Montag, 30. September 2024
Risse im Brockhaus 38

Von deutschen wilden, feuchten Wiesen her werden Ihnen ihre »kugeligen, goldgelben Blüten«, so Brockhaus, nicht oft heimleuchten. Deshalb steht die Trollblume unter Naturschutz. Um Waltershausen kenne ich mehrere Fundorte. Bei einem Freund, der eine sumpfige Riedwiese hinterm Haus hat, siedelte sie sich sogar ohne sein Zutun an. Hinter dem Schloßberg steht sie regelmäßig am Kopfende der ansteigenden, von Wald umgebenen sogenannten Kräuterwiese, die unter Eingeweihten und Tourismus-Managern als sichere Bank gilt. Einmal traf ich sie in der Rhön. Darauf gab ich sie in einem inzwischen ausgemusterten Liedtext als »Königin des Hochmoors« aus, die einen gelben Turban trage. Sie sei von vielen dienstbeflissenen Wichten mit bleichen Schöpfen umgeben. Das waren die dortigen Wollgräser, die ich bis dahin höchst selten gesehen hatte. Man könnte natürlich auch glauben, es handele sich um irgendwelche Küken, die gerade eine Konferenz abhielten. Eine gegen die Monarchie.



Im Brockhaus kommt die niederländische Jazzmusikerin Clara de Vries (1915–42) nicht vor, weil sie eben Trompete spielte. Das galt damals noch nicht als salonfähig. Porträtfotos zeigen sie leicht füllig unter züchtig dauergewelltem dunklem Schopf. Sie stammte aus einer musikalischen Kaufmannsfamilie, die als jüdisch galt. Dank ihrer großen Begabung brachte sie es schon 1935 zu einer eigenen Band, Clara de Vries and her Jazzladies – damals noch fast eine Neuheit. Sie spielte auch in zahlreichen anderen Formationen. Auslandsauf-tritte führten sie bis Prag und Barcelona; sie gestand jedoch, dabei stets an Heimweh zu leiden. 1936 heiratete sie den Trompeter Willy Schobben, dem sie möglicherweise fachlich überlegen war. Das Paar blieb kinderlos. Mit der deutschen Besatzung, ab Mai 1940, wurden die Auftrittsmöglichkeiten von De Vries rasch beschnitten. Aber angeblich lehnte sie Flucht oder Untertauchen ausdrücklich ab. Sie sei auf alles gefaßt, soll sie einer Freundin geschrieben haben.* Trifft das zu, wäre Schobben entlastet, der noch eine lange musikalische Laufbahn vor sich hatte. Er starb erst 2009, mit 93. Nachdem seine 26jährige Gattin noch im August 1942 im Amstel Cabaret zu hören war, schlugen die Faschisten am 15. Oktober zu: Die Musikerin wurde im Verein mit ihren Eltern ins Lager Westerbork verschleppt. Wenige Tage später trafen die drei in Auschwitz ein, wo sie wahrscheinlich sofort ermordet wurden.

Claras älterer Bruder Louis de Vries, schon als »der holländische Armstrong« gefeiert, kam ganz normal um. Er war Ende August 1935 mit seinem Auto von Rotterdam aus zu einem Konzert in Groningen unterwegs. Dabei stieß er mit einem Milchwagen zusammen. Den Folgen (Blutvergiftung) erlag der 30jährige am 5. September im Krankenhaus von Zwolle.

Ein Fachmagazin bedauert 2021, eine Erhebung in drei internationalen Orchestern habe ergeben, von 103 Trompetenstellen sei lediglich ein Platz weiblich besetzt. Noch skandalöser sehe es bei der Posaune und der Tuba aus. Neuerdings jedoch seien Trompeterinnen auf dem Vormarsch. Na prima. Aber soll ich wirklich glauben, jedes von jenen drei Orchestern leiste sich 34 Trompetenstellen? Das müßten ja dann Orchester sein, die den Reichstag umzingeln und in alle Winde streichen, hämmern und blasen könnten. Oder gehen sie eben auf Nummer sicher, wie unsere PolitikerInnen, und halten immer jede Menge Ersatzkräfte in der Hinterhand? Für den nächsten Pandemiefall?

* Chiel Zwinkels, »Vries, Clara de«, in: Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland, Stand 2015: http://resources.huygens.knaw.nl/vrouwenlexicon/lemmata/data/Vriesde
** https://www.musikmachen.de/trompete/frauen-an-der-trompete-leider-noch-selten-zu-selten/




Leugne ich die ungewöhnliche Lebensgefährlichkeit eines bestimmten Grippeerregers, werde ich sofort an den Schandpfahl gebunden. Dagegen gilt es als normal, jenen großangelegten Feldzug gegen die UreinwohnerInnen Amerikas, den Brockhaus in Band 10 (gut zwei Seiten) mit Bezeichnungen wie »Völkermord, Vertreibung, erzwungene Assimilation« belegt, ein ganzes Leben lang nicht zur Kenntnis zu nehmen. Es sind nur wenige AußenseiterInnen, die gelegentlich daran erinnern, welchem haarsträubenden Unrecht große Länder wie Brasilien oder die USA ihre Existenz verdanken. Erstaunlicherweise gehört US-Bürger Bob Dylan zu ihnen. In seinem schon früher erwähnten jüngsten Buch* behandelt er das harte Los seines Künstlerkollegen John Trudell (1946–2015), ein Santee Dakota aus einem »Reservat« genannten Staatsgefängnis in Nebraska. Nach dem Wehrdienst wieder zu Hause, stellte Trudell fest, alle Verträge zwischen Weißen und Indianern waren gebrochen. Er ließ sich für den Rundfunk ausbilden und führte verschiedene Widerstandsmaßnahmen an, darunter (1969) die Besetzung der Gefängnisinsel Alcatraz. 10 Jahre darauf, eben von einer Rede und einer Flaggenverbren-nung vor dem FBI-Hauptquartier in Washington D.C. heimgekehrt, »fielen Bandbomben auf seinen Trailer [Wohnwagen] in Nevada im Duck-Valley-Reservat«. Trudell selbst war scheints gerade außer Haus. Nach Dylans Darstellung hatten die TäterInnen jedoch die Eingangstür von außen mit einem Vorhängeschloß verriegelt. Dadurch seien Johns schwangere Frau Tina und seine drei Kinder sowie seine Schwiegermutter Leah bei lebendigem Leib verbrannt. Die Brandstifter wurden nie gefaßt.

Dieser Schlag bewog Trudell, sich zunehmend nur noch als Poet zu betätigen. Meist trug er seine Gedichte zur Live-Musik einer, laut Dylan, vielseitigen und erstklassigen eigenen Band vor. Der Champion aus Kalifornien bescheinigt diesen unmodischen Stücken, sie seien streckenweise herzzerreißend. Trudell machte auch etliche Platten, doch in kommerzieller Hinsicht sei er, so Dylan, nie erfolgreich gewesen. 2015, knapp 70 Jahre alt, erlag er einer Krebserkrankung.

