Freitag, 9. August 2024
Risse im Brockhaus 30
ziegen, 09:21h
Im Bestreben, unsere sogenannten Sicherheitskräfte zu schonen, hat Brockhaus den mutmaßlichen Serienmörder Norbert Poehlke (1951–85) übergangen. Von Beruf Polizist, starb er bereits mit 34. Buchautor Fred Breinersdorfer zufolge* war der dunkelhaarige, vollbärtige Schwabe, der sich trotz (oder wegen) eines Lottogewinnes von 36.000 DM stark verschuldet hatte, von massiger, etwas gedrungener Gestalt. Aufgrund einer frühen Erkrankung hinkte er leicht. Breinersdorfer zeichnet ihn als durchaus freundlichen, wenn auch ziemlich verschlossenen Mann, der nicht so leicht aus der Ruhe zu bringen war. Der Autor, ursprünglich Rechtsanwalt, betont jedoch, über Poehlkes Persönlichkeit lägen nur spärliche Zeugnisse vor, sodaß er, Breinersdorfer, diesbezüglich in seinem »dokumentarischen Kriminalroman« notgedrungen zu Einfühlungsvermögen und Fiktion gegriffen habe. Ansonsten sei er freilich streng den Tatsachen gefolgt. Danach verübte der Polizeiobermeister einer Stuttgarter Hundestaffel mit Anfang 30 in rund zwei Jahren zunächst wahrscheinlich drei Raubmorde und vier Banküberfälle, dies durchweg im Raum Backnang, wo er mit Frau und zwei Kindern im Dorf Strümpfelbach ein eigenes Haus bewohnte. Die Morde beging er, um sich für die Banküberfälle Tat- und Fluchtfahrzeuge zu verschaffen – falls dies tatsächlich der alleinige oder jedenfalls wesentliche Grund für diesen brutalen Weg der Beschaffung gewesen sein sollte. Bei Breinersdorfer wundert sich Poehlkes Frau im Gespräch mit ihrem Mann zurecht darüber, daß »dieser Typ« kaltblütig mordet, nur um an ein Auto zu kommen. Das ließe sich doch durch Diebstahl viel einfacher und gefahrloser bewerkstelligen. Dazu sagt ihr Mann nichts – bei Breinersdorfer (S. 100).
Zeugin Inge Poehlke konnte nicht mehr befragt werden. Zwar war Poehlke nach den Überfällen jeweils unerkannt entkommen, doch dann schloß sich das Netz um den fieberhaft gesuchten Gewaltverbrecher (der sich ebenfalls einige »Fehler« leistete) trotz etlicher »Pannen« der ErmittlerInnen enger, und zudem schöpfte jetzt auch seine Frau ernsthaften Verdacht. Darauf erschoß Poehlke auch diese sowie seinen älteren Sohn Adrian, während er mit dem jüngeren Sohn Gabriel in seinem privaten weißen Mercedes-Kombi gen Mittelmeer flüchtete. Beide Kinder dürften im Vorschulalter gewesen sein. Mitte Oktober 1985 in Süditalien eingetroffen, war dem noch unentdeckten Schwaben offenbar ausweglos genug zumute, um am Strand der Adria auch seinen Jüngsten und dann sich selbst zu erschießen. Nach einem Jubiläumsartikel der Stuttgarter Zeitung** hatte Poehlke einmal als Kind in dieser Gegend, bei Brindisi, Ferien gemacht. Nun hatte er, vor dem letzten Schuß, sehr wahrscheinlich sechs Tote auf dem Gewissen: drei Fremde und drei Angehörige. Dabei hätten zumindest die drei letzten, innerfamiliären Morde möglicherweise vermieden werden können, wenn sich die Kollegen Poehlkes, voran seine Vorgesetzten, weniger Ermittlungsfehler geleistet hätten, wie jedenfalls Breinersdorfer meint (160). Übrigens gestattet sich der Autor (auf S. 46) einen hilfreichen Exkurs zur hohen Fragwürdigkeit von Zeugenaussagen, wobei er keineswegs hauptsächlich die Befangenheit von Angehörigen oder Nutznießern im Auge hat.
Eigentlich hatte Poehlke auch noch eine kleine Tochter gehabt. Die dreijährige Cordula war im März 1984 qualvoll an einem Gehirntumor gestorben. Breinersdorfer legt die Einschätzung nahe, dieser schwere Schlag habe den Polizisten mit in die Verzweiflung und ins Verbrechen getrieben. Seinen ersten Überfall beging er Anfang Mai. Bei Breinersdorfer stellte er seiner Frau einmal die bekannte Frage, warum der Schicksalsschlag gerade sie erwischt habe, das Ehepaar Poehlke. Die Frage ist nicht nur müßig, vielmehr dumm und selbstsüchtig. Hätten sich »das Schicksal« oder der Zufall lieber an einen Nachbarn halten sollen? Vielleicht sollten Personen, deren Gehirn von solchen gefährlichen Gemeinplätzen durchsetzt ist, wenigstens nicht Polizist werden – beziehungsweise Buchautor (79).
Leider ist man, mangels Einblicke, auch verleitet, die Poehlkes als das »typische«, zumal schwäbische, öde Ehepaar zu nehmen. Als Poehlke seine Frau umbrachte, war sie übrigens erneut schwanger gewesen, was ihn (vermutlich) eigentlich erfreut hatte. Andererseits muß man nach Breinersdorfers Darstellung annehmen, Poehlke habe Inge, die Ex-Kollegin und »Schlampe«, die möglicherweise nach Heftromanen süchtig ist, auch gehaßt. Das Eheglück oder -leid bleibt bei Breinersdorfer, vielleicht »naturgemäß«, weitgehend undurchsichtig. Neben Gefühlen klammert der Autor auch Sex oder Erotik völlig aus. Dafür nennt er sein Buch »natürlich« nach dem griffigen Schreckgespenst, das 1984/85 bundesweit durch die Medien zog: »der Hammermörder« ging um. In Wahrheit hatte Poehlke seine (mutmaßlichen) Opfer erschossen. Den Vorschlaghammer hatte er »nur« benutzt, um in den Kassenräumen die Panzerglasscheiben zu zertrümmern.
* Fred Breinersdorfer, Der Hammermörder. Ein dokumentarischer Kriminalroman, Stuttgart 1986, hier München 2000
** 20. Oktober 2015, wegen Oberflächlichkeit nicht empfehlenswert
Brockhaus zählt den argentinischen Psychologen, Soziologen und Schriftsteller Anibal Ponce (1898–1938) zu den »bekanntesten Vertretern des Marxismus in Lateinamerika« und führt drei Bücher von ihm an, verrät uns aber nicht, warum er keine 40 wurde. Es war ein schnöder Autounfall. Näheres darüber gibt auch das Internet nicht preis, obwohl der Unfall weder in der DDR noch in der SU stattfand. Ponce hatte zwei Europareisen hinter sich, dabei 1934 auch einen Besuch in der Sowjetunion, die er vermutlich verehrte. Er soll »Aktivist« der KP und verschiedener Zeitschriften gewesen sein. 1936 wird er im Zuge des Militärputsches von 1930 als Dozent an mehreren Hochschulen amtsenthoben, worauf er ins mexikanische Exil geht. Hier ereilte ihn 1938, laut spa-nischer und englischer Wikipedia, jener Verkehrsunfall, und zwar auf einer Autobahn zwischen der Großstadt Morelia, Michoacán (wo Ponce lehrte), und Mexiko City. Ein Anschlag wird nirgends geargwöhnt. Der 39jährige Emigrant starb an den Folgen seiner möglicherweise verkannten inneren Verletzungen. Man wüßte gern, ob noch andere Zeitgenossen zu Schaden kamen, aber soweit reicht die Soziologie des Internets oder der Kommu-nistischen Internationale nicht. Auch Ponces Lebensweise oder gar seine Persönlichkeit liegen völlig im Nebel. Dabei sollte man meinen, gerade sie wären im Fall eines Psychologen aufschlußreich.
