Mittwoch, 2. Oktober 2024
Risse im Brockhaus 39

Brockhaus bescheinigt ihm Situationskomik und einen Bootsunfall. Sein erstes Buch hatte der sibirische Lehrersohn, Journalist und Dramatiker aus dem Dorf Kutulik Alexander Wampilow (1937–72) unter dem Pseudonym Sanin mit 24 Jahren rund 150 Kilometer weiter südlich in der Großstadt Irkutsk veröffentlicht, wo man ihm heutzutage, vermutlich in Bronze gegossen und ganz ungetarnt, vor einem Theater begegnen kann. Wampilow verfaßte in 10 Jahren fünf Stücke, die sowohl in der Sowjetunion wie in der DDR häufig aufgeführt wurden, darunter 20 Minuten mit einem Engel, Entenjagd, Letzter Sommer in Tschulimsk. Lola Debüser lobt sie (in einer Ostberliner Ausgabe von 1976) über den Klee, obwohl man sie auch sämtlich für einen Tschechow-Aufguß halten könnte, der an der inzwischen angeblich sozialistischen Wirklichkeit unkritisch vorbeigeht. Mit Blick auf das zuletzt genannte Stück (oder auf eine Fata Morgana) pflichtet ihr auch der österreichische »Literaturvermittler« György Sebestyén* bei: »Zaghafter Optimismus durchflutet eine schamvolle Tragödie – in der Scheu dieses genialen Sibiriaken steckt die unbändige Kraft von kühnen, ja verwegenen Grübeleien.« Nur das Langstreckenschwim-men beherrschte der geniale Sibiriake, in dessen wortreichen Stücken mehr Wodka als Regen rinnt, möglicherweise nicht vollkommen genug. Fast 35 Jahre alt, soll er im Sommer 1972 bei einer Bootsfahrt auf dem Baikalsee, über die Debüser nichts Näheres verlauten läßt, ertrunken sein. Wampilows Wirkungsort Irkutsk liegt unweit vom Südzipfel des riesigen langgestreckten Sees.

Erfreulicherweise findet sich das Nähere in einem augenscheinlich recht gut belegten Artikel der englischen Wikipedia. Danach hätte Wampilow, in zweiter Ehe mit Olga Mikhailovna Vampilova verheiratet und Vater eines Töchterchens namens Elena, am 19. August seinen 35. Geburtstag gefeiert, sofern er nicht am 17. angeln gegangen wäre. Im Verein mit seinem Irkutsker Kollegen Gleb Pakulov gedachte er just für die Geburtstagsfeier einen Haufen Fische aus dem Baikalsee zu ziehen. Auf dem See werden die beiden jedoch von einem Sturm überrascht, der ihr Boot zum Kentern bringt; wahrscheinlich war auch ein im Wasser treibender Baumstamm im Spiel. Während sich Pakulov an das umgekippte Boot klammerte, habe sich Wampilow, ein ausgezeichneter Schwimmer, zum fernen Ufer gewandt, um Hilfe zu holen. Doch er kam nie am Ufer an. Wahrscheinlich hätten ihn Wasserkälte und Herzschwäche übermannt. Man habe später nur noch seine Leiche aus dem See gefischt.

Der kraushaarige Dramatiker wird als eher schüchtern, jungenhaft, aber sehr gebildet beschrieben. Nur wenige Monate nach Wampilows Geburt hatte seinen Vater, der die Schule in Kutulik leitete, das typische stalinistische Geschick ereilt, verleumdet und erschossen zu werden. 1957 durfte sich der Sprößling dann anhören, jetzt sei sein Vater »rehabilitiert«. Neben dem eigenen Töchterchen hinterließ Wampilow seine geliebte Gitarre. Was aus Freund Pakulov beziehungsweise dessen Seelenfrieden wurde, läßt sich dem Internet nicht entnehmen. Jedenfalls kam er mit dem Leben davon. Begnügen wir uns mit ein paar Takten zum Baikalsee. Eine russische Quelle behauptet, Wampilow habe von einer »Datscha« am Ufer des vielbesungenen Binnengewässers geträumt. Dafür hat es nicht ganz gereicht. Jetzt steht dort ein häßlicher weißer Marmorklotz**, der an den ertrunkenen Wodka-Freund erinnert. Der Baikalsee ist sehr tief, im Schnitt 750 Meter, und erwärmt sich selbst im Hochsommer kaum über 10 Grad. Er ist der Eiskeller für zahlreiche sozialistische sibirische Träume, die sich einstweilen nicht verwirklichen ließen. Aber stellen Sie sich einmal vor, der »Klima-wandel« griffe und all diese Träume stünden unversehens an einem Tage gemeinsam auf!

* wahrscheinlich in: Studien zur Literatur, Eisenstadt 1980
** https://en.wikipedia.org/wiki/File:Monument-Vampilov.jpg




Der 36 Meter hohe Wasserturm im Baseler Bruderholz kann sich mit mindestens einem für Schlagzeilen sorgenden Selbstmord brüsten. Bis dahin war die Lehrerstochter Lore Berger (1921–43) eine unbekannte Schriftstellerin gewesen. Dann verfiel sie auf die Idee, sich im stadtnahen, auf einer Anhöhe gelegenen Bruderholz sozusagen drehbuchgemäß von dem eindrucksvollen Wasserturm zu stürzen. Prompt erbarmte sich daraufhin ein Züricher Verleger eines Romanmanuskriptes der 21jährigen Selbstmörderin und brachte es im folgenden Jahr unter dem Titel Der barmherzige Hügel als Buch heraus. Dessen weibliche Hauptfigur verzweifelt an einem treulosen jungen Rechtsanwalt, ihrem braven, biederen, von Flammen umloderten Vaterland, ihrem mit Todessehnsucht geschwängerten, maßlosen Glücksstreben und ihrer Magersucht, die sie schließlich auf den erwähnten Turm treibt, wenn ich verschiedene BerichterstatterInnen richtig verstanden habe. Somit hatte sich das Werk, wenige Monate nach seiner Vollendung, als Muster oder Generalprobe für den Aufsehen erregenden Abgang seiner Schöpferin erwiesen. Es wurde verschiedentlich gelobt*, 1981 auch verfilmt, wodurch es vermutlich nicht noch besser wurde. In den 1990er Jahren hatte es anscheinend das Glück, von Luise F. Pusch gepusht zu werden. Damit wurde Berger zur Wahnsinnsfrau.

Ob der Wasserturm des verwilderten Bahngeländes am Westberliner Gleisdreieck Tote und Verletzte auf dem Gewissen hatte, könnte ich nicht sagen. Er stand unweit der verfallenden Lokschuppen. Er war ohne Zweifel ein Original und nur wenigen Eingeweihten bekannt. Wie bei Neumann auf dem dritten Foto von oben angedeutet wird**, handelte es sich um eine mächtige aufgebockte, damals bereits angerostete Stahlkugel. Ich hatte das verwunschene ausgedehnte Gelände um 1978 entdeckt und durchstreifte es in wenigen Jahren unzählige Male. Passend stellte sich damals auch eine neue Geliebte für mich ein, die Bildhauerstudentin D., die günstigerweise eine Spiegelreflexkamera besaß. Foto 2 bei Neumann sicherte sie sich selbstverständlich auch: der abgeknickte Schornstein mußte für die »antiphallokratischen« Bestrebungen herhalten, die damals in Westberliner Spontikreisen Mode waren. Den Wasserturm erklommen wir wiederholt gemeinsam. Natürlich war das verboten. Durch eine klemmende Tür konnte man jedoch in die Wendeltreppenröhre des Gerüstes und dann auf die untere Plattform an der Kugel gelangen. Weiter ging es über eine Außenleiter, wenn ich mich recht erinnere, zum zweiten Umgang des Behälters. Von dort aus bot eine Luke die interessante Möglichkeit, in den Behälter zu klettern. Wie sich versteht, barg er inzwischen kein Wasser mehr. Er bescherte einem aber schauerliche Echos, wenn man beispielsweise wie ein Walroß grunzte oder brüllte. Als schlechter Querflötenspieler nahm ich häufig auch mein Instrument mit, um meine Geliebte mit Hilfe des Halls in der Kugel über die magere, völlig unzureichende Beschaffenheit meines Zwerchfells hinwegzutäuschen. Meine Töne hauten D. selbstverständlich um – gern rücklings gegen die gewölbte Behälterwand, sodaß ich sie tüchtig abknutschen konnte.

