Freitag, 4. Oktober 2024
Risse im Brockhaus 40
ziegen, 09:32h
Zum Schaffen des koreanisch-stämmigen Komponisten Isang Yun (1917–95), zuletzt Professor an der Westberliner Musikhochschule, teilt Brockhaus mit, er habe westliche avantgardistische Techniken mit chinesisch-koreanischen Traditionen verschmolzen. »Im Zentrum seiner Klangfarbenkompositionen steht das Ideal des fließenden Klangstroms, das er aus dem Geist des Taoismus verstanden wissen will. Dabei werden die Tonhöhen nicht wie in der westlichen Tradition als melodiebildende Intervalle, sondern als Teile eines in den Einzeltönen bereits angelegten Ganzen begriffen und in ständigen Wiederholungen akkordisch zum Hauptklang entfaltet.« Das klingt in meinen Ohren nicht unbedingt danach, Yun habe sich gottseidank dem zeitgemäßen groben Unfug der melodie- und gestaltfeindlichen »Neuen Musik« entzogen – aber ich will diesen künstlerischen Gesichtspunkt vernachlässigen. Brockhaus ist nämlich kritisch und mutig genug, eine politische Katastrophe zu erwähnen, die um 1967, also eher am Beginn seiner Laufbahn, über Yun hereinbrach. Das Lexikon verzichtet lediglich auf Nennung jener führenden westdeutschen PolitikerInnen, die die Katastrophe zumindest duldeten, wenn nicht sogar förderten. In dieser Hinsicht nimmt jedoch der Rechtsanwalt Heinrich Hannover kein Blatt vor den Mund. Er war damals Interessenvertreter des verfolgten Komponisten und schilderte den Fall später ausgiebig in seinen Erinnerungen.*
Es begann mit einem echten Geheimdienstcoup. 1967 wurden fast schlagartig 17 in Westdeutschland lebende Koreaner mit Arglist, Bedrohung und Gewalt aus ihren Wohnungen gelockt, darunter Yun. Er hatte in Paris und Westberlin studiert und bereits einen gewissen Namen. Dann wurden die Gekaperten, von Behörden unbehelligt, in verschiedene Flugzeuge und nach Seoul, Südkorea, verfrachtet. Es lag auf der Hand, ohne Zuarbeit des deutschen Geheimdienstes wäre dieser Coup unmöglich gewesen. In Seoul eingesperrt, warf man den Entführten kommunistische Umtriebe vor, darunter die anrüchigen »Kontakte« nach Nordkorea oder wenigstens nach Ostberlin und also den beliebten »Landesverrat«, und quälte und folterte sie entsprechend. In der Tat erpreßte man so die üblichen »Geständnisse« von ihnen. Nebenbei war Yun schwer herzkrank und sah sich mehr als einmal dem Tode nahe. Überdies hatte man auch seine Gattin nach Seoul verschleppt, um die er nun zu bangen hatte.
1968/69 wurden gegen die mehr oder weniger demokratisch gesinnten Landsleute Prozesse inszeniert. Wie Hannover nachweist, taten die deutschen Behörden und Regierungsstellen unter der Hand alles, um wirkungsvolle Einsprüche und die Rückführung der Entführungsopfer zu verhindern. Letztlich wir hier Sozialdemokrat Willy Brandt hauptverantwortlich, damals Bundesaußenminister. Hannover führt auch den Legationsrat Dr. Bassler aus dem Außenministerium und den damaligen Bundesanwalt Kammerer namentlich an. Bonn war eben eine bedeutende antikommunistische Bastion der Westlichen Wertegemeinschaft im »Kalten Krieg« und konnte es sich nicht leisten, das Weiße Haus – oder auch nur den südkoreanischen Staatschef Park zu verärgern, dem der unselige Bundespräsident Lübke gerade das Bundesverdienstkreuz umgehängt hatte. Allerdings gab es damals breite Proteste gegen die Entführungen und die Bonner Vertuschungspolitik. Für Yun setzte sich auch jede Menge Prominenz aus dem Musikleben ein. Wahrscheinlich nur deshalb raffte sich Seoul im März 1969 zu »Begnadigungen« auf. Ursprünglich waren ein Todesurteil und lange Haftstrafen verhängt worden. Nun wurde auch Yun, nach 21 Monaten übelster Haft, aus dem Gefängnis entlassen. Man hatte natürlich alle zum »Stillschweigen« verpflichtet. Andernfalls hätten es Angehörige und Freunde auszubaden, wurde ihnen bedeutet. Yun kam erst nach Jahren einigen Schriftstellern gegenüber auf seinen Leidensweg zurück. Nebenbei kommt es schon fast einem Wunder gleich, wenn der geängstigte und geschundene herzkranke Mann unter diesen Umständen noch fast 80 Jahre alt geworden ist.
Für Hannover steht außer Zweifel: Bonn hatte sich zahlreiche Demütigungen durch Seoul vor allem deshalb gefallen lassen, weil deutsche Stellen, die eigenen Leute also, an den Entführungen beteiligt gewesen waren. Es hatte Dreck am Stecken, es war erpreßbar. Deshalb keinen nachdrücklichen Rücküberstellungsantrag, deshalb keine Streichung von Entwicklungshilfe. Gleichwohl hätte eine Unabhängige Presse zumindest nach der Freilassung der Entführungsopfer auf diverse TäterInnen und Hintermänner des Verbrechens weisen müssen. Aber Pustekuchen. Das Bonner Justizministerium hatte alle wesentlichen Akten mit Geheimvermerk versehen – und die Unabhängige Presse hütete sich, auf Herausgabe zu pochen. »Inzwischen ist den Deutschen«, so Hannover abschließend im Jahr 2005, »der vorauseilende Gehorsam, der mit dem Wort Staatsgeheimnis eingefordert wird, mehr und mehr zur Gewohnheit geworden, so daß es kaum noch strafrechtlicher Sanktionen bedarf, um Schweigen über staatliches Unrecht zu erzwingen. So ist auch der Fall Isang Yun sang- und klanglos in Vergessenheit geraten.« Den Opfern des jüngsten Corona- und Kriegswahnes wird es nicht anders ergehen. Die Ampel-VerbrecherInnen gehen in Frührente und wienern emsig an ihren sauberen Biografien herum.
In jenem »funktionierenden Rechtsstaat«, der auch Hannover zeitlebens vorschwebte, hätte Willy Brandt einen fetten Prozeß und mindestens lebenslänglich Haft bekommen. Nebenbei hätte er sich als Kiesingers Nachfolger auf dem Kanzlerthron (1969) die nächste Ohrfeige eingefangen. Statt dessen jedoch erzählen Wikipedia und Albrecht Müllers NachDenkSeiten aller Welt, Brandt sei der bedeutenste und ehrenvollste SPD-Politiker des 20. Jahrhunderts gewesen. Brandt war vor allem Karrierist, strammer Antikommunist und Knecht des Weißen Hauses. Bei Tim Weiner** könnte Müller auf Seite 400 lesen: »Den ganzen Kalten Krieg über hatte die Agency heimlich Politiker in Westeuropa mit finanziellen Zuwendungen unterstützt. Auf der Liste fanden sich der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt, der französische Premierminister Guy Mollet und jeder italienische Christdemokrat, der aus einer Landeswahl siegreich hervorgegangen war.« Hätte sich Kenner Weiner diese Vorwürfe aus den Fingern gesogen, hätte der SPD-Parteivorstand den S.-Fischer-Verlag schon längst auf Richtigstellung und Entschädigung verklagt. Geld können diese feinen Genossen immer gut gebrauchen.
