Mittwoch, 17. Dezember 2025
Ein vielfaches Unding
Verfaßt 2016 / 2025

Laut meinem Brockhaus dürfen wir lediglich unvorher-sehbare Ereignisse, die plötzlich und von außen auf den oder die Geschädigten einwirken und die zudem örtlich und zeitlich begrenzt sind, Unfälle nennen. Gucken wir also mal.
~~~ • Am 6. August 1960 um 21.38 Uhr fährt in Bremen ein Güterzug mit vorgespannter Dampflok versehentlich (falsches Signal) auf einem Gleis, das sonst die Osterfeuerberg-Straße überbrückt, jetzt aber durch eine Baulücke über eben dieser verkehrsreichen Straße unterbrochen ist. Die Lok stürzt knapp fünf Meter in die Tiefe. Der 44jährige Lokführer Heinrich Möhlmann kommt um, ein im letzten Augenblick abgesprungener Heizer überlebt mit Schock. Der Weserkurier versichert in einem Gedenkartikel, die geringe Opferzahl habe an ein Wunder gegrenzt. Ein Fahrdienstleiter kam, wegen Fahrlässigkeit, mit einer geringen Haftstrafe davon.
~~~ • Anfang Januar 1974 gibt der Bariton Wolfgang Anheisser, damals in beiden Teilen Deutschlands beliebt, im Kölner Opernhaus die Titelpartie in Millöckers Bettelstudent. Gleich in der ersten Szene hat die Inszenierung für ihn einen Sprung von einem Balkon vorgesehen, der knapp vier Meter über der Bühne schwebt. Wohl dank Fahrlässigkeit von Bühnenarbeitern reißt jäh ein Halteseil, worauf der 44jährige »wie ein Brett« auf der Bühne aufschlägt. Er stirbt nach wenigen Tagen im Krankenhaus. 2009 bekommt er in Köln-Deutz eine Straße.
~~~ • New York City, 10. August 2025: Ein Sightseeing-Hubschrauber mit der fünfköpfigen Familie eines spanischen Siemens-Managers und dem Piloten an Bord »zerlegt« sich unversehens in der Luft über dem Hudson River und stürzt in denselben. Keine Überlebenden. Augustin Escobars Sprößlinge waren 4, 5 und 11 Jahre alt.
~~~ Trifft die eingangs angeführte Bestimmung zu, ist es natürlich kein Wunder, wenn uns Unfälle oft stark beeindrucken, um nicht zu sagen ausgesprochen gut unterhalten. Ihre Ungewöhnlichkeit oder Seltenheit hebt sich eben wohltuend von unserem Alltagstrott ab. Sie sind abenteuerlich. Jedenfalls für den, der gerade nicht verunglückt ist. In Victor Klemperers berühmtem Tagebuch begegnete mir einmal das Pech Delekat juniors – Klemperer gönnt uns dessen Vornamen nicht. Danach fiel dem 13jährigen Sprößling des Dresdener Theologen Friedrich Delekat im Sommer 1934 auf dem Schulhof eine Dachziegel auf den Kopf, die vermutlich nachweislich nicht von seinem Rektor mit der Fußspitze von den Dachlatten oder von den Bohlen des Baugerüstes gekickt worden war. Das sieht also durchaus recht eindeutig nach Unfall aus, falls man nicht Gott verdächtigen will.
~~~ Vertieft man sich ein wenig in die Thematik, dämmert allerdings das leidige Grenz-problem herauf, und zwar in einer ziemlich ausgedehnten Grauzone. Ist es kein Unfall, wenn ich in einer schlecht beleuchteten Seitenstraße, die ich eher zufällig genommen habe, einem habgierigen Messerstecher in die Arme laufe? Nein, sagt die amtlich bestallte Sta-tistikerin, es war ein Raubmord. Obwohl dieses Ereignis doch gleichfalls unvorhersehbar und so weiter zugeschlagen hat. Dafür schlägt die Statistik die buchstäblich unheimlich häufigen Straßenverkehrsunfälle hartnäckig den ungewöhnlich, überraschend und kurz-zeitig auftretenden Ereignissen zu, obwohl sie doch, so wie unsere Automafia das System angelegt hat, sicherer vorhersehbar sind als das Amen in der Kirche. Von wegen kurzzeitig! Sie finden am laufenden Band statt. Die Zahl allein der Toten wird auf weltweit mindestens 1,3 Millionen jährlich geschätzt, darunter sehr viele Kinder; der Verletzten übrigens vielmals höher. Zu den toten Erwachsenen zählen Trompeter Fred Bunge (1960) und Contra-baßspieler Peter Trunk (1973). Beide waren Jazzmusiker und noch keine 40.