Als sie mir einige Jahre darauf den Laufpaß gab, weil ich wohl doch ein unverbesserlicher unschlüssiger Wirrkopf war, hatte sich die Westberliner Romantik erledigt. Ich wußte noch mit 50 nicht so genau, was ich eigentlich wollte. Gewiß wollte ich wie so viele Größenwahnsinnige alles auf einmal, aber das übersteigt oft die Kräfte. Vor allem die der Geliebten.

* Iris Meier, https://www.bzbasel.ch/kultur/buch-buehne-kunst/lieben-und-leiden-auf-dem-wasserturm-131890909, 10. November 2017
** Peter Neumann, https://www.berliner-zeitung.de/archiv/technikmuseum-berlin-ausstellung-die-angehaltene-zeit-am-gleisdreieck-li.620055, 17. November 2013




Nach Brockhaus überzeugte die vielseitige Schauspielerin Grethe Weiser (1903–70) »mit volkstümlich-drastischer Ausdruckskraft«. Das dürfte vor allem im Faschismus der Fall gewesen sein. Die Latte ihrer Kinofilme ist lang, darunter 1937 Die göttliche Jette. Das war ein Streifen mit Musik über eine alle Welt bezaubernde Berliner Coupletsängerin. In der Demokratie wurde Weiser dann nicht mehr wirklich alt, weil sie mit ihrem zweiten Gatten (Hermann Schwerin) vom Urlaub aus in den Tod fuhr, als sie erst 67 war. Das Ehepaar hatte damals Herbsturlaub in Oberbayern gemacht und wollte zurück nach Berlin. Laut einem vielversprechenden Merkur-Artikel von 2020 war der einzige Überlebende des schweren Unfalls ein Pekinese. Alles andere hat das Blatt hinter der »Bezahl-schranke« verborgen. Neben dem Ehepaar saßen auch noch Haushälterin Maria Reisch und die Gesangslehrerin der Diva Agnes von Spetzler in der Citroën-Limousine. Bei Bad Tölz habe der Personenwagen die Vorfahrt eines mit Sand beladenen Lkws mißachtet, heißt es bei Wikipedia. Anscheinend krachte der Lkw daraufhin dem Personen-wagen in die Breitseite. Alle vier Citroën-Insassen kamen um. Der Pekinese, Borra gerufen, entwischte vielleicht durch einen Fensterspalt. Der Lastwagenfahrer scheint Glück gehabt zu haben. Nebenbei ist mir nicht eine Quelle untergekommen, die sich für ihn interessiert hätte. Schließlich fuhr er nur Sand, keine KünstlerInnen. Wer am Lenkrad der Limousine saß, wird in der Regel ebenfalls verschwiegen. Wikipedia meint, der Gatte.



Der britische Maler und Schriftsteller Denton Welch (1915–48), geboren in China und dort auch aufgewachsen, hatte sich 1933 an der Londoner Goldsmith School of Art eingeschrieben. Als er zwei Jahre darauf, am 7. Juni 1935, mit seinem Fahrrad südlich der Metropole in Surrey unterwegs war, wurde er von einem Auto erfaßt und erlitt eine Wirbelsäulenfraktur. Diesen schweren Unfall erwähnt auch Brockhaus. Zwar blieb der damals 20jährige nicht dauerhaft querschnittgelähmt, doch er war hilfsbedürftig, wurde öfter von Infektionen heimgesucht und hatte einige Schmerzen auszuhalten. Er starb, erst 33 Jahre alt, im Dezember 1948 in seinem Haus bei Sevenoaks in Kent. In den letzten Jahren hatte er dort mit seinem Geliebten Eric Oliver zusammengelebt, der ihm auch als Pfleger und Sekretär, schließlich auch als Nachlaßverwalter diente. Welch hatte aus seiner Homosexualität nie einen Hehl gemacht. Auf die Literatur hatte er sich erst nach seinem Unfall geworfen. Er konnte etliche Betrachtungen und Erzählungen veröffentlichen, vieles davon zeigte starke autobiografische Züge. Sein besonderes Interesse galt auch als Schriftsteller dem Porträt (seiner Freunde) und dem Interieur (der kent‘schen Lebensart). Weiter fühlte er sich magisch von Grusligem oder Ekelhaftem angezogen, etwa einem schon zerlaufenden Stinkmorchel. Welchs Tagebücher erschienen erst posthum. Sowohl verschiedene Autoren der legendären Bloomsbury Group wie der US-Beat-Literat William S. Burroughs sollen Welch verehrt haben. In entsprechenden Kreisen gilt er noch heute als Geheimtip. Ein englischer Dramatiker versichert*, ausgerechnet dieser behinderte und etwas verschrobene Landbewohner habe sich ähnlich wie Dylan Thomas († 1953 mit 39), Edith Sitwell und Christopher Fry gegen die Tristesse des Daseins gewandt. Welchs Hauptfeind sei dabei die Farbe beige gewesen.

* Alan Bennett, »Austerity in colour«, Guardian, 7. Februar 2004: http://www.theguardian.com/books/2004/feb/07/featuresreviews.guardianreview23



Unter Medizinern ist der Neurologe Carl Wernicke (1848–1905) zumindest für seine Entdeckung des »sensorischen Sprachzentrums« (daher auch: Wernicke-Areal) bekannt, die ihm bereits in jungen Jahren gelang. Vor seinem verhängnisvollen Radurlaub, der ihn und einen ihn begleitenden Assistenzarzt an Pfingsten 1905 längs durch den Thüringer Wald führen sollte, leitete er die Nervenklinik in Halle. Bei Gräfenroda war der Urlaub vorbei. Brockhaus spricht arg knapp von einem Radunfall. Der Arnstädter Anzeiger vom 16. Juni des Jahres wußte es genauer. Den beiden Radwanderern war auf der Landstraße ein schwerbeladenes (vermutlich von Pferden gezogenes) Holzfuhrwerk begegnet. Beim Versuch, diesem auszuweichen, sei der durchaus langsam fahrende, übrigens vollbärtige 57 Jahre alte Herr Professor mit seinem Rade wahrscheinlich an einen Stein geprallt und dadurch »so unglücklich gerade vor das Hinterrad des Wagens« gestürzt, »daß dasselbe ihm über Brust und Kopf hinwegging und ihn lebensgefährlich verletzte.« Er wurde ins nahe Gasthaus Zum wilden Geratal geschafft, wo er freilich trotz ärztlicher Fürsorge nach zwei Tagen verstarb. Die persönlichen Vorlieben oder Familienverhältnisse Wernickes, der auch als »Geheimrat« bezeichnet wird, bleiben in den Quellen unerwähnt. Wie jedoch zu lesen ist, hatte er seine Erkenntnisse auf dem Gebiet der Aphasie (durch Hirnschädigung erworbene Sprachstörung) vornehmlich durch Untersuchungen an Unfallopfern gewonnen.