* Heinrich Hannover, Die Republik vor Gericht, 1998/99, einbändige TB-Ausgabe Berlin 2005, S. 188–213
** Tim Weiner, CIA, New York 2007, deutsche Ausgabe bei S. Fischer Ffm 2008, S. 400 + 779/80 (Anmerkungen). Hier noch ein jüngerer Kandidat zum Verklagen: Sebastian Sigler, https://www.theeuropean.de/gesellschaft-kultur/so-wurde-willy-brandt-von-us-diensten-bezahlt, 23. September 2016
Der polnische Augenarzt Ludwig Zamenhof (1859–1917) ist vor allem als Erfinder und Entwickler der Plansprache Esperanto berühmt. Selbst Bob Dylan kennt ihn, wie man auf den Seiten 308–11 seines schon früher herangezogenen jüngsten Prosawerkes sieht.* Dylan hält die Plansprachen-Bemühungen zurecht für gescheitert. Bekanntlich fochten sie gegen den »Sumpf der Mehrdeutigkeiten«, so Dylans Bild für die Vielfalt im Reich der natürlichen Sprachen. Sie setzten auf eine schlicht gezimmerte globale Zweitsprache, die ausschließlich jener Information und angeblichen Verständigung dient, die wir inzwischen schon weitgehend den IT-Übersetzungs-Robotern überlassen. Auch das war selbstverständlich ein schwerer Mißgriff. Vielleicht sollte ich ein wenig ausholen.
Zu den klugen Köpfen, die jene Bemühungen einst begrüßten, zählte Arthur Koestler, Essayist und Erzähler zugleich. Er betont**, Kriege würden um Worte geführt. Als köstliches Beispiel bringt er die unterschiedliche Bananen-Behandlung bei japanischen Affen derselben Art. Zwar brächten diese Unterschiede Unverständnis, zuweilen sogar Mißbilligung – nicht aber Krieg hervor. Denn was dazu fehlt, ist die Sprache, die das jeweilige Brauchtum ideologisieren würde. Unter uns Menschen dagegen verhält es sich gerade so. »Jede Sprache wirkt als starke bindende Kraft innerhalb der Gruppe und als ebenso starke trennende Kraft zwischen Gruppen.« Daher wäre eine »globale Sprache« durchaus zu begrüßen, glaubt Koestler allem Anschein nach. Es gebe freilich nur eine Handvoll »unerschütterlicher Esperanto-Anhänger«, die nicht ins Gewicht fielen. So vor 45 Jahren. Meine spätere Anmerkung dazu: Jetzt spricht alle Welt Englisch. Ist aber damit das Problem der Lüge, Auslegung, Fälschung entfallen? Wankt deshalb die Macht der großen PR-Einflüsterer? Nicht die Bohne wankt sie.
Der bekannte Journalisten-Ausbilder und Buchautor Wolf Schneider hebt zunächst das Erfreuliche hervor.*** Esperanto habe lediglich einen Artikel (la) und 16 gram-matische Regeln, die keine Ausnahmen kennen. Somit dürfte es uns eigentlich viel Beugungsärger und das leidige Geschlechterproblem, außerdem die Rechtschreibfolter weitgehend ersparen. Es ist überhaupt vergleichsweise kinderleicht zu erlernen, schließe ich aus verschiedenen Internetquellen. Schneider beklagt jedoch »die zwei meistkritisierten Beschwerlichkeiten des Esperanto«, nämlich (slawische) Akzente und umständliche Deklination des Eigenschaftswortes. Somit mildert Esperanto die wesentlichen Nachteile natürlicher Sprachen, nämlich Undefinierbarkeit, Manipulierbarkeit, unklarer Bezug zur Realität, höchstens ab. Gelänge es ihm aber sogar, »unwandelbare Eindeutigkeit« herzustellen, wäre es eine tote Sprache, wie das Latein. Die vorhandenen Welthilfssprachen seien nicht deshalb wenig erfolgreich, weil sie schlecht konstruiert sind, sagt Schneider, sondern weil sie konstruiert sind. Damit fehlt ihnen Geschichte, kultureller Hintergrund, Volksgut. Ein Musiker würde vielleicht sagen, es fehlten ihnen soundsoviele wichtige Schwingungen, und so ähnlich äußert sich Dylan dann auch.
Hätten wir jene von Koestler vermißte »globale Sprache«, hätten wir immer auch Herrschaft, stellt Schneider sinngemäß fest. Weltsprachen wie Latein und Englisch verdankten ihre Ausbreitung dem Kolonialismus; sie siegen nur durch »Übermacht«. Hitler und Stalin verfolgten Esperanto-AnhängerInnen. Sie fürchteten ungehemmten Gedankenaustausch, jüdische Einsickerung, »Spionage«, nehme ich an; sie wollten, daß die Welt deutsch oder russisch spricht, denkt, gehorcht. Sollte eine Universalsprache die natürlichen Sprachen verdrängen können, wäre es mit einer »gewaltigen Verarmung« verbunden, glaubt Schneider. Schließlich sei eine Brechung der Deutungsmacht der Universalsprache nur von alternativen, unabhängigen Sprachen zu erwarten. Die Universalsprache würde sich hüten, sich selbst in Frage zu stellen.
Damit liegt er nicht so schief. Überlegen Sie einmal, welche Verarmung uns mit der heutigen Universalsprache Englisch aufgebürdet worden ist. Erwin Chargaff beklagte die Dürftigkeit des Nordamerikanischen wiederholt.**** Er mußte es wissen, denn er war ein scharfzüngiger Essayist, der etliche Jahrzehnte in New York City lebte, weil er an der Columbia-Universität Biochemie lehrte.
Ich beschließe den Ausflug, indem ich mir, an Schneider gelehnt, den folgenden Hinweis erlaube. Gemeinsamer Sprachbesitz verbürgt weder Einmütigkeit noch Gleichberechtigung. Das wird von Ost-/Westberlin und zahlreichen Bürgerkriegen bewiesen. Hier kommen der Einheitssprache Interessenkonflikte in die Quere. Von den Hitlers, Parks und Willy Brandts werden diese Konflikte selbstverständlich nach Kräften geleugnet oder vertuscht. Diese Leute wünschen Einheit der lieben großen Sprachfamilie – unter ihrer Führung.
Damit noch einmal zurück zu Bob Dylan. Der Star ist sich über diverse »Verständnisbarrieren«, so die Übersetzerin, durchaus im Klaren. Überraschenderweise stellt sich jedoch im Lauf seines hochtrabend so genannten Philosophiebuches heraus: Verständnis ist ohnehin keineswegs das, was ihm vor allem am Herzen liegt. Wahrscheinlich gilt das in seinem Fall für jede Textgattung. Bei Zamenhof stellt er (S. 310) zu den Songs ausdrücklich fest, wie alle anderen Kunstwerke auch, strebten sie gar nicht danach, verstanden zu werden. Für sein Philosophiebuch dürfte das Gleiche gelten, unternimmt Dylan doch alles, um uns das Verständnis zu erschweren. Er liebt das Überladene, er steht auf Wiederholungen. Striche man allein seine überflüssigen Wiederholungen oder Tautologien, hätte das Buch bereits 100 Seiten weniger. Dylan muß alles mindestes doppelt, besser dreifach sagen. Im Kapitel über den Song The Pretender bescheinigt er dem Titelhelden zum Beispiel: »… inzwischen hat er kapituliert, die weiße Fahne geschwenkt.« Nur eins von beiden wäre ihm zu billig gewesen.
