Mittwoch, 20. Juni 2012
Die Kunst des Wartens
Eine Meditation über das Aktmodell


Vorfassungen erschienen 1999 und 2000 in den Zeitschriften Muschelhaufen (Nr. 39/40) und Rabe (Zürich, Nr. 59)



Oft werde ich gefragt, ob man sich auf dem Podest nicht langweile. Wäre ich Jules Renard, würde ich erwidern: „Ich langweile mich nirgendwo, denn in meinen Augen heißt sich langweilen sich selbst beleidigen.“

An dem Ort, wo das Aktmodell so offensichtlich der Zeit ausgesetzt ist, findet diese Haltung ohne Zweifel erschwerte Bedingungen zu ihrer Verwirklichung. Um so nachhaltiger erlernt man sie dort. Dabei kann von Untätigkeit keine Rede sein. Ein Feldweg arbeitet auch, indem er sich schlängelt. Ist das Schlüsselbein nicht Fenstersturz, Joch, Schwinge? Deshalb kommt Akt von actus, was Handlung heißt. Stehen, zum Beispiel, ist der Versuch nicht umzufallen. Auch im Sitzen oder Liegen lastet man zunehmend, wogegen ein Aktmodell allerlei unternimmt. Sowohl das Lasten wie meine von außen kaum merklichen Gegenmaßnahmen spüre ich gern, denn dadurch spüre ich mich. Ich habe Freude daran, die unterschiedlichen Richtungen, somit das Widersprüch-liche und Spannende einer bestimmten Position zu spüren. Es durchzieht mich.

Im Grunde unterliege ich als Aktmodell einer körperlichen Inanspruchnahme, die mir die Möglichkeit bietet, mich zusammenzuhalten, ohne zu verklumpen. Man hält sich auf der Kippe. Das ist ein schönes Gefühl, falls man es beherrscht. Falls nicht, werden Unruhe, Angst, Schwindel für eine Katastrophe sorgen. Ich suche in meinem Körper immer wieder den Dreh- oder Schwerpunkt auf, das dient der Konzentration. Dabei mache ich mir meine Kurzsich-tigkeit zunutze, indem ich beim Modellstehen nie meine Brille trage. Ich sammle mich.

Das Ganze läßt sich vielleicht noch anders ausdrücken. Von Toulouse-Lautrec, dem französischen Maler, wollte jemand wissen, woran er gerade arbeite. „Ich versuche mich selbst zu ertragen.“

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Wir menschlichen Körper stehen und fallen mit der Zeit, die verrinnt. Bekommen wir dieses Verrinnen zu spüren, flößt es uns offenbar Furcht ein. Deshalb unser unruhiges Rutschen auf der Stuhlfläche, womit wir die Zeit gleichsam zu übertünchen versuchen. Der Maler bevorzugt Lein-wand. Deshalb auch unser Hampeln an der Bushaltestelle, das dem Aktmodell nicht gestattet ist. So macht es aus der Not eine Tugend und übt sich in der Kunst des Wartens.

Dabei ist ihm jene Angst so wenig fremd wie uns allen. Warum? Weil wir alle einmal Säuglinge waren. Säugling, das ist das unabweisbare Gefühl: Wenn ich jetzt nichts unternehme, geht es mit mir zu Ende. Deshalb brülle, strampele, kacke ich. Zum Glück erscheint eine Göttin, die mich stillt, besänftigt, säubert. Warten, das wäre der Tod.

Diese furchtsame Einstellung finden wir als sehr bewußte am Wettläufer wieder; freilich nicht, während er rennt. Deshalb rennt er nämlich. Sein Versuch, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, indem er sie überbietet oder unterläuft, nimmt den Körper so sehr in Anspruch, daß er nicht mehr zum Denken kommt. Nun besteht er wieder aus dem unabweisbaren Gefühl des Säuglings.

