Montag, 21. November 2022
Bei den Gugenstriegels

Achse saß im Schatten eines Apfelbaums an der Landstraße und musterte den hübschen Wedel, den er in seinen Händen drehte. An einem Stiel, wie er ihn von Johannisbeertrauben her kannte, ließen sich winzige aufgesprungene Kapseln sehen, aus denen das Wedlige quoll. Es wirkte wie weißer Flaum. Gegen diesen Flaum waren die weißen Haare, die um Tinkers dicke Füße schlackerten, wahre Stricke. Führte Achse den Wedel um seine Stupsnase, stiegen gar zärtliche Gefühle in ihm auf. Allerdings verströmte der Wedel keinen Duft. Er roch auch nicht nach Äpfeln. Jetzt führte er ihn unwillkürlich zu seinem rechten, angeblich abstehenden Ohr, um ihn genüßlich in der Ohrmuschel zu drehen. Nebenbei bemerkt, sein linkes Ohr stand angeblich genauso ab. So putzte sich Achse mit dem feinen Wedel auf beiden Seiten das Ohrenschmalz aus. Geh aus mein Herz und singe Freud in dieser schönen Sommerszeit zählte offenbar nicht dazu, denn er summte es unterdessen. Als er mit dem Putzen fertig war und den etwas ranzigen Wedel in einem großen Bogen hinter sich auf die von Blumen übersäte Böschung warf, stieben sämtliche Käfer und Fliegen auseinander.

Ein kleiner Schmetterling flüchtete sich in Achses Schoß. Mit Hilfe seiner Fühler, die wie ein Widdergehörn gebogen waren, untersuchte er den Latz von Achses speckiger kurzer Lederhose. Hinter seinem Gehörn bildeten seine Flügel ein ausnehmend hübsch gefärbtes Dreieck. Auf einem dunklen, grünlich schillernden Grund zeigten sie rote Tupfen, die gelb eingefaßt waren. Für Achse deuteten sie gleichsam die im Lied aufgezählten Blumen an. Zett hätte vermutlich nur Eier und Schinken gesehen.

In der Tat wurden sie seit Tagen von Nahrungssorgen gequält. Die Vorräte, die ihnen der Baron mit der Kutsche überlassen hatte, waren aufgebraucht. Doch was machte Zett? Er pennte. »Ich lege mich mal eben für ein paar Minütchen aufs Ohr«, sagte er dazu immer. Jetzt ratzte er schon wieder seit über einer Stunde.

Achse hatte sich abseits in Gras gesetzt, weil Zett, sobald er tagsüber schlief, furchtbar schnarchte. Das hatte sich ja bereits bei der Kahnfahrt mit dem Baron gezeigt. Jetzt konnte Achse auf 15 Meter die Kutsche beben sehen. Nachts schnarchte Zett erfreulicherweise nicht. Achse nahm an, er bildete sich ein, tagsüber mit seinem Schnarchen das Licht ausblasen zu können. Die Kutsche stand im Schatten des übernächsten Apfelbaums am Straßenrand. Tinker war ausgespannt und graste an der Böschung. Achse kam jäh eine rettende Idee. Er beugte sich zu dem bunten Widderchen hinab, das auf seinem Lederhosenlatz umherkrabbelte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

»Au ja!« erwiderte das Widderchen und flog davon.

Kurz darauf war Zetts jämmerliche Stimme zu vernehmen: »Aua! Aua!«

Die Kutsche schwankte wie bei schwerem Seegang. Dann tauchte das wehleidige Zettgesicht über dem zurückgeklappten Verdeck auf.

»Etwas hat mich ins Gesäß gepiekt, Achse! Normalerweise würde ich sagen, eine Mücke. Aber es war ein doppelter – oder um genau zu sein: ein Zwillingsstich!«

»So, so«, knurrte Achse zurück. »Dann wirst du ja auch doppelt wach sein. Kann's weitergehen?«

Zett gähnte und reckte sich. »Na gut!« rief er, wobei er sich seinen grünen Tirolerhut aufsetzte. »Du kannst anspannen.«

Achse erhob sich verdrießlich. Immer ich, dachte er. Aber das Rebellieren lag ihm nicht. So brachte er auch diesmal Nachsicht auf. Zett befahl eben gern. Achse würde sich schon auf Heimzahlung verstehen. So pfiff er nach Tinker, ging zur Kutsche und holte die Leichtmetallküchenklapp-leiter aus dem Kasten zwischen den Rädern. Tinker war so gutmütig wie gehorsam. Er schob sich mit seinem mächtigen Hinterteil von ganz allein in die gabelförmige Deichsel. Aber sich auch noch selber einzuschirren, das wäre wohl bei seinen dicken Füßen zu viel verlangt gewesen. Deshalb hatten sie diese Leichtmetallküchen-klappleiter gekauft. Ohne Verlängerung wäre Achse weder an die Trense noch an den Aufsatzhaken gekommen, der Tinkers Bauchgurt krönte. Zett, obwohl deutlich größer als sein Kumpel, wäre gleichfalls nicht herangekommen, aber er wollte auch gar nicht. Doktor Zett vertrat die Auffassung, wenn er schon immer Kutschieren müsse, sei es nur recht und billig, wenn Achse immer anspanne. Als Achse eingewandt hatte, sie könnten ja auch von Zeit zu Zeit tauschen, hatte Zett mit Bedauern auf seine Allergie verwiesen. Er litt nämlich von Kind auf an einer Leichtmetallallergie. Jetzt thronte er schon auf dem Kutschbock. Achse schleppte die Klappleiter um Tinker herum, denn ärgerlicherweise hatte das Pferd zwei Seiten. Zett staunte immer wieder über Achses Fähigkeit, die beiden Fahrleinen auf Anhieb durch das sogenannte Leinenauge zu bekommen. Das hatte Achse vielleicht von seinem Alten, dem Hundezüchter.

Achse stieg von der Leiter und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er war fertig. Nun warf er Zett die Leinen zu, verstaute die Klappleiter im Kasten und erklomm den Bock.

