Dienstag, 16. Dezember 2025
Ende in der Ente
ziegen, 14:19h
Verfaßt 2023
Der mexikanische Geiger, Komponist und Dirigent Silvestre Revueltas (1899–1940) dürfte hierzulande noch unbekannter als beispielsweise Marc Blitzstein sein. Ich wurde vor Jahren nur deshalb auf ihn aufmerksam, weil er mir in den vorzüglichen Erinnerungen des Schriftstellers Gustav Regler begegnete.* Regler war vorübergehend kommunistischer Politkommissar gewesen, nämlich im Spanienkrieg bei den berüchtigten Internationalen Brigaden. Wir befinden uns jetzt im faschistisch bedrängten Madrid des Herbstes 1936. In einem Saal des Hauses der Kultur, »einem charmanten Palast eines abwesenden Granden«, der neuerdings von Milizen und Arbeitern wimmelt, erklimmt ein kleiner, nicht nur stämmiger, vielmehr »wuchtiger« Mann das Podium. Er baut sich vor dem auf ihn wartenden Orchester auf und hebt seinen dünnen Taktstock. Es handelt sich um den Gast und Unterstützer aus Mexiko Silvestre Revueltas, wie Regler von einer Genossin erklärt worden ist, und er wird jetzt ein eigenes Stück dirigieren. Wie bestellt, explodiert in der Nähe des Kulturpalastes eine Bombe, als der Taktstock über Revueltas schwebt. Niemand springt auf, und auch der Dirigent scheint durch den Zufall noch an Entschlossenheit und Grimmigkeit zu gewinnen. »Die Musik war wie eine Kaskade von Kristallkugeln, dann noch härter: wie erkaltende Lava, wenn sie in scharfen Platten klirrend zusammensinkt; sie war wie ein Wetterleuchten an Hochspannungsdrähten entlang, dann wehten mexikanische Lieder hinein, um plötzlich abgelöst zu werden von fordernden Fortissimi, Sturmglocken gleich und Schreien, die lange in Kehlen festgesessen hatten. / Ich war erschrocken vor soviel Wildheit …«
~~~ Gleichwohl seien die Zuhörer, kaum da die Wildheit verklungen war, nach vorn gestürzt, um dem untersetzten Dicken, dem vermutlich ein paar schwarze Haarsträhnen auf der verschwitzten Stirn klebten, die Hände zu schütteln und eine Wiederholung des besonders »leidenschaft-lichen« Schlußsatzes der »Symphonie« zu erzwingen, versichert Regler. Den Titel des Stückes nennt er nicht. Möglicherweise hatte es sich um Sensemayá gehandelt, siehe unten. Aber für ordentlich geschulte Kommunistenohren hätte wahrscheinlich jedes Werk des Mexikaners eine Anstrengung, wenn nicht Zumutung dargestellt. Heute ist das alles salonfähig, so wie damals schon Weill oder Blitzstein. Aber heute ist Revueltas nicht nur tot, sondern auch weitgehend vergessen. Zum Zeitpunkt jener sicherlich ungewöhnlichen Aufführung im umkämpften Madrid hatte der Komponist nur noch vier Jahre zu leben, was natürlich keiner ahnte. Regler kommt im folgenden nicht mehr auf Revueltas zurück, obwohl er später selber noch, erzwungenermaßen, als Exilant nach Mexiko ging. Dort traf er freilich, über die USA, erst im Laufe des Jahres 1940 ein: Revueltas‘ Todesjahr. Der knapp 41jährige Musiker erlag Anfang Oktober in Mexiko City verschiedenen Krankheiten, zu denen vermutlich, neben Alkoholismus, auch die Gefühle der Verlassenheit und der Vergeblichkeit zählten.
