Dienstag, 24. September 2024
Risse im Brockhaus 36
ziegen, 09:30h
Von der ungemütlichen Posse, die sowohl dem schweizer Maler Karl Stauffer-Bern (1857–91) wie dessen Gefährtin den Frühtod brachte, gibt Brockhaus keinen Hauch. Es war fast ein Doppelselbstmord, und das auch noch im skandalträchtigen Milieu von Kunst und Geld. Stauffer-Bern, Sohn eines Berner Pfarrers, hatte es in München und Berlin schon in jungen Jahren zum angesehenen Porträtmaler gebracht. So lassen sich unter anderem die bekannten Schriftsteller Gustav Freytag, Gottfried Keller und Conrad Ferdinand Meyer von ihm verewigen. Trotz des Erfolges zweifelt Stauffer jedoch an seinen meisterhaft gemalten Werken und plant, seine Vollendung in der Bildhauerei zu suchen. 1888 geht er zu diesem Zwecke nach Rom, wohin ihm pikanterweise bald die steinreiche Schweizerin Lydia Welti-Escher (1858–91) folgt, Tochter eines in Zürich residierenden »Eisenbahnkönigs«, Gattin von Stauffers Schulkameraden Friedrich Emil Welti, dessen Vater im Bundesrat sitzt, und nicht zuletzt Stauffers Geliebte und Mäzenin.
Wen wundert es, wenn der Gatte, dessen überaus einflußreicher Erzeuger und der römische Gesandte der Schweiz, Simeon Bavier, übereinstimmend meinen, gegen diese Zustände einschreiten zu müssen. Dabei war es offenbar just der Gatte selber, der dem Künstler die eigene Ehefrau geradezu in die Arme getrieben hatte. Der Zweck der Intrige liegt auf der Hand: man wünschte sich Lydias Millionenvermögen unter den Nagel zu reißen. So landet Lydia auf Betreiben der drei Herren in einer Römischen Irrenanstalt, Karl im Gefängnis und dann in einer Florenzer Irrenanstalt. Im März 1890 wieder entlassen, weil sich die Beschuldigungen gegen ihn (Entführung, Diebstahl, Notzucht) als gar zu fadenscheinig erweisen, erfährt Stauffer, Lydia habe Rom verlassen und mit ihm gebrochen. Er schmiedet Klosterpläne, scheitert in einem ersten Selbstmordversuch, grämt und verzehrt sich. Im Januar 1891, inzwischen 33 Jahre alt, wird er in Florenz mit einer Überdosis Schlafmittel im Bauch tot aufgefunden. Ein ziemlich klarer Fall von Ruf- und Meuchelmord, darf man dazu wohl sagen.
Lydia, inzwischen dank einer Riesenabfindung für Welti von diesem geschieden und ebenfalls 33, folgt Stauffer noch im Dezember desselben Jahres in den Tod. Sie bedient sich bei Genf, wo sie eine Villa hat, des Gashahns. Laut Internet gibt es bereits mehrere Bücher über den schillernden Fall, darunter von Joseph Jung.* Dieser scheint Stauffers Mäzenin als durchaus hellwache, dazu mutige Frau darzustellen, die sich den Konventionen widersetzte und dabei »emanzipatorische« Ziele verfolgte. Ihr restliches Millionenvermögen vermachte sie übrigens, mit entsprechenden Auflagen zur Nutzung, der Schweizerischen Eidgenossenschaft, also dem Vater Staat – der es nach Meinung vieler Fachleute kräftig veruntreut und teilweise den nächsten bestechlichen Alpengeiern in den Rachen geschmissen hat. Diese skandalösen Vorgänge, Stichwort Gottfried-Keller-Stiftung, deutet auch Joris am Schluß ihrer Besprechung an.
* Elisabeth Joris, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-20864, 18. Juli 2014
Das Ende von Leonard Steckel (1901–71) deutet Brockhaus mit eingeklammertem »Eisenbahnunglück« an; er verrät jedoch nicht, daß Steckel ironischerweise Eisenbahnersohn war. Er selbst wurde Schauspieler und Regisseur, vornehmlich als Theatermann. Seine ersten Bühnenerfolge feierte er in Berlin, doch 1933 als »Jude« gebrandmarkt, flüchtete er sich für etliche Jahre nach Zürich, wo er bald auch inszenierte, und zwar eher linke als rechte Stücke, etwa von Shaw, Brecht, Max Frisch. 1955, schon Vater einer erwachsenen Tochter, ging er eine zweite Ehe ein: mit der Fotoagentin Hermi Mertens aus München, wo Steckel dann auch wohnte.
1966 brachte das Züricher Schauspielhaus Dürrenmatts neue Komödie Der Meteor auf die Bühne. Die Hauptrolle des Literaturnobelpreisträgers Schwitter, der es nicht schafft, zu sterben, hatte Dürrenmatt Steckel auf den Leib geschrieben. Der schaffte immerhin noch fünf Jährchen. Inzwischen wieder öfter in Deutschland und dort auch in Berlin zu sehen, hatte Steckel für den Sommer 1971 eine Welttournee mit Brechts Schlager Herr Puntila und sein Knecht Matti geplant. Er hatte den »Puntila« bereits 1949 in einer denkwürdigen Inszenierung unter Brechts eigener Regie in Ostberlin gespielt. Sein Partner als »Matti« war damals Erwin Geschonneck gewesen.
Aus der Welttournee wurde allerdings nichts, weil der 70jährige Theatermann aus München am 9. Februar im Allgäu, genauer zwischen Kaufbeuren und Kempten, mit der Eisenbahn unterwegs war. Der TEE 56 Bavaria hatte sich, auf dem Weg nach Zürich, hinter dem Bahnhof Aitrang mit rund 125 Stundenkilometern in eine Rechtskurve gelegt. Das überstieg deutlich die dort erlaubten 80 km/h. Der Zug entgleiste, zerstörte das Gegengleis, einige Wagen stürzten eine Böschung hinab. Gleich darauf bohrte sich auch noch ein aus Richtung Kempten kommender Schienenbus in die Wracks. Die Bilanz: 42 Verletzte, 28 Tote, unter diesen Leonard Steckel.*
Da auch beide beteiligten Lokführer umkamen, konnte nicht mit Sicherheit ermittelt werden, warum der TEE vor der Kurve zu spät oder nur unzureichend gebremst hatte. Ein »menschliches Versagen« liegt nahe. Ein ähnlicher Unfall ereignete sich am 9. Februar 2016 etwas weiter östlich bei Bad Aibling, Landkreis Rosenheim, als auf eingleisiger Strecke zwei Regionalzüge zusammenstießen: 89 Verletzte, 12 Tote. In diesem Fall wurde bald der zuständige Fahrdienstleiter in Untersuchungshaft genommen. Nach Presseberichten schloß seine mutmaßliche Fahrlässigkeit ein, sich während des Dienstes auf seinem Mobilfunktelefon irgendeinem fesselnden Spiel hingegeben zu haben.
Es ist die Frage, ob die Bahn im kommenden Jahrzehnt überhaupt noch Auszubildende finden wird, die nicht handysüchtig wären. Vielleicht sollte man doch wieder stärker auf das Auto setzen. Man könnte die Bildschirme der Smartphones gleich neben dem Lenkrad in die Windschutzscheibe einbauen. Für diese Idee melde ich Patent an.