Mit Dylans Meditation über den Pretender – ein Blender vielleicht – hätten wir überhaupt ein Musterbeispiel für seine Art zu schreiben. Hier wie anderswo wird bald deutlich, Dylan möchte vor allem möglichst viele hübsche Worte unterbringen. Denn so arm ist das Nordamerikanische ja nun auch wieder nicht. Er ist also gleichfalls ein Prahlhans; er gibt mit seinem reichen Wortschatz an. Nur trägt diese Anhäufung nicht im Geringsten zum Verständnis des behandelten Songs bei. Sie sorgt im Gegenteil für Vernebelung. Dylan klingelt unglaublich gern mit Worten – nun ja, schließlich ist er selber Musiker. Fragt man sich freilich nach zwei Seiten Klingeln, was dieser Pretender eigentlich für ein Kerl gewesen sei, macht man ein langes Gesicht. Jedem zweiten Psychogramm von Dylan fehlt die Kontur. Das sind wirre, häufig unbrauchbare Analysen. Oft sind die Texte oder zumindest Absätze sowieso austauschbar. Dylans Schilderung paßt auf so gut wie alles. Einen Charakter vor unsere Augen stellen, ist nicht seine Sache. Dafür hätte er Tschechow statt Zimmermann heißen müssen.
Dylan möchte uns vor allem verblüffen. Aufklärung, Erkenntnisgewinn, Bildung darf man nicht von ihm verlangen. Dazu ist er auch viel zu unkritisch. Zum Medium Film zum Beispiel, das er öfter anführt, weiß er nicht eine Bemerkung, die einen gewissen fragwürdigen Zug an diesem imperialen Medium andeuten könnte. Er schätzt das Kino eben. Darin ist er aufgewachsen. Prompt pflastert er die Hälfte seines Philosophiebuches mit hübschen, meist farbigen Fotos aus der Glitzerwelt, die er ja auch selber vertritt. Entsprechend stellt er uns vorwiegend mehr oder weniger große Stars vor. Das sind die Leute, deren überragende Bedeutung zuerst Filmmagnat Adolph → Zukor erkannt haben soll. Das sind die Helden, die Verwegenen, die Rätselhaften. An denen gibt es nichts zu erkennen. Entweder man verehrt sie oder man ist verloren für sie.
Jemand hätte Dylan einmal erzählen müssen, gute ProsaschreiberInnen wie Thoreau, Orwell, Chargaff, FG Jünger, Marlen Haushofer hätten sich stets vorrangig um Klarheit bemüht. Ihr hatte der treffende, anschauliche, persönlich gefärbte Ausdruck zu dienen. Es hätte nichts genützt. Jemand hätte ihm von der »Maurerregel« des französischen Philosophen Alain erzählen müssen. Darüber hat der Franzose am 19. November 1923 einen Propos von zweieinhalb Druckseiten verfaßt, für die Zeitung, die ihn als Kolumnist angeheuert hatte. Das Handwerk wende nie einen Stein zuviel auf, heißt es darin etwa. Diesen handwerklichen Geiz benötige auch der Schriftsteller. Das Schmückende suche er nicht; es werde bestenfalls zufällig gefunden. Sie finden die Betrachtung in dem Sammelband Spielregeln der Kunst, Fischer-TB Ffm Mai 1985.
* Bob Dylan, Die Philosophie des modernen Songs, deutsche Ausgabe München 2022
** Arthur Koestler, Die Armut der Psychologie, Bern 1980, S. 324/25
*** Wolf Schneider, Wörter machen Leute, Neuausgabe München 1986, bes. S. 320–23
**** Erwin Chargaff, Alphabetische Anschläge, Stuttgart 1989, bes. S. 60–65
Die kroatische Küstenstadt Zamir kann Brockhaus schlecht kennen, da sie vor rund 10 Jahren von mir erfunden wurde. Sie diente mir damals als Hauptschauplatz einiger Erzählungen um den jungen Kriminalkommissar Danilo Matavulj. Ein guter Freund von ihm war der deutschstämmige Akrobat und Snookerspieler Fritz. Dieser baumlange blonde Mann nistete sich nach dem Unfalltod seiner Gefährtin am Hang oberhalb der Stadt in einem ehemaligen Tagelöhnerhäuschen vom benachbarten Weingut ein. Dieses Häuschen war jetzt seine Einsiedlerklause. Bei Danilos Antrittsbesuch (es gibt gebackene Forelle unter Olivenbäumen) erzählt Fritz dem Freund die Geschichte mit dem Laufbrunnen am Waisenhausplatz.
Fritz hatte auf seinem Grundstück anfangs noch nicht einmal Wasseranschluß. Deshalb bezog er sein Trinkwasser eine Zeitlang von jenem Brunnen. Und da er ja sowieso täglich zum Brunnen mußte, um seinen Kanister zu füllen, schlug er meistens zwei Fliegen mit einer Klappe. Er stieg in seinen kurzen Hosen ins Brunnenbecken, um sich zu erfrischen, zu säubern und auch gleich noch sein Hemd und seine Socken durchzuspülen. Er sagte sich, das Wasser flösse ja ab. Doch etliche Blicke von Passanten oder Anwohnern waren weniger erquickend als das Brunnenwasser. Sie verachteten sowohl die offensichtliche Armut des langen Blonden wie dessen unnormales Treiben. Den Vogel schoß dabei ein Junge um 13 ab, der exakt dem zeitgenössischen Typ entsprach: dicklich, pomadig, Hosenbeine drei Meter lang. Da er gerade Herbstferien hatte und am Waisenhausplatz wohnte, ertappte er Fritz oft. Um den Ertappten zu zitieren:
»Als diese Tröte zum dritten Male stehen blieb und mich haßerfüllt fragte, ob ich mir meine Füße nicht zu Hause waschen könne, konnte ich mein mir verordnetes Schweigegebot nicht mehr einhalten. Ich habe kein Zuhause, entgegnete ich mit erzwungenem Gleichmut. Ich schlafe unter den Dubrina-Brücken. Diese Eröffnung konnte den Bengel allerdings nur im Augenblick verunsichern. Sein Haß verfolgte mich über Wochen – auch dort drinnen [in seinem Häuschen] beim Dielenverlegen, sogar spätabends vorm Einschlafen. Ich hätte ihm die Zähne ausschlagen können. Stattdessen fragte ich mich wie ein Sozialfürsorger, warum der Bengel das mache.«
Fritz schwieg und blinzelte zu seinen Olivenbäumen, die darauf warteten, die Abendsonne aufzuspießen. Der Hang ging gen Westen, auf die Adria. Danilo zuckte die Achseln: »Er hatte Lust, dich zu terrorisieren, mein Lieber. Du warst ihm ja ausgeliefert, weil du auf den Brunnen angewiesen warst. Und den lieben langen Tag vorm Computer zu sitzen, um Moorhühnchen abzuballern, war ihm doch zu langweilig geworden. In dir hatte er ein leibhaftiges Freiwild vor der Nase.«
Fritz nickte, sagte jedoch: »Das genügte mir nicht als Erklärung. Ich kam zu der Einschätzung, er fühle sich angegriffen. Mein Außenseitertum stellte des Bengels Innenseitertum in Frage. Körperpflege hat in häuslichen Badezimmern stattzufinden; Papa bezahlt mir‘s. Jetzt wird diese Linie bezweifelt. Es droht ihm, nicht mehr richtig zu liegen – nicht mehr recht zu haben. Alles Ressentiment gedeiht im Rechthabertum. Das trifft selbstverständlich auch ZigeunerInnen, IndianerInnen oder auch die Schwulen, wenn du nur an Dejicas Mitstreiter Grübchen denkst. In der Stadt Rosarno da drüben« – er nickte zum Meer, weil Rosarno in Italien lag – »jagen sie gerade afrikanische SaisonarbeiterInnen mit Eisenstangen, Schrotflinten oder Autos durch die Straßen, wie ich gestern im Internet gelesen habe. Da mischen solche 13jährigen sicherlich ebenfalls mit.«
Für Brockhaus war Emiliano Zapata (1879–1919) ein bedeutender Bauernführer in der mexikanischen Revolution. Er sei »ermordet« worden. Hier könnte sich der Einfaltspinsel allerdings fragen: wenn er Umstürzler und Partisanenchef war, ist er ja wohl kaum mit Samthandschuhen vorgegangen. Wie kann man sich da wundern, wenn er seinerseits gewaltsam aus dem Verkehr gezogen worden ist?
