Montag, 15. Dezember 2025
Im Sommerloch
Verfaßt 2025

Früher wußte ich durchaus, wie sich das sogenannte Sommerloch sinnvoll ausfüllen läßt. Um 2000 zeigte mir beispielsweise Maren an einem schönen Augusttag die linke Rheinseite bei Eich, wo sie aufgewachsen war. Der kleine Ort liegt zwischen Guntersblum und Worms. Da die dortige Bahnstrecke, Altrheinbahn genannt, bereits in Marens Kindheit erdrosselt worden war (um 1970), hievten wir unsere Räder aus dem ähnlich alten VW-Bus ihrer Kommune. Es war unser erster gemeinsamer Radausflug. In einem Auwald machten wir Rast auf einer Lichtung. Maren breitete ihr »Zigeunertuch« als Decke im Gras aus; dann rückten wir unserem Picknickkorb zu Leibe. Aber ich hatte nur Augen für Maren, das schwarze Teufelchen. Wahrscheinlich hätte ich statt Tomaten auch Snookerkugeln zermalmt, ohne es zu merken. Wir waren frisch verliebt.
~~~ Plötzlich verscheuchte sie meinen gebannten, aufdringlichen Blick mit dem Handrücken und deutete belustigt auf unsere an die Bäume gelehnten Fahrräder. Dort tummelten sich mindestens vier oder fünf große goldgelb gefärbte und schwarz gesprenkelte Schmetter-linge, die ich als Kaisermäntel kannte. Ich sagte es Maren. Neu war mir allerdings das merkwürdige Verhalten dieser Perlmuttfalter, hartnäckig die Blinker aus Plastik anzufliegen, die zwischen den Speichen unserer Räder klemmten. Dieser gleichfalls zweiflügelige Zubehör war kaum weniger goldgelb wie die Kaisermäntel gefärbt und blinkte entsprechend verlockend oder aufreizend in der Sonne. Da wurde mir klar, die Falter sahen in unseren Blinkern Nebenbuhler oder Liebesbeute. »Die Paarung wird ihnen nicht leichtfallen«, sagte ich lauernd zu Maren, während mein Blick über ihren wenig verhüllten, ziemlich üppigen Busen glitt. »Sie sollten sich lieber auf deine Knospen setzen ..!«
~~~ Maren meinte, das sei ein hübscher Gedanke. Aber dann fuhr sie betrübt fort, sie fände ihre Brüste zu dick. Darauf zeigte ich ihr einen Vogel und erkundigte mich, ob sie lieber flachbrüstig wie die Wesermarsch wäre; dort hatte sie erst vor wenigen Wochen ein Kommunetreffen auf dem Hof Land unter besucht. Nein, »sowas dazwischen« hätte sie gern gehabt. »Nun gut«, knurrte ich und griff nach dem Messer, mit dem sie die Gurke abgesäbelt hatte, »ich kann ja die Hälfte abnehmen.« Daraus entspann sich eine Art Handgemenge, durch das uns gottseidank zwar kein gemeinsames Kind, mir jedoch wenig später das Zwerglied Wär ich ein Schmetterling geboren wurde. Insofern war der Ausflug fruchtbar. Hier das Leadsheet des Werkes: https://siebenschlaefer.blogger.de/static/antville/siebenschlaefer/files/no%20schmetterling.pdf.
~~~ Mit dem »Zigeunertuch«, auf dem sich jenes Handgemenge abspielte, hatte es gleichfalls eine etwas ungewöhnliche Bewandtnis. In den Adern der impulsiven Maren kreiste auch ein Schuß Romablut. Zum 30. Geburtstag hatten ihr entfernte Verwandte aus Rumänien dieses handgewebte, mit Perlen besetzte bunte Tuch geschickt, das sie in der Folge fast überallhin mitnahm und wie ihren Augapfel hütete. Als ich Maren in einer Weinheimer Kneipe kennenlernte, lag das Zigeunertuch zusammengefaltet neben ihr auf einem Barhocker – und zwar so einladend, daß ich sie fragte, ob ich für einen Moment darauf Platz nehmen dürfe. Ihr kleiner Schrecken deutet bereits auf die Weihe des Tuches. Sie nahm es vom Hocker und erklärte mir, es wäre ein Sakrileg, wenn sie diesem Wunsch eines wildfremden Mannes entspräche. Also nahm ich ungepolstert Platz, womit der Anbändelei nichts mehr im Wege stand.