* https://de.wikipedia.org/wiki/Eisenbahnunfall_von_Aitrang
Um wie immer ganz ehrlich zu sein, bin ich nie todtraurig, wenn irgendwo ein Kriegsminister tödlich verunglückt. Das kann man natürlich von Brockhaus nicht verlangen. Immerhin erwähnt er aber den Flugzeugabsturz des Politikers Milan Rastislav Štefánik (1880–1919). Unter ungarisch-österreichischer Herrschaft aufgewachsen, war der Slowake aus den »Kleinen Karpaten« zunächst Astronom, dann aber Parteistratege, Jagdflieger, General und kurz vor seinem jähen Ende sogar Kriegsminister der ersten, 1918 gegründeten tschechoslowakischen Republik geworden. Deshalb wurde ihm später, neben zahlreichen anderen Denkmälern, auch noch der Asteroid (3571) Milanštefánik nachgeworfen. Auch der Flughafen in Bratislava (früher Preßburg) ist nach dem Sohn eines lutherischen Pfarrers benannt. Die HistorikerInnen zählen Štefánik, neben Masaryk und Beneš, zu den drei »Gründervätern« jener Republik, an der sofort das Gift der Zwietracht zwischen Prag und Bratislava nagte. Manche vermuten, eben deshalb, wegen der Abstrafung der sich benachteiligt fühlenden Slowaken, sei Štefánik im Mai 1919 als alleiniger Fahrgast einer italienischen Maschine nahe Bratislava kurz vor der Landung vom Himmel gefallen. Der 38jährige Kriegsminister hatte in Italien Verhandlungen geführt und wollte sich nun bei seiner Familie wenigsten kurz erholen. Er stürzte in den Tod. Zwei Piloten und ein Funker der italienischen Luftwaffe teilten sein Schicksal. Hier und dort werden sogar ihre Namen, nicht dagegen ihre denkbaren Nebenaufträge genannt.
Die Ursachen der Katastrophe sind bis heute umstritten. Einige BeobachterInnen halten es nicht für ausgeschlos-sen, Štefánik sei versehentlich von der eigenen Luftabwehr abgeschossen worden, weil die Hoheitszeichen italienischer Kampfflugzeuge leicht mit denen ungarischer Kampfflugzeuge zu verwechseln waren. Damals lag man mit Ungarn, das den Verlust der Slowakei nicht verschmerzen konnte, faktisch im Krieg. Andere unterstellen eher eine Absicht aus den eigenen Reihen, wie ich bereits angedeutet habe – Reihen, die sogar Frankreich einschließen. Für dieses Land war Štefánik im Ersten Weltkrieg geflogen, doch neuerdings kungelte Frankreich mit Beneš – der sich inzwischen mit Štefánik in den Haaren lag. Allerdings scheinen die meisten BeobachterInnen doch zur Annahme eines Unglücks zu neigen, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen. Man führt die ungünstigen Wetterverhältnisse, die mangelhafte Ortskenntnis der italienischen Piloten sowie den Versuch der italienischen Behörden an, kein schlechtes Licht auf Mensch oder Material der italienischen Sorte fallen zu lassen. Aber schon das Wetter ist in den Quellen recht wechselhaft. Die ungarischen Autoren Klára Siposné Keckskeméthy und Alexandra Sipos sprechen jedenfalls in einem englischsprachigen Gedenkartikel*, der mir recht gut belegt vorkommt, von einer durch starke Regenfälle aufgeweichten Landebahn, sofern ich mich nicht täusche. Nach ihnen lag im übrigen gar kein klassischer »Absturz« vor. Vielmehr sei die Maschine bei einem zweiten Versuch zu landen in Flammen aufgegangen. Beim ersten hätten die Räder bereits die Landebahn berührt – nur in einer ruppigen Weise, bei der das Kühlwassersystem leck schlug und folglich Kühlwasser auslief. Dadurch hätte sich ein Motor überhitzt, und just beim zweiten Landeanflug sei das Flugzeug aus diesem Grund explodiert. Für diesen Hergang führen die Autoren sogar den Bericht eines »Augenzeugen« (vom Flugfeld?) an, des italienischen Leutnants und Piloten Mancinelli-Scotti. Nur wird der dann auch unter den drei Mitsterbern Štefániks genannt. Vielleicht wurden hier Namen verwechselt – immerhin hatten die Autoren, möglicherweise zwei Militärwissen-schaftlerinnen, drei Sprachen am Hals: Ungarisch, Italienisch und Englisch.
Was die Leiche von Štefánik angeht, wurde sie 1928 in derselben Gegend seiner Kindheit bestattet, genauer auf dem 543 Meter hohen Berg Bradlo beim westslowakischen Städtchen Brezová pod Bradlom (früher Birkenhain). Jedes Kaninchen dürfte um dieses knochenbleiche, phallokratische, furchterregende Monument** einen großen Bogen machen, aber die Leute gehen hin.
* in Hadtudományi Szemle (Budapest), Heft 3 aus 2010, S. 87–94: http://epa.oszk.hu/02400/02463/00017/pdf/EPA02463_hadtudomanyi_szemle_2010_3_087-094.pdf
** https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Mohyla_Milana_Rastislava_Stefanika.jpg
Beim süddeutschen Ganoven und späteren Schriftsteller Ernst S. Steffen (1936–70) war es ein Autounfall, wie auch Brockhaus erwähnt. Man hatte den Sprößling eines gewalttätigen Vaters 1967 nach 13 Jahren Haft (wegen verschiedener »Eigentumsdelikte«) begnadigt, was sicherlich auch durch sein literarisches Wirken befördert worden war. Er hatte im Knast zu Schreiben begonnen und die Fürsprache einiger prominenter SchriftstellerInnen errungen. Vielleicht hätte es das 31jährige ehemalige »Heimkind« vorgezogen, hinter Gittern zu bleiben, wenn ihm jemand versichert hätte, die Freiheit sei fragwürdig. Oder verraten, sie währe in seinem Fall nur drei Jahre lang.
1969 erscheint Steffens erstes Buch, der Gedichtband Lebenslänglich auf Raten. Er werde von sich getragen wie ein Anzug, ist da etwa zu lesen, und hoffe, daß sich nach seiner Entlassung aus dem Knast noch ein Leihhaus für ihn finde. Er lebt jetzt in Heilbronn und Saarbrücken. Während er möglichen Arbeitsstellen und Geliebten und ganz allgemein dem Glück hinterher läuft, sitzen ihm die PfänderInnen und seine Ängste im Nacken. Der »Schreibdruck« für den einmal Gedruckten tut das Seine hinzu. Kaum säuft er mit seinen Gönnern und fährt ohne Führerschein, ist er wieder unsicher oder aufgeregt und füttert sein Magengeschwür mit Tabletten. Er lernt Schreibmaschine, macht Führerschein, legt sich, nach einem Hund, auch ein Auto zu, das er sich eigentlich gar nicht leisten kann, ein »rotes Cabriolet«, wie es heißt, möglicherweise jener Porsche, den schon Schürzen- oder LatzjägerInnen wie James Dean und Janis Joplin begehrten.
Ende 1970, wenige Monate vor dem Erscheinen seines zweiten Buches mit »Aufzeichnungen aus dem Zuchthaus« Rattenjagd, fährt Steffen bei Baden-Baden mit seinem kaum abbezahlten Sportwagen in den Tod. Rosemarie Bronikowski zufolge* war der 34jährige »in verzweifelter Stimmung« ins Schleudern geraten und gegen einen Baum geprallt. Vermutlich war ihm das Schlingern zwischen Selbstverachtung und Größenwahn schon in der Wiege, spätestens aber in dem erwähnten »Heim« beigebracht worden.
* Vortrag in der Stadtbibliothek Heilbronn am 23. Juni 2006: https://stadtbibliothek.heilbronn.de/dateien/Service/Heilbronner_Autoren/Steffen2.htm, nicht mehr aufrufbar. Siehe dafür Anton Philipp Knittel, https://literaturkritik.de/knittel-steffen-50todestag,27505.html, Januar 2021. Für Knittel prallte Steffen gegen den einzigen Baum weit und breit; somit wird uns ein Selbstmord nahegelegt.