»Prima«, sagte Zett. »Ist hinten frei?«

Achse bejahte es und nahm neben ihm Platz. Zett fuhr an.


2

Erfreulicherweise war diese Landstraße nur mäßig befahren. Hupte ihnen zuweilen ein Auto die Hucke voll, weil es an ihnen vorbei wollte, ließ sich ihr guter Tinker gleichwohl nicht aus der Ruhe bringen. Er besaß ein ausgesprochen dickes schwarzweiß geflecktes Fell. Die Zigeuner, die ja leicht aufbrausen, hatten schon gewußt, warum sie sich dieser Pferdesorte bedienten. Gegenwärtig setzte sich Tinkers Färbung sogar unter ihm fort. Jene weißen Wedel, die Achse bereits beeindruckt hatten, zogen sich streckenweise wie Schneeverwehungen längs der dunklen Asphaltstraße. Gefragt, ob er das Zeug kenne, mutmaßte Zett, es könnten Baumsamen sein. Er sah sich suchend um und deutete auch schon mit der Peitsche über die Straße:

»Siehst du die Pappeln da hinten am Fluß? Dort werden sie herkommen. Der Wind steht nämlich von dort. Wenn ich so sagen darf, kutschiert der Wind die wolligen Pappelsamen durch die Wiesen – geradeso wie ich dich!«

Zett kicherte, aber Achse wurde es nun doch zu bunt. »Weder kann ich von Luft«, schimpfte er, »noch von deiner äußerst fragwürdigen Zuneigung leben! Könntest du dir endlich einmal ernsthafte Gedanken über die Ernährungsfrage machen? Wir haben nicht einen Brotknust mehr in der Truhe und keinen Cent mehr!«

Zett gab sich betroffen. Durch die Schärfe seines Nachdenkens brachte er sogar seinen Tirolerhut stärker ins Wackeln, als es ihrem Fuhrwerk anzulasten war. Schließlich hob er die Schultern, soweit es Leinen und Peitsche zuließen, und verkündete:

»Ich sehe nur zwei Möglichkeiten, Achse. Entweder auf dem nächsten Flohmarkt die Leichtmetallküchenklapp-leiter verhökern oder arbeiten gehen … Gut – man kann vielleicht auch beides tun. Ich zum Beispiel bin als Verkäufer geradezu ein Naturtalent, während du ja täglich beim Ein- und Ausspannen …«

»Ha!« unterbrach ihn Achse. »Wie soll denn ohne Leiter ein- und ausgespannt werden?«

»Dann müssen wir eben immer an Holzstößen oder Milchkannenbänken halten – logisch, nicht wahr?«

»Du spinnst! Was willst du denn machen, wenn die andere Seite von Tinker dran ist?«

»Kein Problem: die Kutsche wenden.«

»Ha, ha!« griff sich Achse an die Wange. Jetzt kam die Stunde der Heimzahlung. »Mit einem Pferd, das nur halb ein- oder ausgespannt ist, will er die Kutsche wenden!«

Zett kochte. Da er sich seine geistige Niederlage insgeheim eingestehen mußte, versuchte er sie durch Gönnerhaftig-keit zu überspielen, zumal er soeben noch eine andere Ablenkung erblickte. »Schon gut, schon gut, mein lieber Freund! Wir behalten die Leiter. Möglicherweise läßt sich unser Gespann gewinnbringend in der Landwirtschaft einsetzen.«

Er deutete mit der Peitsche nach rechts über die Felder. »Wenn ich meinen Adleraugen trauen kann, liegen vor dem bewaldeten Hügel dort drüben ein paar Häuser. Jetzt kann ich auch zwei Silotürme erkennen. Offenbar ein größerer Bauernhof. Was meinst du? Fragen kostet ja nichts.«

Achse zuckte nur die Achseln. Kurz darauf bogen sie in einen gewundenen Fahrweg ein, der offensichtlich zu dem Anwesen führte. Hier stand ein Pfahl mit zwei Schildern. Auf dem gelben Richtungsschild war zu lesen: Gut Streuselsbühl 0,5 km. Darauf war noch ein kleineres Schild aus Sperrholz geklemmt, das in dieselbe Richtung wies: SLAV.

»Slaff?« murmelte Achse. »Nie gehört …«

»Slaff«, nickte Zett, während er durch die erste Kurve kutschierte. Anscheinend hielten sie beide das Kürzel für einen Einsilber.

Der gewundene Fahrweg wurde von Birken gesäumt. Über die Gerstenähren, die schon gelb waren, strichen die Rauchschwalben. Es war drückend heiß. Achse machte die Bruthitze nichts aus. Zett dagegen konnte kaum noch die Peitsche halten, so feucht waren seine Hände. Er hoffte inständig auf ein Gewitter.

»Was das wohl heißen mag: Slaff?« kratzte sich Achse in der roten Wolle.

Zett witterte wieder Oberwasser. »Na hör mal«, gab er mit strafendem Unterton zurück. »Schlaff eben! Da vorne liegt zunächst das Gut, und dann gibt es da noch Leute, die schlaff sind. Was dagegen? Das ist doch genau das Richtige für uns, Achse! Man muß sich immer an Gesinnungsgenossen halten.«

Achse ließ ihn schwafeln.


3

Das Gut lag zwischen Waldrand und Bach. Sie nahmen die kleine, verwitterte Sandsteinbrücke. Der Fahrweg, der zum Waldrand lief, führte sie an der Öffnung des hufeisenförmigen Anwesens vorbei. Zett ließ Tinker halten. Der Hof lag wie ausgestorben da. Sie konnten weder einen Hund noch ein Huhn entdecken. Vor dem querstehenden Wohngebäude parkten allerdings mehrere Autos. Vielleicht saßen die Gutsleute beim Mittagessen. Die Autos wirkten so abgeleckt wie das Anwesen im ganzen. Kein Strohhalm auf dem asphaltierten Hof. Die Längsgebäude glichen modernen Fabrikhallen. Einige hochgerollte Tore gaben den Blick auf riesige Fahrzeuge frei.