Ich will Brockhaus ein Mordopfer unterjubeln, von dem Sie jede Wette noch nie gehört haben. Wir befinden uns in der Nähe von Kaiserslautern in der Pfalz. Zwischen Neustadt und Lambrecht, knapp 500 Meter hoch, liegt die vom »Pfälzerwald-Verein« betriebene Hellerhütte, ein durchaus massives Haus mit Herbergsbetten und einer Terrasse zum Vorplatz hin. Als es dort in der Silvesternacht 1960/61 um drei Uhr früh reichlich spät erneut anhaltend knallte, ging der 49jährige Karl Wertz aus Haßloch mit einer Taschenlampe hinaus, um nach dem Rechten zu sehen. Ein Porträtfoto* zeigt einen schmalgesichtigen Mann mit hoher Stirn, schütterem Haar und auffälligen Ohren, der möglicherweise nur zufällig recht verbittert in die Kamera blickt. Man denkt an einen Lehrer oder einen kaufmännischen Abteilungsleiter. Das war der ehrenamtliche Betreuer der Hellerhütte, über den leider ansonsten nichts zu erfahren ist, von den Schüssen einmal abgesehen. Seine heimischen Wanderfreunde schnarchten bereits. Auf dem Vorplatz dagegen ballerten etliche besoffene »Halbstarke«, wie es schien, mit Handfeuerwaffen herum, und als sie der Hüttenwart zu genau in den Kegel seiner Taschenlampe nahm, schossen sie auch auf ihn. Er starb auf der Fahrt ins Krankenhaus.

Wie sich später vor Gericht herausstellte, hatte ihn wahrscheinlich der ungefähr 20jährige Lutz Cetto getötet. Der hatte befürchtet, Wertz könne Mitglieder der sogenannten Kimmel-Bande erkennen und verpfeifen, die in derselben Nacht die nahegelegene Totenkopfhütte angezündet und ansonsten in jüngster Zeit mindestens 100 Einbrüche und Banküberfälle verübt hatte. Denn um diese Bande handelte es sich bei den Lärmenden. Ihr Kopf war der »Al Capone der Pfalz«, Bernhard Kimmel, der Jahre später auch noch einen Polizisten getötet haben soll. Cetto, inzwischen 22, bekam im Februar 1963 vorm Landgericht in Frankenthal für die Geschichte im Walde Lebenslänglich**, brachte sich aber ein knappes Jahr darauf um. Sein genaues Alter und ein paar weitere biografische Einzelheiten, auch über Wertz, müßten sich eigentlich in einem 2008 veröffentlichten Kimmel-Buch von Rainer Thielen finden, der mir leider nicht geantwortet hat. Genauso vergeblich schrieb ich die Stadtverwaltung von Bad Dürkheim an. Dem getöteten Hüttenwart setzte man am Tatort einen Gedenkstein.

* Fotos bei Blofeld 2012 (A. H. Marx, Hanau): http://blofelds-krimiwelt.de/Blofeld-Extra/Kimmel-Bande/kimmel-bande.html
** »Lebenslänglich für Cetto«, Hamburger Abendblatt, 9./10. Februar 1963, S. 24




Was Brockhaus beim US-Erfolgsautor Nathanael West (1903–40) vernachlässigt, sind dessen Gattin und beider Hund. Von einem Jagdausflug in Mexiko kommend, überfährt der 37jährige, nach Ansicht vieler Fachleute Autor des besten Buches über die »Traumfabrik« in Hollywood*, mit seinem Ford Station Wagon in El Centro, Kalifornien, ein Stoppschild und nimmt einen Pontiac auf die Hörner. Seine 27jährige Gattin Eileen McKenney sowie der Hund namens Julie sind mit von der Partie. Der Hund überlebt. Erfreulicherweise sollen auch die gegnerischen Insassen, allerdings verletzt, mit dem Leben davon gekommen sein.**

Möglicherweise finden es manche LeserInnen auf die Dauer etwas langweilig, wenn ich am laufenden Meter tödliche Autounfälle auffahre? Ja, Mensch, ich habe das postmoderne Leben nicht erfunden. Es ist eben so langweilig.

* The Day of the Locust, 1939
** Silvae am 17. Oktober 2010: http://loomings-jay.blogspot.de/2010/10/verkehrsunfall.html




Der heute kaum noch gelesene Erzähler Ernst Wiechert (1887–1950) stammte aus einem ostpreußischen Forsthaus. Das prägte seine Naturfrömmigkeit nachhaltig. Sie ist auch Brockhaus nicht entgangen, obwohl es das Lexikon vorzieht, von Naturmystik zu sprechen. Nach seiner Studienzeit ist Wiechert bis 1933 als Gymnasiallehrer in Königsberg und Berlin tätig. Dann zieht er sich nach Bayern zurück, denn er kann sich inzwischen von seinen Büchern ernähren, die von den Nazis geduldet, zum Teil sogar gefördert werden. Vermutlich rechneten sie sich die Chance aus, den angesehenen Autor vor ihre Mehr-Lebensraum-Maschine zu spannen, aber nach meinen Kenntnissen bekamen sie ihn nicht. Ich stelle mir den zartbesaiteten Wiechert als das Gegenteil eines Eroberers vor. In jenen finsteren Jahren brütet übrigens ein anderer Eigenbrötler, nämlich Friedrich Georg Jünger, sein Buch von der Perfektion der Technik aus, die er einer vernichtenden Kritik unterzieht. Es wäre interessant zu wissen, ob sich Jünger und Wiechert jemals über den Weg liefen. Sie waren bestimmt verwandt.

In der Novelle Der Schnitter im Mond von 1930 verblüfft Fabrikarbeiter Malte die gräflichen Gespannführer der Gegend durch jeweils mehrere makellos von Hand gemähte Schwadenstreifen auf wechselnden Getreideschlägen. Ein märtyrerhafter Zug der listigen Herkulesarbeit ist unverkennbar. Bei Wiechert erstreckt sich das Martyrium gern auch in die Gefilde der Geschlechterliebe; seine Helden und die Frauen kommen nie so recht zusammen. Im Fall der Schnitter-Novelle bleibt die Liebe nächtliche Episode – freilich mit verhängnisvollen Folgen, war es doch ausgerechnet die Tochter des Grafen, die sich dem geheimnisumwitterten, verwegenen Schnitter hingab. Es wäre jedoch fehlgegriffen, Wiecherts Helden schüchtern oder verklemmt zu nennen. Es gibt für sie einfach wichtigere Dinge als die Liebe, nämlich die Leidenschaft für die Natur und dann für Kunst (vor allem Musik) und Literatur. Zu beider Ausübung bedarf es einer Versenkung, von der uns die Frauen nur ablenken können. Entweder sie verwirren uns und wühlen uns auf, oder sie hängen wie Kletten an uns. Deshalb mußte Wiechert im Einfachen Leben Marianne, »das Kind«, blutjung halten. Dieser hinterhältig ersonnene Altersunterschied zwischen ihr und Thomas Orla stellte eine unüberwindliche »natürliche« Kluft dar; selbst der General sah es ein.

Allerdings treibt das Höhere Streben von Wort- oder Notenakrobaten gerne gar zu weiße Blüten. Wer Ernst Wiecherts Jugenderinnerungen Wälder und Menschen folgt, hat einerseits viel Humoriges, Sentimentales und Salbungsvolles zu überwinden, ehe er fündig wird – andererseits blendet ihn die »Reinheit«, die der Förstersohn auf jeder dritten Seite beschwört, wie Schneefelder. Die Verlagsinserate in der 1936 bei Langen/Müller erschienenen Erstausgabe übertreiben keineswegs: der Königsberger Musterschüler ist vom schieren »Reinheitswollen« durchdrungen. Hartnäckige LeserInnen kehren nach 250 Seiten und 25 Jahren mit dem gemachten Schriftsteller in die masurische Heimat zurück. Im Gedenken an seinen ersten Adler, den er dort schoß, steigt Erkenntnis auf. »Der Hochwald war fort, fremde Schonungen sahen mich an … Was unwandelbar erschienen war, hatte sich gewandelt.« Wiechert ahnt jedoch, diese Ernüchterung darf nicht unbedingt dem Kindheitsort angelastet werden. Möglicherweise sei alles noch wie am ersten Tag, und nur er selber sei – in einem großen, blitzenden Automobil – »als ein Fremder« bei dem stillen, wartenden Forsthaus vorgefahren. Es kommt hier kaum auf den Zeitraum an. Mein motorsägendes Wüten jenseits des Waltershäuser Schloßbergs kam mir bereits nach wenigen Monaten als Nichtkommunarde und Waldwanderer sehr unwahrscheinlich vor. Zog mich 2003 vom Bahnhof aus die imposante rote Backsteinfassade der Puppenfabrik magisch an, muß ich ein Irrläufer gewesen sein. Sehe ich mich gar, von Wiechert angeregt, noch um 40 so manche Frau anhimmeln, kann es sich eigentlich nur um Luftspiegelungen handeln. Schizophrenie wäre ja noch harmlos; tatsächlich sind wir in 7 bis 70 Lebensphasen gespalten. Der Adler hat sicherlich mehr Federn, doch dieses Problem hat er nicht.