~~~ Erstaunlicherweise wird der Musiker aus dem fernen Mexiko im Brockhaus mit immerhin gut 10 Zeilen bedacht. Revueltas war ein Geigenwunderkind, ab Fünf oder Acht, je nach Quelle. Er stammte aus einer kinderreichen, den Künsten ergebenen Kaufmannsfamilie, studierte teilweise in den USA, erwärmte sich für Volk, Sozialismus, Revolution und war wohl von 1929–36, unter Carlos Chávez, stellvertretender Leiter des mexikanischen Sinfonischen Orchesters. Dann begab oder stürzte er sich offensichtlich in den revolutionären Spanienkrieg. Kaum war er eingetroffen, überfiel ihn die Nachricht von der Ermordung des einheimischen Schriftstellers und Musikers Federico Garcia Lorca, worauf er, im Spätsommer 1936, unverzüglich eine Homenaje an diesen schuf. Für Herbers, Schruff und andere Fachleute zählt dieses Stück zu Revueltas‘ besten Werken. 1938, als sich die Niederlage der zerstrittenen und von Paris bis Moskau verratenen RepublikanerInnen abzeichnete, nach Mexiko zurückgekehrt, hatte sich der Komponist, wie es aussieht, hauptsächlich als Musiklehrer und Schöpfer von Filmmusik über Wasser zu halten. Viele seiner Werke blieben auf Jahrzehnte hin unveröffentlicht und entsprechend unbekannt, weil es im damaligen »revolutionären« Mexiko keine Musikverlage gab. Revueltas verfiel, wohl in Mexiko City, zunehmend der Enttäuschung, der Vereinsamung und dem Alkohol. Diesem soll er allerdings bereits als junger Student in den Staaten, um 1920, gehuldigt haben. Damals starb auch sein Vater, der offenbar mehr Schulden als Vermögen hinterließ. Damit setzten Revueltas wahrscheinlich auch noch wiederholte Geldnöte zu.
~~~ Der Berliner Musikjournalist Christian Schruff spricht sogar, mit anderen, von einer »großen Armut« des Komponisten.** Das macht sich gewiß immer gut, vor allem im Falle Mozarts, bedeutet aber wenig, wenn man die Relationen nicht kennt. Laut Brockhaus war Revueltas Professor für Violine am Staatskonservatorium in Mexiko City gewesen, wenn auch nicht gesagt wird, von wann bis wann. Gewiß könnte er auch als gut besoldeter Spanien-heimkehrer stets knapp bei Kasse gewesen sein, weil die Alkoholika und Barbesuche eben recht kostspielig sind. Zudem dürfte Revueltas unter deftigen Unterhaltspflichten gestöhnt haben, soll er doch zweimal verheiratet und Vater mehrerer Kinder gewesen sein. Aber wen, wenn nicht ihn selber, sollte man für diese angeborene oder erst später erworbene Trink- und Beischlaffreudigkeit verantwortlich und haftbar machen? Den Papst? »Die mexikanische Revolution«?
~~~ Auch was Revueltas‘ Ableben angeht, wird nicht mit schmunzel- oder mitleidsträchtigem Kolorit gespart. So warten etliche Quellen mit der plakativen Geschichte auf, nach einer Art Sauf- und Siegesfeier wegen des Erfolges des Films La Noche de los Mayas, zu dem Revueltas die Musik beigesteuert hatte, sei er nicht mehr auf die Beine gekommen. Da war der in der Tat sehr erfolgreiche Film allerdings schon seit rund einem Jahr in den Kinos. Schruff zufolge ist diese Geschichte von Revueltas‘ Ende eine Ente. Die genannte Filmmusik hält er für Revueltas‘ »originellste« Arbeit. Wie der Komponist nun tatsächlich (1940) das Zeitliche segnete, verrät auch Schruff nicht. Er spricht nur von einer »regnerischen« Oktobernacht. Andere Quellen erwähnen eine Lungenentzündung. Da läßt sich natürlich gut vorstellen, wie der Komponist beim Nach-Hause-Wanken in regnerischer Nacht wegen zu leichter Bekleidung zum Kotzen auch noch ins Husten verfällt.