»Ach du meine Güte!« knurrte Zett, während er auf das nächstgelegene Tor wies. »Guck dir mal die Räder von dem Mähdrescher an, Achse. In denen könnte sich bei einem Platzregen sogar der hochgewachsene Baron unterstellen, wenn er gerade durch die Fluren striche! Nein, nein, hier wäre der liebe Doktor Zett deplaziert. Was wollen die denn ernten, wenn sie alles plattmachen?«

Zett wandte sich verächtlich ab und gab Tinker wieder Leine. Achse beschwerte sich nicht, denn auf Lohnarbeit war er noch nie erpicht gewesen. Zett deutete mit seiner Peitsche nach vorn:

»Da an dem Telegrafenmasten steht es wieder: SLAV. Wir müssen nach links einbiegen.«

Der neue Fahrweg verlief ein wenig unterhalb des Waldrands. Zur Linken fiel eine Viehweide zum Bach ab, auf der sich die Rinder mit Ohren, Schwänzen und selbst mit ihren jäh nach hinten klatschenden Zungen der Fliegen zu erwehren suchten. Rechts dagegen erstreckte sich ein hübscher Garten zwischen Weg und Wald. Er war von einem schlichten Staketenzaun umgeben und strotzte von Gemüse und bunten Blumen. Selbst die Stangenbohnen zeigten rote Blüten, die wie fliegende Zwergpantoffeln aussahen. Die Krönung des Gartens war allerdings ein mächtiger, üppig behangener Kirschbaum. Obwohl mitnichten gefräßig, lief Achse beim Anblick der fetten, gelbroten Kirschen das Wasser im Mund zusammen. Er spähte zum Ende des Gartens, wo der weiße Giebel eines kleinen Hauses zu sehen war. Zum Fahrweg hin hatte es eine lange Veranda. Da das Dach überhing, saß man dort sicherlich angenehm im Schatten. Dies sagte sich jedenfalls Zett, der Achses Blick gefolgt war. Er nickte und meinte, das könnte es sein. Ob er irgendwo Leute herumhängen sähe?

»Warte mal … Ich glaube, im Schatten der Veranda sitzt ein Mann an einem kleinen, runden Tisch. Genauer gesagt, liegt er eher in seinem Stuhl. Dabei kaut er an einem Bleistift.«

Das klänge nicht übel, erwiderte Zett. Achse möge seine Segelohren anlegen, damit sie ermüdeter wirkten. Er selber versenkte die Peitsche in der Röhre, um den Knoten seiner Seidenkrawatte zu lockern, das sah doch gleich viel lässiger aus. Seinen verschossenen dunklen Anzug trug er nach wie vor. Alle schwüle Hitze und alle Neigung zum Schwitzen konnten Zett nicht dazu bewegen, auf standesgemäße Bekleidung zu verzichten. Jetzt machte er »Brrr!« und Tinker gehorchte aufs Wort. Die Kutsche kam genau vor der Gartenpforte zum Stehen.

Der hagere, blonde Mann auf der Veranda musterte sie interessiert ohne aufzuhören, an seinem Bleistift zu kauen. Er steckte nur in Shorts, sodaß die weißen, wenn auch stellenweise mit Sommersprossen getüpfelten Beine zu sehen waren. Insofern schien der Dürre ein Leidensgenosse von Achse zu sein. Wie es aussah, hatte er eine Zeitung mit Kreuzworträtsel vor sich liegen.

Zett lüftete seinen Hut. »Doktor Zett … Entschuldigen Sie bitte … Sind Sie vielleicht slav oder schlaff

Der Mann hörte auf zu kauen. »Slav oder schlaff ..? Nun ja. Ein bißchen schon. Wer wollte bei dieser Affenhitze Bäume ausreißen? Ich kann mich noch nicht einmal dazu aufraffen ins Haus zu gehen, um den kleinen Imbiß aus dem Kühlschrank zu holen, den mir Isolde heute morgen zurechtgemacht hat.«

»Um Gottes willen!« rief Zett und hüpfte unerwartet behende vom Kutschbock. »Bleiben Sie sitzen! Mir macht die Hitze nichts aus.«

Während er die Gartenpforte aufstieß, wandte er sich noch einmal um: »Wenn Sie freundlicherweise unterdessen ausspannen würden, Herr Achse, damit sich Tinker an dem Bach einen Trinken kann?!«

Schon stürmte er über ein paar Treppenstufen zur Giebelwand des Häuschens, wo offensichtlich der Eingang lag.


4

Achse knabberte an einem kalten gebratenen Schweinerippchen. Zett schaufelte Nudelsalat in sich hinein. Dazu tranken sie frische Holunderlimonade, die Herr Gugenstriegels »bessere Hälfte« – es waren seine eigenen Worte – erst vor 14 Tagen auf Flaschen gezogen hatte. Er meinte seine Frau Isolde. Sie machte gerade einen Besuch bei ihrer Schwester, die im nächsten Dorf wohnte. Er selbst hieß mit Vornamen Paul.

Zett nickte anerkennend. »Hübsches Plätzchen hier, Herr Gugenstriegel, das muß ich wirklich sagen!«

Herr Gugenstriegel nickte zurück. Er saß mit dem Rücken zur Hauswand zwischen seinen Gästen und freute sich, daß es ihnen schmeckte. Er selber hatte bei der Hitze keinen Appetit.

Achse hatte den Kirschbaum und weiter hinten das Gut im Rücken. Für Zett überragten die beiden Silotürme Achses magere Schultern beträchtlich. Wandte er sich nach rechts zum Fahrweg, spornten ihn die träge wiederkäuenden Kühe zu noch kühnerem Verzehr an. Er nahm jetzt einen großen mit Preiselbeersoße übergossenen Camembert in Angriff. Achse wußte die Kutsche in seinem Blickfeld; sie stand, wo der Wald bis zum Fahrweg vorsprang, unter hohen Buchen. In diesen sirrte ein Waldlaubsänger. Ab und zu unterbrach sich der kleine Vogel, um ein paar glutvolle »Dühs« zu singen. Sie tropften von Ast zu Ast, um schließlich den einen oder anderen Kieselstein auf dem Fahrweg zum schmelzen zu bringen. In der Ferne jenseits des Baches, der dicht von Bäumen bestanden war, blitzte zuweilen ein auf der Landstraße fahrendes Auto auf. Selbst Zett empfand die ungewöhnliche Stille dieses Orts. Er sagte es Herrn Gugenstriegel.