~~~ Auch der Tuberkulose-Bazillus, dem über Jahrhunderte hinweg viele Millionen Menschen zum Fraße fielen, vom Poeten bis zum Proleten, hat selbstverständlich keine Chance, in einem bislang noch nicht vorliegenden Lexikon der Unfallopfer gewürdigt zu werden. Kranksein gilt als natürliche Begleiterscheinung des Daseins. Ähnlich die soge-nannte Spanische Grippe um 1918 oder etwa die Syphilis, die »Lustseuche« romantischer Zeiten. Ein Bordellbesuch ist schließlich weder ungewöhnlich noch überraschend, höchstens kurzzeitig. Aber wie steht es mit Raritäten?
~~~ Der US-Schriftsteller Raymond Abrashkin stirbt 1960 mit 49 an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) – Sie wissen Bescheid? Die Berliner Psychotherapeutin Angelika Birck fällt 2004 mit 32 einem Zerebralen Aneurysma (Arterienerweiterung im Hirn) zum Opfer. Der englische Fußballer Gary Ablett erliegt 2012 mit 46 Jahren einem Non-Hodgkin-Lymphon, wohl eine Form von Blutkrebs. Auch die Wegener-Granulomatose ist eine vergleichsweise seltene Erkrankung (des Gefäßsystems), die bei Nichtbehandlung noch heute garantiert in wenigen Monaten zum Tod führt. Statistisch betrachtet, befällt sie, laut Wikipedia, unter 100.000 Menschen ungefähr fünf bis sieben, dabei vorwiegend Männer. Einer dieser verunfallten Männer, wie man doch mit einigem Recht formulieren könnte, war der vor allem durch seine Arbeiten über elektromagnetische Wellen berühmte Bonner Physik-Professor und Beflügler der Rundfunk-technik Heinrich Hertz, der 1894 mit 36 Jahren starb. Man benannte später, unter anderem, den Hamburger Fernsehturm nach ihm, der allerdings ungleich mehr ins Auge sticht als eine Erkrankung an der Wegener-Granulomatose. Bei der österreichischen Schauspielerin Elfriede Datzig kam (1946) eine peinliche Verschiebung vor. Die 23jährige war wegen einer Lungen- und Rippenfellent-zündung mit Penizillin behandelt worden, auf das sie allergisch reagierte, worauf sie starb. An der Krankheit wäre sie womöglich nicht gestorben. Neuerdings haben wir aus diesem Fach die Corona-Impftoten.
~~~ Anna Rehlinger brachte es immerhin auf 42, bevor sie (1548) an der Geburt des elften Reichsgrafensprößlings verendete. Man hatte sie mit dem Augsburger Stadtrat und Geldsack Anton Fugger verheiratet. War das nun, der elfte Sprößling, ein Unfall? Und wäre ihr Tod beim siebten Kind noch kein Unfall gewesen? Oder sollte man nicht lieber jene Verheiratung als das entscheidende Unglück ansehen? Oder den Zeitpunkt ihrer eigenen Geburt, die leider noch nicht in die Epoche der offen gehandelten Verhütungs-mittel gefallen war?
~~~ Ich nehme an, in dem angedeuteten Lexikon würde ich Unfälle, die einer geradezu herausfordert, etwa ein Bergsteiger oder ein besessener Jogger, in der Regel nicht berücksichtigen, aber manchmal eben doch, weil sie zu sprechend für den Geisteszustand des denkenden Zweibeiners oder einer bestimmten Epoche sind. Selbst die sträfliche Ausklammerung der planetarischen Krankheit Nr. 1 Krieg wird keinem konsequent gelingen. Bekanntlich teilen unsere »bewaffneten Konflikte« seit mehreren tausend Jahren den Fließbandcharakter der modernen Straßenverkehrsunfälle. Für den Unfallstatistiker sind sie zu normal. Mit den sogenannten Arbeitsunfällen steht es wahrscheinlich kaum anders. In der Regel sind die tödlich verunfallten Stahlwerker oder Zimmerinnen einfach zu unwichtig, um in Büchern oder auch nur der Lokalpresse erwähnt zu werden. Als Hits auswerfende U-MusikerInnen oder Prinzessin Diana hätten sie mehr Chancen.