Den Jahreszahlen zufolge, die Brockhaus gibt, hatte der Germanist Hermann Pongs (1889–1979) im »Dritten Reich« Lehrstühle in Stuttgart und Göttingen inne. Auch der Zeitschriftentitel Dichtung und Volkstum läßt aufhorchen. Schwerpunkt von Pongs Forschung seien die Symbole (Bilder) gewesen. Klee dagegen hebt hervor: »Spezialgebiet Kriegsdichtung«. Im Gegensatz zu Brockhaus nennt er auch den hübschen Buchtitel Krieg als Volksschicksal (1934). Baerbock hat die Restposten bereits angefordert. 1940 trat Pongs in die regierende Partei ein. 1943 lieferte er dem Oberkommando der Wehrmacht die fesselnde Tornisterschrift Soldatenehre – Frauenehre, Für Soldaten geschrieben. Die ist womöglich für Baerbock weniger geeignet. Dann ging der Krieg jedoch verloren, und Professor Pongs wurde gehässigerweise entlassen. 1949 sei er »entnazifiziert« (wohl = »entlastet«) und in den sogenannten Wartestand versetzt worden. Die Emeritierung habe er 1954 »bei vollen Bezügen« erreicht.* Er wurde noch knapp 90. Lebensprägend sei für Pongs, Sohn eines Mönchengladbacher Textilfabrikanten, das Erlebnis des Ersten Weltkriegs als Soldat an der Westfront und auf dem Balkan gewesen, glaubt Ferenschild. »Es unterwarf sein politisches und literarisches Denken den Kategorien des Krieges und Kampfes, des Heroischen und Tragischen. Zentral ist das Ideologem von der Volk-werdung der Deutschen im Krieg.« Wir erleben sie gerade.
* Hartmut Ferenschild in NDB 20 (2001)
Ein Kämpfer wie Allen L. Pope (1928–2020) hätte Pongs jede Wette gefallen. Aber er kommt im Brockhaus nicht vor. Allmählich beschleicht mich ohnehin der Verdacht, diesem Universallexikon lägen positive Figuren und Verhältnisse ungleich mehr am Herzen als negative. Damit unterstreicht es den Rüffel, den mir einmal eine Mitkommunardin wegen meiner Schwarzseherei erteilte. Das Leben sei doch auch schön! schimpfte sie. Eben diesem ästhetischen Eindruck von der Welt möchte auch das Universallexikon dienen.
Vor Pope brauche ich wenigstens keine Angst mehr zu haben, ist er doch unlängst endlich, mit 91 Jahren, verstorben. »Es macht mir Spaß, Kommunisten zu killen«, habe er dem Buchautor* noch 2005 versichert. »Ich habe gern Kommunisten gekillt, egal, wie ich sie kriegen konnte.« Pope war US-Kampfpilot. Weiner schildert vor allem einen Einsatz bei einem letztlich mißglückten Versuch der CIA, das Regime des indonesischen Präsi-denten Sukarno hinwegzufegen. Das war 1958. Man tarnte die Flieger der CIA als einheimische Rebellentruppen, zerbombte einige Landstriche und ließ einige Hundert Zivilisten über die Klinge springen. Dummerweise geriet Pope aber am Morgen des 18. Mai unweit der Hafenstadt Ambon ins Fadenkreuz der indonesischen Flugabwehr. Seine letzten Bomben hätten gerade ein mit mehr als 1.000 Leuten besetztes indonesisches Truppentransportschiff um lediglich knapp 15 Meter verfehlt. Dann wurde er abgeschossen, als verletzter Fallschirmspringer verhaftet und um seine nordamerikanischen Papiere gebeten. Er hatte sie reichlich bei sich. Er bekam ein Todesurteil.
Wie die englische Wikipedia bestätigt, hatte sich der junge Killer Pope bereits im Koreakrieg ausgezeichnet, bevor er sich der CIA anschloß. Später war er auch noch im Vietnamkrieg aktiv. 2005 zeichnete ihn die französische Regierung wegen dortiger Versorgungsflüge aus. Was den Fehlschlag in Indonesien angeht, hatte Sukarno den zum Tode verurteilten Pope nach gut vier Jahren Gefangenschaft begnadigt und auf persönliche Fürsprache des US-Justizministers Robert Kennedy hin in die Heimat entlassen. Pope später zu Weiner über den Fehlschlag: »Wir haben Tausende von Kommunisten umgelegt, von denen die Hälfte womöglich nicht einmal wusste, was Kommunismus bedeutete.« Dumm war er also nicht, nur verblendet. Bald darauf wechselten die USA das indonesische Pferd und setzten auf Sieger Sukarno. Der wurde jedoch 1967 von einem noch unerbittlicherem Schlächter »hinweggefegt«: Suharto. Dieser Staatspräsident sorgte dann für Hunderttausende von toten »Kommunisten«, die unter seinem Vorgänger kräftig nachgewachsenen waren. Auch dabei, diese Steigerung anzubahnen, war die CIA also ersichtlich behilflich gewesen. Im folgenden hielten die USA eben dem General Suharto die Stange.
* Tim Weiner, CIA-Geschichte, deutsche Ausgabe 2008, S. 211–13 + 735
Die russische Bildende Künstlerin Ljubow S. Popowa (1889–1924) verschrieb sich um 1913 in Paris der abstrakten Malerei. Brockhaus zeigt ihr Gemälde Architektonische Malerei von 1917, das im Museum of Modern Art in NYC hängen soll. Darauf sind einige farbkräftige unregelmäßige geometrische Figuren so geschickt angeordnet, daß keiner die Künstlerin als Dekorateurin verunglimpfen kann. Zurückgekehrt, habe sich Popowa jedoch ab 1921, nach der Oktoberrevolution also, der Textilkunst, Bühnenbildnerei und Agitprop gewidmet. Damals hatte sie laut verschiedenen Internetquellen ein Manifest über die Notwendigkeit unterzeichnet, sich von der Staffeleikunst ab- und der »Produktionskunst« zuzuwenden. Das scheint aber kein Skandel gewesen zu sein. Sie arbeitete sogar in einer Moskauer Textilfabrik, was Lenin sicherlich gefiel – und meine Abneigung gegen »Staffeleikunst« (= Berufs-künstlertum) ist ja sowieso bekannt.
Nein, der Skandal lag in ihrem frühen Tod. Die 35jährige hatte sich bei ihrem Söhnchen mit Scharlach angesteckt und folgte diesem (1924) nach zwei Tagen ins Grab. Die zumindest damals nicht seltene Kinderkrankheit wird durch Bakterien hervorgerufen. Der fünf- oder sechsjährige Sohn stammte von Popowas Gatten Boris von Eding, einem Kunsthistoriker, den sie 1918 geheiratet hatte.* Leider war der auch schon tot. Er fiel 1919 dem Typhus zum Opfer, was Popowa damals noch knapp überlebte. Es waren ja starke Hunger- und Vitamin-mangelzeiten. Aber selbst das kann Autorin Seufert nicht daran hindern, den Mangel an einem Namen des Söhnchens nicht als solchen zu empfinden.