»Ja«, erwiderte der dürre Mann mit dankbarem Lächeln. »Vor allem dieser Ruhe zuliebe sind Isolde und ich auch hierher gezogen. Vorher wohnten wir nämlich in Augenhöhe mit einer auf Stelzen gebauten Stadtautobahn. Bald 15 Jahre lang!«

Zett winkte ab. »Wir sind unseßhaft. Wir gondeln so durch die Gegend.«

Herrn Gugenstriegels wässrige Augen leuchteten auf. Er beugte sich vor und nickte heftig. »Eben! Eben deshalb waren Sie beide mir auf Anhieb sympathisch. Weil Sie mit einem Pferdefuhrwerk gekommen sind! Ein Pferdefuhr-werk teilt die Luft kaum lautstärker als ein Segelboot das Wasser. Wie ich schon in der Grundsatzerklärung des S-L-A-V bemerkt habe, zeugen unsere …«

Herr Gugenstriegel zuckte erschrocken zusammen, blickte zur Landstraße und knirschte mit den Zähnen. Sein Unmut galt einem röhrenden Motorrad. Dessen Lärm rollte wie eine rasende Flutwelle durchs Tal, unter der sich auch Achse unwillkürlich geduckt hatte. Noch lange, nachdem das Motorrad von den Hügeln verschluckt worden war, zitterten die Pappeln und Erlen am Bach. Selbst die Kühe hatten feuchte Augen; möglicherweise drohten sie vor Furcht zu weinen.

Herr Gugenstriegel seufzte bitter. Kaum spreche man vom Teufel, komme er. Achse pflichtete ihm bei. So etwas gehöre verboten!

»Sie sagen es!« nickte Herr Gugenstriegel erfreut und erbost zugleich. »Da verkündet Francis Hutcheson im Jahr 1726 seine Forderung des 'größten Glücks der größten Zahl', alle sogenannten Demokratien schreiben es sofort in ihre Verfassungen – aber was geschieht? Nichts. Kein Schwein hält sich daran.«

»So ist es«, sagte Doktor Zett, wobei er einen Rauchkringel ausstieß, weil er sich inzwischen einen Zigarillo angesteckt hatte. »Fränzchen Hundesohn. Niemand hält sich daran.«

Herr Gugenstriegel stach seinen Zeigefinger gen Westen. »Den Weg dieses einen Motorradfahrers pflastern tausende von Opfern akustischer Verseuchung! Er berauscht sich; sie leiden. Das bedeutet: ein einziger Gewalttäter bezieht sein Glück aus dem Unglück von Mas-sen! Damit ist ja wohl Hutcheson auf den Kopf gestellt.«

Zett nickte. »Hundesohn auf den Kopf gestellt. Ein Skandal.«

Achse hatte aufmerksam zugehört und fragte deshalb Herrn Gugenstriegel, ob der oder das erwähnte S-L-A-V vielleicht seine besondere Waffe gegen den Lärm sei.

»Nicht schlecht ausgedrückt, Herr Achse, nicht schlecht! Nur ist unser Schutzbund der Leidtragenden Akustischer Verseuchung nach dreijährigem Bestehen noch immer eine viel zu stumpfe Waffe. Dabei hapert es weniger am Geld. Es fehlt vor allem an verständnisvollen Mitstreitern, die unser Anliegen in alle Welt hinaustragen. Ich meine das Anliegen von Isolde und mir und noch ein paar Verschworenen.«

Zett hatte natürlich aufgehorcht. »Sehr interessant!« sagte er jetzt und warf seinen Zigarillostummel in den Aschenbecher. Er beugte sich vor und tippte Herrn Gugenstriegel aufs übergeschlagene Knie:

»Es mangelt ihr also nicht an Geld – Ihrer überaus verdienstvollen Organisation. Es ist sozusagen zu viel Geld da. Wo man auch hintritt, stolpert man über das verdammte Geld. Ja was für ein Glück für Sie, Herr Gugenstriegel, daß Achse und ich bei Ihnen aufgekreuzt sind! Wir sind nämlich Geldsammler. Gewiß lassen sich auch Lumpen, akustischer Schmutz oder Pferdeäpfel sammeln, doch mein seliger Großvater Dagobert Zett war eben zufällig Geldsammler, das vererbt sich.«

Achse rang unter der Tischplatte beide Hände, weil ihm dieser unverfrorene Vorstoß ziemlich peinlich war. Doch Herr Gugenstriegel schmunzelte. Er hatte ja beobachtet, wie das Pferdefuhrwerk vor dem Gutshof angehalten, aber sofort wieder die Flucht ergriffen hatte. Aus beschäftigungstherapeutischen Gründen war es sicherlich nicht verfehlt, den beiden Zigeunern eine zumutbare Arbeit anzubieten. Er faßte seinen Kirschbaum ins Auge, der die Wucht der Silotürme abmilderte, und sprach auch schon:

»Die Kirschen sind reif genug. Sie müssen unbedingt herunter, sonst werden die Pirole und Stare sie holen. Was halten Sie davon? Sie legen sich gemeinschaftlich für höchstens zwei Stündchen ins Zeug, schon hätte die Versorgungsabteilung des S-L-A-V die Kirschen im Sack. Und in meiner Eigenschaft als Kassenwart kann ich Ihnen versichern, der Bund wird sich erkenntlich zeigen. Nach dem Pflücken könnten wir ja zunächst ein Bad und dann einen kleinen Imbiß nehmen. Isolde muß bald zurück sein. Sie sagte etwas von Bratkartoffeln und Rindswürstchen, vielleicht mit Blauschimmelkäse, Brocoli und geschlagenen Wachteleiern überbacken …«


5

Am Westende der Viehweide führte ein Pfad zum Bach hinab. Herr Gugenstriegel ging vorneweg. Zett machte das Schlußlicht. Er fiel zusehends zurück, weil er nach dem Kirschenpflücken beziehungsweise Kirschenessen kaum noch laufen konnte. Von seiner Anzugjacke drohten die Knöpfe abzuspringen. Achse rief ihn ungeduldig zur Eile. Ihr Gastgeber verschwand bereits im Ufergesträuch.