Auf die Gefahr hin, als Erbsenzähler beschimpft zu werden, fasse ich drei eher unwichtige Einträge zu einer weiteren Lektion in Grammatik zusammen. Der US-Jazzsaxophonist Sonny Stitt (1924–82) sei als junger Musiker »im Orchester B. Eckstines bekannt« geworden, erzählt uns Brockhaus. Hoffentlich war das kein riesiges, über mehrere Großstädte verstreutes Orchester, sonst hätte es ja Monate gedauert, bis ihn dort alle gekannt hätten – in dem Orchester. Zum zweiten gibt das Lexikon das Stodertal als »oberen Talabschnitt der Steyr« aus. Nun scheint jedoch die Steyr ein Fluß, also mitnichten ein Tal zu sein. Der Fluß mündet in der Stadt Steyr, Oberösterreich, in die Enns. Das fiele ihm vermutlich schwer, wenn ihn jeder, wie Brockhaus, zum ganzen Tal der Steyr aufbliese. Und schließlich führt Brockhaus schon 1993 das ekelhafteste Schlag- und Fremdwort der jüngsten 20 Jahre ein: der US-Photograph Paul Strand (1890–1976) habe in seiner Wahlheimat Frankreich innovative Photobücher gestaltet. Hoffen wir, sie brachten ihm »mehrfach« Geld und »nachhaltig« Ruhm ein.
Unter Störung führt Brockhaus als einen Spezialfall die »Störung der Totenruhe« an. Sie wird bestraft wie fast alles, was in Deutschland das Niveau von Blas- und BAP-Musik-Konzerten zu unterbieten wagt. Das scheint in § 168 StGB einsehbar zu sein. Offenbar sind vor allem Leichenfledderei und Leichenschändung verfemt. Dann geht es ja noch, denn wenn Tote Ohren haben sollten, fresse ich einen Besen.
Allgemeiner kommen Störungen, nach Brockhaus, in vier naturwissenschaftlichen Bereichen in Betracht, von der Astronomie (Umlaufbahnen) bis zu Physik & Technik. Was fehlt, ist die Sozialpsychologie. In den anarchistischen Kommunekreisen, denen ich um 2000 angehörte, war die Regel bekannt: »Störungen haben Vorrang.« Angeblich auf dem Mist der US-Psychoanalytikerin Ruth Cohn gewachsen, führte der Satz, in gruppendynamischer Hinsicht, zu einer durchaus hilfreichen Wachsamkeit. Zum Beispiel hat es keinen Sinn, das Plenum wie gewohnt mit TOP 1 zu eröffnen, wenn noch dicke Luft im Raum hängt, weil sich beim Einnehmen der Plätze gerade zwei oder mehrere Kommunarden wegen schwelender Feindseligkeiten angegiftet haben. Das muß erst bereinigt werden. Andernfalls wird die Erörterung der anstehenden Sachthemen verzerrt und somit eher unfruchtbare Beschlüsse hervorbringen. Also hebt einer gleich den Finger, sagt »Störung!« und erkundigt sich bei den Streithammeln nach dem Anlaß der Giftmischerei. Nicht selten liegen die hemmenden Störungen allerdings keineswegs auf der Hand. Sie sind etwa im bekümmerten Gesichtsausdruck einer Kommunardin oder in der leibhaftigen Abwesenheit eines Kommunarden verborgen. Was hat sie? Warum fehlt er? fragt sich der wachsame Mitkommunarde – und meldet »Störung!« an.
Gewiß muß man mit diesem Mittel des Eingriffs verantwortungsvoll und vorsichtig umgehen, sonst landet man früher oder später bei der Schaffung einer Gedankenpolizei. Diese Gefahr besteht immer. Sie ist der Preis für die in egalitären Gemeinschaften herrschende »soziale Kontrolle«. Sie muß mit Erfahrung und Bildung, Weisheit und Fingerspitzengefühl in Schach gehalten werden. Aber was wäre die Alternative? Das Strafgesetzbuch. Da steht klipp und klar alles drin, was erlaubt und was verboten ist.
Die physikalischen Zusammenhänge, die Brockhaus unter Stoß auseinander legt, sind mir, ehrlich gesagt, zu hoch. Ich nehme allerdings an, sie decken ab, was mich als Snookerspieler oder -zuschauer immer wieder beeindruckt hat. Die Waffe des Snookerspielers ist der kerzengerade Stock mit der eingekreideten Lederkuppe, auch Queue genannt. Seine GegnerInnen sind die roten oder farbigen Kugeln. Stößt er nun eine erwünschte Kugel mit Hilfe des Queues und des weißen Spielballs an, überträgt sich Schubkraft nach vorn und beide Kugeln rollen von ihm weg. So muß es jedoch nicht unbedingt sein. Gibt er dem Spielball nämlich »Unterschnitt« und damit einen Rückwärtsdrall, rollte dieser, zu meiner anfänglichen Verblüffung, nach dem Zusammenprall in mehr oder weniger spitzem Winkel, manchmal sogar gradlinig, zurück. Dieser Stoß heißt wahlweise Rückzieher, Zugball, Backspin. Er empfiehlt sich oft, um den Spielball günstiger zur nächsten Zielkugel oder ungünstiger für den Gegner zu plazieren. Er zeigt recht gut, daß Snooker weniger ein kraftvolles, vielmehr ein listiges Spiel ist. Allerdings kann es gelegentlich auch angebracht sein, den Spielball auf eine ungewöhnlich lange Reise zu schicken. Zu diesem Zweck gibt es den Topspin, auf deutsch Nachläufer. Durch Oberschnitt wird der Spielball beschleunigt, damit er, nach dem Zusammenprall, noch 20 Zentimeter oder gar zwei Meter weiter als im Normalfall rollt. Aber auch das ist in erster Linie keine Frage von Kraft. Kraft setzen die Serge → Redings ein, wenn sie einen neuen Weltrekord heben und ihre Bandscheiben zermalmen möchten. Die Mannen und Frauen um Olaf Scholz machen das neuerdings ebenfalls, weil ihnen für Diplomatie das Zeug fehlt.
Der bekannte süddeutsche Bildende Künstler Veit Stoß (um 1447–1533), vor allem für seine lebensnahen geschnitzten Altarfiguren berühmt, hatte anscheinend ein hitziges Temperament, während es in der List noch bei ihm haperte. Laut Brockhaus kam er 1503 »wegen einer Schuldscheinfälschung in Haft und wurde öffentlich gebrandmarkt«. Das war in Nürnberg. Später habe er sowohl Begnadigung durch den Kaiser wie Beruhigung im wallenden Blut erfahren und der Welt noch so manches erschütternde Kunstwerk geschenkt. Sein Sterbealter, wohl deutlich über 80, war schon fast biblisch.
Stolpert man zu diesem Thema über einen jüngeren Artikel der Münchener Abendzeitung, hat Brockhaus von der ganzen Angelegenheit und dem ganzen Künstler allerdings eine höchst verharmlosende Miniatur gemalt. Das Boulevardblatt stellt ihn unmißverständlich als Verbrecher vor. Hat er Leute erdolcht und Häuser angezündet? Nein, er sei wiederholt »in dubiose Finanzgeschäfte« verstrickt gewesen. »Dubios« soll fragwürdig, zwielichtig, anrüchig und dergleichen heißen. Wegen jener Urkundenfälschung hätte er normalerweise die Todesstrafe bekommen, habe sich doch die »Wirtschaftsmetropole« Nürnberg (= Fugger und Welser) keine gefälschten Schuldscheine leisten können, nur Totschläge im Suff. Aber damals war Stoß bereits berühmt, sodaß ihm die Obrigkeit Gnade erwies. Inzwischen billigte sie ihm auch die Nürnberger Veit-Stoß-Realschule zu. Allerdings wurde Stoß damals mit glühenden Eisen (Nadeln?) durch die Wangen gestochen. Später setzte er sich noch einmal mit »Stadtflucht« in die Nesseln, wurde aber erneut durch Gnadenerweis gerettet. Da dränge sich freilich die Frage nach der Gerechtigkeit auf, meint die Autorin (2021) am Schluß.* »Weshalb verzeiht man einem überragenden Künstler, was andere hinter Gitter bringt? Der Fall ist höchst aktuell.«
Leider nennt sie keine Namen, sonst hätte ihr Blatt sie in Erwerbslosigkeit gestürzt. Ich bin aber sicher, sie hatte die Münchener PR-Unternehmerin Andrea Tandler, eine Tochter des früheren CSU-Generalsekretärs und ehemaligen bayerischen Finanzministers Gerold Tandler, wegen ihres deftigen Corona-»Maskendeals« von 2020 im Auge. Tandler hatte, laut BR, »im Frühjahr 2020 Schutzmasken an Ministerien in ganz Deutschland [vermittelt] und kassierte Provisionen von mehr als 48 Millionen Euro. Trotz der weitverbreiteten moralischen Entrüstung über die Geschäfte in der Not war das rechtlich nicht zu beanstanden. Doch Tandler versteuerte das so verdiente Geld nicht ordnungsgemäß.« Nur deshalb brummten man ihr Ende 2023 eine Haftstrafe auf – wegen schlechter Zahlungsmoral. Eingedenk der Anrechnung von U-Haft und der eingelegten Revision** dürfte sie allerdings noch zur Stunde in ihrer Agentur am Computer sitzen und Schokominzstäbchen lutschen.