~~~ Schruff nimmt an, nach dem Triumph des Faschismus in Spanien habe sich auch Revueltas besiegt gefühlt und deshalb seine Zuflucht verstärkt in Sarkasmus und Alkohol gesucht. Mit dieser, für den »Musikstunden«-Hörer vereinfachten Feststellung ist freilich noch lange nicht gesagt, warum sich der kurzhälsige, dicke Mann gebrochen wähnte. Jede neue Niederlage fällt schließlich auf einen bestimmten Boden, den vielleicht schon etliche frühere Niederlagen und vielleicht auch die ganz frühen Anlagen, zum Beispiel zu Kurzhälsigkeit oder Schwermut, brüchig gemacht haben. Auch in Revueltas‘ Fall sind die entsprechenden Schilderungen oder Angaben so gut wie nicht vorhanden oder jedenfalls nicht erreichbar. Wie seine diversen Familienleben aussahen, weiß oder erwähnt kein Mensch. Jedenfalls scheint er, bei seiner Zeugungsfreude, nicht schwul gewesen zu sein, woran ich zunächst gedacht hatte. Somit war er mit Aaron Copland, der sich für ihn einsetzte, »nur« kollegial befreundet. Vielleicht hatte er ja überhaupt keine Freunde, weil sein Charakter, ob unverträglich, schwierig, weinerlich, dafür nicht geschaffen war. Aber eben von diesem Charakter erfährt man wenig – nimmt man Revueltas‘ auffallend widersprüchliches Schaffen einmal aus.
~~~ Das schon erwähnte Orchesterstück Sensemayá zum Beispiel, vor Revueltas‘ Abreise nach Spanien aufgrund eines Gedichts des Kubaners Nicolás Guillén entstanden, weht mit Grusel verbreitender Feierlichkeit durch den Saal. Da zieht wohl fast jeder unwillkürlich seinen Kopf ein. Jenes Gedicht soll den Titel tragen: »Lied um eine Schlange zu töten«. Möglicherweise hieß die Schlange Das Weiße Haus. Ich selber ziehe entschieden das kurze, umwerfend komische Konzertstück El renacuajo paseador (Die wandernde Kaulquappe) vor, ursprünglich 1933 für ein Puppentheaterstück geschrieben. Die Kaulquappe unternimmt die Wanderung mit einer neuen Freundin, der Maus. Sie gehen etwas trinken und amüsieren sich. Einer Katze können sie noch entkommen, doch dann landet die gut aufgelegte Kaulquappe im Schnabel einer hungrigen Ente. Tragisch, tragisch, würde der typische Wikipedianer sagen, aber in Revueltas‘ Musik behält ein winziges, ausgelassenes Tänzchen das letzte Wort. Vielleicht veranstaltet es die gesättigte Ente im Verein mit der schadenfrohen Maus.
~~~ Recht bedacht, stelle ich mir Revueltas am ehesten als Walroß vor – ein Walroß, das jederzeit dafür gut ist, ein Klümpchen durchgekauter Kokablätter oder eben eine ausgesprochen quirlige Kaulquappe auszuspucken. Ein CD-Book behauptet***, ein Jahr vor seinem Tod habe Revueltas bekannt, er sei ein alter Tagträumer, trommele am liebsten auf einer zerbeulten Waschbütte herum und gebe sich dabei seinen Phantasien von fernen Ländern und großartiger Musik hin. »Schon als Kind verlor ich mich lieber in Träumen als etwas Nützliches zu tun.«
* Gustav Regler, Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 376
** Christian Schruff, SWR2, 2010: Musikstunde 1 und Musikstunde 2
*** Ebony Band Amsterdam, Homenaje a Revueltas, Channel Classics 2004
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~~~ Gleichwohl seien die Zuhörer, kaum da die Wildheit verklungen war, nach vorn gestürzt, um dem untersetzten Dicken, dem vermutlich ein paar schwarze Haarsträhnen auf der verschwitzten Stirn klebten, die Hände zu schütteln und eine Wiederholung des besonders »leidenschaft-lichen« Schlußsatzes der »Symphonie« zu erzwingen, versichert Regler. Den Titel des Stückes nennt er nicht. Möglicherweise hatte es sich um Sensemayá gehandelt, siehe unten. Aber für ordentlich geschulte Kommunistenohren hätte wahrscheinlich jedes Werk des Mexikaners eine Anstrengung, wenn nicht Zumutung dargestellt. Heute ist das alles salonfähig, so wie damals schon Weill oder Blitzstein. Aber heute ist Revueltas nicht nur tot, sondern auch weitgehend vergessen. Zum Zeitpunkt jener sicherlich ungewöhnlichen Aufführung im umkämpften Madrid hatte der Komponist nur noch vier Jahre zu leben, was natürlich keiner ahnte. Regler kommt im folgenden nicht mehr auf Revueltas zurück, obwohl er später selber noch, erzwungenermaßen, als Exilant nach Mexiko ging. Dort traf er freilich, über die USA, erst im Laufe des Jahres 1940 ein: Revueltas‘ Todesjahr. Der knapp 41jährige Musiker erlag Anfang Oktober in Mexiko City verschiedenen Krankheiten, zu denen vermutlich, neben Alkoholismus, auch die Gefühle der Verlassenheit und der Vergeblichkeit zählten.