* Bob Dylan, Die Philosophie des modernen Songs, deutsche Ausgabe München 2022, S. 209–11



Den georgischen Schriftsteller Ilia G. Tschawtscha-wadse (1837–1907), von Hause aus Fürst und Grundherr, stellt Brockhaus als liberalen Geist, bedeutenden Sprachpfleger sowie Mordopfer vor. Georgien gehörte damals zum Zarenreich. Amts- und Schulsprache war Russisch. Tschawtschawadse hatte zunächst stilgerecht Jura studiert und eine Zeitlang als Richter gewirkt. Dann jedoch hob er in Tiflis mit Freunden die Adelsbank aus der Taufe, die er anscheinend auch leitete, und beteiligte sich an der Gründung verschiedener Zeitschriften, die patriotische und sozialreformerische Anliegen verfochten. Daneben verfaßte er Erzählungen und Gedichte sowie Übersetzungen aus dem Englischen. 1906 wurde er auch Mitglied der russischen Staatsduma, wo er beispielsweise die Todesstrafe anprangerte. Doch schon ein Jahr darauf erwischte es ihn selber. Ende August 1907 vermutlich mit einem Pferdegespann unterwegs, wurde der 69jährige Schriftsteller rund 20 Kilometer nördlich von Tiflis unweit der Stadt Mtskheta in der Tsitsamuri-Schlucht von sechs Banditen überfallen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in politischem Auftrag handelten. Sie ermordeten ihn. Damit blieb Gattin Olga als Witwe zurück. Brockhaus erweist sich hier als früher Verschwörungstheoretiker: Das ganze habe »unter Beteiligung der zaristischen Geheimpolizei« stattgefunden. Einige Internetquellen halten es dagegen nicht für unwahrscheinlich, der Mordauftrag sei von georgischen Menschewisten oder georgischen Bolschwisten erteilt worden. Beiden sei der liberale Literat ohne Zweifel ein Dorn im Auge gewesen, weil er durch seinen beträchtlichen Einfluß eine Menge Landsleute daran gehindert habe, den sozialistischen Ausweg anzupeilen. Jedenfalls ist nirgends von einem Raubmord die Rede. Dafür fand sich Tschawtschawadse später auf der 20-Lari-Banknote wieder. Prompt sprach ihn die orthodoxe Kirche seines Landes 1987 heilig.



Muhammad Nafi Tschelebi (1901–33) wird im Brockhaus nicht erwähnt. Der Syrier aus Aleppo wirkte zuletzt als Muslimführer in Berlin. Sein Ende liegt im Nebel. Im Sommer 1933 wurde der Leichnam des 31jährigen von Spaziergängern am Ufer eines Grunewaldsees entdeckt. Ob Tschelebi ertrank und warum er starb, scheint niemand zu wissen. Selbst der Verbleib der Leiche ist unbekannt. Es wird lediglich darauf verwiesen, daß die Nazis schlecht auf Tschelebi zu sprechen waren.* 1923 nach Berlin gekommen, hatte sich der Student der Technischen Universität zu einem führenden Förderer der Integration der Berliner Muslime und der Verständigung zwischen den Weltkulturen entwickelt. Er leitete das von ihm geschaffene Islam-Institut (1927) und gab mehrere Zeitschriften heraus. Allerdings hatte sich Tschelebi kräftig mit »autokratischen« Führern der muslimischen Gemeinde angelegt, könnte also auch ein Opfer interner Auseinandersetzungen gewesen sein. Über seinen privaten Lebenswandel – und etwaige Enttäuschungen oder Krankheiten – ist buchstäblich nichts zu erfahren. Seit 1997 verleiht das Zentralinstitut Islam-Archiv-Deutschland, das seit 1981 in Soest sitzt, jährlich an Nicht-Muslime, die im beschriebenen Sinne wirken, einen nach Tschelebi benannten Preis. 2012 ging er zum Beispiel an den Vorsitzenden des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Romani Rose.

* Burkhard Schröder in: »Die Berliner Moschee …«, Berlin Juni 2006, S. 57–59: http://berlin.ahmadiyya.org/berlin-mission-june06.pdf



Im revolutionären Jahr 1917 durfte sich der russische Volkswirtschaftler und Politiker Michail I. Tugan-Baranowskij (1865–1919) sogar vorübergehend Finanzminister der Ukraine nennen. Laut Brockhaus hatte er sich vom Marxisten zum Revisionisten gewandelt. Er habe insbesondere die Position vertreten, auf dem Weg zum Sozialismus sei auch für das unterentwickelte Rußland die Einschaltung einer kapitalistischen Etappe unerläßlich. Das erinnert an Wera → Sassulitsch, Folge 33. Möglicherweise hatte sie entsprechende Aufsätze von Tugan-Baranowskij gelesen. Er selber konnte nicht mehr viel für die kapitalistische Etappe tun, weil er Anfang 1919 »in der Eisenbahn zwischen Kiew und Odessa« sein Leben aushauchte, wie Brockhaus behauptet. Der vollbärtige, zuletzt in Kiew lehrende Professor war gerade erst 54 Jahre alt geworden. Laut englischer Wikipedia hatte er einen tödlichen Herzanfall erlitten. Von seinen Leidenschaften spricht niemand. Vielleicht hatte er ja gar keine.

Neulich gewann Tugan-Baranowskij noch einen hochrangigen Anhänger in Bolivien: Alvaro Garcia Linera, unter Evo Morales Vizepräsident des Andenstaates. Von Hause aus Mathematiker, dann Guerillakämpfer, hatte Garcia Linera zuletzt im Knast Soziologie – und anscheinend auch Tugan-Baranowskij studiert. 2006, wenn ich mich nicht irre*, gab er der Jungen Welt ein Interview, das inzwischen gesperrt im Archiv ruht. Ich kann mich jedoch auf ein paar Notizen stützen und hoffe, Evos Ratgeber nicht unkorrekt zu zitieren. Er versicherte dem Berliner Blatt, ihm schwebe nun die »Modernisie-rung« des Landes und damit dessen »Fortschritt« vor – bis in den Sozialismus! Nur klaffe vor diesem ein schmerzliches Desiderat. Die Arbeiterklasse fehle! Somit sei sie im Rahmen der Modernisierung erst zu schaffen, damit sie ihrer »Rolle als historischem Subjekt« gerecht werden könne. Zunächst müsse es deshalb um die »gewerkschaftliche Anbindung« der bolivianischen ZweihänderInnen gehen. Das war mutig und zugleich modisch gesagt. Bei Bebel und Lenin ankommen und die Proleten anbinden!

Der Stufenschematismus dieser FreiheitskämpferInnen, von ihnen selber meist »Historischer Materialismus« genannt, schmerzt ähnlich bös wie ein Herzanfall. Die von Proleten in Gang gehaltene Megamaschine des Kapitals mag uns bereits bis zur Höhe der Anden mit Überflüssigkeiten und ungesundem Müll zugeschüttet haben – da müssen wir durch, Genossen! Wie sich versteht, tun wir das wohlorganisiert, denn der Staat, das sind jetzt wir. F. G. Jünger hat in seiner Perfektion der Technik bemerkt, die Sozialisten pochten gerade wegen dessen herrlichen Organisierbarkeit aufs Proletariat. Mit ihm, dem Proletariat, läßt sich alles machen. Zwar kommt es inzwischen auch schon in den Hochburgen des Kapitals abhanden. Statt diese Gelegenheit freilich beim Schopf zu ergreifen, um auch das Kapital mitsamt seinen verheerenden Produktionsstätten und seinem eingefleischten Größenwahnsinn auf den Mond zu schießen, predigen die Garcia Lineras die Einhaltung der korrekten historisch-materialistischen Linie. In primitiven Bergdörfern ohne elektrischen Strom herumwerkeln, halbe Tage dem Schlaf oder dem Liebesspiel frönen, keinen blassen Dunst von Videoclips, Arbeiterparteien und Umfragewerten zu haben – wo kämen wir denn da hin!?

Selbstverständlich hätten wir auch da noch unsere Schwierigkeiten, beispielsweise mit der Gestaltung herrschaftsfreier Selbstorganisation. Aber gerade daran arbeiten die »linken« BerufspolitikerInnen nicht. Schließlich grüben sie sich damit selbst das Wasser ab.