Herr Gugenstriegel hatte sein Fernglas und ein paar Handtücher mitgenommen, dafür auf eine Badehose verzichtet. Schließlich war man unter Männern. Ohne Fernglas in den Bach gestiegen, reichte ihm das Wasser bis zum Nabel. Er befeuchtete sich sorgfältig und ließ sich rücklings gegen die Strömung sinken. Die Gugenstriegels hatten den Bach an dieser günstigen Stelle gestaut und so ein kleines Becken erhalten. Da die Kuhtränke einen Steinwurf entfernt bachabwärts lag, war das Wasser auf dieser Höhe noch erfreulich klar. Der lehmige Grund leuchtete rötlich. Achse machte keine Umschweife, hüpfte aus seiner kurzen Lederhose und schlug mit einer »Arschbombe« im Wasser ein. Herr Gugenstriegel kicherte. Zett jedoch rümpfte nur die Nase. Nachdem sich die Gischt gesenkt hatte, trat er aus dem Ufergesträuch und unterzog die Badestelle einer ausgiebigen Musterung.

Es gab einen großen Stein, der wie eine Klippe ins Wasser ragte. Zett bückte sich, krempelte vorsichtig seine Hosenbeine hoch und nahm auf dem Uferstein Platz. Seine Rechnung ging auf. Nachdem er seine Beine mit noch größerer Vorsicht abgesenkt hatte, umspielte das Wasser auf gar nicht so unangenehme Weise seine Fußknöchel.

Achse tauchte prustend an der Staumauer auf. Er wandte sich um, sah Zett auf dem Stein am Ufer thronen und fing höhnisch an zu lachen. »Das nennst du baden?! Ich glaube, mein Schwein pfeift.«

Gleich darauf pfiff er allerdings selber. Im Hintergrund hatte er nämlich Tinker erspäht. Offenbar hatte er in einer Trauerweide – sein Lieblingsbaum – ein Mittagsschläfchen gehalten. Nun sah sich das gehorsame Pferd durch den unverwechselbaren Zweifingerpfiff zu Achse gerufen. Nur saß ihm dabei Zett im Wege, der deshalb von dem breiten Pferdemaul unglücklicherweise einen Stoß empfing. Er kreischte auf, ruderte im Absturz wild mit den Armen, ging aber wie ein Sandsack unter.

Herr Gugenstriegel, der einem klapprigen Weißstorch nicht unähnlich im Wasser stand, verkniff es sich höflich, in Achses Gelächter und Tinkers Wiehern einzustimmen. Er erwischte geistesgegenwärtig des Doktors Krawatte und zog ihn so wieder an die Atemluft. Zett röchelte, schüttelte sich wie eine Wasseramsel und schnaubte:

»So eine Frechheit! Seht euch meinen guten Anzug an – ein Bild des Jammers. Und mein schöner eleganter Tirolerhut! Da klebt er wie eine Schnecke an der Staumauer. Wie könnte ich mich jetzt noch an die Öffentlichkeit trauen? Oder gar zu Tisch?!«

Er winkte hilflos ab, wankte durchs Wasser zu seinem Stein und ließ sich zerknirscht auf ihm nieder. Während ihm Achse und Herr Gugenstriegel nachblickten, tuschelten sie bereits miteinander. Schließlich nickte Herr Gugenstriegel, denn Achse hatte ihm einen patenten Vorschlag unterbreitet. So verkündete er:

»Das wird sich gleich wieder einrenken lassen, Herr Doktor. Wir unternehmen einfach noch einen kleinen Ausritt, bevor wir über Isoldes vorzügliches Abendessen herfallen. Während die Hitze Ihren Anzug im Handumdrehen trocknet, wird ihn der Fahrtwind zugleich bügeln. So gewinnen Sie durch das Mißgeschick noch. Nebenbei bestehen auch gute Aussichten, in dem einen oder anderen Getreidefeld auf ein paar leckere Wachteleier zu stoßen.«

»Na gut« brummte Zett versöhnlich. »Und wie kommen wir aufs Pferd?«

Da die Leichtmetallküchenklappleiter am Waldrand in der Kutsche lag, half Herr Gugenstriegel seinen Gästen mittels der sogenannten Indianerleiter aufs Pferd. Achse hielt sich an Tinkers Mähne, Zett an Achses Hosenriemen fest. Herr Gugenstriegel schließlich kam hinter dem Doktor zu sitzen, indem er sich in aller Seelenruhe des Sandsteins bediente, der dessen Unglück gewesen war.