~~~ Erstaunlicherweise wird der Musiker aus dem fernen Mexiko im Brockhaus mit immerhin gut 10 Zeilen bedacht. Revueltas war ein Geigenwunderkind, ab Fünf oder Acht, je nach Quelle. Er stammte aus einer kinderreichen, den Künsten ergebenen Kaufmannsfamilie, studierte teilweise in den USA, erwärmte sich für Volk, Sozialismus, Revolution und war wohl von 1929–36, unter Carlos Chávez, stellvertretender Leiter des mexikanischen Sinfonischen Orchesters. Dann begab oder stürzte er sich offensichtlich in den revolutionären Spanienkrieg. Kaum war er eingetroffen, überfiel ihn die Nachricht von der Ermordung des einheimischen Schriftstellers und Musikers Federico Garcia Lorca, worauf er, im Spätsommer 1936, unverzüglich eine Homenaje an diesen schuf. Für Herbers, Schruff und andere Fachleute zählt dieses Stück zu Revueltas‘ besten Werken. 1938, als sich die Niederlage der zerstrittenen und von Paris bis Moskau verratenen RepublikanerInnen abzeichnete, nach Mexiko zurückgekehrt, hatte sich der Komponist, wie es aussieht, hauptsächlich als Musiklehrer und Schöpfer von Filmmusik über Wasser zu halten. Viele seiner Werke blieben auf Jahrzehnte hin unveröffentlicht und entsprechend unbekannt, weil es im damaligen »revolutionären« Mexiko keine Musikverlage gab. Revueltas verfiel, wohl in Mexiko City, zunehmend der Enttäuschung, der Vereinsamung und dem Alkohol. Diesem soll er allerdings bereits als junger Student in den Staaten, um 1920, gehuldigt haben. Damals starb auch sein Vater, der offenbar mehr Schulden als Vermögen hinterließ. Damit setzten Revueltas wahrscheinlich auch noch wiederholte Geldnöte zu.
~~~ Der Berliner Musikjournalist Christian Schruff spricht sogar, mit anderen, von einer »großen Armut« des Komponisten.** Das macht sich gewiß immer gut, vor allem im Falle Mozarts, bedeutet aber wenig, wenn man die Relationen nicht kennt. Laut Brockhaus war Revueltas Professor für Violine am Staatskonservatorium in Mexiko City gewesen, wenn auch nicht gesagt wird, von wann bis wann. Gewiß könnte er auch als gut besoldeter Spanien-heimkehrer stets knapp bei Kasse gewesen sein, weil die Alkoholika und Barbesuche eben recht kostspielig sind. Zudem dürfte Revueltas unter deftigen Unterhaltspflichten gestöhnt haben, soll er doch zweimal verheiratet und Vater mehrerer Kinder gewesen sein. Aber wen, wenn nicht ihn selber, sollte man für diese angeborene oder erst später erworbene Trink- und Beischlaffreudigkeit verantwortlich und haftbar machen? Den Papst? »Die mexikanische Revolution«?
~~~ Auch was Revueltas‘ Ableben angeht, wird nicht mit schmunzel- oder mitleidsträchtigem Kolorit gespart. So warten etliche Quellen mit der plakativen Geschichte auf, nach einer Art Sauf- und Siegesfeier wegen des Erfolges des Films La Noche de los Mayas, zu dem Revueltas die Musik beigesteuert hatte, sei er nicht mehr auf die Beine gekommen. Da war der in der Tat sehr erfolgreiche Film allerdings schon seit rund einem Jahr in den Kinos. Schruff zufolge ist diese Geschichte von Revueltas‘ Ende eine Ente. Die genannte Filmmusik hält er für Revueltas‘ »originellste« Arbeit. Wie der Komponist nun tatsächlich (1940) das Zeitliche segnete, verrät auch Schruff nicht. Er spricht nur von einer »regnerischen« Oktobernacht. Andere Quellen erwähnen eine Lungenentzündung. Da läßt sich natürlich gut vorstellen, wie der Komponist beim Nach-Hause-Wanken in regnerischer Nacht wegen zu leichter Bekleidung zum Kotzen auch noch ins Husten verfällt.