Ich hoffe, es läßt sich ohne Blauäugigkeit feststellen, ein guter Partisan sei gewiß ein ausgefuchster Fallensteller, aber selten heimtückisch. Deshalb, so nehme ich an, fehlte Zapata die Nase für die Falle, die man ihm selber stellte. Seine Truppen, die vornehmlich aus besitzlosen Landarbeitern bestanden, operierten im Süden Mexikos, während Pancho Villa die Aufständischen im Norden führte. Durch ein Bündnis zwischen Villa und Zapata gelang es 1914, den neuen »Präsidenten« Oberst Victoriano Huerta zu stürzen. Die üblichen Streitigkeiten unter den revolutionären Truppen, die unter dem Oberbefehl Venustiano Carranzas standen, blieben freilich nicht aus. Was Carranza persönlich angeht, verlangte es ihn seinerseits nach dem Sessel des Präsidenten. Gegen Villa konnten sich seine Truppen dank des strategischen Geschicks des Ranchers Alvaro Obregóns auch durchsetzen; Zapata dagegen sperrte sich und kämpfte mit seinen Leuten im Süden weiter. So griff Carranza zur erwähnten Heimtücke. Sein Oberst Jesús Guajardo gab vor, er wünsche zu den Zapatisten überzulaufen, weshalb er ihren Chef bitte, ihn am 10. April 1919 auf seiner Hacienda San Juan aufzusuchen. Die lag bei Chinameca, Morelos. Als der 39jährige Zapata erschien, wurde er von Guajardos Leuten mit einem Kugelhagel empfangen und regelrecht durchsiebt. Man schaffte die Leiche nach Cuautla und stellte sie dort öffentlich aus. Zapatas AnhängerInnen konnten sich ein Jahr darauf trösten, als Carranza im Machtkampf gegen Alvaro Obregón den Kürzeren zog und seinerseits ermordet wurde. Nun ging der Präsidentensessel an Obregón. Im ganzen forderte die mexikanische »Revolution« mindestens 350.000 Tote, von den Verletzten und Geflüchteten zu schweigen. Man sehe sich nun das heutige Mexiko an, dann weiß man, wofür die 350.000 gestorben sind.
Einige Internetquellen betonen Zapatas tiefes Mißtrauen gegen PolitikerInnen aller Art. Der Spiegel behauptet gar, für den Bauernführer seien PolitikerInnen »ein Haufen Bastarde« gewesen. Die Berechtigung dieser Abneigung hat sich, von jenem Hinterhalt gegen Zapata selber einmal ganz abgesehen, in den vergangenen 100 Jahren jede Wette zehntausendfach, ja millionenfach erwiesen. Nur bis zum DDR-Schriftsteller Armin Müller, eigentlich kein Betonkopf, war die Kunde 1987 immer noch nicht durchgedrungen. Für ihn ist das anscheinend neu, wie sein Tagebuch nahelegt.* Seit der Affäre um Uwe Barschel und verschiedenen verlogenen »Ehrenwort«-Auftritten glaube den Politikern so gut wie kein Mensch mehr. »Politiker, das droht ein Schimpfwort zu werden.« Eine Anspielung auf seine eigenen PolitikerInnen aus dem Stall SED verkniff er sich an dieser Stelle. Und er behielt leider auch Unrecht. 2024 mögen ein paar tausend mehr Leute auf PolitikerInnen schimpfen – aber sie wählen sie trotzdem, sie lassen sie schön gewähren. Es ist bequemer so.
* Armin Müller, Ich sag dir den Sommer ins Ohr, Rudolstadt 1989, S. 338
Verbiete ich mir, die thüringische Lyrikerin Sidonia Hedwig Zäunemann (1711–40), im Gegensatz zu Brockhaus, zu übergehen, habe ich sicherlich schon wieder ein paar Pluspunkte aus dem feministischen und dem landsmännischen Lager eingefahren. Die Tochter eines Erfurter Juristen lebte bis zuletzt in ihrem Elternhaus. Sie blieb unverheiratet. Sie las viel, lernte Fremdsprachen und schmiedete deutsche Verse, angeblich auch gegen den Kerker der Ehe. Ob sie sich überhaupt etwas aus Männern machte, verrät keiner. Die Unterstellung einer erstaunlich frühen »feministischen« Haltung scheint aber nicht ganz aus der Luft gegriffen zu sein. Obwohl sich Zäunemann in ihren Dichtungen manchen zeitüblichen »Schwulst«, viel Moralisieren und einige Weitschweifigkeit geleistet habe, kam sie bereits dem Historiker Woldemar Lippert (ADB 44 von 1898) »fast als Vorläuferin der modernen Frauenbewegung« vor. Andererseits war sie unverhohlen fromm und zollte sowohl Gott wie dem Adel Respekt. Für viele jüngere Quellen leuchtet Zäunemanns Frühfeminismus hauptsächlich daraus hervor, daß sie ein Ilmenauer Silber-Bergwerk besichtigte (und prompt bedichtete) und daß sie öfter ritt – dies »natürlich« in Männerkleidung. Beides war ja damals für Frauen in der Tat unüblich. Ich nehme an, Zäunemanns Pferden blieb die bittere Last eines gar zu wogenden Busens erspart, was der Tarnung nur entgegenkam. Den Besuch untertage hatte ihr Schwager Gottfried Polycarp Kunad ermöglicht, »Bergamtsphysikus« in Ilmenau, einer Stadt am Nordfuß des Thüringer Waldes. Vielleicht war auch schon ein gewisser Herr Goethe aus Weimar im Spiel, der damals die Bergbau-Kommission des Herzogtums leitete. Ohne dessen Wohlwollen hätte die »Zäunemännin«, so der zeitgenössische Spottname für sie, jedenfalls als Lyrikerin nicht so bald Anerkennung gefunden – oder nie, bedenkt man den frühen Tod der 29jährigen.
Sie wurde von den Wogen der Zahmen Gera verschlungen. So heißt der Erfurter Hausfluß in der Gegend bei Angelroda. Die Zäunemännin war am betreffenden Wintertag zu ihrer verheirateten Schwester in Ilmenau unterwegs. Das waren immerhin rund 30 Kilometer gen Süden. Nun schritt sie bei Angelroda daran, eine vom Hochwasser beschädigte Brücke zu nehmen, was sie wahrscheinlich übersah. Dabei stürzte sie in die kalten Fluten. FemBio meint zu wissen, auch das Pferd sei durch diesen Absturz ertrunken. Zäunemann hatte es ja gesagt: »Der Ehstand ist ein schwarzes Meer, worein viel trübe Wasser fließen; / Er ist ein herb- und bittrer Kohl. Kan ihn ein beißend Salz versüßen?«
Christoph Schmitz-Scholemann behauptet allerdings, sowohl die genauen Unfallumstände wie der Zustand der betreffenden Brücke seien gar nicht überliefert.* Man habe die Leiche erst am Abend gefunden – wo genau, verrät aber auch er nicht. Und das Pferd übergeht er sowieso. Dafür taucht es bei Jürgen M. Paasch auf. Für den war die Brücke ein »Holzsteg«, der unter dem Paar aus Erfurt nachgegeben habe. »Ross und Reiterin werden vom Fluss weggerissen …« Zäunemanns Leichnam sei erst anderntags, am 12. Dezember, entdeckt worden, und zwar »an den Ufern der Zahmen Gera am Fuß des Neusisser Berges«. Genauer gehts vielleicht gar nicht. Dafür hielt es Paasch für überflüssig, den Verbleib de Pferdeleiche mitzuteilen und seinen Artikel mit einem Datum versehen zu lassen.** Vermutlich entstand er nach 2000.