* Harald Neuber, »Was zählt, sind Taten«, Gespräch mit Alvaro Garcia Linera, https://www.jungewelt.de/loginFailed.php?ref=/artikel/76967.was-z%C3%A4hlt-sind-taten.html, 18. November 2006



1381, also erstaunlich früh, brachen in Teilen Englands Bauernaufstände aus. Neben dem Prediger John Ball (in Band 2 nicht erwähnt) habe der Ziegelbrenner Wat Tyler zu den Anführern gehört. Dessen Haufen drangen von Canterbury, Kent, aus bis nach London vor, wo sie den Tower besetzten. König Richard II. lockte Tyler, geschätzt um 40 Jahre alt, zu angeblichen Verhandlungen – und ließ ihn kaltmachen. Dann habe Richard »durch falsche Versprechungen« auch das Fußvolk übers Ohr gehauen, nämlich zum Abzug verleitet. Damit war die Erhebung so gut wie zusammengebrochen. Soweit Brockhaus.

Mitstreiter John Ball, der Geistliche, ist auch noch einen Blick wert. Einen bald berühmten Kernsatz aus seinen Predigten, die er vornehmlich außerhalb der offiziellen Gottesdienste vor Bauern und anderen Werktätigen, etwa auf Kirchhöfen, in der gemeinsamen Landessprache (statt auf Lateinisch) hielt, zahlten ihm die edlen Herren im selben Sommer 1381 grausam heim, als er ungefähr 42 Jahre alt war. Der Satz lautete: »When Adam delved [grub] and Eve span [spann], Who was then a nobleman?« Da ihm der Erzbischof von Canterbury verständlicherweise (schon 1364) Kanzelverbot erteilt hatte, zog der volksfreundliche Anhänger John Wiclifs als Wanderprediger durch das von Adel, Klerus, Krieg, Abgabelast und Pest verwüstete England. Dabei verfügte allein die damals noch römisch geprägte Kirche über ein Drittel des englischen Bodens.* Was Wunder, wenn Ball wiederholt verhaftet und eingesperrt wurde. Zuletzt holten ihn Aufständische gewaltsam aus dem Kerker. Dann soll er, schon in seinem Todesjahr, an jenem Sturm der von Tyler geführten Bauern auf den Londoner Tower beteiligt gewesen sein, bei dem der erwähnte Erzbischof, Simon Sudbury, übrigens sein bigottes Leben einbüßte.

Wenige Wochen nach Tylers Ermordung und dem Zerbröckeln der Kampffront wurde auch Ball (in Coventry) aufgespürt und nach einem sogenannten Prozeß am 15. Juli 1381 in seiner Heimatstadt St. Albans (nördlich von London) in Anwesenheit König Richards erhängt und zerstückelt. Anschließend erfreuten sich sämtliche Leichenteile, aufgepfählt, nochmals einer mahnenden Zurschaustellung. Allerdings liebten die Rebellen, soweit ich sehe, dieses Verfahren ebenfalls. Vom verhaßten Erzbischof heißt es etwa, man habe sein abgeschnittenes, dann mit der aufgenagelten Bischofsmütze gekröntes Haupt auf eine Lanze gespießt, um es am Geländer der London Bridge anbinden zu können.

* Richard Vine / Melvyn Bragg, http://www.theguardian.com/tv-and-radio/2014/aug/04/melvyn-braggs-radical-lives-review, 4. August 2014



Brockhaus hat zwei Zeilen für die Überlebensrente übrig. Das grundsätzliche, ziemlich breitgefächerte Problem des Überlebens ist ihm entgangen. Mir drängt es sich gerade auf, weil selbst Walterhausen eine größere Brücke vorzuweisen hat. Auf ihr quert die Regionalbahn eine Ausfallstraße. Sie steht noch. Ich hätte natürlich auch mit der Regionalbahn nach Fröttstädt und dann Dresden reisen können, das ich schon immer einmal kennenlernen wollte. Dort fiel dieser Woche, um drei Uhr früh des 11. Septembers (!), ein Teil der Carolabrücke in die Elbe. 18 Minuten vorher hatte es noch eine Straßenbahn über die Brücke gebracht.* Die günstige Nachtzeit der mutmaßlichen »Materialermüdung«, von der keiner eine Ahnung gehabt haben will, ist reiner, glücklicher Zufall. Es gab weder Tote noch auch nur Verletzte. Jetzt knobelt bereits ein Rudel von Experten an der Aufgabe, das Brückenmaterial schon bei der Errichtung einer Brücke so zu programmieren, daß es eben immer nur nachts müde wird.

Gibt es doch Unfallopfer, kämpfen empfindliche Gemüter gern mit der Gefahr sich zu schämen, weil sie aus schwer begreiflichen Gründen unbeschadet davon gekommen sind. Kürzlich zum Beispiel entschied ich mich dagegen, den Unfalltod einer jungen Alpenbewohnerin zu behandeln. In Begleitung einer guten Freundin hatte sie vor einigen Jahren den Hausberg ihres Heimatstädtchens bestiegen, der keineswegs hoch und ihr zudem vertraut war. Sie rutschte jedoch unvermutet vom Pfad ab und stürzte dadurch in den Tod. Die Freundin konnte ihr nicht mehr helfen. Man fragt sich freilich rasch, wer vielleicht der Freundin geholfen habe. Jeder Mensch ohne dickes Fell hätte sich ja sicherlich an deren Stelle bohrende Fragen gestellt, ja er hätte sich womöglich krankgegrämt und am Ende auch noch umgebracht. Warum gerade sie und nicht ich? Habe ich unter Umständen etwas versäumt oder falsch gemacht? Habe ich sie auf dem Gewissen, weil ich das und das vorschlug, die und die Anspielung machte oder weiß der Teufel was? Hier lauern unzählige Stolpersteine.

Ich kenne weitere vergleichbare Fälle. Freilich kenne ich sie alle nur aus zweiter Hand, kann mich also kaum in das jeweilige mutmaßliche Opfer der Gewissensnot hineindenken. Die meisten Quellen umgehen das Problem sowieso. Dummerweise kann ich aber die Überlebende schlecht auf eigene Faust befragen, weil ich durch mein Stochern womöglich zusätzlichen Gram aufrühren würde. Schon die Frage, ob sie sich vielleicht um seelenärztliche Beratung bemüht hätte, kann sie in den falschen Hals bekommen. Ich selber hätte mir wahrscheinlich eine gesucht. Nur: was soll der Berater schon sagen? »Das hätte jedem passieren können / Gottes Wege sind unerforschlich / Die Mißstimmung zwischen Ihnen und der Verunglückten bilden Sie sich doch nur ein / Und wenn schon, dann bitten Sie sie eben um Verzeihung, das gewährt sie Ihnen bestimmt …«

Zu allem Unglück stammte die Verunglückte auch noch aus literarischem Hause und galt selber als künstlerische Begabung, die zu einigen Hoffnungen berechtigte. Ähnliches liest man im Hinblick auf die Freundin nicht. Ach, was sage ich: von der Freundin liest man überhaupt nichts, es ist ein Skandal. Wäre sie abgestürzt, hätte ihr vermutlich zumindest ein Heimatblättchen ein paar Zeilen und ein Foto gewidmet. Das »tragische Schicksal« der tatsächlich Verunglückten ging dagegen durch unsere bekannten sogenannten Leidmedien. Allerdings sollte man die Freundin vielleicht nicht völlig beleglos bedauern. In nicht einer Quelle ist von Augen- oder Ohrenzeugen des angeblichen Unfalls die Rede. Da dürften zumindest ein paar KriminalschriftstellerInnen die Brauen heben.