~~~ Schruff nimmt an, nach dem Triumph des Faschismus in Spanien habe sich auch Revueltas besiegt gefühlt und deshalb seine Zuflucht verstärkt in Sarkasmus und Alkohol gesucht. Mit dieser, für den »Musikstunden«-Hörer vereinfachten Feststellung ist freilich noch lange nicht gesagt, warum sich der kurzhälsige, dicke Mann gebrochen wähnte. Jede neue Niederlage fällt schließlich auf einen bestimmten Boden, den vielleicht schon etliche frühere Niederlagen und vielleicht auch die ganz frühen Anlagen, zum Beispiel zu Kurzhälsigkeit oder Schwermut, brüchig gemacht haben. Auch in Revueltas‘ Fall sind die entsprechenden Schilderungen oder Angaben so gut wie nicht vorhanden oder jedenfalls nicht erreichbar. Wie seine diversen Familienleben aussahen, weiß oder erwähnt kein Mensch. Jedenfalls scheint er, bei seiner Zeugungsfreude, nicht schwul gewesen zu sein, woran ich zunächst gedacht hatte. Somit war er mit Aaron Copland, der sich für ihn einsetzte, »nur« kollegial befreundet. Vielleicht hatte er ja überhaupt keine Freunde, weil sein Charakter, ob unverträglich, schwierig, weinerlich, dafür nicht geschaffen war. Aber eben von diesem Charakter erfährt man wenig – nimmt man Revueltas‘ auffallend widersprüchliches Schaffen einmal aus.
~~~ Das schon erwähnte Orchesterstück Sensemayá zum Beispiel, vor Revueltas‘ Abreise nach Spanien aufgrund eines Gedichts des Kubaners Nicolás Guillén entstanden, weht mit Grusel verbreitender Feierlichkeit durch den Saal. Da zieht wohl fast jeder unwillkürlich seinen Kopf ein. Jenes Gedicht soll den Titel tragen: »Lied um eine Schlange zu töten«. Möglicherweise hieß die Schlange Das Weiße Haus. Ich selber ziehe entschieden das kurze, umwerfend komische Konzertstück El renacuajo paseador (Die wandernde Kaulquappe) vor, ursprünglich 1933 für ein Puppentheaterstück geschrieben. Die Kaulquappe unternimmt die Wanderung mit einer neuen Freundin, der Maus. Sie gehen etwas trinken und amüsieren sich. Einer Katze können sie noch entkommen, doch dann landet die gut aufgelegte Kaulquappe im Schnabel einer hungrigen Ente. Tragisch, tragisch, würde der typische Wikipedianer sagen, aber in Revueltas‘ Musik behält ein winziges, ausgelassenes Tänzchen das letzte Wort. Vielleicht veranstaltet es die gesättigte Ente im Verein mit der schadenfrohen Maus.
~~~ Recht bedacht, stelle ich mir Revueltas am ehesten als Walroß vor – ein Walroß, das jederzeit dafür gut ist, ein Klümpchen durchgekauter Kokablätter oder eben eine ausgesprochen quirlige Kaulquappe auszuspucken. Ein CD-Book behauptet***, ein Jahr vor seinem Tod habe Revueltas bekannt, er sei ein alter Tagträumer, trommele am liebsten auf einer zerbeulten Waschbütte herum und gebe sich dabei seinen Phantasien von fernen Ländern und großartiger Musik hin. »Schon als Kind verlor ich mich lieber in Träumen als etwas Nützliches zu tun.«
* Gustav Regler, Das Ohr des Malchus, Köln 1958, S. 376
** Christian Schruff, SWR2, 2010: Musikstunde 1 und Musikstunde 2
*** Ebony Band Amsterdam, Homenaje a Revueltas, Channel Classics 2004
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