Allerdings wird er auch unfehlbar von der Erfahrung gejagt. Er hat begriffen, die Göttin wird nicht an den Startblöcken erscheinen wie einstmals in der Tür des Kinderzimmers. Man muß arbeiten. Möglichst an sich selber, statt vor sich wegzulaufen.

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Gewiß sind wir alle fortwährend Umständen und Anwür-fen ausgesetzt, die nicht immer leicht zu verkraften sind. Doch in der U-Bahn, im Büro, im Cafe können wir uns ihnen leichter entziehen. Das Aktmodell ist festgenagelt.

In den ersten Jahren griff mich bereits das stumme Kommen und Gehen des Aktschülers an, das zumeist in seinem Belieben liegt. Er geht einen Kaffee trinken oder eine Besorgung machen. Kommt er nach zwanzig Minuten oder zwei Stunden wieder, steht das Aktmodell immer noch da, soll es doch ruhig ein anderes sein. Es steht ihm zur Verfügung.

Dabei muß sich das Aktmodell bieten lassen, wonach dem Aktschüler gerade zumute ist. Oft möchte er etwas ande-res. „Das finde ich echt bescheuert“, platzt prompt eine Mitschülerin heraus, weil das Aktmodell eine bewährte aufschlußreiche Sitzposition eingenommen hat, die ihr mißfällt. Während ein Dritter „Ist doch toll!“ dagegenhält, schlägt das Aktmodell seine Hände vors Gesicht, im leicht gebeugten Stehen. „Kannst du nicht mal dein Gesicht zeigen!“ Das Aktmodell geht zu Kurzstellungen über. Sich reckend, hebt es den Arm, wie wir auf dem Bahnsteig einem Bekannten winken. „Das ist doch faschistisch.“ Das Aktmodell macht Pause. Übrigens setzt es erst jetzt seine Brille auf, um beim Modellstehen nicht auch noch die Angriffe einstecken zu müssen, die durch Mundwinkel-zucken, Naserümpfen, Grinsen oder Gähnen vorgetragen werden.

Inzwischen trifft auch der Aktlehrer ein, den wir nicht zufällig ausgespart haben, weil er häufig noch lieber als der Aktschüler durch Abwesenheit glänzt. Schließlich steht sein Ruhm im Raum. Für das Spitzengehalt, das er als Professor monatlich einstreicht, wird sich das Aktmodell noch manche Herablassungen und Dummheiten mit anhören müssen, ob sie nun den Modellen oder den Schülern gelten. Der Professor scherzt auch zuweilen. „Bißchen conterganhaft, der Arm“, tippt er lächelnd auf einen Zeichenblock. Dem Schmerbauch nach könnte man den Professor für schwanger halten.

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Arbeitet man mit Künstlern wie Max Liebermann oder Günter Scherbarth zusammen, hat es an Disputen, Tratsch, Witzen keinen Mangel. Sie bleiben trotzdem an dem Gegenstand, den sie malen oder zeichnen.

Ich schätze die Ausnahmen um der Regel willen. Das Modellstehen ist ein stummes Geschäft. Wenn sich manche Schüler beklagen, im Aktsaal herrsche eine Grabesstille, würde ich unsere Zusammenarbeit am liebsten in einen Tempel oder eine Moschee verlegen. Der Schüler würde einsehen: Entfaltung braucht Raum. Soll diese Entfaltung, der schließlich sprechende Kunstwerke erwachsen sollen, nicht in Geschwätzigkeit stranden, muß dieser Raum aus Stille bestehen. Das Meer wird erst an den Klippen zur Brandung; bis dahin ist es ein weiter Weg.

Im Alltag sind wir einem Trommelfeuer von Eindrücken ausgeliefert, das uns zur Oberflächlichkeit zwingen will. Dabei kommt ihm unsere Zerstreuungssucht gern entgegen. Murray Schafer (Klang und Krach) hat bei seiner ausgedehnten Durchforstung der Literatur feststellen können, daß die Stille von modernen Autoren überwiegend negativ beschrieben und bewertet wird – als bedrückend, unheimlich, furchtbar, todesähnlich und dergleichen. Deshalb brüllt der Säugling. Stille wäre der Tod.