Popowa stammte aus wohlhabendem Hause. Ihr Vater war Textilhändler und Kunstmäzen gewesen. Sie ging in Jalta auf der Krim aufs Gymnasium und reiste später viel. Gleichwohl setzte sie sich in Paris nicht mit Krakenarmen fest, kehrte vielmehr in das von Gewalt und Hunger geschüttelte Zarenreich zurück. Insofern kann man über ihren Avantgardismus vielleicht hinwegsehen und nur den Hut vor ihr ziehen. Selbst den jungen Bolschewismus hielt sie aus.
Ein anderer Skandal ist die Behandlung, die dem tschechischen realistischen Maler und Kunstkritiker Karel Purkyně (1834–68) in den wenigen dürren Quellen widerfährt, die es über ihn gibt, Brockhaus eingeschlossen. Damit greife ich etwas vor. Selbst der vergleichsweise ausführliche Eintrag in der tschechischen Wikipedia leistet sich eine Verhöhnung des Publikums mit der Mitteilung: »Karel Purkyně starb vorzeitig im Alter von 34 Jahren und wurde auf dem Vyšehrad-Friedhof neben seinem Freund Václav Levy (Grab 2A-28) beigesetzt. Die Witwe Marie Purkyňová lebte bis ins hohe Alter in der Prager Anstalt für Geisteskranke.« Das ist das höchste der Gefühle: Er starb »vorzeitig« und bekam einen Ruhestättengenossen. Ob er vielleicht an Geisteskrankheit, Tuberkulose oder einem Kreulenschlag starb, konnten diese Lexikografen nicht untersuchen, weil sie zu sehr von ihren internen Eifersüchteleien und entsprechenden Streitigkeiten in Anspruch genommen waren. Immerhin sind sie freundlich genug für den Hinweis, Tochter Růžena, gleichfalls Malerin, habe später über ihre ganze prominente Familie »ein Buch mit dem Titel Leben dreier Generationen« verfaßt, »das 1944 bei Umělecká beseda« erschienen sei. Also bitte nicht so faul: lesen Sie den Schinken und schreiben Sie den Lexikografen gefälligst, was drinsteht.
Mir zum Trost, führt die deutsche Wikipedia unter Purkyněs Werken folgendes Porträt an: Betty Reitmayerová (Prag, Präsidentschaftskanzlei), 1858, Öl auf Leinwand, 110 × 86 cm. Das wird eine schöne Tante gewesen sein.
* Eva Seufert auf https://thehistoryofpaintingrevisited.weebly.com/ljubow-popowa1.html, o.J. Das Brockhaus-Gemälde ist hier links unten, an fünfter Stelle, abgebildet.
Für Brockhaus war Ferdinand Porsche (1875–1951) ein Kraftwagenkonstrukteur, der ab 1934 den Volkswagen und sogar Windkraftanlagen und Panzer entwarf und baute. Näheres können sich argwöhnische Köpfe durch die Mitteilung zusammenreimen, bis 1945 habe er das Volkswagenwerk sogar geleitet. Die Stadt Wolfsburg, bis dahin »Stadt des KdF-Wagens bei Fallersleben« genannt, wird nicht erwähnt. Vielleicht fand das Ganze schon virtuell statt.
Dafür gewährt uns das Nachschlagewerk (Band 17 von 1992) ein Porträtfoto des schnauzbärtigen und lachenden Mannes, der seine Kraft durch Freude (KdF) nur für den Kreis seiner Familie auszustrahlen scheint. Wer hätte auch 1938/39, als das Wolfsburger Volkswagen-Werk unter der Regie des designierten »Wehrwirtschaftsführers« Porsche aus dem Boden gestampft wurde, ahnen können, daß der Welt ein Krieg mit gewaltigen Transportproblemen ins Haus stand? Schwiegersohn Anton Piech, inzwischen anstelle des erholungsbedürftigen Porsche zum »Betriebsführer« aufgerückt, befahl im April 1945 dem Wolfsburger »Volkssturm«, der ihm ebenfalls unterstand, zum Abwehrkampf Richtung Elbe aufzubrechen. Er selber zog es allerdings vor, unter Mitnahme »der wichtigsten Geschäftsbücher« nebst »10,5 Millionen Reichsmark« nach Österreich abzutauchen*, wo er Porsche zu seiner gesunden Gesichtsfarbe beglückwünschen konnte. Der Clan besaß in Zell am See ein Anwesen.
Die einzigen, die Porsche nach Kriegsende zu behelligen und vorübergehend einzusperren wagten, waren die Franzosen. Sie nahmen ihm übel, sich solcher Einrich-tungen wie Zwangsarbeits- und Konzentrationslagern bedient und Peugeot-Maschinen gestohlen zu haben. Aber er wand sich schon 1948 mit einem glatten Freispruch heraus. Die Ampel stand wieder auf Grün. Für Hartmut Hohnsbeins Empfinden stellten jene in die Alpen geretteten Millionen einen »soliden Grundstock für den unaufhaltsamen Aufstieg der Familien Porsche/Piech nach dem Kriege« dar, der bis in unsere Tage anhalte.** Nebenbei behauptet Hohnsbein, die 1938 in Wolfsburg investierten Gelder hätten aus dem 1933 beschlagnahmten Vermögen der Gewerkschaften gestammt, also gewissermaßen aus den Streikkassen. Dafür dürfen sich heute wenigstens die Gewerkschaftsbosse überall in den Aufsichtsräten mästen.
Inzwischen hat der von Wolfgang Porsche geführte Clan sogar die traditionsreiche Firma Volkswagen zur Tochtergesellschaft seiner Holding Porsche SE herabgewürdigt. Er hält die Aktienmehrheit bei dem weltweit aktiven Wolfsburger Riesen. Mit dem Piech-Clan ist man zwar blutsverbandelt, doch man trägt die üblichen Eifersuchtsfehden um Posten und Geld miteinander aus. Alles auf Kosten der vielen Millionen Volksleute, die sich lieber ein Bein ausreißen würden, als sich nicht in den eigenen nagelneusten Porsche oder Volkswagen zu schwingen.
* Hans Leyendecker, https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/vw-und-porsche-in-feindschaft-eng-verbunden-1.442520, 17. Mai 2010
** Ossietzky 10/2008: https://www.sopos.org/aufsaetze/488762df75794/1.phtml.html
Der beliebte niederländische Maler Paulus Potter (1625–54) widmete sich vorwiegend unseren Haus- und Zugtieren. Am häufigsten wird sein Junger Stier von 1647 reproduziert, der auch im Brockhaus zu bewundern ist. Potter selber war leider keiner. Wie man sich vielleicht erinnern wird, stellte ich beim Maler Carel → Fabritius (Folge 11) den durch Explosion eines Pulverturms bewirkten Delfter Donnerschlag vor. Den gewaltigen Gehöreindruck dieses Ereignisses verpaßte Kollege Potter um neun Monate. Dafür raffte ihn jedoch im Januar 1654 in Amsterdam die Tuberkulose weg – und mit 28 war er noch jünger als Fabritius. Ein kurz vor seinem Tod entstandenes Porträt von der Staffelei Bartholomeus van der Helsts zeigt einen blassen, empfindsamen Jüngling mit braunem Engelshaar. Zu Potters Gönnern zählte der bekannte Arzt und Bürgermeister Nicolaes Tulp, der ihn offensichtlich auch nicht retten konnte. Mein Lieblingsbild aus Potters Hand ist die sogenannte Pissende Kuh – wenn auch nur unter dem Vorbehalt: Sie müssen sich am unteren Bildrand einen gestrauchelten, aufs Kreuz gefallenen Kunsthändler vorstellen, dem die Kuh nun ins erschrocken aufgerissene Maul pißt.