* Christoph Schmitz-Scholemann, https://www.deutschlandfunkkultur.de/dichterin-sidonia-hedwig-zaeunemann-eine-der-mutigsten.932.de.html?dram%3Aarticle_id=339460, 11. Dezember 2015
** Jürgen M. Paasch, http://www.literaturland-thueringen.de/artikel/sidonia-hedwig-zaeunemann-in-thueringen/, o.J.
Unser Zaunkönig ist ein Zwerg. Laut Brockhaus bildet er die kleinste Art der weltweit verbreiteten rund 60 Arten dieser Singvogelsorte. Er mißt höchstens 10 Zentimeter, wirkt dabei gedrungen und wie zu kurz geraten. Zu allem Unglück stelzt er auch noch seinen Stummelschwanz in die Höhe, knickst erbost in den Knien und schnurrt bedrohlich, als habe man es mit einem Königstiger zu tun. Kurz, der Winzling spielt sich gern auf. Das läßt sich unschwer auch seinem Lied entnehmen, das Brockhaus unzulässigerweise völlig ausspart. Dem Lied nach müßte der Zaunkönig eine Tuba, ja sogar ein ganzer Spielmannszug sein. Bezzel und andere KennerInnen weisen zurecht auf die erstaunliche Lautstärke und den schmetternden und rollenden Zug dieses Liedes hin. Ich selber pflege seit vielen Jahren vom Schellentusch des Zaunkönigs zu sprechen. Ohnehin gern in Wassernähe postiert, hallt das halbe Tal der Unstrut, wenn er seinen bewegten Tusch ansetzt. Der nächste Gutshof bangt um seine Mauern, die Insassen der nahen Strafanstalt (Gräfentonna, erbaut 2002) reiben sich die Hände. Im Kasseler Kino Kaskade meiner Knabenzeit bekam man vor der eigentlichen Darbietung auf der Leinwand (rauchende Colts, schmachtende Weiber) stets ein farbiges »Wasserspiel« zu sehen, das die PächterInnen im Podest eingebaut hatten. Die angeleuchteten Fontänen gingen auf und nieder, bevor sie nach drei Minuten oder so in sich selber zusammensanken. Genau so trägt der Zaunkönig seinen Schellentusch vor – nur bricht der Sänger nicht ein, macht sich vielmehr hurtig aus dem Staub, weil wir ihm, bei unserer Körpergröße und unserem professionellen Fernrohr, doch eher wie ein Riese vorkommen, den man lieber nicht bis aufs Blut reizen sollte.
Irgendwo hat Brockhaus den Ortsnamen Zibelle versteckt, inzwischen polnisch Niwica. Durch diesen verheißungsvoll klingenden Ortsnamen, auf den ich noch zurückkommen werde, stößt man wiederum auf den hochgeehrten Physiker und Chemiker Walther Nernst (1864–1941). Er hatte seinen Eintrag bereits in Band 15 des Lexikons. Danach war Nernst in Göttingen und Berlin Professor, entwickelte unter anderem eine »Theorie der elektrischen Nervenreizung«, was aber anscheinend mit gewissen Gasangriffen im Ersten Weltkrieg nichts zu tun hat, und gab sich nebenbei sogar »kosmologischen Überlegungen« hin. 1920 habe er den Nobelpreis für Chemie bekommen.
Brockhaus gönnt dem Ruhmvollen sogar ein Paßfoto. Der Zaunkönig hätte sich allerdings etwas weniger Unvorteilhaftes auserbeten. Wir sehen Nernst mit Wangen wie aufgepumpte Ravioli, einem Walroßbart und üppig ausgedehnter Stirnglatze. Aber dafür konnte er ja womöglich nichts. Eine andere Sache sind die Taten. Während sich Hans-Georg Bartel in NDB 19 (1999) lediglich einen Satz zur militaristischen Neigung des Geheimen Regierungsrates abringen kann: er habe sich im Lauf des Ersten Weltkrieges »der Ballistik und Sprengstoffchemie« zugewandt, äußert sich Wikipedia unmißverständlich wie folgt: >Während des Ersten Weltkriegs arbeitete Nernst mit großem persönlichen Engagement für das Militär und hatte Zugang zu Kaiser Wilhelm II. Er war maßgeblich am Gaskrieg beteiligt, vor allem als Entwickler von Geschossen und Geschützen. Dabei arbeitete er eng mit den Chemikern Carl Duisberg und Fritz Haber zusammen. Nach dem Krieg tauchte sein Name auf diversen Kriegsverbrecher-Listen auf, er wurde aber letztlich nicht angeklagt.<
Nernst war Demokrat. Deshalb soll er sich den Nazis kurzerhand entzogen haben, war er doch sowieso schon pensionsreif und überdies schwerreich. Der 69jährige habe sich im Oktober 1933 emeritieren lassen. Hier kommt nun das Rittergut in der Lausitz ins Spiel, das der Nobelpreisträger bereits 1921 erworben hatte. Nun habe er sich um die Landwirtschaft und mit Vorliebe um seine Karpfenzucht mit zahlreichen Teichen gekümmert. Auch sei er gern auf die Jagd gegangen.
Niwica liegt östlich von Bad Muskau jenseits der Neiße im polnischen Randgebiet. Nernsts Anwesen war das ehemalige Rittergut in Oberzibelle. Der deutsche Ortsname wird gewöhnlich auf altslawisch cebulja = Zwiebel zurückgeführt. Vielleicht hatte Nernst in seinen Backentaschen also Zwiebeln versteckt, weil er sie sowieso selber anbaute. Das wäre kein Diebstahl gewesen. Eine andere Frage ist, ob man seinen Wohlstand und dessen zielstrebige Zusammenraffung als »demokratisch« auffassen sollte. Immerhin waren ja auch die slawischen, sorbischen oder polnischen Äcker und Herrenhäuser einst mit Absicht tüchtig »germanisiert« worden. Leider treibe ich im Internet keine Abbildungen des Nernstschen Alterssitzes auf. Möglicherweise ist er in bolschewistischen Nachkriegszeiten geschliffen worden. Vermutlich durfte Witwe Emma vorher das Tafelsilber einpacken und verschwinden.
Laut den Vertriebenen* hatte Nernst Emma Lohmeyer, Tochter eines Medizinprofessors, 1892 geheiratet. Es folgten drei Töchter und zwei Söhne. Diese kamen beide im Ersten Weltkrieg um, hoffentlich nicht durch vom Vater miterzeugte Waffen. Die Vertriebenen leugnen diesen Zusammenhang erstaunlicherweise keineswegs. Mit dem Nobelpreis seien jedoch die heftigsten Vorwürfe gegen den Militaristen Nernst verstummt. Nernst litt zunehmend am Entzug zweier Töchter, die wegen jüdischer Ehemänner wohlweislich im Ausland lebten. 1939 erlitt er einen Herzanfall – das wird aber nicht dem Überfall Polens angelastet. Zwei Jahre darauf sei der 77jährige gestorben. Die Witwe folgte ihm erst 1949 ins Grab.
* Hans-Jürgen Kämpfert, https://kulturstiftung.org/biographien/nernst-walther-herrmann, Stand 2024
Die nordhessische Kleinstadt Zierenberg liegt westlich von Kassel unmittelbar an der Warme. Ich habe erst kürzlich vom Warmetal geschwärmt: unter → Starck in Folge 35. Zierenberg war immer die größte Siedlung dort, konnte sich aber noch bis um 1965 stets unter 3.000 EinwohnerInnen halten. Derzeit sind es knapp 7.000. Man hat sogar ein Stadtarchiv. Vor inzwischen rund fünf Wochen erkundigte ich mich bei diesem nach einem tödlichen Unfall beim Bau eines Wasserhochbehälters um 1955. Stadtkirchenpfarrer Michael Hederich (1920–2018) half den »Familienvater« vermutlich bestatten, bringt es gleichwohl fertig, ihn ohne Namensangabe zu streifen. Hederich ist der Herausgeber und Hauptautor des Werkes Zierenberg / in Geschichte und Gegenwart von 1962. Das Stadtarchiv schickte mir sogar postwendend eine automatische Eingangsbestätigung. Man werde die Anfrage »schnellstmöglich« bearbeiten. So sieht das heutzutage aus: Der Roboter reagiert in Sekundenschnelle – und damit hat die Behörde vermutlich ihre Schuldigkeit getan. Mir ist bislang keine Antwort zu Gesicht gekommen.