Doch als ihn noch die Fruchtblase umgab – wurde da der Säugling nicht zwischen Geräuschen gewogen, die vom Glucksen unterm dümpelnden Kahn bis zur Brandung oder zu fernem Donnergrollen reichen müssen? Auf diesem Raum bestehen Autoren wie Schafer und ich. Die Stille eröffnet die Tiefe, in der sich das Knistern zwischen dem Beobachter und seinem Gegenstand zur Geltung bringen kann, bis es sich unter Umständen in einem Gewitter entlädt.

Im Alltag wird die Tiefe verstopft und vernagelt. Schafer weist darauf hin, an einer großstädtischen Straßenkreu-zung herrsche nur Gegenwart: der säuglingshafte Zustand. Alle Eindrücke schrumpfen zu einem Punkt zusammen, in dem das geforderte Ich nichts von sich weiß. Der Künstler und sein Modell jedoch – sie ringen im Grunde stets um Selbsterkenntnis.

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Warum ist ein Schüler Schüler? Um aus seinen Fehlern zu lernen. Aber nein, er verwahrt sich wort- und windungs-reich dagegen, eines Fehlers überführt zu werden, denn törichterweise fühlt er sich in der Rolle des Angeklagten. Zuweilen ist der Fehler nicht zu leugnen. Man kann ihn nun Bleistiften, Papierverwerfungen, ungünstigen Lichtverhältnissen, störenden Umwelteinflüssen aller Art in die Schuhe schieben. Am besten jedoch, wir schieben ihn in die Pantoffeln des Aktmodells, die unter dessen Podest hervorlugen.

Warum geriet der Kopf viel zu groß, lastend, bedeutungs-schwer? Weil ihn das Modell mit der Zeit sinken ließ. Warum steht das Standbein wie ein Betonpfeiler da? Weil das Modell – im Kontrapost – sein Gewicht gen Spielbein verlagerte. Warum spürt man zwischen dem hinteren aufgestützten Arm und der vorderen, vom Schenkel baumelnden Hand keinen Raum? Weil sich das Modell lockerte und anschließend nicht mehr wie vorher saß. Nicht die Zeichnung, das Aktmodell ist falsch!

Dazu möchte ich zweierlei zu bedenken geben. Lockert sich das Aktmodell, findet ein Einschnitt statt, der für den Aktschüler oft die erste Unterbrechung der betreffenden Arbeit darstellt. Er klebt ja an seinem Zeichenblock. Nun wird er aufgestört, wiegt seinen Kopf, tritt vielleicht sogar zurück, um seine Arbeit mit etwas Distanz zu mustern. Da dämmern ihm deren Mängel. Schuld ist das Aktmodell, das jetzt wieder in Stellung geht. Zum anderen habe ich oft in Mitschülern oder Lehrern meine Anwälte. Sie wissen, daß ich die Position sehr genau halten und zielsicher wieder einnehmen kann – obwohl natürlich auch mir zuweilen ein Durchhänger oder eine Verschiebung unterläuft.

Das ist aber gar nicht das Problem, wie ich sehe. Die Frage, ob tatsächlich das Modell versagte, wäre in vielen Fällen gegenstandslos, wenn die Schüler so behutsam, suchend, offen vorgingen, wie es ihnen die guten Lehrer vergeblich empfehlen. Die Schüler zeichnen linear, schwarz, bestimmt. Jeder Strich will endgültig sein. Dadurch legen sie mit dem Aktmodell auch sich selber zu übereilt fest. Sie haben Angst, Fehler zu machen, und deshalb machen sie schlimmere Fehler.