Jetzt sehen Sie sich einmal die angebliche Prachtorchis an, auch Vanda sanderiana genannt. Es handelt sich um eine Orchidee, die es wild nur auf den Philippinen gibt, ansonsten jedoch in überzüchteter Form in allen Städten der Welt auf zahlreichen Fensterbänken oder Rednerpodien. Brockhaus meint, sie sei »eine der schönsten kultivierten Orchideen« überhaupt. Das ist nicht nur eine subjektive Bewertung, die beispielsweise nach den offiziellen Wikipedia-Richtlinien verboten wäre, sondern auch eine üble Geschmacksverirrung. Der Mensch ist der große Aufbläher. Folglich bläst er auch Kuheuter zu Milchfabriken und → Gladiolen (Folge 14) zum Träger popfarbig angestrichener Schultüten auf. Die gewaltigen volkswirtschaftlichen Kosten der Angelegenheit, etwa der Blumenzucht und des Blumenhandels, scheren ihn einen Dreck, obwohl man dafür Millionen Menschen aus dem Elend reißen könnte. Eben diesen Dreck verwandelt ja unsere Freie Marktwirtschaft in sinnvolles Gold und Geld, weil sie insgesamt als riesiger Luftballon funktioniert.
Eine bezeichnende Szene aus Remarques Arc de Triomphe fällt mir ein. Der durchaus lesenswerte Roman spielt im Jahr 1939. Held der Geschichte ist Ravic, ein aus Deutschland geflüchteter Arzt und Saufbold. Seine neue Geliebte singt in einem Pariser Nachtclub. Nun überrascht ihn Joan beim Eintritt in sein Hotelzimmer mit einem ganzen Armvoll Chrysanthemen, die ihr ein sie bewundernder Gast geschenkt hat. Ravic liegt noch im Bett. Joan läßt die beliebten gefüllten Sahnebonbon-blumen auf seine Bettdecke prasseln. Das hält er aber für gefährlich (Erstickungsgefahr); so rafft sie sie mit heftiger Bewegung wieder zusammen – und wirft sie auf den Fußboden. Es folgt das übliche Hickhack um die Frage, ob man auch einander genügend liebe. Unterdessen schimmern die Chrysanthemen vom Teppich her. Ravic hat nebenbei eine frische Tageszeitung unter sie geschoben, um die Schlagzeilen zur wachsenden Kriegsgefahr nicht mehr sehen zu müssen. Bald verlagert sich die Auseinandersetzung zwischen den beiden mehr oder weniger vollständig auf den Fußboden, sprich auf das Blumenmeer, in dem bereits eine halbgeleerte Flasche Calvados schwankt, der beide gern zusprechen. Fehlt nur noch, daß sich die beiden am Ende versöhnlich in den Chrysanthemen wälzen, aber vorher bricht das Kapitel (Nr. 11) wohlweislich ab.
Vielleicht ist der Hinweis gestattet: die krankhafte Zucht und Verwendung von Tischblumen ist im wesentlichen eine Folge der Verstädterung. In den gelichteten, gleichsam aufgelösten ehemaligen Städten meiner Freien Republiken käme kein Mensch auf die Idee, sich um die Frische täglicher Tischblumen zu sorgen. Er hat keine Tischblumen, weil sie draußen neben der Haustür oder nach hinten heraus in den Wiesen blühen. Will er Blumen sehen, braucht er bloß aus dem Fenster zu gucken. Will er an ihnen schnuppern, hat er nur ein paar Schritte zu gehen. Im Winter nimmt er mit den Eisblumen an den Fensterscheiben und den Eiszapfen an den Dachrinnen vorlieb. Diese ganze Erbaulichkeit kostet ihn keinen Pfifferling.
Zu meinen Lieblingsblumen zählt das schlichte Tausend-güldenkraut, das ich öfter auf einer nahegelegenen, teils feuchten Waldwiese besuche. Der Name ist irreführend, wohl zum Teil durch Fehlübersetzungen. Freilich wurde das Pflänzchen schon immer wegen seiner Heilkraft wertgeschätzt, etwa gegen Gallendrücken oder Fieber.* Solange unsere Städte mit Goldgruben namens Apotheken gepflastert sind, kostet es allerdings Geld.
* Justus Meißner, https://www.stiftung-naturschutz.de/aktuelles/pflanze-des-monats/echtes-tausendgueldenkraut, Juli 2020
Der italienische Schriftsteller Vasco Pratolini (1913–91), offenbar ursprünglich Antifaschist und nie Avantgardist, wird ungewöhnlicherweise gleich eingangs als »Autodidakt« eingeführt. Damit wissen wir, er war von Hause aus schreibbehindert, also gewissermaßen krank. In der Regel nimmt Brockhaus die Unterscheidung zwischen Eigenständigen und Schulmäßigen nur im Falle von Bildenden Künstlern vor. Bei denen weiß man ja, sie sollen gefälligst bei Rembrandt in die Lehre oder auf die Düsseldorfer Kunstakademie gehen (zu Joseph Beuys). Aber was erwartet Brockhaus nun von einem angehenden Schriftsteller? Soll er zu Grass in die Lehre oder wenigstens auf eine Handelsschule gehen, wegen des Schreibmaschinen-Unterrichts? Selbstverständlich nicht. Vielmehr soll er Germanistik oder Publizistik oder wenigstens Sprachwissenschaft studieren. In der Tat dürfte der Löwenanteil aller SchriftstellerInnen von AkademikerInnen gestellt werden. Trifft das zu, wundert es mich nicht, wenn ich gerade das Zeug von denen niemals freiwillig zur Hand nehme. Was lernen sie denn auf der Hochschule? Die Professoren erklären ihnen, was man zu lesen, wie man zu schreiben – und letztlich, wie man zu denken hat. Heraus kommt entweder gelehrter Einheitsbrei, oder aber, aus Trotz, gezierte, mutwillig avantgardistische Belanglosigkeit. Mir sind Leute lieber, die sich eigenständig zu dem Stil vorarbeiten, der ihrem Naturell entspricht. Das gestaltet sich natürlich oft langwierig. Man irrt auf soundsoviele Umwege ab, doch umso überzeugender hält man später an der persönlichen Leitplanke fest, die sich dabei herauskristallisiert. Die anderen dagegen sind sich meist noch im hohen Alter ihrer selbst nicht sicher. Sie ahnen zumindest, seit Jahrzehnten auf einem fremden, schwankenden Misthaufen zu thronen. Aber sie sind mit dem Georg-Büchner-Preis dekoriert.
Vielleicht muß man die Gebirgsstadt Provo in Utah, USA, nicht unbedingt kennen – und noch weniger den aus Kanada stammenden Trapper und Pelzhändler Etienne Provost (1785–1850), nach dem sie einst benannt wurde. Wie es aussieht, zählte der Mann zu den typischen Draufgängern, dem die Staaten »die Erschließung« des Wilden Westens verdanken. 1824 war Provosts Bande unweit des Großen Salzsees von Snake-Indianern angegriffen worden, was wohl acht Weißen das Leben kostete. Nur der Chef überlebte leider, damit er weiter emsig Pelze abziehen und Handelsposten einrichten konnte. Vielleicht hatte er sich wohlweislich im Hintergrund gehalten.
Ich nehme einmal an, Provost und seine Leute verschmähten auch den amerikanischen »Berglöwen« nicht, der offiziell Puma heißt. Nach Brockhaus »vielerorts bedroht oder ausgerottet«, sicherlich nicht zuletzt aufgrund seines meist braunen bis silbergrauen Fells. Ich räumte schon andernorts ein, die Jagd zu Ernährungs- oder eben Bekleidungszwecken nicht grundsätzlich verdammen zu können. Aber den Provosts ging es nicht darum, ihre Blößen zu bedecken und eine Lungenentzündung zu verhindern. Sie wollten Geld machen. Und die Liebhaber von flotten Berliner oder Pariser Bienen, möglicherweise auch Arzt Ravic, hatten das Geld, das sich die Bienen dann als kostbare, Eindruck schindende Pelze um die anmutigen Hälse hängten.