6

Nachdem sie Tinker unterhalb der Staumauer durch das mit Steinen gespickte Bachbett gelotst hatten, kehrten sie Gut Streuselsbühl den Rücken zu und folgten einem Feldweg, der sich an den gewundenen Bachlauf hielt. Es war die Südseite, damit der durchnäßte Doktor nichts zu meckern hatte. Wie Herr Gugenstriegel wußte, würde bachaufwärts eine nächste Sandsteinbrücke kommen. Längs des Waldrandes konnten sie dann wieder zurückreiten. Doch einstweilen nutzte Herr Gugenstriegel die Gelegenheit, seinen Gästen einige vorbildliche Mitglieder des Schutzbundes der Leidtragenden Akustischer Verseuchung vorzustellen. Er versicherte, sie glänzten durchweg mit schweigsamer Zurückhaltung. Einige davon kannte Zett sogar. Herr Gugenstriegel stellte ihnen zuerst das zierliche Fräulein Vergißmeinnicht vor, das mit blauen Augen, die gelbe Pupillen besaßen, aus dem Ufergras lugte. Es folgten Herr Gilbweiderich mit zahlreichen gelben Sheriffsternen, die weißschopfige Brunnenkresse, das über und über mit pinkfarbenen Brillanten behängte Weideröschen und das nahezu betäubend duftende Mädesüß, das eine bemerkenswert luftige, aschblonde Frisur trug. Der blau blühende Bachehrenpreis hatte allerdings Pech. Bevor er von dem blonden Botaniker gerühmt werden konnte, zuckte Herr Gugenstriegel zusammen, weil schon wieder Lärm aufkam. Er blickte seinen Vorderleuten über die Köpfe, verkniff die Augen und knurrte:

»Ach du liebe Zeit, die hat uns gerade noch gefehlt – Elvira!«

Es war ein großer Schlepper mit Anhänger, der sich ihnen näherte. Am Steuer saß ein gertenschlankes, ja geradezu rassiges Weibsbild mit dunkler Ponyfrisur, jedenfalls in Zetts Augen. Er schätzte das Weib auf 30. Herr Gugenstriegel erklärte ihnen gegen den anschwellenden Motorenlärm, es handele sich um die zukünftige Erbin von Gut Streuselsbühl. Tinker ließ sich von dem Lärm nicht beeindrucken, aber Zett wurde nervös. Er zupfte und glättete an seinem Anzug, setzte die Miene eines Filmstars auf und lüftete sogar seinen Tirolerhut, als Elvira, die zur Hälfte auf den brach liegenden Acker ausgewichen war, in ihrer Höhe anhielt.

»Na sowas! Schönen Tag, Herr Gugenstriegel!« flötete sie gegen den Lärm ihres eigenen Schleppers an. »Haben Sie jetzt in Ihrem grandiosen Schutzbund schon eine Kinder-Abteilung aufgemacht ..?«

»Hallo«, quetschte Herr Gugenstriegel hervor. »Man tut, was man kann, Elvira.«

Für Achse war diese Diplomatie reichlich unangemessen. Kinder-Abteilung hatte die Schraube gesagt! Das konnten sie nicht auf sich sitzen lassen.

Bekanntlich bewahren junge Lederhosen-TrägerInnen wie Achse stets ein paar Fundsachen in ihren Taschen auf, die man vielleicht noch einmal gut gebrauchen konnte. Jetzt durchwühlte er die Taschen blitzschnell – und frohlockte. Tatsächlich, die lange verrostete Schraube war noch da!

Achse setzte eine geqälte Miene auf und sagte ziemlich laut nach hinten gewandt: »Zett, wartet mal einen Augenblick, ich muß dringend pinkeln!« Erheblich gedämpfter flüsterte er anschließend: »Halt die Tussie auf, Zett! Lenk sie ab! Quassel sie voll, das kannst du doch!«

Schon glitt er vom Pferd und entfernte sich in Richtung Anhängerheck. Zett gehorchte, weil ihm die Sache mit den Kindern auch nicht so recht gefallen hatte. Während er Elvira mit Komplimenten für ihren großen Schlepper überhäufte, sah er, wie Achse auf der anderen Seite wieder zurückschlich und just am riesigen Hinterrad des Schleppers auftauchte. Er machte Zett Zeichen, indem er unter anderem auf den Werkzeugkasten deutete. Schon griff er zielsicher hinein und zog einen Schraubenzieher hervor. Damit entfernte er sich wieder nach hinten. Wahrscheinlich macht er sich an einem Hinterreifen des Anhängers zu schaffen, sagte sich Zett, während er Elviras huldvolle Worte und ihr falsches Lächeln entgegennahm. Sie hatte den Diebstahl nicht bemerkt.

Keine zwei Minuten, und Achse tauchte wieder am Pferd auf. Er knöpfte sich sogar demonstrativ den Hosenlatz zu. Dann ließ er sich von Zett und Herrn Gugenstriegel nach oben ziehen.

Aufgesessen, gab er Tinker gleich Schenkeldruck. »Auf Wiedersehen, Madamm!« rief er und zwinkerte ihr auch noch neckisch zu.

Sie dankte ihm sogar mit einer Handbewegung, bevor sie den Gang einlegte und Gas gab.

Verständlicherweise wollte Zett, der ihm von hinten am Ohr lag, unbedingt sofort wissen, was sein Kumpel unternommen habe. Doch Achse wimmelte ab. Vielleicht fürchtete er Herrn Gugenstriegels Mißbilligung. So ritten sie über die westliche Sandsteinbrücke und längs des Waldrandes wieder Richtung Gutshof zurück. Da sahen sie es aber schon. Der Schlepper tuckerte unweit der Badestelle im Leerlauf auf der anderen Bachseite, wie sie trotz der Uferbäume erkennen konnten. Elvira war anscheinend abgestiegen. Sie entdeckten sie am Heck des Anhängers, wo sie sich gerade an einem Hinterrad bückte.

»Na sowas«, sagte Herr Gugenstriegel, nahm sein Fernglas ans Auge und schilderte im Reiten, was er drüben sah. »Ich glaube, sie hat einen Platten … Ja, jetzt geht sie zum Schlepper, holt einen Schraubenzieher aus dem Werkzeugkasten und kehrt wieder zurück. Sie schraubt an dem platten Hinterreifen herum. Offenbar hat sich da eine lange, rostige Schraube hineingefressen. Jetzt nimmt sie die Schraube und feuert sie wütend in den Bach. So eine Umweltsünderin! Oder finden Sie nicht, Doktor Zett ..?«


7

Isolde Gugenstriegel war eine so verläßliche wie stämmige Person. Das Abendessen dampfte bereits auf dem runden Tisch, als die AusflüglerInnen die Veranda enterten. Da ihr Paul einen Zettel auf den Kühlschrank gelegt hatte, war auch für die Gäste gedeckt. Mit dem Rücken zum Fahrweg ließ sich Isolde ebenfalls am Tisch nieder. Ihr Korbsessel ächzte. Sie nickte den Gästen aufmunternd zu, verdrückte allerdings kaum weniger als Zett. Sie hatte die Statur einer sowjetrussischen Ringerin. Ihr dunkler Bubikopf strahlte Wärme aus.