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Manchmal weise ich den Aktschüler darauf hin, im Gegen-satz zu mir sei er nicht festgenagelt. Der Lehrer freut sich über diese Schützenhilfe. Doch wir predigen in taube Ohren, weil der Aktschüler darauf besteht, das Trägheits-gesetz zu verkörpern.

Da klumpt er wie ein Frosch vor dem aufragenden Aktmodell. Von der verzerrenden Untersicht einmal abgesehen: Wie will er sich auf die geringe Distanz einer Pferdelänge einen Überblick verschaffen? Nicht der Jockey blickt durch, sondern der Zocker auf der Tribüne. Abstand ist alles! verkündet man hinterher. „Nachher hat man immer recht; man sollte gleich nachher leben“, seufzte Günter Eich in seinen Maulwürfen. Der Aktschüler hat es mit einem komplizierten räumlichen Gebilde zu tun. Daher lobenswert, wenn man in diesem Aktsaal für die Möglichkeit sorgte, rundum zu gehen, kann sich doch so der Aktschüler eine zureichende Vorstellung seines Gegenstandes machen. Aber nein, er bleibt an dem Bild kleben, das er so einseitig wie zufällig vor der Nase hat. Zu allem Überfluß verbeißt er sich auch noch in den Umriß seiner beschränkten Ansicht. Umkreiste er das Modell, würde er von Zentimeter zu Zentimeter begreifen, daß die lineare Einfassung eines Gebildes nichts über dessen Bauart aussagt, denn die Linien verschieben sich ständig, während jedes Gebilde immer nur eine Bauart besitzt. Darauf aber kommt es an.

Ich spreche hier nicht von der freien, zupackenden Zeichnung, sondern vom Studium des Akts. Beides sollte allerdings Hand in Hand gehen. Halte ich mich über Monate hinweg eisern am Studium der Bauart auf, tauge ich nur noch zum Konstrukteur. Das wird mich unweigerlich zur Nachäffung führen. Doch wenn ich umgekehrt das Aktstudium vernachlässige, werde ich mit meinen spontanen Zugriffen nur Luftschlösser liefern, die niemanden erschüttern. Meine Zeichnungen werden dann so beliebig wie belanglos sein. Warum?

Weil ihnen das Gewicht fehlt. Die Bauart des Akts wird nämlich wesentlich davon bestimmt, wie das Aktmodell steht, sitzt, liegt. Ich wüßte kein Aktmodell, das die Kunst des Fliegens beherrscht. Diese Veranstaltung ist dem Künstler vorbehalten. Mag er es dabei mit dem Tänzer aus dem Kleistschen Marionettentheater darauf anlegen, die Momente der Ruhe oder Bodenhaftung – die offenbar selbst kein Tanz sind – möglichst verschwinden zu machen. Doch man muß die Absicht, die er im freien Zugriff glücklicherweise vergessen kann, noch spüren!

Sie kommt vom Aktstudium. Das Leben ist eine Last, leuchtet aus seinen taumelnden Luftschlössern hervor.

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Was verbindet Freunde, Chefs, Schalterbeamte, Lektoren, Ärzte, Klempner, MusikerInnen, selbst Hunde? Sie lassen gern auf sich warten. Dadurch können sie uns bis zur Weißglut reizen.

Warum fühlen wir uns jedesmal gedemütigt, wenn uns einer warten läßt? Stiehlt er uns Zeit? Das ist nicht das Wesentliche. Sondern er wirft uns auf uns selber zurück, die wir mit unserer Zeit nichts anzufangen wissen. Schlimmer noch, wir kommen allein nicht klar. Wie sollen wir bessere Manuskripte verfassen oder unser Gallenleiden kurieren, wenn uns die Lek- und Doktoren keine neuen Anhaltspunkte liefern? Wir sind auf Beschäftigung oder Behandlung angewiesen, was aufs gleiche hinauskommt, und das enthält uns vor, wer uns warten läßt. Damit macht er uns weniger von sich, vielmehr von der Leere abhängig. Auf diese Weise übt er schreckliche Macht aus.