Das kann meine herzlichen Gefühle für das Städtchen nicht erschüttern. Ich bin auch früher schon wiederholt auf Zierenberg eingegangen, vor allem in mehreren Fallge-schichten um den Karlskirchener Kriminalkommissar Düster. Gleich in der ersten Geschichte (Kapitel 7) stellt sich die Lehrerin und Buchautorin Ilona Velberting aus Zierenberg in Stubenrauchs Antiquariat am Karlskirchener Amtsgericht ein. Sie wird Düsters Geliebte. In Kapitel 14 wandert er mit ihr zum Schloß Escheberg hinaus, das nicht weit von Zierenberg mitten im Wald liegt. Das Schloß kommt in Ilonas jüngstem Buch vor, das mit dem Satz beginnt: »Der Robin Hood des Warmetals war eine Frau.« In der zweiten Düster-Geschichte, Kapitel 3, wird einiges zum Zierenberger Ortsnamen gesagt. Und in der sechsten schließlich, Kapitel 2, findet sich sogar Hederichs Stadtgeschichte recht ausführlich vorgestellt, wenn auch nicht rundum in bestem Lichte. »Mückenschuster« Roth hat sie gerade bei Stubenrauch erworben – und Ilona kann sich vor allem zur Typografie und zum Stil des Werkes einige bissige Bemerkungen nicht verkneifen.
Das schließt sogar eine gewisse Beschränktheit des Stadtchronisten in politischer und philosophischer Hinsicht ein. Nun ja – was will man von »Laienhistorikern« (wie man mich einmal beschimpfte) schon Besseres erwarten ..? Was ich persönlich vor allem ärgerlich finde, daß Hederich nun dieses schön von Hügeln eingefriedete Städtchen von fast idealer Kleinheit vor der Nase hat, und zwar über viele Jahrhunderte hinweg, trotzdem aber nie mit nur einem Hauch andeutet, hier wäre es doch eigentlich naheliegend, sich von allen idiotischen Fürsten und Landräten zu lösen und mal ein eigenes, selbstverwaltetes, freiheitliches Ding aufzuziehen. Die frömmelnden, frühneuzeitlichen »Brüderschaften« innerhalb der Stadtmauern bieten in dieser Hinsicht wahrlich keinen trostreichen Ersatz.
Dennoch muß auch Brockhaus ein dickes Versäumnis angekreidet werden. Sein Eintrag umfaßt immerhin über 10 Zeilen – aber die einzige gedruckte Zierenberger Stadtgeschichte fehlt. Warum wird sie nicht angeführt? Das ist entweder ein schwaches Bild oder eine unverzeihliche Schlamperei. Schließlich verfügte die Brockhaus-Redaktion über einen riesigen Apparat, viele hundert MitarbeiterInnen eingeschlossen, dem Hederichs Arbeit unmöglich verborgen bleiben konnte.
Apropos. Im letzten Band (24) zählt Brockhaus zwar die ganzen wissenschaftlichen MitarbeiterInnen auf, doch keiner weiß, was diese Leute nun beigetragen haben und für was sie somit verantwortlich sind. Das bleibt Betriebsgeheimnis. Ergo sind diese Personenlisten nicht mehr wert, als die unzähligen Doktor- und Professorentitel, von denen sie wimmeln. Wahrscheinlich liegt darin ihr Hauptzweck: Mittel der Einschüchterung zu sein und so kritische Nachfragen von vornherein zu unterbinden. Gewiß wäre es auch denkbar, kurzerhand »die Redaktion« für die Verantwortliche zu halten. Wie jedoch sollte das bei einem solchen Mammutwerk fruchtbar zu machen sein? Die Redaktion umfaßt ungefähr 90 Personen. Aber bei denen hat man auch nur die Namen – und folglich kann sie sich immer darauf zurückziehen: den Mist Soundso hat Frau Dr. Prof. Ziege gemacht, die leider schon verstorben ist.
Sehen wir einmal von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit solcher riesigen Sammelarbeiten ab, wäre es immer noch das Mindeste, jeden Eintrag mit einem Kürzel zu versehen, das dann im letzten Band erläutert wird. Das hielt Brockhaus jedoch für überflüssig. Noch viel übler liegt die Angelegenheit natürlich bei der Mammut-Internet-Enzyklopädie Wikipedia, die nicht im Traum daran denkt, persönliche Verantwortlichkeit anzubieten. Das ginge schließlich gegen ihr haarsträubendes Konzept. »Hier kann jeder mitmachen, also ist keiner verantwortlich.« Die Krönung der postmodernen Unverbindlichkeit. Die ideale Tarnung für die alten Hasen, die in diesem Verein die Strippen ziehen. Heinrich Hannover würde vielleicht auf den demokratischen Rechtsstaat setzen – aber nach allem, was ich beobachte, scheißt unser Rechtsstaat den Leuten etwas, die sich inzwischen gegen Wikipedia-Verleum-dungen zur wehren versuchen. Übrigens hat der Verein auch enormes Geld, soweit ich weiß. »Spendengeld«. Mit soviel Geld unterm Arsch kann man gelegentlichen Anpinklern getrost ins Auge blicken. Das galt selbstverständlich auch schon für Brockhaus.
Täuschen mich mein Gedächtnis und mein Quellenstudium nicht, wohnte ich vor knapp 50 Jahren, im Sommer 1976, dem sogenannten »Durchbruch« der bald darauf weltberühmten Geschwister Pötterstein bei. Sie traten damals in einem Gastspiel des eher kleinen Zirkus Grübchen auf. Das Zelt stand auf dem damals noch ungepflegten Platz unweit des Anhalter Bahnhofs, auf dem inzwischen das Tempodrom ansässig ist. Die dreiköpfige Clown-Gruppe Geschwister Pötterstein war bis dahin noch wenig bekannt, wenn ihr auch KennerInnen eine große Zukunft vorhersagten. Die drei im einzelnen nannten sich Dag, Trick und Schlapp. Dag war sogar eine Frau, Ende 20, schon das war damals noch selten. Ferner wußte man auch im Straßentheater Kreuzberger Asphaltoper, dem ich gerade beigetreten war: diese Clowns treten stets unkostümiert und nur spärlich geschminkt auf, sprechen so gut wie nie und beherrschen von der Pantomime bis zum Flickfack so ungefähr alles, was den Zirkus anziehend macht. Also gingen wir geschlossen hin.