In einem Vorläufer meines Zwergliedes Walnußpost reimte ich einmal »Hälfte« (der Walnuß) auf »Pelze« (weil sie fror). Darauf war ich eigentlich stolz, aber dann rüffelte mich ein akademisch ausgebildeter Berliner Chorleiter, mit solchen »unsauberen, dilettantischen« Reimen könnte ich ihm schon gar nicht kommen. Ihn verlangte es nach der Sauberkeit und Eleganz jener modebewußten Damen, die sich rudelweise nach Fuchs- oder Gepardpelzen verzehren. Meine Verse waren ihm zu räudig.
Nach verschiedenen Quellen gilt der Puma als scheu. Ähnlich wie der Luchs, greife er in der Regel keine Menschen an. Deren blödes Hausvieh nimmt er natürlich gern aufs Korn. Die IndianerInnen sollen ihn geschätzt, wenn nicht sogar verehrt haben. Jedenfalls belästigten sie ihn nicht. Oft sei dem Puma bereits die menschliche Stimme nicht geheuer, wie Experimente von Zoologen bewiesen hätten. Hanno Charisius gibt dazu in der SZ (vom 19. Juli 2019) die mutige Bemerkung von sich, die geschilderten Experimente unterstrichen, »das gefährlichste Tier auf diesem Planeten« sei der Mensch.
Der wichtigsten Gefangenen des beliebten Reise-schriftstellers Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785–1871) gönnt Brockhaus kein Wort. Übrigens erregte der Mann nicht zuerst als Eisverkäufer Aufsehen, vielmehr pflegte er um 1820 mit einem Hirschgespann durch Berlin zu traben, sodaß er rasch als »Graf Hirsch« zum Stadtgespräch wurde. Allerdings war der berüchtigte Schürzen- und Ordensjäger, der sich gern als schlichten Landschaftsgärtner, Scribenten und Aufklärer ausgab, zu diesem Zeitpunkt sowieso schon Graf. Später erhob ihn der preußische König sogar zum Fürsten, während ihn das preußische Militär zum Generalleutnant machte. Heinz Ohff versichert (2002), Pückler-Muskau sei noch »als 80jähriger ein durchaus beglückender Liebhaber« gewesen. Er wurde 85. Die diversen Geliebten, vielleicht auch nur Angebeteten Pücklers, der inzwischen, nach seinem Wirken in Bad Muskau (bei Weißwasser), einen weiteren, noch größeren und ausgefuchsteren Park um Schloß Branitz bei Cottbus angelegt hatte, waren in diesen Jahren ausschließlich um 20.
So alt war Machbuba, die damals längst unter der oberlausitzer Erde lag, nicht geworden. Der reiselustige Fürst hatte sie 1837 bei seiner legendären Nil-Reise (die ihn durch Ägypten und den Sudan führte) auf einem Sklavenmarkt erworben beziehungsweise nach Leseart mancher AnhängerInnen und Ethnologen »freigekauft«, weil sie ihn auf Anhieb in den Bann geschlagen hatte. Die blutjunge dunkelhäutige Abbessinierin soll damals allenfalls 14 gewesen sein. Pückler, um 50, erklärte sie zu seiner Dienerin und Gespielin und verpflanzte sie offenbar bedenkenlos vom Nil an die Neiße. Das nahm allerdings mehrere Jahre in Anspruch, da er noch wichtige Besuche in Beirut, Konstantinopel, Athen und anderswo zu machen hatte. Kaum waren sie im September 1840 in Muskau eingetroffen, starb das exotische, vielleicht 16 oder 17 Jahre junge Mitbringsel nach wenigen Wochen. Alle fernschriftlichen zähen Verhandlungen mit Pücklers »Schnucke«, der getreuen, schon etwas verlebten Gattin Lucie, waren umsonst gewesen. »Warum bin ich nicht jung und nicht aus Abessinien?« soll sie in einem Brief geseufzt haben. Sie waren zu dem Vergleich gekommen, Pückler könne seine kostbare Mandel mitbringen, wenn er von dem Plan Abstand nehme, sich umgehend, seiner hohen Schulden wegen, von Schloß Muskau zu trennen.
Das geschah in der Tat erst fünf Jahre nach Machbubas Tod. Angeblich hatte sich die Afrikanerin schon in den verschneiten Bergen des Libanons und in Wien erkältet, sodaß sie chronisch lungenkrank wurde. Der Arzt Dr. Freund, wohl seit Wien ihr Begleiter, soll aufgrund einer Obduktion von »Gekrösdrüsen- und Lungentuberkolose« gesprochen haben. Andere Quellen behaupten, Machbuba sei erst in Muskau jäh eingeschnurrt, gleichsam verdorrt, vielleicht an Heimweh. Während sie auf dem Muskauer Friedhof begraben wurde, ließ Pückler eine Statue zu ihrem Gedenken im Schloßpark zu Branitz aufstellen. Freilich vergaß er auch seine britische Flamme nicht, die Opernsängerin Henriette Sontag, gestorben 1854. Die wenigsten BeobachterInnen leugnen, daß sich Pückler seiner jungen Sklavin gegenüber zumindest teilweise auch fürsorglich zeigte, während stark umstritten ist, ob sie den alten Knacker ihrerseits wirklich liebte.
Für den Branitzer/Cottbuser Getränkehändler Günter Eckert gibt es in dieser Frage keine Zweifel. 2011 sorgte er für einigen Wirbel, weil er plötzlich ein neues Bier auftischte. Machbuba. Sklavin & Fürst / Das Bier einer großen Liebe nannte Eckert seinen Gerstensaft, den er aus einer kleinen sächsischen Brauerei bezieht.* Die nahezu nackte Sklavin, die man auf den Flaschen zwischen den Titeln abgebildet sieht, weist stramme Brüste auf, die die anfaßbare Machbuba vermutlich nie oder noch nicht besaß. Ähnlich wird das Bild Pücklers als eines kombi-nierten Don Juan und Casanova, das sowohl Pücklers Wunschdenken wie die meisten Veröffentlichungen über ihn beherrschte, heute doch schon öfter angezweifelt. Manche ForscherInnen, darunter jüngst der Oberlausitzer Bernd-Ingo Friedrich, neigen sogar zu der Ansicht, der »Graf Hirsch« sei impotent gewesen.**
* Britta Beyer, Schweriner Volkszeitung, 18. August 2011: https://www.svz.de/lokales/puecklers-muse-auf-einem-bieretikett-id4345751.html
** Doris Probst, Machbuba-Blog, 1. Juli 2010: https://machbuba-blog.blogspot.com/2010/07/hat-er-oder-hat-er-nicht-furst-puckler.html
Nach Brockhaus muß man hier einen Badeunfall in der Sommerfrische vermuten. Dabei war der Jenaer Optiker Carl Pulfrich (1858–1927), langjährig leitend in den Carl Zeiss-Werkstätten tätig, schon vorher nicht auf Rosen gebettet. Um 1906 hatte ihn, je nach Internetquelle, auf dem linken oder rechten Auge »Grauer Star« und damit halbe Blindheit ereilt. Nebenbei zeigt ihn ein Porträtfoto im Brockhaus glatzköpfig. Heinrich Keßler beschrieb ihn in einem Nachruf für die Astronomischen Nachrichten als hilfsbereit und heiter.* Die Sehschwäche hinderte Pulfrich erstaunlicherweise nicht daran, seine Forschungen fortzusetzen, die sich ausgerechnet hauptsächlich der Stereometrie, also dem räumlichen Sehen widmeten. Pulfrich erfand oder verbesserte zahlreiche optische (Meß-)Geräte. Heute erklimmt man in der Antarktis kurzerhand den Pulfrich Peak, dann sieht man sogar ohne Hilfsgeräte schlagartig besser. Er soll, je nach Quelle, 1.250 oder 1.546 Meter hoch sein. Für Pulfrich selber wäre das vermutlich zuviel gewesen, jedenfalls mit 68. Als er in diesem Alter Ferien im Ostsee-Badeort Timmendorfer Strand bei Lübeck machte, erlitt er den zweiten üblen Unfall: er ertrank in der dortigen Bucht. Nach einer Kurzmeldung des Lübecker General-Anzeigers vom 18. August 1927 hatte ihn im Wasser, möglicherweise auch in einem Boot, vermutlich ein Herzschlag ereilt, sei der Professor doch eigentlich ein guter Schwimmer gewesen. Ob seine Gattin Mathilde in der Nähe war, wird nicht erwähnt. Seine am 15. August (ein Montag) von einem Schiff der Hanseatischen Jachtschule geborgene Leiche wurde nach Jena überführt. Die Kriminalpolizei scheint nicht eingegriffen zu haben.