* Christa Sigg, https://www.abendzeitung-muenchen.de/kultur/kunst/veit-stoss-ein-kuenstler-ohne-jede-moral-art-713508, 16. März 2021
** https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-andrea-tandler-steuerhinterziehung-revision-sauter-gauweiler-1.6357274, 13. Februar 2024
Brockhaus gönnt ihr ein kokett wirkendes Porträtfoto. Die in München ausgebildete Schauspielerin Agnes Straub (1890–1941) habe vor allem mit »herben Frauengestalten« geglänzt. Von strammen SA-Leuten ist nicht die Rede.
Andere sahen sie hauptsächlich »dämonische Gewalt-weiber« verkörpern.*** Jedenfalls hatte sich Straub in den berüchtigten »Goldenen« 20er Jahren zum Star sowohl auf der Bühne wie auf der Leinwand aufgeschwungen, vornehmlich in Berlin. Ab ungefähr 1925 hatte sie den jüdischen, anscheinend bald von seiner Gattin geschiedenen Kollegen und Regisseur Leo Reuss zum Gefährten. 10 Jahre darauf erhielt dieser Berufsverbot oder wurde wenigstens zunehmend geschnitten und geschmäht, weshalb er es für angezeigt hielt, Deutschland (1935) zu verlassen. Straub dagegen blieb. Das schloß ihre Präsenz im Theater am Kurfürstendamm ein, das zeitweise sogar Agnes-Straub-Theater hieß, ferner Arbeit fürs Kino. Dabei fügte sie ihrer Nebenrolle im 1933 veröffentlichten Streifen SA-Mann Brand noch ein paar weitere Auftritte in mehr oder weniger regimefreundlichen Werken hinzu. Aus Vergnügen hebe ich Weiße Sklaven von 1937 hervor, worin sie die Wirtin einer Sewastopoler Hafenschenke gibt. Es handelt sich um ein vielgezeigtes antibolschewistisches Machwerk, das nur für die kurze Zeit der blutigen Posse namens »Hitler-Stalin-Pakt« (1939–41) aus den Kinos verbannt worden war, wie jedenfalls bei Wikipedia zu lesen ist. Anschließend lief es wieder gut, dieses Mal unter dem Titel Rote Bestien.
Solchem Kunstschaffen wurde, was Straub angeht, 1938 nur durch einen »schweren Autounfall« Einhalt geboten, der nicht eine der mir verfügbaren Quellen zu interessieren scheint. Noch nicht einmal der Unfallort ist zu erfahren. Als Sterbeort wird Berlin-Charlottenburg angegeben, wo die 51jährige, vermutlich in einem Krankenhaus, 1941 den Folgen dieses (angeblichen) Unfalls erlag. Vielleicht hat sie sich noch selber in ihrem autobiografischen Werk Im Wirbel des neuen Jahrhunderts dazu geäußert, das 1942 (posthum) in Heidelberg erschien.
Ihr Mitstreiter Reuss konnte zunächst an Wiener Theatern unterkommen, bis sein Täuschungsmanöver versagte, sich als (»arischer«) blonder und bärtiger Bergbauer und Laienschauspieler Kaspar Brandhofer aus dem Salzburger Land auszugeben. Dort nämlich, im Pinzgau am Großsonnberg, besaß Straub ein »Landgut«, wo er diese Rolle eingeübt haben soll.* Als er in Wien enttarnt und gekündigt worden war, ging er (1937) endlich in die Hauptstadt der Klamotte, Hollywood, wo er als »Lionel Royce« zumeist den »bad german« gab, was sicherlich nicht ganz ohne Ironie war. Im Laufe von zwei weiteren Ehen (Kinder insgesamt vier), mit denen er die Strapazen des nichtarischen Künstlers freiwillig anreicherte, wurde Reuss immer kränker, sodaß er Straub bald ins Grab folgte, 1946 nach einem Herzinfarkt.
Die einzige nennenswerte Äußerung zu Straubs Autounfall finde ich verspätet in einer jüngeren Diplomarbeit.** Sie lautet: »Agnes Straub erlitt im Oktober 1938 nach einem Gastspiel in Erfurt einen schweren Autounfall. Lange lag sie mit mehreren komplizierten Knochenbrüchen im Erfurter Spital. Die deutsche Presse berichtete ausführlich von ihrem Unfall. Agnes Straub erhielt unzählige Telegramme, Genesungskarten und Briefe von Freunden, Verwandten, Kollegen und Bewunderern, doch nichts in dieser Art von Leo Reuss. Dieser lebte damals bereits in Los Angeles, doch ist es schwer vorstellbar, dass er nicht durch Bekannte aus Europa, oder durch später noch in die USA emigrierte Kollegen vom Unfall seiner einstigen Lebensgefährtin erfahren hat. Der Krieg begann erst im September 1939 und die USA traten überhaupt erst 1941 in den Krieg ein, was einen Briefkontakt bis zu diesem Zeitpunkt möglich gemacht hätte. Als Agnes Straub im Sommer 1941 an den Spätfolgen dieses Unfalls in Berlin starb, war bereits seit Jahren kein Kontakt mehr zwischen den beiden vorhanden.«
Das klingt nicht gerade märchenhaft. Man muß bedenken, Straub mag eine braune Ziege gewesen sein, wenn auch ein Londoner Nachruf von einer »hochgewachsenen blonden Bayerin« sprach, deren »politische Ahnungslosigkeit ausgenutzt« worden war.*** Gleichwohl hatte sie Reuss beträchtlich beim Abtauchen unterstützt, wenn ich mich nicht täusche. Eine sorgfältig gemachte Biografie zwischen Buchdeckeln scheint nicht vorzuliegen.
* »Vom Leben im Pseudonym«, https://www.oeaw.ac.at/acdh/oebl/biographien-des-monats/2016/april
** Michael Mürkl, »Leo Reuss«, file:///C:/Users/HR/Downloads/17563.pdf, Wien 2012, S. 89
*** Die Zeitung, London, Nr. 115/1941, S. 3: https://portal.dnb.de/bookviewer/view/1026592038#page/1/mode/1up. Diese Quelle zeigt nebenbei, die Idee, einer bestimmten Zeitung kurzerhand den Gattungsnamen zu verleihen, ist keineswegs (1978) auf dem Mist der Berliner tageszeitung (taz) gewachsen. So oder so halte ich die Idee für peinlich anmaßend.
Unter Streuung führt Brockhaus mehrere Gebiete an, voran die Physik, in der besonders Strahlungen gern gestreut werden. Was fehlt, ist das wichtige Feld psychologisch und politisch begründeter Streuung. Dabei wird uns doch allen schon in die Wiege gesungen: »Willst du alles auf einen Schlag besorgen, bleibt dir kein Spielraum mehr für morgen.« Der Mensch geht häppchenweise vor. Er ist kein Wolf, der sich mit dem ganzen erbeuteten Schaf vollschlägt, bis er nur noch in seine Höhle robben und drei Tage ratzen kann. Der Mensch streut seit jeher Kriege, weil sie dann nicht so leicht als Weltkriege verunglimpft werden können. Selbst im Frieden läßt er seine 269 → Starfighter nicht alle auf einmal in der Lüneburger Heide abstürzen. Sonst könnte sogar das Lüneburger Schafskopfblatt Verdacht schöpfen. Nicht anders verfährt der Finanzminister, wenn er uns das Steuergeld nicht geballt aus der Tasche zieht, sondern immer neue Arten der in der Regel sowieso »indirekten« Besteuerung erfindet. Gerade neulich erst führte die Politik die Salamitaktik vorbildlich bei der schrittweisen Gewöhnung an allerlei Corona-Maulkörbe und der schrittweisen Abgewöhnung von allerlei Grundrechten vor. Deshalb kam niemand auf die Idee, die Herren Spahn und Lauterbach als Siechenminister oder gar Seuchköpfe zu beschimpfen. In der Familie kennen wir vor allem die beliebte Nadelstichtaktik: Demütige und zermürbe ich meine mißratene Tochter über Jahre hinweg durch strafende Augenaufschläge oder durch jenes Schweigen des Häuslers Schleen (FG Jünger), wird mich kein Staatsanwalt Mörder nennen können, sobald sie auf dem Speicher an einem kräftigen Nagel schaukelt.