Grundsätzlich ist es natürlich immer wieder haarsträubend, wie wahllos und insofern unerklärlich der Unglückshammer zuschlägt. Hätte ich palästinensische Eltern gehabt, läge ich jetzt vielleicht angeschossen im Krankenhaus von Rafah und sähe die Betondecke des nächsten Stockwerkes auf mein Bett zukommen: christliche Bombardierung. Aber der Gazastreifen ist vergleichweise weit weg. Das Problem des Überlebens setzt uns in der Regel umso mehr zu, je näher uns die Unglücksopfer stehen. Viele horchen überhaupt erst auf, wenn »mein eigenes Kind!« unter die Räder eines röhrenden VW-Touaregs kommt. Als Anarchist bin ich selbstverständlich dagegen, daß man Trauer gradweise je nach Verwandtschaft oder Vaterland verliest, jedenfalls theoretisch. Aber wer wollte das praktisch aushalten, täglich um die halbe Welt zu trauern?

Petra Kelly tat es, und Victor Serge hätte ihr darin wahrscheinlich zugestimmt. Der russisch-französische Revolutionär und Schriftsteller bringt gleich auf den ersten Seiten seiner 1951 veröffentlichten Erinnerungen eine Bemerkung, die ich mir schon vor Jahren dick angestrichen habe. Ich erlaube mir, aus der deutschen Übersetzung von 1991, Seite 11/12, den ganzen betreffenden Absatz anzuführen, ist das Buch doch viel zu wenig verbreitet. Serge spricht gerade von seiner Knabenzeit in Brüssel:

>Daß Kummer vorübergehen kann und daß man danach weiterlebt, wunderte mich sehr. Überleben ist das Verwirrendste von allem, das glaube ich auch aus vielen anderen Gründen. Wozu überleben, wenn nicht um jener willen, die nicht überleben? Dieser unklare Gedanke rechtfertigte für mich das Glück, das ich hatte, und meine Ausdauer, indem er ihnen einen Sinn gab; und aus vielen anderen Gründen fühle ich mich noch heute mit vielen Menschen verbunden und durch sie gerechtfertigt, die ich überlebt habe. Die Toten sind für mich den Lebenden sehr nahe. Ich sehe nicht recht die Grenze, die sie voneinander trennt. Später, viel später mußte ich wieder daran denken, in den Gefängnissen, während der Kriege, als ich von den Schatten der Erschossenen umgeben lebte, ohne daß sich in mir im Grunde die dunklen inneren Ungewißheiten des Kindes, die kaum deutlich auszudrücken waren, merklich geändert hätten.<

* https://www.nachdenkseiten.de/?p=121192, 12. September 2024



Ein unglücklicher Badeunfall raubte Brockhaus und der mathematischen Fachwelt ein junges Genie: Pawel S. Urysohn (1898–1924). Er stammte aus wohlhabendem jüdischem Odessaer Hause. Die Fachwelt zählt ihn trotz seiner Jugend zu den Vätern der russischen Schule der »Topologie« – ein Arbeitsfeld, das weniger einem mit Granitfelsen gespickten Atlantikstrand, mehr einer Spielzeugschachtel gleicht, die leider oder anspornender-weise, je nach BetrachterIn, leer ist. Urysohn studierte in Moskau, wo er schon 1923 zum »ordentlichen« Professor ernannt wurde. Wiederholte Auslandsreisen mit seinem Fachkollegen und mutmaßlichen Geliebten Pawel Alexandrow führten ihn unter anderem nach Göttingen, wo sie algebraischen Kapazitäten wie Landau, Hilbert und Emmy Noether begegneten. Den erwähnten Unfall hatten die beiden Arbeits- und Urlaubsreisenden am 17. August 1924 spätnachmittags in der Bretagne, wo sie in einer Pension an der Atlantikküste knobelten. Beide waren durchaus begeisterte und gute Schwimmer, doch die See war rauh. Beim Umkehren wird Urysohn von der heftigen Brandung überwältigt. Sein Gefährte, mit 28 zwei Jahre älter als er, kann ihn zwar mit Hilfe von Anwohnern und eines Taus noch bergen und trotz der zahlreichen Felsen an den Strand bugsieren, doch die Wiederbelebungsver-suche eines Arztes sind vergeblich. Urysohn wird am Urlaubsort (Batz sur Mer) begraben. Wie es aussieht, ist die Topologie des ganzen Vorfalls gut dokumentiert* und läßt keinen Spalt für Argwohn frei.

* Detlef Gronau (Uni Graz), »Paul Urysohn in Batz sur Mer«, in: MDMV 18/2010, S. 236–39: http://page.math.tu-berlin.de/~mdmv/archive/18/mdmv-18-4-236.pdf



Nicht immer springt einem der sadomasochistische Zug der Bekleidungsmode auf den ersten Blick geradezu ins Gesicht. Um 1820 wuchsen die Stehkragen modischer Herrenhemden zunehmend steifer und höher empor. Man wundert sich nicht, wenn sie den Herrn Gustav Biedermeier dazu anstachelten, die Franzosen in den Atlantik zu jagen oder wenigstens dem eigenen Sprößling eine deftige Backpfeife zu versetzen. Der freche Knabe hatte zu fragen gewagt, warum die Hemden überhaupt Kragen hätten, einerlei welche. Da drohte bereits die nächste Frage, ob Staaten und Armeen zur Steigerung menschlicher Glückseligkeit wirklich unabdingbar seien.

Der besagte Schmirgelstehkragen wurde bald recht zündend Vatermörder genannt. Brockhaus gönnte ihm fünf Zeilen. Das war mir möglicherweise schon um 1965 aus einer Vorläufer-Ausgabe ans Ohr gedrungen. Als ich mich mit einem Kasseler Kumpel darauf geeinigt hatte, eine unabhängige, wirklich kämpferische Schülerzeitschrift auf den Markt zu werfen, schlug ich vor, das neue Blatt Vatermörder zu nennen. Reinhold war Feuer und Flamme und rieb den Zeitschriftenkopf gleich mit Letraset-Blockbuchstaben auf die Druckvorlage für Seite 1. Das war dann immerhin ein gewisses Beweis- und Erinnerungs-stück, das uns blieb. Die Zeitschrift kam nie über den Kopf hinaus.



Der Franzose Luc de Clapiers Vauvenargues (1715–47) ist sogar Marquis – nur kränkelte er leider von Kind auf. Nicht nur darin erinnert er an Landsmann Blaise Pascal. Seiner Sehschwäche zum Trotz liest der Knabe viel; besonders die Schriften von Plutarch und den griechischen Stoikern haben es ihm angetan. Doch da sein Vater zum Adelstitel – wegen Ausharrens in der pestverseuchten Heimatstadt Aix-en-Provence – offenbar keine Pfründe erhielt, kommt ein Studium nicht in Frage. Der Sprößling wird mit 20 Offizier beim Militär, was ihn freilich weder zum Nationalhelden noch gesünder macht. So bringt ihm, nach dem italienischen Feldzug (1734), das Hauen um Böhmen (1742) Erfrierungen ein, die ihn für Monate ins Hospital zu Nancy zwingen. Im selben Jahr stirbt 17jährig sein Kamerad Paul Hippolyte Emmanuel de Seytres, mit dem ihn seit 1740 eine mindestens schwärmerische Zuneigung verbindet. Zuletzt in Arras stationiert, nimmt Vauvenargues 1744 seinen Abschied. Man hat inzwischen ein tuberkulöses Lungenleiden bei ihm festgestellt.