* https://adsabs.harvard.edu/full/1927AN....231..277K
Laut Brockhaus war der schweizer Schriftsteller Max Pulver (1889–1952) auch »bedeutender Graphologe im Umkreis von C. G. Jung«. Soweit ich weiß, möchte ein Graphologe aus der Handschrift Rückschlüsse auf Persönlichkeit und Gemütsverfassung des betreffenden Schreibers ziehen. In Band 9 weist das Lexikon allerdings darauf hin, die »Kunst der Handschriftendeutung« sei mit Vorsicht zu genießen. Das glaube ich gern, denn zu den führenden Experten auf diesem Fachgebiet wird der Holzhammerphilosoph Ludwig Klages gezählt, der 1917 das Werk Handschrift und Charakter vorlegte. Pulver schätzte den Guru und veröffentlichte selber mindestens zwei graphologische Bücher.
Mir hätte Pulver wahrscheinlich auf Anhieb beträchtliche »Versagensangst« oder wenigstens ein gerütteltes Maß an Unsicherheit bescheinigt. Jedenfalls in meiner Jugend. Ich hatte nämlich von der Wiege an Schwierigkeiten, halbwegs flüssig zu schreiben. Das trat besonders peinlich immer dann hervor, wenn es galt, meine Unterschrift zu leisten. Ich benötigte Jahrzehnte, um sie einigermaßen absatzlos und gefällig unter ein Behördenformular oder gar unter einen Brief an den Verlagslektor Soundso zu setzen. Im übrigen hatte ich den Versuch flüssig zu schreiben bald nach meiner Schulzeit ohnehin aufgegeben. Soweit noch erforderlich, schreibe ich seit rund 50 Jahren auch mit der Hand ausschließlich »Druckbuchstaben«. Ich wüßte inzwischen schon gar nicht mehr, wie man die Buchstaben verbindet. Gewiß ist meine Druckschrift etwas zeitaufwendiger als die Schreibschrift, aber meine Rettung war natürlich (um 1967) die Schreibmaschine, die ich bald mit vergleichsweise großer Meisterschaft zu bedienen verstand. Nur war es im vergangenen Jahrhundert noch verboten oder zumindest verpönt, beispielsweise Liebesbriefe auf der Maschine abzufassen, und insofern hatte ich schon einige Probleme. Ja, sicher, mit der Liebe sowieso.
Wahrscheinlich bin ich aufgrund meiner Handschreib-krankheit nie Politiker oder gar Minister geworden. Die Vorstellung, ich müßte vor den Augen der sogenannten Öffentlichkeit einen Freundschaftsvertrag mit Wladimir Putin oder auch nur Willy Brandts Radikalenerlaß unterzeichnen, jagt mir heute noch Schauder ein.
Für Nichtzoologen, so belehrt mich Brockhaus, ist die Puppe eine »Nachbildung der menschlichen Gestalt für kulturelle oder magische Zwecke, als Grabbeigabe oder als Kinderspielzeug«. Das ist sicherlich gut auf den Begriff gebracht. Nur verschwendet der Lexikon-Eintrag kein Komma an den auffallenden Trend zur kulturellen Verpuppung, wie man dieses Phänomen glatt nennen könnte. In der Postmoderne scheint die Verpuppung ihren Gipfel zu erreichen. Selbst im Nest Waltershausen laufen fast nur noch Puppen an mir vorüber. Manchmal erkenne ich sie nur deshalb nicht als Nachbildung von dem und dem, weil ich nie Fernsehen gucke. Ich kann also schlecht entscheiden, ob sie einen bestimmten Fußballstar oder eine bestimmte Talkshowmasterin nachahmen. Diese wiederum dürften auch nur Abziehbilder von einem anderen bestimmten Fußballstar und einer anderen bestimmten Talkshowmasterin sein. Demnächst sind sie alle nicht mehr in Saison-, sondern in Tagesfrist austauschbar. Sie sprechen und denken natürlich auch alle gleich. Gehen Sie ins Waltershäuser Puppenmuseum (Schloß Tenneberg) und schütteln sie alle 1o Käthe-Kruse-Puppen, die dort zu sehen sind: alle klimpern mit ihren Augendeckeln und sagen »Mama«.
Die Brockhaus-Formulierung von der Nachbildung könnte allerdings ungenau sein. Bei meiner Großmutter Helene hatten es die Puppen gar nicht nötig, wie Käthe Kruse oder Sahra Wagenknecht auszusehen. Teils waren es nur notdürftig mit Stoffresten umwickelte Strünke; teils irgendwelche gegabelten Ästchen oder einfach Klötzchen. Die kindliche – und entsprechend auf Südseeinseln die »primitive« – Phantasie war vollkommen genug, um jeden Gegenstand in das jeweils gerade Erwünschte zu verwandeln. Der postmoderne Mensch dagegen würde von Phantasie nur beschwert. Er könnte ins Grübeln kommen und den Staatspräsidenten Ronald Reagan mit faulen Eiern bewerfen. Der Mann hatte vor seiner Wahl an zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen mitgewirkt, als Schauspieler.
Ein anderer Gesichtspunkt der Kritik betrifft das verhängnisvolle visuelle Übergewicht in der Postmoderne. Was keine guten Bilder abwirft, darf nicht sein. Die Postmoderne züchtet Augenmenschen und läßt alle hartnäckigen Ohrenmenschen ins Leere laufen. Für mich war die Schallplatte eine begrüßenswerte Erfindung, weil sie die Emanzipation der Musik vom Theater zu versprechen schien. Aber Pustekuchen! Die Schwemme an Musikvideos, die an zahlreichen unterschiedlichen Geräten empfangen werden können, ist gar nicht mehr aufzuhalten. Wir sollen und wollen nicht Musik hören; wir wünschen den Geiger, den Rocksänger und das ganze philharmonische Orchester zu sehen. Sind leider keine Filmmitschnitte vorhanden, wünschen wir wenigstens irgendwelche Bilder von Heideröslein, stampfenden Dampfloks oder Gummibärchen kauenden Kindern zu sehen. Auf keinen Fall soll es wieder soweit kommen, daß die unsichtbare Musik in unserem Schädel das eine oder andere selbstgemachte Bild hervorruft. Wir sollen nichts selber machen. Wir sollen uns bedienen und verarschen lassen.