Eine durchtriebene Abart ist die verbreitete Sitte mit den erwähnten Dauerwürsten. Kein Mensch stopft sie sich vollständig in den Schlund, weil er genau weiß, dann hätte er die nächsten Tage gar nichts mehr. Jeder schneidet sich Scheiben ab. Allerdings schneidet er seine Dauerwurst stets schräg an. Zwar hat er gelegentlich durchaus den Verdacht, dadurch werde seine Dauerwurst auch nicht länger – aber seine Augen sind von Natur aus größer als sein Magen. Die schräg geschnittenen Scheiben spiegeln ihm vor, auf diese Weise hätte er mehr von seiner Wurst.
Die Lehrerin und Schriftstellerin Amalie Struve (1824–62) war überdies Gattin eines merkwürdigen Vogels. Brockhaus stellt den Rechtsanwalt und Politiker Gustav Struve allerdings als völlig normal hin. Struve war im »Vormärz« ein bekannter Radikaldemokrat und mauserte sich 1848/49, neben Friedrich Hecker, zum Führer der badischen Aufstände und designiertem Ministerpräsi-denten der Badischen Republik, die man zu gründen gedachte. Das zerschlug sich leider. Die »revolutionären« Truppen wurden aufgerieben; Struve und Gattin gingen ins Exil. Brockhaus jedoch übergeht mit der Schrägheit Struves auch gleich die Gattin. Sie kommt in dem Lexikon nicht vor. Die Schrägheit Struves wird dafür in den Erinnerungen des Schriftstellers und Verlegers Alexander Herzen hervorgehoben, der Struve zeitweilig in Genf erlebte.* Danach war der verhinderte Staatsmann ein verschrobener Priester und Schöndünster, der seine Rechthaberei mit salbungsvollem Auftreten zu verbrämen suchte. Er hielt streng auf Zeremonien bei Verhandlungen, vegetarische Ernährung, tägliche Abhärtung im kaltem Gebirgsfluß Arve, mied dagegen Wein. Möglicherweise hatte er seine enorme Stirnglatze von den vielen Hechtsprüngen ins läuternde Wasser bezogen. Sein Vollbart blieb stets dran. Auf den bekannten Bildnissen wirkt er auch knopfäugig, aber nicht unbedingt lustig.
Diesen Kuren und einem solchen, eher Schüttelfrost erregenden Geliebten mußte sich also auch Amalie unterziehen. Das tat sie aber angeblich gern. Sie war die Stieftochter des Mannheimer Sprachlehrers Düsar. Neben der »unehelichen« Herkunft setzte ihr Armut zu. Düsar ermöglichte ihr immerhin eine gewisse Bildung, sodaß sie Lehrerin werden konnte. Ihren Gatten soll sie 1845 in Mannheim bei der Stellensuche getroffen und noch im selben Jahr geheiratet haben. Der Mann war fast 2o Jahre älter als sie. Von ihm ins revolutionäre Fahrwasser gezogen, habe sie sich bis zum Ausbruch der Revolution 1848 »mit der Rolle einer passiven Beobachterin begnügen« müssen, weil Frauen die Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen und die Mitgliedschaft in Vereinen weitgehend verboten war, schreibt Marion Freund.** Dann jedoch habe sie sich in die Breschen geworfen. »Sie nahm an allen drei Erhebungen 1848/49 im Großherzogtum Baden teil, und dokumentierte diese eindrucksvoll in ihren Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen (1850), bis heute eine ihrer am stärksten rezipierten Schriften.« Über die Jahreswende 1848/49 verbrachte die junge Amalie Struve sogar knapp sieben Monate im Gefängnisturm am Freiburger Holzmarkt in Einzelhaft. Im April entlassen, warf sie sich sofort in die sogenannte Reichsverfassungskampagne. Als preußische Truppen anrückten, schreckte der Chef der Revolutions-regierung Lorenz Brentano vor der Volksbewaffnung zurück, sodaß sich Gustav Struve und andere Radikale gezwungen sahen, ihn abzusetzen. Es nützte freilich nichts. Gegen das kriegserfahrene preußische Militär hatten die badischen Revolutionshaufen keine Chance. Die letzten Revolutionäre wurden in der Festung Rastatt festgenagelt, wo sie sich am 23. Juli 1849 ergaben. Es folgten zahlreiche Hinrichtungen oder Verurteilungen zu Haftstrafen. Den Struves gelang es jedoch, in die Schweiz und dann nach England zu entkommen. Dort verfaßte die inzwischen 25jährige das erwähnte Buch.
Dem Schreiben blieb sie auch treu, nachdem sich das Paar 1852 in den USA niedergelassen hatte, Staat New York. Dabei kreisten ihre Artikel und Schriften oft um Frauenfragen. Sie soll auch noch Romane geschrieben haben, deren Qualität ich nicht beurteilen kann. Aber sie diente ihrem gleichfalls publizistisch wirkenden Gatten weiterhin als Sekretärin und blieb auch der Mutterrolle treu. Das erste Kind starb allerdings (1859) bereits nach sechs Wochen. 1862, mit 37 Jahren, erwischte es die Mutter selber nach der Geburt ihres dritten Kindes. Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Für ihren Zeitgenossen Wilhelm Liebknecht war sie »heiter und lebenslustig« gewesen, »das war ihr gutes Recht; sie war aber auch muthig, wie wenige Männer, und aufopferungs-voll, wie wenige Frauen, und eine treue Gattin.«
Nebenbei prangert Gerd Reuther auf den Seiten 82 und 308 seiner Medizingeschichte Heilung Nebensache den fadenscheinigen Stempel »Kindbettfieber« an, der bis ins 20. Jahrhundert hinein, parallel zur Verlagerung der Geburten in Kliniken, zahlreichen Frauenleichen verpaßt wurde, um den Zusammenhang geburtlicher Wundinfektionen mit mangelhafter Hygiene und ärztlichen Eingriffen zu vertuschen. »Allein in Preußen starben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 365.000 Mütter nach der Geburt ..(..).. Nicht einmal heute [2021] spricht man wahrheitsgetreu von einer behandlungsbedingten Sepsis der Mütter.« Meine Herren! »Geburtshilfe« als Geschäftsmodell – da stehen der Leserin hoffentlich die Haare zu Berge. Im übrigen streifte ich dieses Thema kürzlich (Folge 34) bei Ignaz → Semmelweis.