Seit April 1743 korrespondiert er mit Voltaire, was zu einer engen Freundschaft führt. Vauvenargues arbeitet längst an eigenen Texten, nur wird sein Gesundheitszustand immer bedenklicher. Er zieht sich die Pocken zu, wird nahezu blind, leidet an chronischem Husten. Möglicherweise ist hier eine in der Jugend aufgeschnappte Syphilis im Spiel. Dadurch werden auch seine Versuche zunichte gemacht, im diplomatischen Dienst Fuß zu fassen. Seit 1745 lebt er zurückgezogen und ärmlich in Paris. Ein Jahr darauf erscheinen, anonym, seine Reflexionen und Maximen. In diesem schmalen Sammelband häufen sich Schlagworte wie Gefühl, Natur, Herz, Tugend, weshalb man ihren Anwender zu einem Vorläufer der Romantik erklärt hat. Immerhin liest man darin auch von Männern, die ihre »Luft zum Atmen in der Unbestimmtheit finden« und sich von ihren eigenen Erfindungen »berauschen« lassen. Vauvenargues hat wenig Humor und viel Moral. Seine Hauptsorge gilt dem Ruhm. Da blitzen in seinem unübersehbaren Skeptizismus zuweilen sogar selbstironische Töne auf: »Wenn man fühlt, daß man nichts hat, um sich die Achtung eines anderen zu erwerben, ist man schon recht nahe daran, ihn zu hassen.«

Eine von Voltaire empfohlene zweite, verbesserte Auflage seines Werkes erlebt der vom Schicksal geschlagene Tugendbold wahrscheinlich nicht mehr mit: er stirbt 1747 mit 31 Jahren. Vauvenargues wurde erst im 19. Jahrhundert »entdeckt«, darunter von Schopenhauer. Seitdem wird der streckenweise meisterhafte Aphorismen-Schreiber in die Reihe »der großen französischen Moralisten« gestellt. Dem schloß sich auch Brockhaus an. Ich fürchte jedoch, hier ist ein Ausgleichsgesetz am Wirken, das auch Autoren/Schriftstellerinnen wie Otto Weininger, Katherine Mansfield, Franz Kafka, Simone Weil zugute kam: Währte das Leben nur halb, zählt das Werk später doppelt. All diese Leute werden heillos überschätzt.



Der britische Entzifferungskünstler Michael Ventris (1922–56) hatte das Licht der Welt in einer wohlhabenden Offiziersfamilie erblickt, wenn auch unter Beigabe von zunächst chronischem Asthma. So wuchs er teils in der Schweiz auf. Mit 30 Jahren erregte der gelernte Architekt, Navigator der Royal Air Force und Freizeit-Sprachforscher Aufsehen durch seine Entzifferung einer als Linear B bezeichneten antiken, mykenisch-minoischen Silbenschrift, von der sich einige in Tontafeln geritzte Fragmente auf Kreta gefunden hatten. Ventris‘ verblüffende Lösung ging 1952 über die Londoner BBC in alle Welt. Nach Andrew Robinson, der 2002 eine Biografie über den »genialen« Entdecker veröffentlichte, soll dieser allerdings anschließend sowohl in seiner Ehe – offenbar mit einer gut betuchten High-Society-Schönheit – wie in seinem ursprünglichen Beruf als Architekt vor erheblich weniger leicht lösbaren Problemen gestanden haben. Möglicherweise sei Ventris 1956 unweit von London in den frühen Morgenstunden eines Herbsttages mit seinem Wagen in selbstmörderischer Absicht vor einen geparkten Lkw geprallt.* Amtlich war es ein Unfall, weshalb es so auch im Brockhaus steht. Ventris starb kurz darauf an den Folgen. Neben der Witwe hinterließ der 34jährige zwei Kinder.

* Alasdair Palmer, http://www.telegraph.co.uk/culture/4727714/A-code-breaker-and-an-enigma.html, 21. April 2002. Das Todesjahr ist falsch angegeben.



Der französische Maler Joseph-Marie Vien (1716–1809), Lehrer von J. L. David, soll es zu einigen Weihen gebracht haben – man glaubt es gern, bediente er doch den zeitgemäßen Hunger nach »Klassizismus«, der selbst die kaltschnäuzigsten Revolutionäre nach römischen Togen oder Blumenvasen lechzen ließ. Kaiser Napoleon soll Vien (1804) noch rechtzeitig vor dessen Dahinscheiden zum Senator und Reichsgrafen erhoben haben. Von diesem Tropf bildet Brockhaus das bekannte, gleichwohl entsetzliche Gemälde Die Verkäuferin von Amoretten aus dem Jahr 1763 ab. Amoretten waren jene geflügelten, meist nackten Püppchen, die Botschaften der Geschlechterliebe zu überbringen oder ganz allgemein für schwüles Klima zu sorgen hatten. Bei Vien springt allerdings das Gegenteil ins Auge. Alle Personen oder Puppen sind derart keimfrei, unsinnlich und abschreckend gemalt, daß man Brockhaus Band 23 nur schleunigst zuwerfen und aus dem Fenster schmeißen kann, damit einen der Ekel nicht länger als unbedingt erforderlich schüttelt. Denkt man dann an die furchtbaren Begleiterscheinungen und Ergebnisse der Französischen Revolution, wundert einen gar nichts mehr. Offenbar wurde sie von fleischgewordenen Cartesischen Maschinen betrieben, die ihre maßlose Eitelkeit mit allerlei rührseligem Zierat verbrämten.



Der Pariser Organist und Komponist Louis Vierne (1870–1937) war von Geburt an stark sehbehindert, laut Brockhaus sogar blind. So unterzog er sich häufigen, teils qualvollen Behandlungen und sah doch spätestens mit 50 Jahren gar nichts mehr. Gleichwohl war der Schüler von César Franck und Charles-Marie Widor ein herausragender Orgelspieler und Hochschullehrer geworden. Eine Ehe mit der Sängerin Arlette Taskin scheiterte, brachte jedoch drei Kinder hervor. Einen Sohn, Jacques, raubte ihm allerdings der Erste Weltkrieg. Zu allem Unglück zieht sich Vierne 1906 bei einem Sturz auf der Straße einen komplizierten Beinbruch zu und muß sich eine neue Pedaltechnik beibringen. Trotzdem reist er viel, um Gastspiele zu geben und Geld für Orgel-Instandsetzungen zu sammeln, so 1927 in den USA – wo ihn der erste Herzinfarkt ereilt. Vierne ist starker Raucher, nimmt zunehmend Medikamente, auch Schlaf- oder Aufputschmittel – seine Einsamkeit heilen sie nicht.

Das einzige Glück, das er hat, erreicht ihn im Alter von 66 am 2. Juni 1937 während seines angeblich 1.750. Orgelkonzerts vor 3.000 Leuten an »seiner« Orgel in der Pariser Kathedrale Notre-Dame, wie wir unter anderem von seinem ebendort anwesenden Assistenten Maurice Duruflé wissen.* Im letzten Satz seines Werkes Triptyque sei Vierne plötzlich blaß geworden. »Seine Finger hingen förmlich an den Tasten und als er seine Hände nach dem Schlußakkord abhob, brach er auf der Orgelbank zusammen: Ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen. An dieser Stelle des Programms sollte er über das gregorianische Thema 'Salve Regina' improvisieren. Aber anstelle dieser Hommage der Patronin Notre-Dames hörte man nur eine einzige lange Pedalnote: Sein Fuß fiel auf diesen Ton und erhob sich nicht mehr.« Soweit Duruflé. Der junge US-Organist Christopher Houlihan wußte es 2012 noch genauer: es war das große E gewesen.** Also Ende. Der Pechsträhne.