Wir hatten Glück. Die Geschwister Pötterstein hatten eine neue Nummer eingeübt, die mit dem Kinderwagen. Sie war damals noch kaum einem Zeitungsschreiber bekannt. Eben damit »brachen sie durch«. Dabei fing die Sache recht gemütlich an. Schlapp, eine Bohnenstange mit Hängeschnauzer um 30, trat an der Seite der deutlich kleineren und hübscheren Dag aus dem Vorhang. Sie freuten sich sichtlich über das gute Spazierwetter und das zahlreich erschienene Publikum. Den erstaunlich unförmigen Kinderwagen schob Schlapp, der stolze Vater. Er steckte in einem lose geschnittenen hellen Sommeranzug, der mit seinem Schnauzbart um die Wette wackelte. Schlapp versäumte es nicht, ab und zu gestische Albernheiten in das Ausguckmaul der hochgeklappten Kinderwagenhaube zu werfen, seine Gattin auf verschiedene Sehenswürdigkeiten aufmerksam zu machen, seine Lust auf einen Zigarillo anzudeuten und so weiter. Während sie so durch die mit einem Teppich belegte Manege zogen, fragte man sich allerdings bald, wo eigentlich der Dritte im Bunde bleibe, Trick. Man muß dazu wissen: Trick war nicht nur der jüngste, sondern auch der körperlich kleinste der drei Clowns. Er maß nur knapp 1,54, hatte ich gelesen. Die Unförmigkeit des Kinderwagens wurde auch am Fußende betont, wo eine Art Federbett herauszuhängen schien. Vielleicht sollte es dem Baby nicht zu heiße werden. Auch das vermeintliche blauweiß karierte Federbett, das fast auf dem Boden schleifte, schaukelte sanft. Da flüsterte mir Roswitha plötzlich zu: »Ick gloobe, der Dritte steckt in det Monstrum von Kinnerwagen. Un weeste, wo er sinne Beene hat? Na, unter det olle Federbett ..!«
Sie sollte recht behalten. Und schon ging es los. Schlapp ließ jäh die Lenkstange fahren, um sich verdutzt in sein zerknittertes Gesicht zu fassen und dieses nach dem Zeug abzutasten, das ihm vom Hängeschnauzer troff. Es waren die Überreste einer faulen Tomate. Das fand er natürlich unerfreulich. Er sah mit Leidensmiene an seinem eben noch makellosen hellen Sommeranzug herunter. Als sich dann auch noch Dag an den Mund faßte, weil sie wohl kichern mußte, verabreichte ihr Schlapp erbost eine deftige Ohrfeige. Das ließ sie sich selbstverständlich nicht gefallen. Sie trat ihn so mächtig in den Hintern, daß er vornüber auf das vermeintliche Federbett kippte. Darauf kippte auch der Wagen, doch Trick, der den Säugling gespielt und die Tomate abgefeuert hatte, sprang noch rechtzeitig heraus. Jetzt kam er sofort seiner Mutter zur Hilfe. Allerdings war Schlapp kein Glockenstrick, und so tobte die Schlacht über mehrere Minuten, wobei die drei Artisten mit Scherensprüngen, Überschlägen vor- und rückwärts, Stemmen des Kinderwagens und was sonst noch allem glänzten. Das Publikum jauchzte, die Kapelle schmetterte. Schließlich hatten Dag und Trick den empörten Vater überwältigt und mit dem Gürtel von Tricks geblümtem Bademantel gefesselt. Diesen ließ er nun fallen, sodaß er nur noch in einem flotten Trikot steckte. Er klaubte ein paar rote Dinger aus dem Kinderwagen und fing gemeinsam mit Dag zu jonglieren an. Es waren sieben feste Tomaten. Jeweils einen Fuß auf den besiegten Schlapp gesetzt, warfen sie sich diese »Bälle« von zwei Seiten aus tatsächlich in enormer Geschwindigkeit zu, ohne daß auch nur eine Tomate auf den Teppich beziehungsweise auf Schlapp gefallen wäre. Rauschender Beifall! Das bewog nun Schlapp dazu, sich aus dem Bademantelgürtel zu befreien und sich mit weiteren fünf Tomaten an diesem Akrobatenstückchen zu beteiligen. Man stelle sich vor: drei im Dreieck aufgepflanzte Leute jonglieren in beachtlichem Tempo gemeinsam mit 12 Tomaten!
In der Westberliner Presse hieß es anderntags, sowas hätte »die freie Welt« noch nie gesehen. Naja, wir befanden uns in der Frontstadt. Schließlich ließen die Geschwister Pötterstein am besagten Abend ihren Kinderwagen im Stich und schritten auch noch jonglierend in Dreiecksform auf den Vorhang zu. Den hielt ihnen der Direktor persönlich mit Verbeugung auf. Der Zirkus tobte.
Um denkbaren Mißverständnissen vorzubeugen: die Pöttersteins hat es nie gegeben. Dafür ist der im folgenden vorgestellte Circus Herkules nicht von mir erfunden. Im Jahr 2006 zählte er zu den »mittelgroßen« Zirkusunter-nehmen, und wie mir Direktor Klaus Bachmann (Mitte 50) damals verriet, gastiert er pro Saison (März bis November) in mindestens 70 zumeist mitteldeutschen Städten. Stammsitz ist Kassel. Rechte Hand des Chefs ist nicht Herkules mit der Keule, vielmehr der durchaus muskelbepackte, ungefähr 50 Jahre alte Rudolf Janäczek vom Prager Trio Venus. Stapft der blondmähnige Hüne über den versengten Rasenplatz, den Blick gedanken-verloren vor seine Glocks geheftet, ahnt man, auf welchem brüchigen Boden die Artisten wandeln. Jederzeit drohen Sturz, Streit, Pleite.
Bachmann reist in der Regel erst zur ersten Vorstellung am Gastspielort an. Mit Hilfe von sieben Zugmaschinen ist seine rund 20köpfige Truppe imstande, einen Platzwechsel bis zu 100 Kilometer ohne Ausfalltag vorzunehmen, doch wird sie zuweilen auch von einer Terminlücke zum Warten gezwungen. Die meisten Artisten leben in eigenen, modernen Campingwagen, die ihnen den üblichen Komfort, etwa Dusche und Klimaanlage, bieten. Für Wasser- und Stromanschluß sorgt der Chef. An jedem zweiten Wagen kläfft mich irgendein groteskes Hündchen an, das ich bequem in meine Umhängetasche stecken könnte.
Im Hauptzelt hat jemand Konservenmusik angeworfen. Wegen der drückenden Sommerhitze sind die Seitenwände hochgerollt. Deshalb sieht »Rudi Junior« seine weißen Keulen auch ohne Scheinwerferlicht gut genug. Der hochgewachsene 17jährige, der gern sein langes, braunes Haar wirft, jongliert mit bis zu sieben Stück, meistens im Affentempo. Verfehlt er eine Keule, bückt er sich nicht etwa; er schlenzt sie wie ein Fußballspieler mit Spann oder Ferse in seine Hand. Manchmal schleudert er zwei oder drei Keulen bis unter die Kuppel des 4-Mast-Zeltes, um während ihrer Rückkehr Saltos zu schlagen oder Pirouetten zu drehen. Dann fängt er sie wieder auf. Ist das Zelt ausverkauft, klatschen rund 800 Leute. Tatsächlich kann Rudi auch mit fünf schwarzweiß gefleckten Fußbällen in rasender Geschwindigkeit jonglieren. Er trainiert täglich drei oder vier Stunden, was »Rudi Senior« – sein Vater – nicht mehr nötig hat. Mit diesem und seiner Mutter Clara bildet er das Trio Venus, das mit sogenannten Stirn-Perchen arbeitet. Meistens ist es Rudi Senior, der die mit Trittstäben versehene drei oder vier Meter lange Stange vertikal auf seinem wuchtigen Schädel balanciert. Frau oder Junior klettern hinauf, um noch allerlei Kunststückchen zu vollführen.
Man könnte sich natürlich fragen, ob es die Menschheit erheblich beglückt, wenn einer ihrer Angehörigen im Affentempo Keulen kreisen läßt oder auf einer schwankenden Stirnperchenplattform von der Größe eines Frühstückstabletts in fünf Meter Höhe einen Salto schlägt. Lohnt es die Sturzbäche an Schweiß und den Abrieb der Bandscheiben, von Genickbrüchen einmal zu schweigen? Das Gleiche könnte man natürlich die Erfinder von Guillotinen, Limousinen, Schreibmaschinen fragen. Insofern spiegelt Zirkus lediglich die Ahnung, die Menschheit sei grundsätzlich verrückt.