Gustav Struve ging bald darauf nach Europa zurück, zumal er inzwischen amnestiert worden war. Wo blieben die beiden Töchter? Nach Monica Marcello-Müller (Herbolzheim 2002) hatte Struve sie in den Staaten zunächst »deutschen Pflegeeltern« anvertraut, nahm sie dann aber anscheinend mit. Er ging noch eine zweite Ehe ein, die ihn nach Wien führte, wo er 1870 mit 64 und trotz vegetarischer Vorsichtsmaßnahmen wahrscheinlich einer Blutvergiftung erlag. In Rastatt, wo Amalie Struve noch im Mai 1849 erheblich zu einer Soldatenmeuterei beigetragen hatte, ist eine »Kinderschule« nach ihr benannt. Damals war sie mit anderen Revolutionären anschließend nach Bruchsal gezogen, um den dortigen Gefängnisturm zu stürmen. Sie befreiten unter anderem Gustav Struve. Tags darauf floh Großherzog Leopold aus seiner Residenzstadt Karlsruhe und Brentano und Struve riefen die Republik aus – für ein paar Tage. Amalie Struve seufzte später***: »Das deutsche Volk war damals noch in tiefem Schlafe befangen. Es nahm wohl Theil an den Kämpfen der Männer [!], welche den großen und kleinen Tyrannen entgegentraten, allein nur in der Weise des Publicums, welches im Theater einem Schauspiele zusieht und, nachdem der Vorhang gefallen, ruhig nach Hause geht, ohne sich weiter um die Schauspieler zu kümmern, welche die edlen und unedlen Rollen dargestellt hatten.«
* Alexander Herzen, Mein Leben, Ostberliner Ausgabe 1963, Band II, S. 71–77
** NDB Band 25 von 2013
*** A. Struve auf S. 4 ihres Buches von 1850, gedruckt in Hamburg bei Hoffmann & Campe
Für den »leichten, zweirädrigen, gummibereiften Wagen mit Spezialsitz«, den die Freunde des Trabrennsports Sulky nennen, hat Brockhaus drei Zeilen, aber auch ein lockendes Farbfoto geopfert. Der nach hinten gestemmte Fahrer hat immerhin einen Helm auf. Sein Renner nicht. Wünschen Sie mitzurennen, müssen Sie allein für den Sulky um 1.000 Euro opfern. Der vierbeinige Renner kostet normalerweise 2.500 bis 5.000 Euro – gehört er zur Spitzenklasse, können es aber auch um 100.000 Euro sein. Die Unterhaltskosten für den Renner, vielleicht noch einmal 1.000 Euro im Monat, rechnen wir gar nicht. Hier kann sowieso viel eingespart werden, indem man dem Pferd die üblichen unwürdigen und krankmachenden Stallbedingungen bietet.
Sie haben es bereits geahnt: die Trabrennbranche ist ein Riesengeschäft für zahlreiche Beteiligte, ein paar WetterInnen sogar eingeschlossen. Nur die Pferde sind stets die Verlierer. In der Regel, nämlich von Natur aus, traben sie eher selten. Meistens gehen beziehungsweise grasen sie im Schritt; kommt ein Tiger, greifen sie fluchtartig zum Galopp. Selbst mit dem zweibeinigen Tiger auf dem Rücken kann der Trab für den Gaul aus Gründen der Abwechslung recht erholsam oder gar vergnüglich sein. Hat der zweibeinige Tiger das Pferd vor einen Wagen gespannt, kommt es freilich nur noch auf zwei Werte an: Ausdauer und Schnelligkeit. Ein Kutschpferd hält im Trab viele Kilometer durch, ohne gleich tot umzufallen. Auf den Rennbahnen geht es »natürlich« um Sekunden. Also werden die Gäule geschunden.
»Die Tiere werden gequält, leben in Angst und sterben in sehr vielen Fällen viel zu jung«, faßt Chefredakteurin Jungbluth zusammen.* Das klingt sicherlich wenig flammend. Man muß schon ins Einzelne gehen. Allein das folternde Zaumzeug der Traber läßt einem aber schon die Haare zu Berge stehen. Lesen Sie mal. Und dann schminken Sie sich die Illusion ab, die besonders grün angestrichenen BerufspolitikerInnen würden hier etwa einschreiten. Nein, Sie müssen Arbeitsplätze, Profite und das Volksbehagen retten, dafür sind sie auf der Welt.
* Verena Jungbluth, »Zum Rennen verdammt«, https://www.duunddastier.de/ausgabe/qual-der-rennpferde/, o.J., wohl 2018
Im Brockhaus fehlt der US-Gangster Timothy Daniel Sullivan (1862–1913), der sogar oft als Politiker bezeichnet wird. Immerhin erwähnt das Lexikon jedoch im selben Band die Tammany societies, die um 1790 von New York City ausgingen. Der dortige Zweig wurde, nach seinem Hauptquartier, auch Tammany Hall genannt. Diese ehrenwerten Gesellschaften mauserten sich zum Kern der später so genannten Partei der Demokraten. Verkommen bis ins Mark, wurden sie »zum Inbegriff für die autokratische und korrupte Herrschaft eines professionellen Parteiführungsstabes« und allgemeiner für »die Parteimaschine«, stellt Brockhaus fest. Jüngere Edelsteine der demokratischen Parteimaschine sind etwa Bill und Hillary Clinton.
Ein wichtiger und würdiger Vorläufer war eben Timothy Sullivan, bald Big Tim genannt. Nach 1900 saß er sogar als Vertreter des Staates New York für einige Jahre im US-Repräsentantenhaus, Washington D.C. Von Hause aus Schuhputzer und Zeitungsverkäufer, besaß er in NYC bereits mit 25 mehrere Saloons. Er stieg in die schillernde Branche des Glückspiels, des Wett- und Wahlbetrugs, der Zuhälterei, des Waffen- und Immobilienhandels ein. Er starb vorzeitig, mit 51, recht stilgerecht: schon arg an Syphillis leidend, vielleicht auch verwirrt, kam er Ende August 1913 in NYC unter einen Zug. Dieses Ende gilt als ungeklärt. Dafür wird versichert, seinem Sarg seien mindestens 25.000 Trauernde gefolgt. Man sieht, der Mann war beliebt. Manche halten ihn sogar für einen Vorkämpfer von Frauenrechten. Siehe das schöne Foto im Federalist; Big Tim ist der Lange rechts. Er habe etliche uneheliche Kinder hinterlassen, heißt es anderswo, und um die zweieinhalb Millionen Dollar. Das dürften 1913 über 10 Millionen Mark gewesen sein.
Ein interessantes, weiter führendes Licht wirft David Harsanyi in einem jüngeren Artikel.* Danach entschloß sich der Gerichtsmediziner George Petit le Brun bei der Autopsie der beiden → Goldsborough-Leichen (1911, Folge 15 unter Phillips), endlich das von ihm schon länger angestrebte Verbot zu erwirken, wonach keine Schußwaffen mehr an »verantwortungslose« BürgerInnen verkauft werden dürfen. Nun habe er, nach Jahren vergeblichen Klinkenputzens bei lokalen Politikern, ausgerechnet in dem Tammany-Hall-Betreiber Big Tim seinen großen Mitstreiter gefunden – »einen der korruptesten Politiker seiner Zeit«, wie Harsanyi anmerkt. Noch im selben Jahr 1911 wurde in der Tat das erste landesweite Waffenkontrollgesetz verabschiedet, der für den Staat New York geltende Sullivan Act. Neben Handfeuerwaffen war sogar das Tragen von Messern und Knüppeln und manchem mehr verboten. Bossen wie Big Tim gewährte der Act die legale Möglichkeit, die Banden seiner Konkurrenten zu entwaffnen, Schwänzer von »Schutzgeld« zu bestrafen oder »ganzen Stadtvierteln die Fähigkeit zur Selbstverteidigung« zu rauben, schreibt Harsanyi. Wie sich versteht, war der Act ein biegsames Gummigesetz, das den klugen oder betuchten Schlawinern jede Menge Hintertürchen bot. Nur der anständige Bürger bemühte sich pflichtbewußt um eine Ausnahmelizenz. So sei es kein Wunder, wenn in den Jahren nach dem Act kein Rückgang der Bandengewalt zu verzeichnen war, behauptet Harsanyi. Im Gegenteil: Was Mordfälle angeht, sei die Rate (in NYC?) von 366 im Jahr 1911 auf 743 im Jahr 1920 gestiegen.