Vielleicht hat Brockhaus ein haarsträubendes Beispiel aus dem Bereich faschistischer Euthanasie – der zielstrebigen Vernichtung »unwerten« Lebens – übergangen, weil es ihm unbekannt war. Oder er wollte die »sozialliberale« Entspannungspolitik gegenüber der DDR nicht gefährden. Oder er glaubte, zuviel Greuel auf einem Haufen (in 24 Bänden) sei für die BenutzerInnen ungesund. Die ostdeutsche Psychiaterin und Neurologin Friederike Pusch (1905–80), eine Offizierstochter, war laut Klee 1933 Parteimitglied, dann 1939 Oberärztin der Landesanstalt Brandenburg-Görden geworden. Dort leitete sie die Kinderfachabteilung – das sei das Tarnwort für Mordabteilung gewesen. »Schwachsinnige« oder »idiotische« Kinder wurden unter Täuschung der Angehörigen und Fälschung der Krankenakte ermordet, um »die Volksgemeinschaft« zu entlasten oder auch zum Teil, um der »Wissenschaft« dienen zu können, etwa der Hirnforschung. Die Waffen waren unterschiedlich Tabletten, Spritzen oder Unterversorgung. Zahlen Puschs Wirken betreffend werden nicht genannt; Beweise liegen offenbar »nur« in Einzelfällen vor.* Pusch muß die Kaltblütigkeit in Person gewesen sein. Noch im Juli 1945, nach Einmarsch der Roten Armee also, habe sie »organisches Material« an das ausgelagerte Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Gießen geschickt, heißt es bei Wikipedia.
Die Stur- oder Blindheit der neuen ostdeutschen Behörden war auch nicht ohne. Bei Kriegsende konnte Pusch ihrer »Arbeit« in der Landesanstalt Görden einfach weiter nachgehen. Ab 1947 wechselte sie ihre Arbeitsstellen mehrmals: Landesanstalt Neuruppin, Universitätsnerven-klinik Halle, Neuropsychiatrische Abteilung der Poliklinik Blankenburg im Harz. »Nach dem 1968 erfolgten Eintritt in den Ruhestand war sie noch bis Ende der 1970er Jahre für die psychiatrische Beratungsstelle in Wernigerode tätig.« Die Frau war ein Glückspilz: sie wurde bis zu ihrem letzten Atemzug weder belangt noch auch nur verhört, behauptet Wikipedia. Zwar habe das MfS einmal Untersuchungen, die Pusch betrafen, angestellt, doch niemals irgendwelche Maßnahmen eingeleitet.
Nach der Webseite T4-Denkmal hatte es Pusch bis Kriegsende mit Unterstützung des Gördener Anstaltsleiters Hans Heinze bis zur »Obermedizinalrätin« gebracht. Vielleicht ein guter Freund? In der SBZ/DDR sei Pusch nie behelligt worden, obwohl »belastende Zeugenaussagen« vorgelegen hätten. Dafür ist aber immerhin von Puschs Chef Heinze zu lesen, die sowjetischen BesatzerInnen hätten ihn für einige Jahre eingesperrt. Dieselbe Webseite** bringt ein Porträtfoto von ca. 1945, das die ungefähr 40jährige Rätin mit streng anliegender, durchaus schlicht wirkender Frisur zeigt. Man könnte glauben, sie sei eine Bäuerin gewesen – zwar leicht verhärmt, aber weder häßlich noch arbeitsscheu. Treffen freilich die Befunde zu, muß sie ein Ungeheuer gewesen sein. Das lief dann frei im Arbeiter- und Bauernstaat herum und durfte seinen Heilberuf ausüben, als wenn nichts gewesen wäre. Womöglich heilte es aber gelegentlich auch nicht.
* Einige Belege gibt Michael Reuter 2015 am Beispiel des Staßfurter Kleinkindes Edith Schulz: https://www.stassfurt.de/de/datei/anzeigen/id/11938,1065/edith_schulz.pdf
** https://www.t4-denkmal.de/Friederike-Pusch
Der nächste Kandidat wird von Brockhaus lediglich in der Quandt-Gruppe gestreift. Er war die Frucht eines verschlagenen Industriellen und »Wehrwirtschafts-führers« sowie der späteren Frau Goebbels und hieß Harald Quandt (1921–67). In der Demokratie stand ihm eigentlich nur ein italienischer Berg im Wege, gegen den er, bei einem Nachtflug, in nur rund 1.000 Meter Höhe geprallt sein soll. Er starb mit 45. Einen »crash« auf dem Züricher Flughafen hatte Quandt zwei Jahre früher noch überlebt, wie man in einer lesenswerten Darstellung des stern-Autors Stefan Schmitz erfährt.* Dieses Mal, am 22. September 1967, findet Quandt im Verein mit seiner aktuellen Geliebten und vier weiteren Menschen an Bord einer privaten Beechcraft A90 King Air seinen Tod in der Natur. Die Gruppe wollte nach Nizza, wo eine Berliner Freundin, so der Spiegel (41/1967), eine Bademodenschau vorbereitet hatte. Der Berg stand unweit der Côte d'Azur bei Cuneo, Norditalien. Das Wrack und die sechs Leichen seien von einem Schäfer gefunden worden, schreibt Schmitz und wechselt das Thema. Nach anderen Quellen gilt der Unfall als ungeklärt. Möglicherweise war die gesamte Bordelektronik ausgefallen, damit auch das Funkgerät.
Vor jenem Züricher Unfall hatte Quandt auch schon den von seinem Erzeuger kräftig geförderten Zweiten Weltkrieg überlebt. Blond wie Mutter Magda, dazu groß und germanisch, war der Junge zur Luftwaffe der Wehrmacht gegangen und als Fallschirmjäger auf Kreta und in Afrika gelandet. Glücklich dem feindlichen Feuer und der Gefangenschaft entronnen, mausert er sich in der Demokratie vom Oberleutnant und Maschinenbau-ingenieur zu einem Rüstungsindustriellen und Playboy, den fast jedes Kind kennt. Der Berliner Boxer Bubi Scholz und Frankfurts bekannte »Edelhure« Rosemarie Nitribitt kennen ihn auch. Der Krieg hat Quandt »die Jugend gestohlen«, da hat er Nachholbedarf. Mit Gattin Inge (1928–78) und Kindern bewohnt er in Bad Homburg (am Taunus) eine Villa, in deren Keller allein Quandts Modelleisenbahn 80 Quadratmeter zur Verfügung stehen. Zur Betreuung dieser Anlage hat er einen bezahlten Fachmann. Die Villa weist 52 Telefonapparate auf, »über die sich auch die Musikbox steuern lässt«, so Schmitz. Als er Nizza verfehlt, sitzt Quandt in rund 25 Aufsichtsräten und Vorständen. Schmitz weiter: »Das breit gestreute Vermögen der fünf Töchter Harald Quandts schätzte das Manager Magazin im März 2002 auf 2,5 Milliarden Euro. Herberts Witwe Johanna [die vom Bruder], die in den fünfziger Jahren als Sekretärin bei der Afa anfing, wäre Deutschlands reichste Frau – besäße ihre Tochter Susanne Klatten nicht noch mehr. Allein fast acht Milliarden Euro sind die BMW-Anteile wert, die sie gemeinsam mit Bruder Stefan hält.«
Man ist versucht, sich einen afghanischen oder palästi-nensischen Jungen vorzustellen, dessen Eltern mit Hilfe deutsch-schwäbischer Feuerwaffen erschossen wurden, dem aber noch das halbeingestürzte Lehmhäuschen geblieben ist. Vielleicht würde er sich freuen, wenn ihm jemand Haralds verwaiste Modelleisen-bahnanlage schenkte – aber wo wollte er dieses Ungetüm aufstellen? Er müßte mit Nachbarskindern ein Gemeinschaftshaus errichten, kein schlechter Anfang.