Drei Jahre nach seinen nur zähneknirschend genießbaren Kindheitserinnerungen legt Wiechert mit Das einfache Leben sein vermutlich noch am wenigsten unbekanntes Werk vor, das auch sein bestes sein dürfte. Dieser Roman spielt in den gewässerreichen Masuren. Der General steht einem Herrengut vor; »Aussteiger« Orla, ehemals Kommandant eines Kriegsschiffes, heuert bei ihm als Fischer an. Das Buch ist hervorragend komponiert, besticht durch knappe, schlichte Sprache und erspart uns eine Menge von dem bei Wiechert üblichen Pathos. Bei einigen Novellen Wiecherts oder etwa seinem letzten Roman Missa sine nomine (Messe ohne Namen) ist das leider nicht der Fall. Wie sich versteht, wurde Wiechert ausgiebig vorgeworfen, ein anspruchsloses, naturverbundenes, ja demütiges Leben zu »verklären«. Daß ich nicht lache! Was ist denn mit den Legionen von Hirnrissigen, die solchen Kälbern wie dem Fortschritt, dem Freien Markt, der Mobilität die Hufe küssen? Die uns bedenkenlos jedes Unheil, jede Verwüstung, jede Entwurzelung zumuten und dabei noch ihre eigene systematische Aushöhlung preisen? Sie verklären ihre Kälber nicht; sie beten sie an.

Wiechert war ein Meister der Fabel. Obwohl sie an einer gewissen Verstiegenheit kranken, sind seine Personen noch im letzten Roman verblüffend und fesselnd erfunden. Wiechert schloß Missa kurz vor seinem Tod ab. Dabei geht das erwähnte Pathos mit einem befremdlich einfältigen Tonfall einher. Den zeigen häufige »unds« oder »wohls« an; außerdem Wendungen oder besser Windungen wie »doch aber« und »denn ja auch«. Es klingt, als sprächen der Freiherr Amadeus oder sein Freund, der aufsässige Pfarrer Wittkopp, ausschließlich zu den Kindern der TorfstecherInnen, die sich mit dem alten Kutscher des Freiherrn, Christoph, aus Ostpreußen in die Hohe Rhön flüchten konnten. Das Eindringliche droht in Betulichkeit umzuschlagen. Daneben nimmt Amadeus in seinem Schafstall am Rande des Hochmoors Züge eines Opferlamms – christushafte Züge an. Er wird zum Erlöser. Doch einen politisch eingefärbten Kriminalfall und die betörende Landschaft breitet Wiechert spannend wie immer aus.

Von Kriegsheimkehrer- und Vertriebenenschicksalen unbeleckt, da im Todesjahr Wiecherts erst geboren, sollte ich mich vielleicht hüten mit Steinen zu werfen. Wiechert hatte zwei unfaßbar grausame Weltkriege und dazu, aller »inneren Emigration« zum Trotz, einen wohl zweimonatigen Aufenthalt im KZ Buchenwald zu verdauen, als er diesen Roman schrieb. So kreist er darin um die folgenden Fragen. Wie wäre es zu begreifen, daß die Menschen untereinander ein solches Grauen anrichten? Sind Amadeus oder sein Bruder Erasmus – durch Wegsehen, durch Zurückschlagen – womöglich mitschuldig daran? Ließe sich das restliche Leben mit solcher Hypothek anders als in Verzweiflung verbringen? Doch wie auch immer: wer nie dem nackten Terror ins Auge sah, hat leicht reden von Zivilcourage oder gar erbittertem Widerstand. Laut Günther Schwarbergs Buch über den jüdischen Schlagertexter Fritz Löhner-Beda hatte Wiechert die Ehre, in Goebbels Tagebuch einzugehen. »So ein Stück Dreck will sich gegen den Staat erheben.« Goebbels persönlich schickt Wiechert ins KZ. Am 30. August 1938 läßt er sich den Buchenwaldhäftling vorführen, um ihn zur Sau zu machen. »Ich bin in bester Form und steche ihn geistig ab. Eine letzte Warnung! Darüber lasse ich auch keinen Zweifel. Der Deliquent ist am Schluß ganz klein und erklärt, seine Haft habe ihn zum Nachdenken und zur Erkenntnis gebracht. Das ist sehr gut so. Hinter einem neuen Vergehen steht nur die physische Vernichtung. Das wissen wir nun beide.«

Eine unglaubliche Anmaßung von diesem Propaganda-Schwein aus einem Berliner Ministerium. Was hätten wir freilich davon gehabt, hätte Wiechert Goebbels noch auf der Türschwelle verflucht? Der Schriftsteller starb am 24. August 1950 mit 63 Jahren auf seinem Rütihof in Uerikon am Zürichsee.



Den frühen Tod des Baseler Malers Kurt Wiemken (1907–40), Sohn eines selbstständigen Lithographen, übergeht das Lexikon. Dafür bildet es ein Gemälde ab. Wie ich einigen Internet-Quellen entnehme, war Wiemken unter anderem von der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Ereignisse verunsichert, etwa dem Luftsprung eines ausgelassenen Kindes auf der einen Seite einer Hofmauer und dem tödlichen Sturz eines Kindes auf der anderen Seite – und sei es in Übersee. Sein wichtigster Lehrer war Fritz Baumann. Später beeinflußten ihn Grosz und Picasso. 1933 zählte er zu den Mitgründern der sowohl avantgardistisch wie antifaschistisch orientierten schweizer Gruppe 33. Obwohl schon als Säugling an »Kinderlähmung« erkrankt und deshalb zeitlebens behindert, wanderte Wiemken gern, meistens im Mendrisiotto, Kanton Tessin. Ende Dezember 1940 – inzwischen war der Zweite Weltkrieg »ausgebrochen«, der ihn stark mitnahm* – warteten seine Angehörigen vergeblich auf seine Rückkehr. Sein zerschmetterter Leichnam wurde erst Wochen später, am 23. Januar 1941, am Grund der Breggia-Schlucht bei Castel San Pietro gefunden. Vermutlich war der 33jährige Maler entweder abgestürzt oder gesprungen.

Gerd Reuther widmet sich auf den Seiten 300/301 von Heilung Nebensache (2021) eigens der Kriminalgeschichte des Poliovirus‘, das für »Kinderlähmung« und tausend andere Erscheinungen verantwortlich gemacht wurde und wird. Bis ca. 1800 habe das Virus wahrscheinlich schon seit Jahrtausenden in unseren Gedärmen gehaust, ohne für belegte Fälle von Polio-Lähmungen zu sorgen. Die Wende kam mit auf Arsenbasis gebrauten Insektiziden, etwa auf Zuckerohrplantagen. Hier half auch das berüchtigte DDT, wie einige Studien nachgewiesen hätten. Den Vogel schossen dann die Impfungen gegen Polio ab, wobei die Schäden selbstverständlich unter den Teppich gekehrt wurden. In Übersee ist Polio nach wie vor verbreitet. Reuther behauptet, für 2018 sei anzunehmen, daß ungefähr 70 Prozent der weltweiten Poliofälle auf Impfungen zurückgehen. »Impfstoffe brachten mehr Kinder um als die Krankheiten, vor denen sie schützen sollten.« Dann kam das schreckliche Corona-Virus.