Der schlimmste Chef war einmal der liebe Gott. Er ließ eine Jugend lang auf sich warten. Damit enthielt er uns die klaren Anweisungen vor, nach denen wir unser Leben hätten ausrichten können. Denn in der Leere, die durchaus einem Tumult gleichen kann, lauern Millionen Möglich-keiten. Deshalb brüllt der Säugling. Er brüllt, sobald er der Fruchtblase entrissen wird, die nur auf ihn paßte. Er verwahrt sich mit allem Trotz dagegen, sich machen zu müssen, obwohl er gemacht wird. Dies empfindet er als demütigend. Wird ihm doch das Wählen unter Bedin-gungen zugemutet, die seinem Einfluß weitgehend entzogen sind. Vor allem kann sich kein Fötus die Mutter, den Staat, den Planeten aussuchen. Dabei soll das Universum so groß sein.

Mancher verwindet diese ungeheure Zumutung zeitlebens nicht. Soll er sich etwa wie Wotan einen Siegfried kneten? Nein, denn er will schon als Wotan nicht geknetet sein. Daß sie nicht voraussetzungslos sind, daran leiden Wagners Götter.

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Schon Diderot verdammte den tradierten Kanon der Posen und schlug vor, man möge es dem jeweiligen Aktmodell überlassen, eine ihm angemessene Haltung zu wählen. Von den meisten Lehrern und Künstlern, die mich beschäfti-gen, wird dieser Vorschlag auch beherzigt. Sie haben den Eindruck, ich wüßte, was ich will, und das finden sie anregend oder aufschlußreich.

Vielleicht ist es inzwischen so. Für einige Jahre drohte ich zwischen den Aktschülern aufgerieben zu werden. Lehnst du dem einen zuliebe lässig an der Bar, schreit der andere nach einer großen Pose. Jemand will Küche, jemand Ballett. Also baue ich mich an der Bushaltestelle auf, Jackett über der linken Schulter. „Das ist doch David!“ wird mir verächtlich vorgehalten. Und damit hat der Aktschüler recht. Denn nach meinen Beobachtungen gibt es keine klassische Haltung, der man in unserem Alltag nicht ständig begegnet. Man muß sie freilich sehen. Dazu bedarf es nur der Fähigkeit, die Leute in Gedanken ihrer Kleider zu berauben und auf einen Sockel zu hieven. Nackt und herausgehoben, zudem noch erstarrt, wirkt jede Haltung unnatürlich, gesucht, erhaben.

Um Das eherne Zeitalter zu verkörpern, bemühte Rodin einen stehenden männlichen Akt, der sich unmöglich reckt. Ich finde ihn überzeugend. Von Marcks dagegen gibt es einen Erwin, der in jeder Küche sitzen könnte. Beine übergeschlagen, den Zeigefinger vom aufgestützten Arm an der Wange, hockt er pfiffig da. Warum überzeugt mich Erwin ebenfalls? Natürlich deshalb, weil die wenigsten so in der Küche zu sitzen pflegen: nackt und mit einem Zeigefinger von der Größe einer Banane. Der Vergleich ist relativ zu nehmen, denn Marcksens Bronze ist winzig.

Nun verstehe ich schon eher, was ich will. Ich will deutlich machen, ein gutes Aktmodell sollte den Rollen gewachsen sein, die wir uns im Alltag durch Kulissen, Klamotten, Wortschwälle, gestische Unterstreichungen verderben. Hier ist eine Kritik an Alain fällig. Formen klären, beschwichtigen, machen froh, bemerkt er einmal. Dabei hat er allerdings die Formen des Verbrämens im Auge: Mode, Höflichkeit, Zugeständnisse. Denn die Freiheit mache den Menschen boshaft. Dem stimme ich, mit Vorbehalten, noch zu. Doch dann: „Ein nackter Mensch ist zügellos.“ Das sehe ich selbstverständlich genau umgekehrt. Wer nackt ist, bleibt angreifbar. Er wird sich also zurückhalten. Wer dagegen die Gattin zu Hause in seinem nörgelnden Rechthabertum gefangenhält, das ist der blasse, geschniegelte Typ, der neben mir in der U-Bahn sitzt. Wer den Kunstakademien, Volkshochschulen, Straßentheatern die Millionen streicht, um sie kaltblütig in den Krieg zu stecken, der auf unseren Stadtautobahnen und Flughäfen tobt, das sind unsere vorbildlich gekleideten Senatoren, die ihre Massen auf dem Rednerpult abstützen.