* Matthias Paulus Kleine, http://www.musikundtheologie.de/28.html, Stand 2024
** https://www.huffpost.com/entry/louis-vierne-concert-organist-tribute_b_1559222, 31. Mai 2012




Der 400-Meter-Hürdenläufer und Pilot Clifton Cushman (1938–1966) aus den USA war ein Opfer, das im Brockhaus fehlt. Diesen Kämpfer hat der Vietcong auf dem Gewissen. Nachdem Cushman 1960 in Rom eine olympische Silbermedaille errungen hatte, trat er im folgenden Jahr in die US-Luftwaffe ein. Es war ihm zu wenig, immer nur an 91,44 Zentimeter hohen Hürden zu straucheln. Am 25. September 1966 erhielt Major Cushman, einst Absolvent der University of Kansas in Lawrence, den Auftrag, eine im Norden Vietnams gelegene Eisenbahnbrücke zu bombardieren. Bei diesem Flug wurde sein Jäger abgeschossen. Der 28jährige Major galt zunächst nur als vermißt. Als seine Gattin Carolyn davon hörte, angeblich Musiklehrerin, soll sie laut englischer Wikipedia erklärt haben, Cushman laufe da unten gerade das größte Rennen seines Lebens. Es sei so groß, daß man allerdings das Zielband nicht sehe. Cushman sei in ausgezeichneter körperlicher Verfassung. Er habe zudem einen sehr tiefen Glauben an Gott. »Welche bessere Kombination könnte es geben?« Die mit seiner Gattin vielleicht. Einen Sohn, geboren 1965, hatte Cushman auch noch. Colin Cushman soll immerhin kein Militär, vielmehr Musiker geworden sein.

Dem epochalen Schwerverbrechen Vietnamkrieg fielen, neben rund 60.000 ausländischen Soldaten, mehrere Millionen Einheimische zum Opfer. In ähnlicher Höhe wird die Anzahl der Verwundeten, Verstümmelten, Verseuchten geschätzt. Zu den unmittelbaren Todesopfern zählte die 27jährige Ärztin Đặng Thùy Trâm, die es im Juni 1970 auf einem Urwaldpfad erwischte, wohl in einem Feuergefecht. Ein ungehorsamer US-Soldat, Fred Whitehurst mit Namen, rettete jedoch ein Tagebuch der Ärztin. Nachdem es ihm schließlich gelungen war, Trâms Angehörige zu finden und sich mit ihnen zu verständigen, wurde das Tagebuch (2005) veröffentlicht. Übersetzungen ins Englische und Deutsche folgten.* Es wäre interessant zu wissen, ob Cushmans Sohn darin geblättert hat.

* https://www.vietnam.ttu.edu/resources/tram_diary/



Brockhaus gibt den Finnen Lauri Viita (1916–65) in sechs Zeilen nicht gerade als »proletarischen« Autor, jedoch als Autodidakten aus. Viita wuchs mit etlichen Geschwistern in der »roten« Hügelsiedlung Pispala nahe der Industriestadt Tampere auf, die rund 170 Kilometer nördlich von Helsinki an einem ausgedehnten See liegt. Diese Gegend ist Hauptschauplatz des 1950 erschienenen, dann vielgelesenen Romans Moreeni (»Moräne«). Für meinen Geschmack rührt das stark autobiografisch gewürzte Erzählwerk etwas zu ausgiebig und betulich im Alltag des finnischen Volkes, ohne dabei je in die tieferen Schichten persönlicher und politischer Konflikte vorzudringen. Gleichwohl stellt es erstaunlicherweise kein stilistisches Ärgernis dar. Wenn der junge Viita das Gymnasium in Tampere vorzeitig verließ, dürfte es eher an seiner Aufsässigkeit als am häuslichen Geldmangel gelegen haben. Er trat als Tischler/Zimmermann und Bauarbeiter in die Fußstapfen seines Vaters. Der war ein wortkarger, etwas einfältiger Mann, doch immerhin kein Tyrann, falls der Romanschilderung geglaubt werden darf. 1939 zog der Sprößling in den sogenannten Winterkrieg – ausgerechnet die »rote« Sowjetunion hatte Finnland angegriffen. Auf diese bekannt dialektische oder gummihafte Moskauer Auslegung der Gebote des ständig beschworenen »Proletarischen Internationalismus« spielt Viita im Roman nur noch kurz an.* Er »diente« bis 1944 im Krieg – und damit auch einer inzwischen mit dem faschistischen Deutschland verbündeten finnischen Regierung. Allerdings trat er nie einer Partei bei und nahm in Kauf, selbst als gemachter »Arbeiterschriftsteller« von Finnlands Kommunisten geschnitten zu werden. Im Tampere der Nachkriegszeit hatte sich um den dunkelhaarigen, kantigen Kopf ein Zirkel meist proletarischer Autoren gebildet, in dem er mit seiner kraftvollen Stimme den Ton angegeben haben soll.

Der Erfolg seines (ersten) Gedichtbandes Betonmüller von 1947 beflügelte Viita, eine Existenz als Freier Schriftsteller zu wagen. Noch scheint er sich gesund zu fühlen. Im ganzen geht Viita drei Ehen ein, denen immerhin sieben Kinder entspringen, die vermutlich alle nach Brot und Strümpfen jammerten. Seine zweite Gattin, bis 1956, war die Autorin und Übersetzerin Aila Meriluoto. Mit ihr lebte er in verschiedenen kleineren Städten Südfinnlands. Mit der Zeit fürchtet sie sich allerdings vor ihm, ist er doch offensichtlich gemütskrank geworden. Viita begibt sich wiederholt in psychiatrische Behandlung. Meriluoto läßt sich schließlich scheiden. Laut Petri Liukkonen** schildert sie das Ehe- und Krankheitsdrama später in ihrem Buch Lauri Viita (1974). Verschiedene Gutachter sollen Viita Schizophrenie oder, moderner, eine bipolare Störung bescheinigt haben. Aber seine Arbeit an einer Roman-Trilogie wird im Dezember 1965 in Mäntsälä bei Helsinki nicht etwa durch einen Anfall, vielmehr durch einen Autounfall durchkreuzt. Viita erliegt seinen inneren Verletzungen am nächsten Morgen im Krankenhaus Töö. Laut finnischer Wikipedia hatte der 49jährige proletarische Autor in einem Taxi gesessen, das von einem betrunkenen Lkw-Fahrer gerammt wurde. Der Mann sei später mit anderthalb Jahren Gefängnis bestraft worden. Das Geschick des Taxifahrers übergehen die Lexikografen.

* in der deutschen, von Carl-August von Willebrand übersetzten Ausgabe Ein einzelner Weiser ist immer ein Narr, München 1964, auf S. 409
** in seinem Authors' Calendar, https://web.archive.org/web/20130704034039/http://www.kirjasto.sci.fi/lviita.htm, Stand 2008




Wieder eine höchst befremdliche Brockhaus-Schonbehandlung, diesmal für den Psychiater Werner Villinger (1887–1961). Dessen Partei- und sonstigen NS-Mitgliedschaften und zahlreichen Ämter, darunter »Erbgesundheitsrichter«, drängt das Lexikon (1994) in der Angabe zusammen, ab 1934 sei Villinger Chef der Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel bei Bielefeld, später Professor in Breslau gewesen. In Bethel waren damals rund 3.4oo Kranke oder Behinderte verwahrt, davon 2.400 EpileptikerInnen. Das schloß auch Kinder und Jugendliche ein. Unter dem Strich habe Villinger »wesentlich zur Etablierung einer eigenständigen Kinder- und Jugendpsychatrie« beigetragen sowie die Einrichtung von »Erziehungsberatungsstellen« gefördert. Soweit das Lexikon.