* Rudolf Hanhart in sikart, 2012: http://www.sikart.ch/KuenstlerInnen.aspx?id=4000363



Kürzlich erwähnte ich meine Straffung von Remarques Lissabon-Roman. Darin schmuggelte ich ein weißes Wiesel ein, auch Hermelin genannt. Ich hatte es einmal auf meinem verschneiten Brennholzstoß erspäht. Nur die Schwanzspitze war dunkel gefärbt. Ein kleiner Schönheitsfehler meines Einbaus könnte allerdings die Jahreszeit sein, Frühherbst. Denn laut Internet wechselt das Hermelin frühstens im November zu seinem Winterkleid. Bis dahin ist es lediglich unterseits weiß, sonst braun gefärbt. Die fragliche verwaiste Landvilla lag in Südfrankreich:

>Für vier Tage blieben sie völlig allein. Sie streiften viel in dem Obstgarten und dem kleinen Park umher, der auf der anderen Seite der Villa angelegt worden war. Einige hohe Buchen, Linden, Eschen hatten sicherlich schon 150 oder 250 Jahre auf dem Buckel. Ihr Laub war bereits gelb oder rot. Es gab sogar eine Sonnenuhr und einen Teich. An diesem überraschten sie einmal ein weißes Wiesel. Es machte erschrocken Männchen und beäugte sie wahrscheinlich mit einiger Verwunderung.

»Dich würde ich gern mal auf den Arm nehmen und ein bißchen streicheln«, erklärte Helen dem schönen, schlanken Raubtierchen.

»Lieber nicht«, grinste Schwarz. »Es bisse dir gleich einen Finger ab.«

Während das weiße Wiesel buckelnd das Weite suchte, dachte Helen nach. Sie schüttelte ihren Kopf. »Man sollte die Natur nicht schlechter machen, als sie ist. Natürlich stellt sie kein Deckchensticken dar. Ihr Motto lautet 'Fressen oder gefressen werden!' Aber dieses Motto hat weder einen politischen noch einen persönlichen Zug. Die Natur will nicht herrschen, quälen, Rache nehmen wie etwa Georg, mein liebes Bruderherz. Sie benötigt keine Pässe, keine Arierausweise und keine sogenannten Sieger-Urkunden. Sie gibt ohne Dankbarkeit oder Schmeichelei zu erwarten, und sie nimmt ohne Bösartigkeit. Stimmst du mir zu?«

Schwarz tat es. Später fiel ihm ein, die Bösartigkeit sei vielleicht der Preis für die Liebe. Er hatte noch von keinem Wiesel gehört, daß empfunden hätte, was er für Helen empfand. Schlimm wurde es, wenn sich beide Bestrebungen in derselben Person verquickten. Leider kein seltener Fall. Diese Überlegung behielt er freilich für sich.<



Der Bildende Künstler Rudolf Wilke (1873–1908) hat keine Abbildung. Sohn eines Braunschweiger Zimmer-manns, brachte er es in München zum erfolgreichen satirischen Zeichner. Eine Skizze aus dem Nachlaß heißt Hochnäsige alte Damen. Die Arroganz der beiden geht aus ihren mit wenigen Federstrichen aufs Papier geworfenen aufgetakelten Gestalten hervor; die zurückgelegten Gesichter sind bestenfalls angedeutet. Dem Künstler selber stieg der Erfolg nie zu Kopf, obwohl er, wie sein Vater, »nur« Zimmermann gewesen war, ehe er sich aufs Zeichnen außerhalb von Reißbrettern verlegte. Er besuchte Kunstschulen in seiner Heimatstadt Braunschweig sowie in München und Paris. Seine größte Bewunderung gilt Rembrandt.

1895 läßt sich Wilke fest in München nieder. Durch Teilnahme an einem Wettbewerb findet er im nächsten Jahr zunächst Eingang in die neugegründete Zeitschrift Die Jugend, bald darauf in den ebenfalls jungen Simplicissimus. Ab 1906 ist er Mitinhaber dieses einflußreichen Satireblatts. Engere Freundschaften pflegt er mit seinen Kollegen Eduard Thöny, Ludwig Thoma (ab 1900 Chefredakteur), Thomas Theodor Heine, Ferdinand von Rezniček. Häufige Reisen führen ihn vor allem in den Mittelmeerraum, der seinem Naturell entgegenkommt. Der Berliner Kunstkritiker Karl Scheffler bescheinigte dem zumeist schwarzbärtigen Hünen (über 1,90) »etwas ungemein liebenswürdig Schlendriges«. Wilke liebte Landstreicher, pausierende Proleten, fahrendes Volk – kurz, den Müßiggang. In seiner Studienzeit hatte er häufiger Billard gespielt als studiert. Aber er zeichnete oft die ganze Nacht durch. Gleichwohl war er ein tüchtiger Läufer (Mitgründer der Eintracht Braunschweig), Radler und Wanderer. Und er bringt es in München, nach einigen Durststrecken, durch seine überwiegend umwerfenden und deshalb begehrten Arbeiten zu einer Villa mit Auto, Motorrad, Sommerhaus, eigener Familie und Dienstboten.

Wilke zeichnet gewöhnlich aus schwungvoller, sich dehnender Linie heraus und sagt das Wesentliche, wie alle Könner, durch Weglassen. Das droht dem Künstler im Frühjahr 1906 allerdings selber, als er beim Skifahren in den Alpen über eine Gletscherspalte stürzt und unglücklich auf den Hinterkopf fällt. Er zieht sich eine Hirnverletzung und dadurch eine »traumatische Diabetis« zu, für die, zur damaligen Zeit, kaum Heilungsaussichten bestehen. Zwar hält er zumeist die verordneten strengen Kuren und Diäten ein, aber im Oktober 1908 gesellt sich noch eine Lungenentzündung zu seiner Schwäche, weil der 35jährige kranke Künstler in seiner eigenhändig gesteuerten »Benzindroschke« mit Klappverdeck unbedingt nach Emden reisen muß, Schiffe zeichnen. Die Braunschweiger Verwandtschaft verfrachtet ihn in eine Privatklinik, wo er am 4. November stirbt.

Seiner Frau Amalie (»Mally«) zufolge, die aus einer Braunschweiger Künstlerfamilie stammte, lauteten die letzten Worte ihres Gatten: »Das ist zu dumm.« Sie würden Wilke ähnlich sehen, war er doch auch als Zeichner nie Ankläger gewesen, wie Peter Lufft betont.* Der Braunschweiger Kunsthistoriker, Maler und Galerist überliefert zudem eine Szene aus dem Krankenzimmer, die Wilke ohne Zweifel sofort gezeichnet hätte, falls er nicht gerade sein Leben ausgehaucht hätte. »Der Krankenpfleger, der ihn bis zuletzt umsorgt hat, wendet sich ab. Er kehrt sich gegen die Zimmerecke, reißt sich seine bunte Krawatte vom Hals und vertauscht sie schnell mit einem schwarzen, biederen Binder. Dann geht er auf die Witwe zu und spricht ihr murmelnd mit sordinierter Stimme sein Beileid aus.«

Gründer und Verleger des Simplicissimus war Albert Langen (1869–1909) gewesen. Leider wurde er nur ein Jahr nach Wilkes Tod ein Opfer ähnlicher Mobilitäts-Begeisterung. Langen erlag mit 39 einer verschleppten Mittelohrentzündung, die er sich am 1. April in seinem offenen Wagen zugezogen hatte, als er dem von ungünstigen Winden aus München vertriebenen Zeppelin-Luftschiff Z 1 zum mutmaßlichen Landeort nachjagte.