~~~ Die Sache mit der Herausforderung ist wahrscheinlich weittragender, als mancher denkt. Denn auch solche Unglücke, die meist als Un- oder Zufall gelten, bereitet sich der Mensch häufig oder letztlich selber. Dabei scheint auch in diesem Bereich der »Fortschritt« zu greifen: die hausgemachten Unglücke nehmen im Zug der Geschichte immer größere oder heftigere Ausmaße an, falls ich mich nicht täusche. Kenterte in der Steinzeit mal ein Floß, ging nicht gleich das ganze Neandertal drauf. Die Fregatten zu Kolumbus’ Zeiten hatten da schon eine andere Kragenweite. Richard Jefferies erwähnt in seinem Buch The Story of My Heart von 1883 einen Aufsehen erregenden zeitgenössischen Schiffbruch auf der Themse in London. Der mit mehr als 800 Leuten überfüllte Ausflugraddampfer Princess Alice war am 3. September 1878, wohl aufgrund eines Fahrfehlers des Kapitäns, mit dem riesigen Kohlefrachter Bywell Castle zusammengestoßen. Die Alice brach in zwei Stücke und sank innerhalb weniger Minuten. Es gab rund 640 Tote, überwiegend Frauen und Kinder. Die meisten Fahrgäste hatten sich unter Deck und damit gleichsam in Gefan-genschaft befunden. Aber auch von den 100 bis 170 Überlebenden wurde womöglich nicht allen der Zustand des Pudelwohlseins zuteil. Dutzende der Schiffbrüchigen waren nämlich in die Themse geworfen worden, die damals gerade an dieser Stelle, wegen der Kläranlagen und Fabriken am Ufer, »an vielen Tagen einer Kloake«, vielleicht auch einem Giftfaß glich.* 1912, als die Titanic unterging, fielen bereits 1.500 Tote an. Die Mammuti-sierung der Welt, so meine persönliche Bezeichnung, forderte ihr Recht. Die beiden Atombomben, die die Yankees 1945 auf den japanischen Inseln erprobten, schlugen allerdings ungleich heftiger durch. Daran gemessen, waren die knapp 3.000 Toten von 9/11 (2001) geradezu Peanuts. Ich erwähne das nur, weil mir die New Yorker »Katastrophe« ebenfalls ziemlich hausgemacht vorkommt.
~~~ Leider dürfte es nahezu unmöglich sein, alle grob fahrlässig oder mutwillig herbei-geführten Krankheiten, Unfälle, Katastrophen und dergleichen zu erfassen und in einer bündigen Zahl denen gegenüber zu stellen, die wahrscheinlich auch dann geschehen wären, wenn unser Planet von lauter vernunftbegabten und genügsamen Zweibeinern besiedelt wäre. Solche soll es ja früher hier und dort tatsächlich gegeben haben: Angehörige »primi-tiver« Gruppen oder Stämme, deren Hauptvergnügen es gewesen sei, den halben Tag auf der faulen Haut beziehungsweise einer Gespielin zu liegen. Für die Neuzeit will ich das vermißte Zahlenverhältnis aber einmal schätzen: 85 zu 15 Prozent. Das wäre ein Löwenanteil von hausgemachtem Unglück, den man wohl nur beträchtlich nennen könnte. Warum das so ist, sollen jedoch andere erklären. Jedenfalls befürchte ich, der Mensch sei von der Anlage her nicht nur Sadist, sondern auch Masochist. Und dann gibt es noch ein paar Essayisten.

* Werner Huff im Südkurier am 20. Oktober 2017: https://www.suedkurier.de/region/hochrhein/kreis-waldshut/Rueckblende-1878-sterben-bei-Schiffsunglueck-auf-der-Themse-640-Menschen;art372586,9462270
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