Zieht diese Leute aus, dann werden ihre ungestalten Körper ihren bestimmten Äußerungen Hohn sprechen. Es käme ihnen womöglich in den Sinn, an sich selber, nicht an der Familienlegende oder der Weltgeschichte zu stricken. Das ist für mich die Lehre der Antike, die schon gleich unter Lorbeerkränzen erstickt wurde. Im Grunde fing das Elend schon mit dem Feigenblatt an.

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Setze ich bei einem Ausstellungsbesuch meine Brille ab, kommt es einer Offenbarung gleich. Sehe ich doch nun, als mäßig kurzsichtiger Mensch, verschwommen. Nun zeigen mir die Gemälde ihre wesentlichen Züge, die der Künstler in einem Irrgarten aus Formen und Farben und durch allerlei Pinselhaarspaltereien verbarg. Sie treten wie Götter aus dem Nebel, für den das Absetzen der Brille sorgte.

Daher mein Vorschlag, an den Kunstakademien nur noch kurzsichtige BrillenträgerInnen aufzunehmen und vorm Aktsaal einen Wächter zu postieren, dem der Aktschüler dann seine Brille auszuhändigen hat, bevor er den Saal betritt. Klebt er nämlich nicht am Umriß, verliert sich der Aktschüler garantiert in Einzelheiten. Dann wird er von den abenteuerlichen Höhen und Tiefen, Helligkeiten und Schatten gefangengenommen, die sich zum Beispiel um Sägemuskel, Rollhügel, Kniescheibe tummeln. Ich erlebte AktschülerInnen, die sich an jedem einzelnen Schamhaar aufhielten. Bloß das Ganze, das ein Zusammenspiel ist, macht dem Aktschüler keine Lust. Er kriegt die entscheidenden Bögen nicht raus.

Oft bannt ihn zuerst und für immer das Gesicht, als befinde er sich auf einer Schule für Paßfotografie. Niemand klärt ihn darüber auf, daß Akt kein Mienenspiel ist, sondern Körpersprache. Allerdings fällt er am liebsten auf die Augen herein, den totesten Punkt des Weltalls, wenn ich mir diese Steigerung erlauben darf. Da strichelt und radiert er vierzig Minuten an ihnen. „Die Augen sind der Spiegel der Seele“, käut er inbrünstig etwas – von Hermann Hesse oder Novalis? – Angelesenes wieder, wenn man ihn von den Augen abzubringen sucht. Darauf die trockene Bemerkung eines Mitschülers: „Küsse einmal deine Freundin im Dunkeln und sage ihr dann, ihre Seele spiegele sich in ihren Augen.“

Ich bin sicher, der Blick sagte uns schlechterdings nichts, wenn es uns gelänge, die Augen isoliert zu sehen; per Revolver eingeschüchterten Damen hinter Bankschaltern gelingt es zuweilen. Denn die Seele ist kein Rohr. Sie ist weder der Kamin in unser Innerstes noch die unten lodernde Glut. Vielmehr ist sie eine Haltung. Und diese kann ja nur, der Name legt es nahe, aus unserem Verhalten hervorleuchten, das stets auf unserem ganzen Körper beruht. Was wir davon nicht sehen oder ertasten, steuern Erinnerung und Ahnung bei. Darin, daß wir dabei vor Trugschlüssen nie sicher sind, liegt der Reiz des Lebens.