Auf diese Weise läßt sich also der bekannte faschistische »Euthanasie«-Weg, bei dem man auch vor Zwangssterilisationen und Vergasungen im großen Maßstab nicht zurückschreckte, als Osterspaziergang verbrämen. Nach Klee und einigen Internetquellen zählte Villinger unter anderem zu den emsigen T-4-Gutachtern, die aufgrund der Krankenaktenlage für die entsprechenden Todesurteile sorgten. Gleichwohl gelang es ihm nach dem Krieg, erfolgreich »entnazifiziert« und wieder Professor zu werden, diesmal in Marburg. 1952 ließ er sich das Bundesverdienstkreuz anheften. Vor seiner Emeritierung (1956) in Marburg war er sogar noch Rektor gewesen. Immerhin läßt sich dem offiziellen Marburger Professorenkatalog inzwischen entnehmen, am 26. Juli 1961 sei Villinger vor dem Amtsgericht Marburg zu seiner Tätigkeit als Gutachter bei jener »Aktion T4« befragt worden. Wenig später, am 9. August, habe der 73jährige »unter ungeklärten Umständen« bei Innsbruck, wo er an einem Kongreß teilnahm, einen tödlichen Sturz auf einer Bergwanderung erlitten. Möglicherweise sei das ein Selbstmord gewesen.



Täusche ich mich nicht, zählt der Vorwand zu den drei oder vier wichtigsten Mitteln sämtlicher menschlicher Kommunikation. Er ist allgegenwärtig. Nur im Brockhaus fehlt er. Es mag natürlich sein, er taucht im Lexikon hier und dort im Zusammenhang mit der Lüge auf – aber durch irgendeine Nebenbehandlung wird man seiner großen Bedeutung nicht gerecht. Prüfen Sie einmal, was Sie gestern an einem Tag Ihrer Gattin, Ihren Kindern, Ihren Freunden, Mitarbeitern, Kunden, Wählern, Ärzten und schließlich immer wieder auch sich selber weisgemacht haben: nichts als Vowände. Sprächen Sie stets unverblümt und geradeaus, hätten Sie beispielsweise keine Freunde, MitarbeiterInnen, Kunden und WählerInnen mehr. Sie ließen Sie kurzerhand stehen, weil Ihr Eigennutz und Ihre Verdorbenheit gar zu offensichtlich wären. Gewiß ist ihnen schon klar, daß Sie ein Arschloch sind – aber sie möchten gern darüber hinweggetäuscht werden. Nennen Sie mir ein Kind, dem der Vater zuknurrte: »Warte nur, du Saubiest, dich werde ich schon kleinkriegen!« Nein, nein. Es geht nur um Erziehung. Papa will lediglich dein Bestes. Meistens bekommt er es auch, beispielsweise deine sogenannte Liebe. Nennen Sie mir einen Finanzminister, der den Wahlschafen ankündigte, mit der steuerlichen Maßnahme X gedenke er sie wieder tüchtig auszuweiden, ohne daß sie es merkten. Nennen Sie mir eine geheimdienstliche oder militärische Maßnahme, die kein Kriegsvorwand gewesen wäre. Eine Stufe vorher werden allerding erst Sanktionen angeordnet. Sanktionen sind möglicherweise das beliebteste Hüllwort der Postmoderne überhaupt.



Die in der Regel ausgesprochen seltene Ralle Wachtelkönig, ein Vogel feuchter Flußniederungen, hat mit Wachteln wenig und mit Königen gar nichts am Hut. Ihr wissenschaftlicher Name »Crex Crex« ist an die merkwürdige Lautäußerung des Männchens gelehnt. Der volkstümliche Name »Wiesenknarrer« ist von daher keineswegs aus der Luft gegriffen. Das Männchen bringt diesen zweisilbigen Revierruf meist abends und die ganze Nacht hindurch, dabei oft in langen Reihen. Ornithologe Einhard Bezzel schreibt nicht unzutreffend, der Ruf sei gelegentlich mit dem Laut verglichen worden, der beim raschen Durchstreifen der Zähne eines Kammes entstehe. Für mein Empfinden macht man aber zuviel Aufhebens von dem Ruf. Er ist zum Beispiel nicht sonderlich weit vom Schnarren des Tannenhähers oder vom Bellen des Kolkrabens entfernt. Musik wäre jedenfalls etwas anderes. Die starke Gefährdung des Wachtelkönigs ist sicherlich betrüblich – stelle ich mir allerdings vor, den Vogel in einer Flußschlaufe einen ganzen Sommer lang als Nachbarn beziehungsweise Ruhestörer zu haben, wäre ich spätestens Mitte Juli selbstmordreif. Er soll sich nämlich sehr geschickt bedeckt halten. Den kriegen Sie nicht so bald vor die Flinte.



Für mich hat der Komponist Richard Wagner im Wesentlichen nur Bedeutung, weil er einem guten Bekannten von mir Stoff für einen interessanten, großangelegten Radierungszyklus gab. Der gelernte Grafiker Günter Scherbarth, geboren 1930, lehrte am Westberliner Einsteinufer Schrift. Mich schätzte und beschäftigte er öfter privat als Künstlermodell, mein damaliger Broterwerb. Einmal steckte ich den Kopf in seinen Unterricht und konnte belustigt feststellen, er hielt viel von Wilhelm Busch und geizte auch nicht mit verbalen und gestischen Einlagen aus dessen Werken. An Schriftzügen baute er wie ein leidenschaftlicher Architekt an Häuserzeilen. Aber noch lieber zeichnete, radierte oder malte er – und zwar »nach der Natur«, was bei ihm vor allem hieß: nach der menschlichen Gestalt. Seine Aktstudien sind unzählbar. Er selber trat in altmodischen Kleidern auf, in denen man eher einen sogenannten Penner als einen sogenannten Professor erwartet hätte. Von seiner Schülerin Silke Kruse gibt es ein 1990 entstandenes Ölgemälde Günter radiert am Ring. Die dürren Beine übergeschlagen, hockt er auf einem Schemel. Seine kralligen Hände halten die Zinkplatte und die Kaltnadel. Die lächerliche Jacke wird von einem Knopf zusammengehalten, der uns ins Gesicht zu springen droht. Alles beherrschend der kantige Schädel mit dem Bürstenschnitt. Die verstülpten Lippen ergeben einen langen Strich. Lotrecht dazu finsteres Gewölk über der Nasenwurzel. Die eulenartigen Augen senden die Frage an uns aus: Sind etwa Sie die Krone der Schöpfung?

Scherbarth hatte viel Sinn für Humor und scherzte in allen Lebenslagen. Diese Neigung schlug sich natürlich auch in dem Zyklus über Wagners Ring des Nibelungen nieder, auf den sich Kruses Porträt bezieht. Auf 120 Blätter veranschlagt, konnte er den Zyklus nahezu vollenden, ehe ihn 2000 Wotans Speer ins Herz traf. Da ihm das Verschwommene nicht lag, zog Scherbarth die Licht- und Schwarzalben, Helden und Walküren aus den dräuenden Nebeln und betörenden Geständnissen, die sie verbreiten – und er zog sie aus. Sie handeln überwiegend als Akte. Aber er stellte sie nicht bloß. Wie immer wir uns ausstaffieren, verbrämen wir alle auf vielfältige Weise die eine uns auferlegte Vergänglichkeit. Auch Schreibpapier ist ja geduldig. Scherbarth war in einem Brief Wagners mit Genugtuung auf die Bemerkung gestoßen, am liebsten würde er die Sängerdarsteller des Ringes nackt auf die Bühne bringen. Ich konnte ihn dann mit einem Wagner-Zitat zum Parsifal erfreuen, das ich in Martin Gregor-Dellins Wagner-Biografie gefunden hatte: »Ach! Es graut mir vor allem Kostüm und Schminke-Wesen; wenn ich daran denke, daß diese Gestalten wie Kundry nun sollen gemummt werden, fallen mir gleich die ekelhaften Künstlerfeste ein, und nachdem ich das unsichtbare Orchester geschaffen, möchte ich auch das unsichtbare Theater erfinden!«

Scherbarth war von der globalen Jagd nach Macht und Geld, Ruhm und Unsterblichkeit gefesselt, die uns Wagner in seinem langatmigen und – streng genommen – tautologischen Rührstück vorführt; schließlich steckt die Dramatik bereits in der Musik. Die Helden und Unholde, die sich dort stabreimend in die Brust werfen, wären in der Tat besser in den Orchestergraben gefallen. Scherbarth zeigt in seinen Blättern nur das Wesentliche. Auftrumpfen hilft nicht! Das ist seine Botschaft. Denn früher oder später bleibt es keinem erspart ins Gras zu beißen.