Wer Klaus Bachmann sieht, will es kaum glauben. Der Herr Direktor wirkt unaufdringlich, ja fast bieder. Er war ursprünglich Bankkaufmann. Schon vor 30 Jahren (1976) begann er seinen Circus Herkules aufzubauen. Er organisiert, führt durchs Programm, zeigt Dressuren mit einigen Pferden und Exoten. Wohlweislich sitzt er auch selber im Kassenhäuschen. Seine Truppe scheint ihn zu schätzen. Er hält die vielen Gegensätze und Absonderlichkeiten unter einem Hut. Vielleicht schlichtet er auch gelegentlich, wenn Liebeshändel drohen oder Vater und Sohn aufeinander krachen. Rudi Junior hat bereits einen eigenen Campingwagen. Die Artistengruppen haushalten getrennt, laden sich aber öfter gegenseitig ein, zu gegrillten Thüringer Bratwürsten etwa nebst Budweiser Bier. Ist nichts los, hat jeder seine Satellitenschüssel.
Stallmeister Sascha Prehn aus Lübeck, der Bachmanns Tiere betreut, ist erst 25. Wie man Stallmeister werde? Da rutsche man so rein. Schon mit 16 entflammte ihn der Zirkus. Zwei Jahre lang sammelte er als Tierpfleger in einem Zoo Erfahrung. Auch Prehn preist das vergleichsweise ungebundene Zirkusleben, stets an der frischen Luft, Miete bleibt ihm und seiner Frau erspart. Für die Kätzchen seiner ebenfalls jungen Kollegin Carmen Zander ist er übrigens nicht verantwortlich. Die Berliner Tierlehrerin führt sie im eigenen Käfigwagen mit sich. Es handelt sich um fünf bengalische Tiger, die mit ihren sieben Monaten noch als Kinder gelten, obwohl sie schon länger sind als der gefällte Rudi Senior, falls er mal stolpern sollte. Um ihre Katzen zu nähren, muß Zander Tag für Tag 100 Kilogramm Fleisch bereit halten. Aus der Not eine Tugend machend, führt die Dompteuse mit Hilfe der Erläuterungen des Zirkusdirektors im Manegenkäfig vor, wie sich Raubkatzen geduldig erforschen und schließlich abrichten lassen. Dabei sei es unerläßlich, ihre jeweiligen Vorlieben, Begabungen, Charaktere zu berücksichtigen. Mit den Artisten scheint es sich ähnlich zu verhalten, wie Klaus Bachmann im Gespräch andeutet. Engagiere er, habe er mit viel Fingerspitzengefühl darauf zu achten, ob die Künstler(gruppen) auch zusammen-paßten. Ein Querulant könne das ganze Betriebsklima vergiften. Außerdem verlangt er selbstverständlich Professionalität. BewerberInnen legen ihm Videos vor. In jedem Frühjahr bleiben nur wenige Tage am Ort des ersten Gastspiels, um die verschiedenen Nummern aufeinander abzustimmen. Dann steht die Show.
Keinen geringen Anteil an dieser hat das Trio Breslau, was ihm außerhalb des Zeltes kaum anzusehen ist. Die drei polnischen Musiker, nicht mehr blutjung, wirken eher wie Pantoffelhelden. Thronen sie aber an Schlagzeug, Keyboard und Saxophon/Posaune einen knappen Meter über der Manege, beeindrucken sie mit ihrem perfekten Schmiß. Mit jeweils rund 800 Euro netto pro Monat fühlen sie sich offenbar auch gut bezahlt. Die Eintrittspreise liegen zwischen 7 und 14 Euro, also im Schnitt vielleicht bei 10. Bachmann sagt, um auf seine Kosten zu kommen, benötige er einen Zuschauerschnitt von 200, den er eigentlich immer überbiete. In der Saison 2005 zog Circus Herkules rund 40.000 Leute an. Bachmann betont, im Gegensatz zu Opernhäusern oder Theatertruppen bekämen deutsche Zirkusse keinerlei Subventionen.
Nach Schmalhans riecht auch die Pause. Ich wähne den beleibten Schnauzbart vom Schlagzeug zunächst bei illegalem Futterhandel zu ertappen, doch er verkauft die Tütchen für die Tierschau offiziell. Die zwei Euro Eintritt zu den Gehegen kassiert der Chef wieder eigenhändig. Am Vormittag brütet der Schlagzeuger mit entblößtem Oberkörper in seinem winzigen Campingwagen vorm Fernsehgerät neue Trommelwirbel oder alte Tanzpalastpläne aus, während Rudi Junior die Keulen fliegen läßt. Dessen Vater, der schon seit über 30 Jahren mit stets ähnlichen Kraftakten imponiert, behauptet, durch diese Berufswahl sei ihm die Fabrik erspart worden. Bei der rasanten Rationalisierung dürfte sich das Problem für seinen Sohn, den »Tempo-Jongleur«, erübrigt haben. So hält sich der Junior an seinen Keulen fest.
Dagegen tritt Clown Darek neuerdings mit einem tropfenden Köfferchen auf. Er kräht, er müsse verreisen. Der Zirkusdirektor staunt. Während er seinem Clown das Reiseziel zu entlocken sucht, schnüffelt er neugierig, hält ein Gläschen unter die Tropfen, nimmt den ersten Schluck und schwärmt, es sei prima Wodka. Der Clown beteuert allerdings, es handle sich um reinrassigen Whisky. Schließlich springt das Köfferchen auf – und heraus hüpft eines der erwähnten Hündchen.
Der aus Ungarn stammende Pionier des US-Filmgeschäfts Adolph Zukor (1873–1976) baute die Paramount in Hollywood auf. Bei seinem Tod war er noch immer der »Ehrenpräsident« dieses 1912 gegründeten Unternehmens. Der früh verwaiste Sohn armer Juden, mit 16 eingegewandert, war zunächst Putzmann, dann Zuschneider in einer New Yorker Firma für Häute, Felle und Pelze gewesen. Bald handelte er selber erfolgreich mit dieser Ware. Dann investierte er in der noch völlig unschuldigen Kinobranche. Das stellte sich als Volltreffer heraus. Vielleicht erklärte sich Zukors Vorliebe für den üppigen Ausstattungsfilm durch seinen Werdegang. Auch den »Starkult« – so Brockhaus – soll er erfunden haben, u.a. mit Hilfe von Clara Bow, Mary Pickford und Rudolph Valentino. Der Schönling aus Italien erreichte nicht einmal ein Drittel von Zukors Alter. Daß sich Stars verschleißen und Nicht-Stars aus Gram umbringen, dürfte dem alten Fuchs klar gewesen sein. Wer reich und mächtig werden will, muß Opfer auf der Gegenseite in Kauf nehmen. Allerdings wird überall betont, im Gegensatz zu den meisten anderen Film-Moguln habe sich der schmächtige Mann mit der Adlernase stets gehütet, den Lebemann oder auch nur den Boß hervorzukehren. Zu den zahlreichen Spitznamen, die man ihm verpaßte, zählte neben »Sugar« auch »Creepy«, weil er einen leichtfüßigen, kaum hörbaren Gang besaß, wodurch den Leuten oft der Schrecken in die Glieder fuhr, nachdem er unversehens aufgetaucht war. In die Herstellung seiner bald berühmten Streifen mischte sich Zukor nie ein. Mit seiner ersten und offenbar einzigen Ehefrau Lottie Kaufman (Heirat 1897), mit der er zwei Kinder hatte, lebte er vorwiegend auf einem ausgedehnten Landsitz in Clarkstown am Nordrand der Metropole NYC, auf dem ihm unter anderem ein eigener Golfplatz und ein eigenes Filmtheater zur Verfügung standen. Lottie starb 1956. Ansonsten sei Adolph leidenschaftlicher Kartenspieler gewesen, Binokel, Bridge, Poker und dergleichen, weiß Albin Krebs, Nachrufer der New York Times, 1976 zu berichten. Der Dahingeschiedene war 103 Jahre alt geworden.
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