Verstehe ich richtig, schüttelt Harsanyi zum Abschluß seinen Kopf über KritikerInnen der Strafverfolgungs-behörden, die dem Staat gleichwohl erlaubten, den um seinen Schutz besorgten Bürger zum Bittsteller herabzuwürdigen und dem Staat so die Entscheidung darüber zu überlassen, wer sich verteidigen darf und wer nicht. Jedenfalls rennt diese antiautoritäre Sicht bei mir offene Türen ein. Verbote dämmen die Gewalt so wenig ein wie sie faschistisches Gedankengut ausrotten. Der Bürger muß seine Freiheit behalten, auch die zum wirksamen Widerstand, nur muß das mit gegenseitiger Erziehung einhergehen, diese Freiheit nicht zu mißbrauchen. Der entsprechende Diskurs hat an die psychologischen und biografischen Wurzeln jedes einzelnen zu gehen. Ich selber ertappe mich immer mal wieder bei der unbändigen Lust, Leute, die mich eiskalt schneiden oder sogar anspucken, ihrerseits zu demütigen, ob mit Bemerkungen, Ohrfeigen oder Arschtritten. Zuweilen betrifft es sogar Leute, die mir gar nichts getan haben. Der geborene Rechthaber möchte ihnen lediglich bedeuten, wie dumm sie sind. Diesen Trieben ist mit Verboten und Strafen – eben mit Gewalt nicht beizukommen. Sie müssen erkannt und besprochen werden und sich nach und nach erübrigen.
Selbstverständlich spielt dabei auch die Verfassung der jeweiligen Gesellschaft eine bedeutende Rolle. In den erzkapitalistischen, hoch aufgerüsteten, durch und durch gewalttätigen USA, deren oberstes Credo die Rivalität ist, dürften Hopfen und Malz sowieso verloren sein. Freie Zwergrepubliken wie die Mollowina kann ich mir für Georgia oder Texas beim besten Willen nicht vorstellen. In der Mollowina oder auf Pingos hat jeder erwachsene Republikaner, Frauen eingeschlossen, selbstverständlich freien Zugriff auf den Waffenschrank der jeweiligen GO. Wer‘s nicht glaubt, möge diese Texte endlich einmal lesen.
* David Harsanyi am 27. Juni 2022 im Federalist: https://thefederalist.com/2022/06/27/new-yorks-unconstitutional-gun-law-was-written-by-a-notorious-corrupt-thug/
Die Vorherrschaft des Automobils wird oft mit dem Argument kritisiert, seine massenhafte Benutzung unterstütze die Vereinzelung des modernen Menschen. Da hat die Luftfahrt doch eine ganz andere Dimension. Das Internet kennt Dutzende von Abstürzen, bei denen ganze Sportclubs ausgelöscht wurden. Zum Beispiel erwischte es den usbekischen Fußballer Michail Iwanowitsch An, ein Mittelfeldspieler, 1979 im Verein mit seiner Mannschaft bei einem Flugzeugzusammenstoß, der im ganzen für 178 Tote sorgte. Sein Berufskollege Valerio Bacigalupo war ebenfalls erst 25 Jahre alt. Er hütete das Tor beim AC Turin, damals Spitzenclub des italienischen Profifußballs. Dieser Club wurde am 4. Mai 1949, auf dem Rückflug von einem Auswärtsspiel, nahezu vollständig vernichtet, weil die Maschine kurz vor Turin bei starkem Nebel eine Kirche streifte, die den Wallfahrtshügel Superga noch heutzutage krönen soll. Die Maschine taumelte und fiel in ein benachbartes Klostergebäude. Das ließ man dann anscheinend als mahnende Ruine für die Nachwelt stehen. Brockhaus erwähnt den Hügel, nicht dagegen das bedauerliche Unglück. Von den 31 Menschen an Bord überlebte nicht einer. Am Trauerzug durch Turin beteiligten sich später ungefähr 500.000 Menschen, darunter sicherlich viele Gläubige. Die einen glaubten an Gott, die anderen an den Fußball, alle zusammen an die Mobilität.
Der Glückspilz des AC Turin hieß Sauro Tomà, damals 23. Der Verteidiger und Stammspieler hatte aufgrund einer Knieverletzung gerade pausiert, somit an dieser Flugreise nicht teilgenommen.* Er wurde noch 92, gestorben 2018.
* https://www.spiegel.de/sport/fussball/tragoedie-des-ac-turin-wie-der-stolz-italiens-an-einem-berg-zerschellte-a-622549.html, 4. Mai 2009
Das jüdische Gotteshaus Synagoge dürfte allgemein bekannt sein. Nicht jedoch die witzige Synagoge in dem Städtchen meiner Kindheit Gudensberg (bei Kassel). Sie war um 1840 am Ende der Hintergasse errichtet worden. Man denkt im ersten Augenblick, man hielte auf einen besonders liebevoll gestalteten kleinen Wasserturm mit vielstrebigem großem Rundfenster über dem Eingangsportal und einem stumpfen Treppengiebel zu. Das später zur Linken angebaute jüdische Schulhaus verdeckt den Rest. Die Synagoge war und ist aber vergleichsweise geräumig. Sie bot mindestens 250 Gläubigen Platz. Neben dem Saal (110 qm), der mehrere hohe, oben gekrümmte Fenster hatte, wies sie einen Vorraum mit Treppenhaus und im Obergeschoß eine dreiseitige Empore auf.
Der Zerstörung im »Dritten Reich« entging die Gudens-berger Synagoge nur, weil bereits viele Gemeindemit-glieder weggezogen waren und das Gotteshaus bereits 1937 geschlossen und an Privathand verkauft wurde. Eine Bäckerei nutzte (und verschandelte) es. 1995 wurde das instandgesetzte Gebäude als Kulturhaus neu eröffnet. Auch die Gudensberger Musikschule darf es benutzen.
Brockhaus wartet mit dem allgemeinen Hinweis auf, in orthodoxen Synagogen gebe es für weibliche Gläubige eine Frauenempore oder einen durch Gitter oder Vorhänge abgeteilten Raum. Also eine Art Gefängnis. So verhielt es sich auch in Gudensberg. Die Weiber mußten die Treppe erklimmen und auf der Empore Platz nehmen. Zum Witz im allgemeinen scheint jedoch, nach Brockhaus, auch zu zählen, die Christen hätten ausgerechnet eine als Frau dargestellte »Synagoge« zur Allgorie des Judentums beziehungsweise des Alten Testaments erhoben. Oder vielleicht auch erniedrigt. Jedenfalls läßt sich wahrscheinlich nicht eine sogenannte Weltreligion finden, in der die Frauen irgendetwas zu melden gehabt hätten. Da mußten erst die Grünen kommen, die bekanntlich den Glauben an den Klimawandel und die russische Bösartigkeit vertreten. Annalena Baerbock ist immerhin schon Außenministerin, und falls sie demnächst von Sahra Wagenknecht gestürzt wird, schiebt Habeck sie auf den Papstthron ab.
Ein Nachbarort von Waltershausen ist Tabarz. Er liegt am Nordfuß des Großen Inselsbergs in einem Talkessel, durch den die Laucha fließt. Brockhaus teilt sogar mit, von der Kreisstadt Gotha aus sei der Kurort mit der Straßenbahn Thüringerwaldbahn zu erreichen. Sie rattert natürlich nicht durch Straßen, vielmehr Felder und Wälder.
Sigmar Löffler empfand den Ortsnamen Tabarz in seiner Waltershäuser Stadtgeschichte völlig zurecht als merkwürdig. Ursprünglich, um 1000, habe die Siedlung »Tanfurti« gehießen, also wohl nach einer Furt unter Tannen. 1467 war man dann schon bei »Tanfarts«, 1523 bei »Tawarz« angekommen. Später mischte sich auch noch ein Dorf namens Cabarz ein, vemutlich nach einem Personennamen. Jedenfalls fiel der Badeort nach der »Wende« der Ost-West-Spaltung anheim. Während die Westler von »Tabarz« sprechen, quetschen die Einheimischen stets »Taberts« hervor.
Ein übles Kapitel für sich ist der südhessische Arzt, Buchautor und Kinderschreck Heinrich Hoffmann. Er hielt sich um 1890 häufig zur Sommerfrische in Tabarz auf. Nun hat er hier einen Gedenkstein, eine Straße und sogar einen Park mit Figuren aus seinem literarischen Werk. Der leider weltberühmte, vollbärtige Patriarch ist vor allem für sein Gehorsam predigendes Bilderbuch Struwwelpeter von 1844 bekannt.