Da Herr Gugenstriegel – ein golden schimmernder Strich auf der weißgetünchten Hauswand – nur Häppchen zu sich nahm, konnte er seiner Frau von ihren Gästen und den Ereignissen des Nachmittags erzählen. Auch das Kirschenpflücken erwähnte er, wobei er Isolde bedeutungsvoll ansah. Sie nickte anerkennend. Bald darauf leckte sie ihren Teller ab, was Achse recht verblüfft verfolgte. Achse, obwohl Pfadfinder, wäre auf so etwas kaum verfallen, denn es wirkte beinahe anzüglich. Frau Gugenstriegel erklärte jedoch, das erleichtere den Abwasch. Wenn Ordnung das halbe Leben sei, verschlinge die damit verbundene Arbeit die andere Hälfte auch noch. Das gelte natürlich besonders für die neuzeitliche Errungenschaft der hirntötenden Lohnarbeit. Sie selber sei dieser Fron nur durch einen glücklichen Zufall entkommen.

»Ich habe jahrelang als Polsterin in einer großen Raumausstattung geschuftet«, erklärte sie auf Achses Nachfrage.

»Ach ja – das war in der Zeit, als Sie mit Herrn Gugenstriegel an der aufgebockten Stadtautobahn wohnten?«

»Richtig!«

Jetzt mischte sich Zett ein, indem er unwirsch abwinkte. »Das sind Nebensächlichkeiten. Mich würde der 'glückliche Zufall' interessieren, den Sie erwähnten, Frau Gugenstriegel.«

Frau Gugenstriegel schmunzelte. Dann hob sie ihre kräftigen Arme: »Es war wirklich so – das Glück fiel mir zu. Es fiel in der Polsterwerkstatt aus dem Sessel …«

Sie nickte lächelnd und legte sich zurück, um eine kleine Kunstpause zu genießen. Die Schwüle war erträglich geworden, weil die Sonne bereits unterging. Die Kühe lagen fast wie Basaltbrocken auf der Viehweide; sie schimmerten und bebten leise, denn sie käuten ihre Tagesmahlzeit wieder. Im Wald krähte eine Singdrossel noch einmal ihren Spott heraus, bevor sie schlafen ging. »Schorsche! Schorsche! Kühedieb! Kühedieb!« Auch der Bach war zu hören, der über die niedrige Staumauer an der Badestelle plätscherte. Allerdings quietschte der auf die Folter gespannte Doktor mit seinem Korbsessel dazwischen. Er rutschte auf diesem hin und her und trappelte sogar aufgeregt mit den Füßen.

Wer einen Sessel neu polstern oder auch nur beziehen wolle, erläuterte Frau Gugenstriegel barmherzig, müsse ihn zunächst abschlagen. Der Sessel wird ringsum geöffnet. Sind die sogenannten Spannteile und deren Träger – zumeist gewölbte Pappdeckel – abgenommen, purzeln einer erfahrungsgemäß allerlei Dinge entgegen, die sich im Lauf der Zeit durch die Ritzen der Polster in die Hohlräume des Sessels gequetscht haben – vom Kamm über Farbdias bis hin zu Fünfmark- oder Zweieurostücken. Doch im Falle dieses Sessels, der einem Senator der regierenden SPDS gehörte, habe sich noch etwas Besseres gefunden …

»Eine silberne Mundharmonika!« rief Achse.

»Ein goldenes Feuerzeug!« überbot ihn Zett.

»Alles falsch. Aus dem Sessel fiel ein fünfreihiges Halsband, das nur aus funkelnden Perlen bestand.«

»Oh!« riefen Achse und Zett im Chor.

»Ja«, rieb sich Frau Gugenstriegel die Hände. »Paul machte das Halsband bei einem verläßlichen Hehler sofort zu Geld und damit waren wir – in heutiger Währung ausgedrückt – um 35.000 Euro reicher.«

Während Zett mit tellergroßen Augen stumm staunte, klatschte Achse den Gugenstriegels Beifall. Er fügte spontan hinzu, das wäre ja fast ein Grund zum Feiern. Herr Gugenstriegel verständigte sich durch einen kurzen Blick mit seiner Frau, schob prompt seinen Stuhl zurück und sagte im Aufstehen: »Sie haben völlig recht, Herr Achse! Ich bin gleich wieder da.«

Er kehrte mit einem Korb aus dem Keller zurück, in dem etliche Weinflaschen lagen. Seine Frau hatte inzwischen die Gedecke mit Gläsern vertauscht. Er schenkte ein und hob sein Glas auf das Wohl der Gäste, deren Erscheinen ja ebenfalls einem überaus glücklichen Zufall zu verdanken sei.

Doktor Zett trank und leckte sich die Lippen. Er pries die Würze und das Feuer des edlen Tropfens und goß ihn gleich vollständig in seinen Schlund. Es war ein 20 Jahre alter Morio Muskat aus dem Breisgau. Herr Gugenstriegel zögerte nicht und füllte das Glas seines durstigen Gastes erneut. Das wiederholte sich allerdings – und jedesmal wurden die Abstände kürzer. Dafür wuchs die Strecke zwischen Zetts Gesäß und dessen Sitzfläche. Offenbar wirkte der Wein erhebend.

