.“ Gleichwohl kann Dürrenmatt nicht an sich halten. Er zieht noch eine Pointe aus der Tasche, durch die der Fall aufgelöst wird. Ich finde sie stark, wenn auch viel zu breit ausgewalzt. Die folgenden Sätze hätten genügt.

Nach Jahren wird der Polizeikommandant ans Sterbelager einer Greisin gerufen; vielleicht will sie ihm eine Stiftung antragen. Sie ist steinreich, redselig und offenbar halbver-rückt. Ihre Beichte kreist um ihren Gatten Albert, den sie eines Tages tüchtig ausschimpfen mußte, weil er einem bedauernswerten kleinen, blonden Mädchen Schokolade geschenkt und es anschließend mit Hilfe eines Rasiermes-sers umgebracht hatte. Leider stieß ihre Gardinenpredigt auf taube Ohren. Noch zweimal sollte „Albertchen“ einer „Stimme im Himmel“ folgen und seine schwarze Limousine von Blutspuren säubern. Dann aber hat er Pech. Auf dem Weg zu Annemarie – und den Observierern, die sich ihre Beine in die Bäuche stehen – beißt er als Opfer eines schnöden Verkehrsunfalls selber ins Gras. Somit hatte der arme Matthäi den richtige Riecher gehabt. Jahre der Verachtung und Ächtung trafen ihn zu unrecht. Wer ihm diese Nachricht zu seiner Treppenstufe brächte, auf der er von Schnapsflaschen umgeben hockt, sollte sich vorsichtshalber einen Sturzhelm aufsetzen.
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