Oft hält man Sentimentalitäten für Ausgeburten des Verschwommenen. Sie kommen uns uferlos vor. In Wahrheit sind ihre Quellen allein Details. Ein Stöpsel an einer sanft geschwungenen Prallheit, an der wir als Säugling lagen. Auf der versengten Schafweide das einsame, kecke Holunderbäumchen, das der Schäfer fürsorglich wässert. Ein verheultes Gesicht. Der Burgvogt schief gegen die Witterung gestellt. Aus der Musikbox weht es Sailing, sailing, während man im Kerzenschummer in seinen Bierkrug starrt – einzelne Vorfälle.

Sie verlören ihre Sentimentalität, wenn man das Unwe-sentliche ausschiede und das Übrige wirksam verknüpfte. Man muß die entscheidenden Bögen herausbekommen. Brille ab, mein Freund, du siehst zu scharf.

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Wer im Cafe errötet, kann sich hinter einer Zeitung verstecken oder aus dem Fenster blicken. Beschleicht ihn in der U-Bahn ein mulmiges Gefühl, werden die Hosen seine zitternden Kniekehlen verbergen. Dagegen wird man auf dem Podest sogar sein Herzklopfen sehen. Jeder Schweißtropfen, der längs von Delta- und Wadenmuskel auf die Bretter rinnt, kommt einer Bombe gleich. Die Gänsehaut wirft Maulwurfshügel. Das Zwerchfell dröhnt, während einem die Haare in der Tat zu Berge stehen. Jetzt müßte das Aktmodell einmal etwas sagen, bevor es vor Scham in seinem Bretterboden versinkt, doch die Kehle ist ihm wie zugeschnürt.

Bekanntlich muß, was mich verstört, nicht unbedingt von außen kommen. Ich kann meinen Körper auch durch ein pures Gedankenblitzchen in Aufruhr versetzen. Ein Begehren etwa, das unübersehbar an mir zerrt, kann ich mir durchaus selber machen. Dazu ist das weibliche Aktmodell nur begrenzt in der Lage. Den Ängsten sind wir wahrscheinlich recht ähnlich ausgesetzt, aber nicht der Lust.

Diderot hatte sich einmal spontan entschlossen, der Malerin Lisiewska-Therbusch, die ihre anatomischen Kenntnisse erweitern wollte, unbekleidet Modell zu sitzen. „Sie malte mich, und wir plauderten mit der Einfalt und Unschuld, die frühere Zeitalter mit Wohlwollen angesehen hätten.“ Plötzlich aber dachte der große Aufklärer an die Möglichkeiten, die dem schlaffen Ausweis seiner Männlichkeit offenstanden, was ihn sehr beunruhigte. Prompt setzte sich dieser Gedanke zwischen Diderots Beinen fleischlich um. Die Malerin errötete und übersah das Unglück geflissentlich. Diderot: „Wie furchtbar können uns, nach der Inquisition, die eigenen Hirngespinste auf die Folter spannen!“

Will man solche Beunruhigungen vermeiden, hat man sich vor den beliebten soziologischen und psychologischen Erklärungen zu hüten. Ich hockte einmal in tugendhaf-tester Verfassung und mit ziellosem Blick auf dem Boden und wurde trotzdem von meiner Begierde entsetzt. Sie wuchs scheinbar unabwendbar, da brauchte ich gar nicht hinzugucken. Unter hanebüchenen Bemäntelungsver-suchen und Ausreden ergriff ich die Flucht. In der Kneipe glich ich einem geprügelten Hund: Diesen Broterwerb kannst du an den Nagel hängen. Vor der Schreibmaschine dagegen entsann ich mich banaler physikalischer Gesetze. Reibt sich schrumpelige Schlaffheit an Schenkel, Brett, Wolldecke, muß eine Entzündung Gestalt werden, die du keineswegs im Sinn hattest. Dies ist kein Grund zum Aufruhr.