* Peter Lufft, Der Zeichner Rudolf Wilke / Leben und Werk, Braunschweig 1987



Das Geschick des deutschen Gelehrten Johann Joachim Winckelmann (1717–68) entschied sich wahrscheinlich um 1750 bei Dresden, wo er die weithin gerühmte Bibliothek eines Grafen betreute. Bei diesem Grafen wurde ein päpstlicher Nuntius auf Winckelmann aufmerksam und lockte ihn nach Rom. Das zweideutige Tätigkeitswort ist durchaus angebracht, weil sich mit dieser Abwerbung einerseits die Aussicht auf eine glänzende wissenschaft-liche Laufbahn des Schustersohnes aus Stendal, andererseits die Aussicht in seinen Sarg bot. Für Brockhaus endete er knapp 20 Jahre später als »Opfer eines Raubmordes«.

In der Tat gilt Winckelmann heute als bedeutender Wegbahner des Klassizismus und einer aufgeklärten Kunstwissenschaft – aber ohne den verführerischen Nuntius wäre er möglicherweise erheblich älter als 50 Jahre geworden. Auch diese Zweideutigkeit können wir stehen lassen, weil Winckelmann, der auf zeitgenössischen Gemälden recht sanftmütig, wenn nicht gar bezaubernd wirkt, homosexuelle Neigungen besaß, die sich allerdings kaum auf den Nuntius gerichtet haben dürften. Nach Rictor Norton »stand« der »Kunstpädagoge« eindeutig auf blutjungen Männern.* Casanova, der Winckelmann kannte, bezeugte diese Neigung in seinen Erinnerungen mit dem Hinweis, der deutsche Gelehrte liebe es, »mit den jungen Leuten im Stile des Anakreon und Horaz« herumzuscherzen.** Das konnte er selbstverständlich halten, wie er wollte, nur dürfte es seinen vorzeitigen, gewaltsamen Tod ebenfalls mitgefördert haben. Nachdem er 1763 den Italien bereisenden Friedrich Reinhold von Berg kennengelernt hatte, war Winckelmann jede Wette in schlechter Verfassung, weil ihm der junge livländische Baron Liebeskummer bereitete: er entzog sich Winckelmanns Armen und verschwand gen Paris. Laut Norton wäre der Verlassene um ein Haar sogar seinem ganzen Geschlecht untreu geworden, nämlich im Schoße der Malergattin Margaret Mengs. Im April 1768, mittlerweilen von Papst Clemens XIII. zum Oberaufseher für die Altertümer in Rom sowie zum »Scrittore« an der Vaticana ernannt, begab sich Winckelmann gemeinsam mit dem Bildhauer Bartholomeo Cavaceppi nach Deutschland, vermutlich vordringlich wegen beruflicher Obliegenheiten. Spätestens hier wird es mysteriös. Aus unbekannten Gründen – manche sprechen von einem Schuldgefühl der im Stich gelassenen Heimat gegenüber, andere gerade umgekehrt von einem Überdruß an diesen ganzen Fachwerkhäusern mit ihren spitzen Satteldächern – erlitt Winckelmann in Bayern einen »Nervenzusam-menbruch«, brach deshalb auch den Besuch vorzeitig ab, kehrte um und machte, nach Wien, in Triest Station, weil er zunächst kein Schiff für die Überfahrt nach Venedig bekommen hatte.

Die schöne Stadt an der Oberen Adria, heute italienisch, stand damals unter habsburgischer Herrschaft. Der vermutlich düster gestimmte deutsche Gelehrte stieg im erstklassigen Hotel Osteria Grande unweit des Triester Hafens ab – und damit in seinem Sterbehaus, wie sich bald zeigen sollte. Winckelmanns zufälliger Zimmernachbar Francesco Arcangeli, ein erwerbsloser Koch und Bediensteter aus der Toskana, zudem vorbestrafter Gelegenheitsdieb, war nämlich so freundlich, ihm bei der Schiffssuche und auch in vielen anderen Dingen behilflich zu sein. Ob es auch zu Zärtlichkeiten kam, kann niemand sagen (Norton tut es trotzdem). Jedenfalls freundeten sich die beiden an, wobei es der 31jährige, angeblich pockennarbige Ganove Arcangeli, nach manchen Quellen auch Zuhälter, wahrscheinlich von vornherein auf die mutmaßlich üppige Reisebörse des vornehm gekleideten päpstlichen Oberaufsehers abgesehen hatte, wenn man den Vernehmungsprotokollen der österreichischen Polizei folgt. Wahrscheinlich schlich er sich also vorsätzlich und kaltblütig in das Vertrauen Winckelmanns ein – um ihm schließlich am 8. Juni 1768 in dessen Hotelzimmer mit einem Messer zu Leibe zu rücken. Zuvor hatte er es vergeblich mit einer Schnur versucht, die er dem arglos am Schreibtisch sitzenden Winckelmann von hinten her um den Hals gelegt hatte.

Da das Opfer, obwohl von sieben Stichen blutend, noch Angaben machen konnte, bevor es sein Leben aushauchte, war der geflüchtete Täter rasch gefaßt. Aus der Mordakte, die 1963 wiederentdeckt wurde, schließen die meisten HistorikerInnen, die polizeiliche und gerichtliche Untersuchung des Falles sei kaum zu beanstanden. Einige andere glauben allerdings an Vertuschung, dafür weniger an »Zufall«. Denn was hatte ein abgebrannter Ganove wie Arcangeli in einem derart noblen Hotel zu suchen? Entweder hatte er »Stricherknaben« zu vermieten, so glauben sie, oder aber er war ein bezahlter Agent, der beispielsweise im Auftrage der Jesuiten nach geheimen Depeschen fahndete, die Winckelmann vom Habsburger Hof (er kam ja aus Wien) gewissen Kurienkardinälen hatte aushändigen sollen. In diesem Fall hätte Arcangeli den Raubmord lediglich vorgetäuscht. Der Buchautor Hein van Dolen (1998) soll sogar eine ausgefeilte Doppelgänger-Theorie entwickelt haben: das Mordopfer sei gar nicht Winckelmann, vielmehr, nach dessen Tod in Wien, ein Betrüger gewesen, der mit Arcangeli gemeinsame Sache machte. Ein jüngerer, recht ausführlicher FR-Artikel trägt diese Dinge zusammen.***

Eine andere Sache ist das wahrlich mittelalterliche, blutrünstige Urteil der Triester Richter. Arcangeli wurde noch im Tatjahr zum Tode verurteilt und auf dem Petersplatz öffentlich durch Rädern hingerichtet. Diese Methode des Zermalmens durch ein waagrecht über dem flach aufs Schafott gebundenen Deliquenten schwebendes, dann wiederholt fallendes, oft eisenbeschlagenes schweres Speichenrad habe ich bereits früher gestreift, Folge 30.

* Rictor Norton, »Johann Joachim Winckelmann / Gay History and Literatur«, http://rictornorton.co.uk/winckelm.htm, 2000 + 2008
** Wolfgang von Wangenheim, »Casanova trifft Winckelmann«, https://www.merkur-zeitschrift.de/wp-content/themes/merkur/pdf/mr-39-2-106.pdf, o.J.
*** Ulrich Rüdenauer, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/johann-joachim-winckelmann-meuchelmord-in-triest-90527640.html, 8. Mai 2021




Warum wird ein erfolgreicher Opern- und Kammersänger lediglich knapp 36 Jahre alt? Das dürfen Sie Brockhaus nicht fragen. Für Luciano Pavarotti war Fritz Wunderlich (1930–66) der herausragendste lyrische Tenor überhaupt. Dabei stand der etwas stämmige, aber nie behäbige Fritz Wunderlich aus dem Rheinpfälzischen im September 1966 erst vor den Höhepunkten seiner Laufbahn, da sind sich alle einig. So sollte er in wenigen Tagen sein Debüt an der New Yorker Metropolitan Opera geben, als Don Ottavio in Mozarts Don Giovanni. Um 1955, in Freiburg und Stuttgart, war Wunderlichs Sprungbrett der Tamino aus einer anderen beliebten Mozartoper gewesen, der Zauberflöte. Er beeindruckte die KennerInnen durch eine strahlende Stimme, die völlig ungekünstelt wirkte. 1963 nimmt ihn die Wiener Staatsoper unter Vertrag. Er wohnt mit seiner Frau Eva, einer Harfenistin, und zuletzt drei Kindern in München. Doch schon drei Jahre später zieht sich Wunderlich in Oberderdingen bei Karlsruhe durch einen Sturz im Haus eines Jagdfreundes einen Schädelbruch zu.