Als sich Scherbarth im Sommer 1983 erstmals näher mit der großangelegten Ränkeschmiede befaßte, die Wagner im Dunstkreis altgermanischer Sagen angesiedelt hat, war ihm gerade eine neue Niere eingepflanzt worden. Wahrscheinlich hatte er sich die Krankheit bei Kriegsende zugezogen, als er im »Volkssturm« Deutschland gegen die Russen verteidigen sollte. Der 15jährige Berliner Bengel zog es vor, sich nach Bayern durchzuschlagen. Durch die Nierentransplantation von 1983 waren ihm nun noch 17 Jahre in vergleichsweise großer Bewegungsfreiheit beschieden, sodaß er die 70 erreichte. Aber er mußte sich ständig zeit- und kräfteraubenden Kontrollen in der Klinik unterziehen und Medikamente nehmen, die andere Organe schädigten. Mir gegenüber zuckte Scherbarth einmal die Achseln: »Der Mensch weiß hier mal wieder weniger, als er tut.«

Leider ist Scherbarths mutmaßliches Hauptwerk, der Radierungszyklus, gleichfalls in der Sparte »Unsichtbares Theater« zu Hause, bislang jedenfalls. Die Blätter ruhen auf mehrere Mappen verteilt in irgendeiner Kommodenschublade. Wer sich einmal ernsthaft für sie interessieren sollte, kann sich an Silke Kruse aus Briedel wenden. Das ist jene Schülerin, der die Plattenschachtel Leon übrigens ihr pfiffiges Titelblatt verdankt.



Der Umverteilungs- und Ausplünderungsvorwand Währungsreform dürfte ziemlich bekannt sein. Vielleicht war Ihnen aber bislang nicht unbedingt klar, daß es sich im Laufe der Neuzeit zunehmend um eindrucksvolle Massenveranstaltungen handelt. Zur westdeutschen Währungsreform von 1948 bringt Brockhaus gleich zwei Schwarzweißfotos, die mich fast auf Anhieb geradezu erschreckt haben. Foto 1 zeigt eine schier endlose Warteschlange in einer recht engen Straße, in der sich offensichtlich eine Umtauschstelle befindet. Zu allem Unglück regnet es auch noch in Strömen. Die Hüte triefen; die Regenschirme verhaken sich; jederzeit droht eine Massenschlägerei auszubrechen. Im Inneren der Umtauschstelle (Hamburg, Foto 2) sieht es keinewegs gemütlicher aus. Wir blicken über die gebeugten, tadellos frisierten Hinterköpfe von mehreren schreibenden oder schimpfenden Schalterbeamten auf Dutzende von andrängende, sich stoßende Leute beiderlei Geschlechts, die sich bereits eine Weile ihre Beine in den Bauch gestanden und Püffe und Blaue Flecke geholt haben, und die jetzt endlich ihre 40 Mark oder weiß der Teufel welches Almosen begehren. Auch hier liegen Verzweiflungstaten geradezu in der dicken Luft. Viele Gesichter sind verzerrt; einige Fäuste, die den Berechtigungsschein umkrampfen, bereits angeschwollen; manche Augen hilfeerheischend oder wütend gegen den vermutlich auf einem Schrank sitzenden Fotografen verdreht.

Der Grundzug dieser Massenveranstaltung kann nur als Entwürdigung bezeichnet werden. Um sich auf solche erniedrigende Abhängigkeit, Zusammenpferchung, Freiheitsberaubung einzulassen, muß der Mensch bereits auf das Niveau einer Schafherde herabgesunken sein. Das hat die sogenannte Massengesellschaft geschafft. Und es ist ja in allen gesellschaftlichen Bereichen das Gleiche. Massen strömen zum Fußballstadion; Massen lassen sich wie kleine Abnickautomaten an die Wahlurnen führen; Massen schielen zur Anzeigetafel, wo die Zugverspätung von 20 auf 40 Minuten »aktualisiert« wird. stecken ihrem Jüngsten schnell ein Bonbon ins Maul und nehmen sich vor, bei »60 Minuten« nach zwei MitwarterInnen zum Skatspielen Ausschau zu halten. Aber die Massen können auch in Zorn geraten und sozusagen losgelassen werden. Deshalb habe ich Demonstrationen eigentlich immer gefürchtet, schon als rebellischer Schüler. Die Massen brüllen »Che Che Che, jetzt tun wir euch mal weh« und schlagen alles kurz und klein.

Im Zeitalter der anscheinend unumkehrbaren Vermassung ist die Stunde der mit allen Wassern gewaschenen Regisseure und der schlitzohrigen DrahtzieherInnen gekommen. Schon Konrad Adenauer war ein ganz großer Fuchs. Jetzt bildet sich wahrscheinlich Sahra Wagenknecht ein, sie werde die Massen früher oder später in die Glückseligkeit führen. Hoffentlich wacht sie nicht im Krankenhaus auf, weil die enttäuschten Massen sie zermalmt haben.



Einen seltsamen Gegensatz zur menschlichen Massengesellschaft soll das Walroß darstellen. Bei seinem Anblick (Farbfoto im Brockhaus) glaubt man es kaum. Der braunschwartige Koloß kann bis vier Meter lang werden. Allein seine beiden unter Elfenbeinjägern begehrten oberen Eckzähne bringen es mitunter auf Armlänge. Merkwürdigerweise hält es das Lexikon für überflüssig mitzuteilen, warum sich diese fette Robbe mit solchen unhandlichen Dolchen abplagt, die schon jedes Mittagsschläfchen erschweren müssen. Immerhin betont Brockhaus, das Walroß sei sehr gesellig und trete gern in riesigen Herden auf. Odobenus rosmarus, so der wissenschaftliche Name, scheint also kein eingefleischter Raufbold zu sein, der seine Eckzähne am liebsten als Dolche einsetzt. Seine Nahrung sucht es vorwiegend unter Wasser, dabei hauptsächlich Muscheln, Schnecken, Seegurken und ähnliches Zeug. Einer Hirschkuh ins Genick zu springen wie der Tiger, das ist nicht seine Art. Seine Dolche nutzt es meist nur als Aushängeschild; ansonsten um Eis aufzubrechen, als Kopfstütze und Kletterhilfe, gegen Futterdiebe und dergleichen mehr. Für die Eskimo hatte das Walroß lange Zeit die Bedeutung, die wir etwa vom Büffel für die PrärieindianerInnen kennen. Jedes erbeutete Tier wurde vielfältig und nahezu restlos verwertet. Dann kamen die Weißen mit ihren Feuerwaffen und richteten die bekannten Schlächtereien an. Tier- und Naturfreunde ermahnen uns gern zurecht, der Mensch sei auf die Flora und Fauna des Planeten angwiesen und tue deshalb gut daran, rücksichtsvoll mit ihr umzugehen. Aber die umgekehrte Abhängigkeit bestand auf Erden noch nie. Eine Walroßherde kann so getrost auf fotografierwütige Menschen verzichten wie eine Allee aus Walnußbäumen, in der massenweise ZweibeinerInnen herumspazieren und Steine nach den Früchten werfen, in die die Bäume doch ziemlich viel Mühe gesteckt haben. So gesehen, spräche also gar nichts dagegen, wenn sich die Menschheit demnächst dazu durchringen könnte, von der Erde abzutreten.
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