Flugzeugkonstrukteur Kurt Tank (1898–1983) hat ein Porträtfoto, auf dem er nicht wie ein Kinderschreck wirkt. Neben Sport- und Verkehrsflugzeugen habe er, im Zweiten Weltkrieg, auch Jäger gebaut, druckst Brockhaus herum. Klee dagegen führt ihn gleich als Wehrwirtschaftsführer ein. Tank war bereits vor 1933 Mitglied der NSDAP geworden, somit erklärter Hakenkreuzler. Nach Kriegsende schenkten ihm die britischen BesatzerInnen ihre Gunst, indem sie ihn nur kurz einsperrten und nicht weiter in ihn drangen. Die nächste Gunst laut Karl-Dieter Seifert: »1947 ging er mit gefälschten Papieren über Dänemark nach Argentinien, wo er nach seiner Ankunft vom Privatsekretär des Präsidenten Juan Domingo Perón und der Luftwaffenführung empfangen wurde.«* Dort griff Tank, auch selber Pilot, der jungen Flugzeugindustrie unter die Arme. Weitere Entwicklungsländer folgten. 1969 sei er nach Deutschland zurückgekehrt und habe unter anderem Messerschmitt-Bölkow-Blohm (MBB) beraten, in München. Dort starb er auch, 85 Jahre alt. Man wundert sich fast, daß er nicht wenigstens ein bayerisches Verdienstkreuz bekam.
* NDB 25 (2013)
Der liebe »O Tannenbaum, wie grün sind deine Blätter« ist in der Regel eine Fichte. Nebenbei hat er auch keine Blätter. Die Verwechslung von allerlei Nadelbäumen mit Tannen ist leider ungleich verbreiteter als die Tanne selbst. Die bei uns heimische Weißtanne versteckt sich meist in Gebirgswäldern. Sie kann sehr hoch, dick und alt werden – sofern sie nicht vom bereits Brockhaus bekannten Tannensterben ereilt wird. Von der Fichte ist sie auf Anhieb sicher durch ihre aufrecht stehenden Zapfen und die stumpfen, weißgestreiften Nadeln unterscheidbar. Zerrieben, duften die Nadeln ausgesprochen würzig. Auch das Holz dieser Tanne ist nahezu weiß, zudem weich.
Zwar ist der bräunlich gefiederte Vogel Tannenhäher witzig weißgesprenkelt, aber auch vor ihm hat die Verwechslungslust nicht Halt gemacht. Man trifft ihn meist in Fichtenbeständen an. Im Englischen heißt er »Nutcracker«, weil er gerne Haselnüsse verspeist. In den Alpen hält er sich vorwiegend an die Früchte der Zirbelkiefer, auch Arve genannt. Spaziere ich durch den nahen Thüringer Wald, rattert mir der schräge Vogel von irgendeinem Fichtenwipfel aus jede Wette sein merkwürdiges Schnarren entgegen, weil er mich für einen Unhold, einen Kinder- oder wenigstens Waldschänder hält. Dieses maschinenartige, recht schrille Schnarren ist seine häufigste und auffälligste Lautäußerung.
Um den geschändeten Wald geht es gerade auch in einem Artikel* Gerd Reuthers, der von Hause aus eigentlich Arzt, kein Förster ist. Aber eine unparteiliche Ursachenfor-schung findet so gut wie nicht mehr statt, beklagt Reuther. Schließlich hat man inzwischen den angeblich globalen »Klimawandel« als Hauptbösewicht, daneben verschiedene Käfer als Schädlinge ausgemacht. Jenes Gespenst kann man nicht; diese darf man jedoch (als Naturfreund) nicht bekämpfen. Also geht es den Opfern selber an den Kragen, den kranken Bäumen. Sie werden kurzerhand großflächig abgeholzt, so auch schon im Thüringer Wald. Was dabei nahezu ausgeklammert wird, sind die vielfältigsten, regional unterschiedlich auftretenden Umweltgifte, die wir dem nachhaltigen Treiben des »militärisch-industriellen Komplexes« verdanken. Dieser Ausdruck stammt übrigens weder von mir noch von Reuther, vielmehr aus den USA. Der General und Präsident Dwight D. Eisenhower verwendete ihn 1961 prompt in seiner Abschiedsrede – was er erstaunlicher-weise sogar als Warnung vor diesem Gebilde verstand. Lassen Sie die bunte deutsche »Parteimaschine« noch zwei oder drei Jahrzehnte emsig sein, dann sieht es hier aus wie in vielen Mittelmeerländern: waldlos.
* https://www.manova.news/artikel/die-suizidale-natur, 24. August 2024
Tansania, ein ziemlich ausgedehnter Staat an der ostafrikanischen Küste, befreite sich um 1960 von kolonialer Bevormundung und Ausbeutung, jedenfalls offiziell. Die einheimischen PolitikerInnen bemühten sich um »Blockfreiheit« und unterstützten verschiedene andere afrikanische Befreiungsbewegungen. Aber dies alles stand auf tönernen Füßen, da die Macht ja nach wie vor beim Imperialismus saß. 2015 wurde John Pombe Joseph Magufuli zum Präsidenten Tansanias gewählt. Sein Programm bestand vor allem darin, die Vetternwirtschaft und die Eingriffe der Westlichen Tauschwertgemeinschaft in sein mit begehrten Bodenschätzen gesegnetes Land zu unterbinden. Wie es aussieht, war er bei den meisten Kleinen Leuten ausgesprochen beliebt. Die westlichen Medien hoben aber lieber seinen angeblich autoritären und wissenschaftsfeindlichen Regierungsstil hervor – dabei war er unter anderem promovierter Chemiker. In der Tat weigerte er sich, seine vielen WählerInnen als Versuchskaninchen für genmanipuliertes Saatgut oder dann, in der Zeit des weltweiten Coronawahns, für fragwürdige Impfstoffe aufzufassen. Damit setzte er sich natürlich zumindest beim Imperialismus stark in die Nesseln. 2021 verschwand der Staatspräsident plötzlich für etliche Wochen. Dann hieß es Mitte März regierungs-amtlich, er sei in einer Klinik von Daressalam dem berüchtigten »Herzversagen« erlegen, einer klassischen Überdehnung des gesunden Menschenverstandes also. Etliche maßgebliche Leute behaupteten zudem, sein Herz habe just wegen Corona versagt. Trifft das zu, wäre es für Magufulis AnhängerInnen ohne Zweifel peinlich. Angela Mahr trägt jedoch in einem drei Monate später veröffentlichten Artikel* zusammen, wie geballt Magufuli damals in den westlichen Medien herabgesetzt, ja sogar verleumdet worden ist. Ich persönlich neige zu der Annahme, man habe ihn damals gewaltsam, freilich auch geschickt aus dem Verkehr gezogen. Tim Weiner, der CIA-Chronist, könnte Ihnen erzählen, wie man das macht.
Über Mahrs erstaunlich behutsame und – für 2021 – mutige Wahrheitssuche ist jedenfalls bislang, soweit ich im Internet sehe, niemand hinaus gekommen. Wikipedia, englisch und deutsch, betet selbstverständlich die Anschwärzer des verstorbenen dunkelhäutigen Politikers nach. Ansonsten scheint sich keiner bemüßigt zu fühlen, ein neues kritisches Licht auf den Fall zu werfen. Alternativ zu Mahr empfehle ich Ihnen, einen jüngeren Handelsblatt-Artikel** über Magufulis Nachfolgerin Samia Suluhu Hassan zu lesen. Sie werden unter anderem erfahren, sie hat die Nachlässigkeiten im Krieg gegen das Coronavirus sofort abgeschaltet, Oppositionsführer geküßt und ihren hohen Besucher Frank-Walter Steinmeier gebeten, sie in Berlin als »Hoffnungsträgerin« zu empfehlen.
* https://www.manova.news/artikel/der-unbestechliche, 17. Juni 2021
** https://www.handelsblatt.com/politik/international/samia-suluhu-hassan-warum-tansanias-praesidentin-zur-hoffnungstraegerin-afrikas-wird-/29474280.html, 1. November 2023
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