Falls den 1972 veröffentlichten Erinnerungen von Hubert Giesen zu trauen ist*, der Wunderlich bei vielen Liedabenden am Klavier begleitete, waren bei diesem Unfall weder Jagdleidenschaft noch Trinkfreude im Spiel. Das Haus des »reichen Industriellen« hat im ersten Stock eine Bibliothek, zu der eine Treppe mit einem dicken Strick als Geländer führt. Als Wunderlich am Abend mit einem ausgewählten Buch, das ihm Bettlektüre sein soll, in sein ebenerdig gelegenes Gästezimmer zurückgehen will, stolpert er, wie später vermutet wird, über die unverknoteten Schnürsenkel seiner Schuhe, reißt im Fallen oder beim Haltsuchen den Strick aus seinen Verankerungen und stürzt kopfüber auf die Steinplatten der Diele. Er stirbt anderntags im Krankenhaus, ohne noch einmal zu Bewußtsein zu kommen.

Giesen räumt allerdings ein, Wunderlich habe ihm zuweilen Angst eingejagt. Er habe stets aus dem Vollen gelebt und alles, ob Singen, Porschefahren, Fotografieren, Jagen, Feiern, »mit ungeheurer Energie und Intensität« getan, »als wisse er insgeheim, daß ihm das Leben keine allzulange Frist gelassen habe.« Da Giesen gerade von gemeinsamen Auftritten mit Wunderlich in Edinburgh gesprochen hat, ergänzt er, die Briten bescheinigten solchen Leuten, sie »zündeten ihre Kerze an beiden Enden« an.

* Auszug S. 251–60 bei Andreas Praefcke, 1998: http://www.andreas-praefcke.de/wunderlich/giesen.htm



Im Brockhaus übergangen: Xiao Hong (1911–42), eine chinesische sozialkritische Schriftstellerin aus halbwegs wohlhabendem Grundbesitzerhaus in Nordostchina. Sie hat sich zeitlebens – nicht sehr lang – gegen Unbilden wie lieblose Eltern, Zwangsverheiratung, Kriegswirren (Bürgerkrieg, Einfall der Japaner), Männergewalt überhaupt, Hunger und Krankheit zu wehren, darunter, laut Petri Liukkonen*, Tuberkulose. Gefördert von Lu Xun in Shanghai, hat sie 1935 einen ersten Bucherfolg. Sie lebt mit verschiedenen Liebhabern zusammen und stirbt im japanisch besetzten Hongkong, 30 Jahre alt. In ihrem letzten, oft als »ihr Meisterwerk« bezeichneten Buch Geschichten vom Hulanfluß (1942)** nimmt sie die unterwürfige, abergläubische, rechthaberische, schadenfreudige, verfressene, frauenfeindliche, grausame chinesische Seele ohne Zweifel mit einer bemerkenswerten feinen, bissigen Ironie aufs Korn, doch die Klassen- und Staatsfrage schneidet sie darin um keinen Millimeter an. Allerdings muß man bedenken, sie war schon todkrank. Sie wollte ihre bittersüße Kindheit retten.

* http://authorscalendar.info/xiao.htm. Stand des Eintrags über X. 2023. Kalendermacher Petri Liukkonen (seit 1998), den ich hier schon öfter bemühte, ist im Hauptberuf Leiter der Stadtteilbibliothek Kuusankoski in Kouvola, Südfinnland, falls ich richtig informiert bin. Alter unbekannt. Doch seinem Internet-Projekt nach muß er ein Herkules sein.
** deutsch im Insel-Verlag 1990, Übers. Ruth Keen




Da der Buchstabe X auch im Brockhaus unterbesetzt ist, erlaube ich mir, einen Snookerspieler einzuflechten, der erst 1998 geboren worden ist. Ich führe mir seit Jahren immer mal wieder, zur Entspannung, ein Snookervideo zu Gemüte, und seit Xu Si mitmischt, forsche ich bevorzugt nach Begegnungen mit ihm. Im Ballungsraum der südchinesischen Großstadt Jieyang aufgewachsen, brachte es Xu bereits 2017 zum Profispieler. Inzwischen gehört er beständig den Top 64 der Weltrangliste an. Er legte (2023) auch schon ein »Maximum Break« vor, das vielen Profis meist nur in nächtlichen Träumen gelingt. Merkwürdigerweise wäre es gelogen zu behaupten, Xu spielte besonders elegant. Der mittelgroße, schlanke Sportler wirkt im Gegenteil eher unauffällig. Das geht allerdings mit einer seltenen Bescheidenheit einher, die mir gefällt. Seinen sogenannten »mentalen« Zustand muß irgendein Trainer überragend zurechtgetrimmt haben, wenn es nicht am natürlichen asiatischen Erbe liegt. Weder Fallen noch Niederlagen scheinen den jungen Mann jemals aus der Ruhe zu bringen. Dabei hat er durchaus ein Kämpferherz. Diesen Sommer hatte er in einer Turnierrunde gegen den walisischen Altmeister Mark Williams anzutreten. Xu lag bereits 2:4 zurück, zeigte aber immer noch keine zitternden Knie. Am Ende gewann er das hochklassige Match mit 5:4.

Nun liegt es mir allerdings fern, irgendwelche SpitzensportlerInnen zu verklären. Wer so weit kommt wie Degenfechter Beierstettel, Hürdenläufer Cushman oder eben Xu Si, kann eigentlich nur ein Arschloch sein. Gerade diese KugelkünstlerInnen verdienen ein Heidengeld und führen jede Wette ein luxuriöses Leben, vor dem mich die Götter stets bewahrt haben. Prompt teilt die englische Wikipedia mit, während der jeweiligen Saison lebe Xu in Sheffield, dem englischen Snookermekka. Er trainiere in der Ding Junhui Snooker Academy – vermutlich Tag für Tag mindestens sechs Stunden, denn andernfalls wäre so ein Spitzenmann schnell weg vom Fenster. In diesem Idiotenzirkus halten sich ausschließlich Verbissene und Besessene. »He has been described as one of the hardest workers on tour. Aside from snooker, Xu enjoys movies and playing computer games.« Das ist natürlich genau das zeitgemäße Entspannungsfutter, bei dem so ein Schmalspurgroßverdiener nie auf dumme Gedanken kommt, etwa antikapitalistische.

Bei den Snookervideos im Internet hat in den letzten rund 10 Jahren eine auffallende, leider sehr betrübliche Entwicklung stattgefunden. Es werden kaum noch ungeschnittene Begegnungen präsentiert. Vielmehr werde ich jetzt in 7- oder 12-Minuten-Streifen mit den sogenannten »Highlights« einer Begegnung abgespeist. Alles Unvollkommene, Anbahnende, Taktische fällt unter den Schneidetisch der IT-Freaks, die die Videos anbieten. Dieses abschleifende Verfahren kennen und schätzen sie eben aus der ganzen übrigen Computer- und Medienwelt, der sie in der »Perfektion« nicht nachstehen möchten. Übrigens läuft es bei den Yankees in der gedruckten Presse schon seit vielen Jahrzehnten nicht anders. Die US-Schreiberlinge bauen keine Geschichten oder Beweisfüh-rungen auf; sie streuen Häppchen aufs Papier, die im Grunde alle austauschbar sind. Wo gerade was steht, ist bei solchem Verfahren egal. Hat man etwas vergessen, hängt man es einfach an. Bei der erzwungenen Lektüre dieser Yankee-Blätter ist mir allmählich klargeworden, wo nicht nur die Maiskolben, sondern auch die Strohköpfe gezüchtet werden.