~~~ Rund eine Woche später hatten wir die Idee, mit Hilfe des »magischen« Zigeunertuches ganz unregelmäßig kleine private Gedenkfeiern abzuhalten. Denn von all den vielen offiziellen hielten wir beide wenig, obwohl Maren einer Landkommune angehörte, in der sich die Feste fast überschlugen. Wir beließen es bei drei Minuten. So konnte es vorkommen, daß wir im Garten der Kommune, auf meinem Weinheimer Balkon oder eben mitten im Wald saßen und plötzlich beschlossen, zum Beispiel drei Schweigeminuten für die hinterhältig ausgerotteten IndianerInnen, für einen von Neonazis erschlagenen Obdachlosen oder für schwarze US-Häftlinge wie Mumia Abu-Jamal einzulegen, denen seit vielen Jahren die Giftspritze drohte. Zu diesem Zwecke hatten wir uns von Angesicht zu Ange-sicht zu setzen, jedoch die Augen zu schließen. Das bunte Tuch lag auf unseren Knien – als einzige Brücke. Berühren durften wir uns nicht. Schließlich galt unsere Konzentration Dritten.
~~~ Ob unser selbstgeschneidertes Ritual mit dazu beitrug, Abu-Jamals Leben bis zur Stunde dieser Berichterstattung [erstmals Herbst 2010] zu verlängern, wage ich nicht zu entscheiden. Dagegen muß man klar sagen: vor unserer Liebschaft versagte die Magie. Sie währte keine drei Monate.
~~~ Noch früher, im Sommer 1997, frohlockte ich, weil ein Brief von der Berliner Zeitung in meinem Kasten lag. Ich sah mich bereits zur Bank rennen, wegen dem fetten Honorar. Damals lebte ich, in Südhessen, von schmalem Gesellenlohn. Nun teilte mir ein Ressortleiter mit: »… Dank für Ihr interessantes Textangebot. Gibt es Fotos? Wie lautet die Adresse – vielleicht kann man dort fotografieren? Ich kann mir eine Veröffentlichung im Magazin gut vorstellen ...«
~~~ Da machte ich freilich ein langes Gesicht. Nebenbei lachte ich mich aber auch ins Fäustchen. Den Brief (vom 30. Juni) verleibte ich meinem Kuriositätenkabinett ein. Der Absender bezog sich auf eine kaum 5seitige Erzählung, die ich Döhnerichs Durchbruch genannt hatte. Bildhauer Elmar Döhnerich gräbt sich in seinem Kreuzberger Hinterhofhäuschen, in dem er zwischen unverkauften Stahlplastiken zu ersticken droht, buchstäblich frei. Sein geronnener Auswurf stellt die Polizei zunächst vor ein Rätsel. Für den BZ-Redakteur dagegen war der Fall offensichtlich schon klar: er nahm meine Geschichte als bare Münze – als Bericht über eine tatsächliche Begebenheit jüngster Zeitgeschichte, und nun verlangte es ihn eben nach der genauen Hausnummer (Heimstraße Soundso) und nach Bildmaterial.
~~~ Wie sich versteht, mußte ich den Mann enttäuschen. Ich klärte ihn in zwei oder drei Zeilen auf. Darauf schwieg er verstimmt – vielleicht auch beschämt. Fünf Jahre später, 2002, gelang es mir, den geflüchteten Döhnerich in der Wochenendbeilage der Jungen Welt unterzubringen. Inzwischen steht er, unter »Erzählungen«, in meinem Blog. Schlagen Sie ruhig einmal nach.
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