Läßt die Situation keine Veränderung der heiklen Lage zu, hilft freilich nur sich totzustellen. Um 1980 – er selber war wohl schon um 70 – hatte ich einige Male die Ehre, mit Herbert Schwanherz zusammen Modell zu stehen, der in Künstlerkreisen zu Recht sehr geschätzt wurde. Dabei steckte er mir die folgende Anekdote. Während er einmal traumverloren und an nichts Böses denkend auf dem Rücken lag, begann der Ausweis seiner Männlichkeit die Stellung zu wechseln. Die Schlaffheit stahl sich binnen einiger Minuten von dem einen Schenkel auf den anderen Schenkel, wo sie wieder zur Ruhe kam. Prompt löste sich eine sehr beflissene Aktschülerin aus den Staffeleien, tat den Ausweis Schwanherzscher Männlichkeit an den bereits von ihr fixierten Ort zurück und nahm ihr Aktstudium wieder auf.

Das nenne ich Ordnungsliebe! Schwanherz war zu verblüfft, um noch irgendeine Regung von sich zu geben. Durch den Aktsaal lief ein unterdrücktes Kichern. Deshalb sprach ich mich für Grabesstille aus. Dort liegt er, der Held: aufgebahrt in seiner lächerlichen Größe.

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An weiblichen Modellen hat es in der Regel keinen Mangel. Dafür werde ich manchmal händeringend gefragt, ob ich nicht ein männliches Aktmodell wüßte. Offenbar tun sich die Männer schwer, ihren Mann entblößt zu stehen. Fürchten sie nur die Erektion?

Das wäre überflüssig. Denn ihre Gestalt im ganzen prangert sie bereits zur Genüge an. Gewiß steht ein Held dort, aber er zahlt seinen Preis. Man halte sich einen männlichen neben einem weiblichen Körper vor Augen, von vorn im Schattenriß gesehen. Das Weib läuft in sich selbst zurück. Die Hüften verjüngen sich in den Schultern. Der Mann bleibt eine Frage, die sich in Vorstößen verkrampft. Dabei ist sein Kopf im Vergleich zur Schulter-breite nicht mehr als ein Stöpsel. Im Kopf der Frau dage-gen haben wir eine kluge Abrundung ihrer Selbstgenüg-samkeit zu sehen; der Zusammenhang erfordert es. Hier liegt der Kreis vor, den der Mann fürchtet, obwohl oder weil er sich danach sehnt, in ihm aufgehoben zu sein. Doch dann wäre er weg. Deshalb muß er den Kreis immer wieder zu durchbrechen suchen.

Er ist ein Spalter. Wo fände man Vergleichbares am Weib? Er möchte unbedingt zurück, doch bei diesem Trachten zertrümmert er das Weib nicht weniger als sich selbst. „Ja!“ stößt er infamerweise auf dem Gipfelpunkt seiner Wollust hervor, während er die Angelegenheit händerei-bend vom Sims des Kachelofens aus verfolgt. Zerlege dich, Eindruck, damit ich aus den Bruchstücken etwas Neues zusammensetzen kann. So wird geliebt, gewirtschaftet, gedacht. Aller Fortschritt verdankt sich der männlichen Verstocktheit, immer wieder „nein“ zu sagen. Das bin ich noch nicht, denkt der Mann und handelt. Dabei kommt alles unter seinen Hammer.

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Manchmal wird das Aktmodell gefragt, welchen Sport es treibe. Gedankenakrobatik, murmelt es. Kennt es doch das Durchhängen in den Kneipen, den Überschlag im Bauch, den Schattenriß der Irrenanstalt an der Wand seines behaglichen Zimmers. Da hilft kein Jogging. Besser greift man nach einer Querflöte oder einem Billardqueue. Siehe da – Stab, Kreis und Kugel in einem.
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