Selbstverständlich braucht man Brockhaus nicht zu erzählen, was eine Xylothek sei. Aber Ihnen vielleicht. Vor rund 20 Jahren veröffentlichte ich darüber einmal den folgenden Text.

Der Göttinger Physikprofessor Lichtenberg sah um 1777 bereits das »Waldsterben« voraus. Für den Fall des Falles schlägt er in seinen Sudelbüchern vor, eben mit Büchern zu heizen, bis die Wälder wieder nachgewachsen seien. Carl Schildbach jedoch, ein Zeitgenosse Lichtenbergs in der nahe gelegenen Residenzstadt Kassel, machte die Bücher gleich aus Holz. Davon kann man sich durch einen Besuch des Kasseler Naturkundemuseums überzeugen. Nebenbei ist dieses Museum in Deutschlands ältestem Theatergebäude untergebracht, dem zwischen 1604 und 1606 unweit der späteren Karlsaue errichteten Ottoneum. Es wurde neulich mit Blick auf die Jahrtausendwende von Grund auf renoviert, wobei auch Schildbach zu einem neuen Kabinett kam. Schildbach stiehlt allem, was dort sonst noch geboten wird, ob Gänseblümchen oder Dinosaurier, die Schau. Sobald der Besucher seine Nase in das nur spärlich beleuchtete Kabinett steckt, wird er alarmiert schnüffeln. Sein erstaunter Blick wandert über die schimmernden Rücken der vielen Bücher, die sich in den umlaufenden Regalen zu befinden scheinen. Obwohl die Regale verglast sind, riechen diese Bücher förmlich nach verstaubter Kostbarkeit. Die Buchrücken wirken schimmlig, brüchig, fast wie verwittert. Ihre Farben spielen ineinander, vorwiegend zwischen Walnuß- und Kastanienbraun. Tritt der Besucher ehrfürchtig näher, kann er die hellen verblaßten Schildchen entziffern, die auf jedem Buchrücken kleben. Sie wurden mit dem Federkiel zweisprachig (deutsch und lateinisch) beschriftet. Linde, Bergahorn, Seidelbast, Wildkirsche läßt sich da zum Beispiel lesen. Nun dämmert dem Besucher, daß jedes dieser Bücher vom Holz des Baumes oder Strauches ist, der ihm zum Titel verhalf.

Dabei hielt sich ihr Schöpfer durchweg an den Bauplan, die vordere Buchseite (den Schiebedeckel) aus Splintholz, die hintere aus Splint- und Kernholz mit Spiegeln, die obere aus Astquerschnitten, die untere aus Hirnholz und den Buchrücken aus der Rinde des betreffenden Gehölzes zu machen. Doch damit nicht genug. Hier und dort zeigt sich ein Buch auch quer bei herausgezogenem Schiebedeckel, sodaß wir das Gebinde in seinem Hohlraum bewundern können: zusammengestellt aus äußerst naturgetreuen plastischen Nachbildungen der Zweige, Blätter, Blüten, Früchte des Baums oder Strauchs. Sie wirken nahezu wie frisch gepflückt. Weitere Aufschlüsse lassen sich dem Beschreibungszettel entnehmen, den Carl Schildbach auf die Deckelinnenseiten seiner Holzbücher klebte. Man erfährt, welchen Boden das Gehölz bevorzugt, welche Borkenkäfer oder Schwämme wiederum dieses Gehölz lieben, selbst welche Hitze von einem Kubikzoll trockenen Holzes unter bestimmten, stets gleichen Verbrennungs-bedingungen entfesselt wird.

Nicht weniger als 546 Werke, die 441 Gehölzarten vorführen, zeugen von Schildbachs Geduld und Ordnungsliebe. Er stellte sie in den Dienst der Naturkunde, die er mit ähnlichem Fleiß studiert haben muß, während er zunächst (1771–86) Tiergarten- und Menagerie-Verwalter des in Kassel residierenden Landgrafen Friedrichs II., später Ökonomie-Direktor im Dienste des nachfolgenden Landgrafen Wilhelms IX. war. Ein schmaler Briefband des Freiherrn von Günderode preist Schildbachs Schaffen bereits 1781. Der offenbar schlecht entlohnte Schildbach wurde oft von gelehrten Herren besucht, die ihm nach der Besichtigung eine Art Eintrittsgeld in die Hand drückten. Mit Joachim Heinrich Campe zeigt sich 1785 sogar ein angesehener Schriftsteller und Verleger von diesen umschweiflos aus Holz gemachten Büchern beeindruckt, die einem das Pressen und Bedrucken von Papierbögen ersparten.

Allerdings schuf Carl Schildbach nicht die einzige, wahrscheinlich auch nicht die erste »Xylothek«, wie die Holz- oder Baumbibliotheken unter Fachleuten heißen. Man nimmt an, ihre Erfindung wurde von den neuen Klassifizierungen und Benennungen des schwedischen Naturforschers Carl von Linné (1707–78) angespornt. Nach Heinz Petersen (Bucheinbände, Graz 1988) sind sie sicher belegt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. In Deutschland haben sich mindestens fünf von ihnen erhalten, wobei die einzelnen Stücke zumeist in der Form zweier durch den Buchrücken verbundener, beweglicher Kastenhälften gearbeitet wurden. Schildbachs Xylothek mit den Schiebedeckeln gilt jedoch als die umfangreichste und bedeutendste deutsche Holzbibliothek. Der französische Botaniker Buffon, seit 1739 Direktor des Pariser Botanischen Gartens, hätte Schildbach gern dorthin berufen. Die russische Kaiserin Katharina II. bot Schildbach vergeblich 2.000 Goldtaler für seine Xylothek.

Als er sich schließlich um 1800 aus Altersgründen zum Verkauf gezwungen sieht, speist ihn Landgraf Wilhelm mit einer schmalen jährlichen Leibrente von 450 Talern ab. Allerdings hatte Schildbach selber betont, nie aus Erwerbstrieb gebüffelt und getüftelt zu haben, vielmehr um seiner Nachwelt »ein Andenken zu stiften« – eben an ihn selbst. 1813, schon vier Jahre vor seinem Tod, wird Schildbach in Heinrich Füsslis Allgemeinem Künstlerlexikon wegen seines »ausgezeichneten Genies und ungeheueren Eifers zu einem der größten Naturhistoriker Deutschlands« erklärt. Auch in Lichtenbergs Magazin für das Neuste aus der Physik erntet er ein Lob.

Einmal in Kassel, nimmt der Besucher am besten auch gleich die Neue Galerie mit. Sie wurde nur wenige Fußminuten vom Ottoneum entfernt in einem Sandsteinklotz untergebracht, gegen den das Schloß Wilhelmshöhe hübsch ist. Auf halber Höhe der Innentreppe wird der Besucher stirnrunzelnd Halt machen, um einen ausladenden Türrahmen zu mustern, der wie zugemauert wirkt. Statt auf Ziegelsteine blickt man auf die Seitenstöße unterschiedlichster Bücher. Diesmal liegen die Bücher quer. Sie sind oder waren tatsächlich aus Papier. Hubertus Gojowczyk verfugte sie mit Mörtel und nannte das Ganze Tür zur Bibliothek.

Vermutlich muß dieses Documenta-Überbleibsel von 1977 als scharfe Warnung vor dem Betreten von Bibliotheken aufgefaßt werden. Eine Begründung gibt der Künstler nicht. Behelfen wir uns mit Lichtenberg. Er notiert, die vielen vorzüglichen Bücher hätten leider den einen Nachteil, »gewöhnlich die Ursache von sehr vielen schlechten oder mittelmäßigen« zu sein.
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