Herr Gugenstriegel schenkte sich ebenfalls nach, prostete auch Achse zu und deutete auf die dunkle Viehweide. »Wenn gesagt wird, den armen Pferden oder Rindern gehe das Denken ab, ist es bestimmt nicht ihr Schaden. Nein, sie verdienen unser Mitleid wegen eines anderen Desiderats. Sie sind nämlich unfähig sich zu berauschen. Ob Wein oder Weib, Gesang oder Prosa – diese bedauernswerten Kreaturen bleiben stets auf dem sogenannten Boden der Tatsachen. Sehen Sie sich dagegen Ihren Gefährten an, Herr Achse. Ist das nicht offensichtlich ein Wesen, das sich schon klafterweit aus Flora & Fauna erhoben hat?«

Die Gugenstriegels nebst Achse waren bereits wohlweislich vom Tisch abgerückt, hatte es doch den Zett nicht mehr länger in seinem Korbsessel gehalten. Er mußte sich recken und ausdehnen, um die ganze liebenswerte Welt wie mit Adlerschwingen zu umfangen. Zunächst war er aufgestanden; dann auf seinen Sessel geklettert. Als der Sessel dummerweise umkippte, hielt er sich immerhin geistesgegenwärtig an einem Fallrohr der Dachrinne fest, das die Gugenstriegels über einem deckellosen Regenfaß angebracht hatten. Das Fallrohr lockerte sich, Zett ruderte mit den Armen – und stürzte genau in das halb gefüllte Regenfaß.

»Ach du meine Güte!« stöhnte Frau Gugenstriegel und packte ihn am Kragen, damit er nicht etwa ersöffe. »Ich dachte, Sie hätten heute bereits gebadet, Doktor Zett …«

Herr Gugenstriegel lief ins Haus, Handtücher und einen Bademantel holen. Zett lallte und ließ sich versorgen wie ein kleines Kind. Nach ein paar Minuten faßten ihn die Gugenstriegels kurzentschlossen unter und schleiften ihn bis zur Kutsche, die unter den Buchen stand. Achse trottete teils kichernd, teils gähnend hinterher. Als Zett auf die vordere gepolsterte Bank gehievt war, sank er fast augenblicklich in Schlaf. Achse hangelte sich auf die hintere Bank. »Gute Nacht«, murmelte er. Schon fielen auch ihm die Augen zu.

»Vielleicht gibt es noch ein Gewitter«, sagte Frau Gugenstriegel zu ihrem Mann, während sie behutsam die niedrige Kutschentür zudrückte. Herr Gugenstriegel nickte. Er klappte das Verdeck aus Segeltuch auf und ließ es über dem Doktor einrasten. Dann wandte er sich zu seiner Frau und fragte lächelnd: »Alles in Ordnung?«

»Alles in Ordnung!« hakte sie sich bei ihm ein.


8

Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der Veranda, das den gebeutelten Zett restlos zufriedenstellte, hieß es Abschied nehmen. Die Gugenstriegels begleiteten ihre Gäste zur Kutsche. Herr Gugenstriegel machte sich eine Ehre daraus, den treuen Tinker einzuspannen, während Doktor Zett bereits auf dem Kutschbock thronte. Unterdessen nahm Frau Gugenstriegel Achse beiseite, tuschelte mit ihm und steckte ihm schließlich einen prallen Briefumschlag zu. Achse drückte Frau Gugenstriegel schnell einen Kuß auf die Wange und hüpfte ebenfalls auf den Bock. Zett hatte Tinker schon anziehen lassen.

Immerhin wandte sich auch Zett mehrmals um, wobei er mit der Peitsche an seine Hutkrempe tippte. Die Gugenstriegels winkten ihnen nach, bis die Kutsche hinter einer Waldspitze verschwunden war.

Die Luft war klar und erfrischend, hatte das Gewitter doch Regen gebracht. Von den Bäumen am Waldrand tropfte es noch. Tinker mußte dauernd Schnecken ausweichen, die den Fahrweg mit ihren Schleimspuren überzogen. Vom Bach her leuchteten die Blumen, die sie gestern kennengelernt hatten. Am blauen Himmel kräuselte sich eine Wolkenbank. Möglicherweise war sie von einer Bildhauerin aus weißem Speckstein geschnitzt worden, so plastisch wirkte sie. Zett sah sich wie Goethe in der Campagna darauf liegen.

Plötzlich stieß ihn Achse in die Seite. »Achtung – da kommt ein Admiral! Nimm Haltung an, Alter, sonst scheißt er dich zusammen!«

Zett straffte sich sofort, legte die flache Linke an seine Hutkrempe und preßte schneidig hervor: »Zu Befehl, Herr Admiral! Gespannführer Meingard Zett – stehe zu Ihren Diensten!«

Achse grinste und deutete auf den schwarzen Schmetterling mit den leuchtend weiß-roten Abzeichen, der an ihnen vorbeiflog. Jetzt ging auch Zett auf, das sei der Admiral gewesen. Er machte ein langes Gesicht. Um ihn aufzuheitern, nestelte Achse den Briefumschlag aus seinem Hosenbund und entnahm ihm 10 Banknoten, die er aufgefächert in eine Hand nahm. Damit wedelte er seinem Kumpel vor der Nase herum.

»Himmel!« rief Zett mit großen Augen und hielt Achses Handgelenk fest. »Warte mal … Das sind ja 500 Euro! Wem hast du diesen Haufen Geld gestohlen?«

Doch es war der Lohn fürs Kirschenpflücken. Nachdem Zett ausgiebig Hurra gebrüllt und seinen Tirolerhut geschwenkt hatte, brachte er Tinker prompt auf Trab. Vielleicht gab es schon in der nächsten Ortschaft ein Feinkostgeschäft.

Achse war von dem Morgen beschwingt genug, um aus dem Stegreif ein kleines Gedicht hervorzubringen. Er trug es im Fahren vor: Was öfter aus den Bäumen fällt, sind Nüsse, Eicheln, Kirschen. Doch manchmal ist es pures Geld. Dann weicht des Zetts Zerknirschung.

»Nun ja«, strich sich Zett mit einer Hand das flaumige Kinn. »Rein inhaltlich und rein formal betrachtet ist es gar nicht so übel. Vertone es!«

Achse nickte erfreut und zog gleich seine Mundharmonika aus der Lederhose.
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