* Stefan Schmitz, https://www.stern.de/wirtschaft/news/familiengeschichte-die-quandts-3900624.html, 19. August 2002
Die kulturelle Bedeutung des vor ungefähr 5.000 Jahren erfundenen »Rollkörpers« Rad muß weittragend sein, wenn neuzeitliche Philosophen, darunter Karl Marx, sogar vom »Rad der Geschichte« sprachen, das man nicht zurückdrehen könne oder dürfe. Gleichwohl stehen wir meines Erachtens vor einem Irrweg. Brockhaus warnt selbstverständlich nicht vor ihm. Kaum hatten die ZweibeinerInnen an ihre Böden aus Brettern ein bis vier Räder geschraubt, riefen sie nach Zugtieren. Sie wollten ihre Wagen nicht eigenhändig bewegen; sie wünschten in ihnen zu thronen. Manche Leute sind dadurch zeitlebens Säuglinge geblieben. Von den Yankees war schon um 1970 zu hören, sie gingen die 300 Meter bis zum nächsten Drugstore um Gottes willen niemals zu Fuß: sie würfen ihre heckflossigen Limousinen an. Darauf fielen sogar die schwarzen MitbürgerInnen herein, die Roi Ottley noch nach dem Zweiten Weltkrieg ungestraft »Neger« nennen durfte.* Durch Lincolns Sieg im Sezessionskrieg zumindest vorübergehend in Freiheit entlassen, seien vor allem junge Neger massenhaft von den Plantagen in die Städte geströmt, weil sie jetzt, ab 1865, ebenfalls etwas werden wollten. Sie begehrten, Griechisch und Lateinisch zu lernen, ein öffentliches Amt zu ergattern oder wenigstens Prediger zu werden. Somit wollten sie der Handarbeit entkommen, denn die war für sie gar zu eng mit Sklaverei vermählt. Das kann man natürlich verstehen, nur erhält dadurch die allgemeine Ächtung oder Herabwürdigung der Handarbeit noch lange keinen Glanz.
Mein Großvater Heinrich war nie Neger und schätzte die Handarbeit trotzdem. Zur Bettenhäuser Volksschule, wo er am liebsten Natur- und Heimatkunde sowie Werken unterrichtete, fuhr er stets auf seinem alten Drahtesel. Das war freilich eher Fußarbeit. Für größere Warentransporte, etwa aus seinem Schrebergarten, hatte er einen vierrädrigen Handwagen. Auch Fahrzeugschäden behob er weitgehend eigenhändig. In den anarchistischen Kommunen, die ich durchlief, wimmelte es von Handwagen aller Art, oft hochklassig bereift. Einmal war ich Gast in einer ostdeutschen Landkommune, die gerade eine Schulklasse »eingeladen« hatte, beim jährlichen Müllsammeln zu helfen. Ihr Hof lag mitten in den Feldern und Gehölzen an der typischen schmalen, bucklig gepflasterten Nebenstraße zwischen zwei Dörfern. Nach der »Wende« mauserte sich diese Straße prompt zur Müllkippe. Jeder holte dort seinen alten Fernseher, einen Sack mit gebrauchten Windeln oder ausgediente Schaumstoffpolster aus dem Kofferraum, um sie in die Büsche am Straßengraben zu werfen. Die Sammelaktion dagegen fand ausschließlich mit Handwagen statt. Darin karrten wir das Zeug auf den Hof der Kommune, wo eine Mulde der nahegelegenen Stadtwerke bereitstand. Ein Kommunarde hat wenig Geld, dafür viel Zeit.
Es verblüfft vielleicht wenig, wenn das Wappen der zwischen Meißen und Dresden gelegenen sächsischen Kreisstadt Radebeul (obersorbisch »Radobyle«) keineswegs einen indianischen Kopfschmuck aus Adlerfedern (Geburtshaus Karl May), vielmehr ein Sechsspeichen-Rad zeigt. Das alte Stadtsiegel zeigt überdies ein Beil. Die Fachleute nehmen jedoch meist an, der Ortsname gehe auf einen frühen slawischen Familiennamen zurück. Rad und Beil könnten also spätere Ausschmückung sein. Alternativ käme beispielsweise »Rodebeul« in Betracht, die Stadt auf dem gerodeten Beul = Hügel.
Beim Rädern wird es entschieden unangenehm. Man pflog es vor allem im europäischen Mittelalter, um sogenannte SchwerverbrecherInnen zu bestrafen, nämlich grausam zu foltern und zu töten. Meist ließ der Scharfrichter zunächst ein schweres, eisenbereiftes, aufgehängtes Speichenrad wiederholt auf den aufs Schafott gebundenen Verurteilten krachen. War dieser jämmerlich verendet, »flocht« ihn der Scharfrichter in oder auf ein anderes Speichenrad, um ihn zwecks »Abschreckung« auf dem Marktplatz auszustellen. Lehnte er das Rad zum Beispiel an eine gerade geschlossene Hütte der Fleischergilde, wußte jedes Kind, was am kommenden Sonntag auf die Teller kommen würde. In Preußen soll man erst ab 1841 aufs Rädern verzichtet haben. Da hatte Karl Marx Glück. Spricht man also noch heute zuweilen davon, jemand fühle sich nach einer bestimmten Handarbeit wie gerädert, stellt es ohne Zweifel eine gewisse Verniedlichung dar. Um aber ehrlich zu sein, fühle ich mich bereits gerädert, wenn ich drei kriegsgeile Artikel der aktuellen Leidmedien gelesen habe.
* Roi Ottley, Black Odyssee, 1948, deutsche Ausgabe Hamburg 1949, S. 220
Den britenfreundlichen madagassischer König Radama I. (c.1793–1828) streifte ich bereits in Folge 25 unter Merina. Nun fällt Brockhaus gleich mit dem Portal seines Haupt-verdienstes ins Haus: er habe »fast ganz Madagaskar zu einem Staat« zusammengefaßt. Ein Gemälde, das sich im Internet findet, zeigt ihn gertenschlank, noch größer als Napoleon und natürlich kaffeebraun. Er kam 1810, mit 18, in der Hauptstadt Antananarivo auf den Thron und soll zügig daran gegangen sein, sich alle noch nicht »erschlossenen« Landesteile zu unterwerfen und sie, mit britischer Hilfe, zu zentralisieren und zu christianisieren. Er selber stand wohl eher dem Islam nahe, hatte jedenfalls etliche Frauen. Er soll vergleichsweise jung an einer Infektion gestorben sein, die sein beträchtlicher Alkoholkonsum nicht einzudämmen verstand.
Madagaskar ist übrigens eine große Insel vor der ostafrikanischen Küste. Jeder, der in einer christlichen Jungschar zum Manne reifte, kennt sie selbstverständlich, weil da, zur Klampfe, mit Begeisterung »Wir lagen vor Madagaskar« geschmettert worden ist. Nur kommt die Insel in dem Lied gar nicht vor. Man kann nur raten, was die lieben Matrosen eigentlich vor oder in Madagaskar zu suchen hatten. In dieser Hinsicht hätte auch ein Fanbrief an Heino jede Wette wenig geholfen. Möglicherweise hatten sie Bibeln und Flinten für Radama geladen und nahmen dafür ein Schock Sklaven und ein paar knackige Weibsbilder mit. Bald nach Radama I. wurde die Sklaverei sogar abgeschafft, 1877. Neben den Briten hatten vor allem die Franzosen ein Auge auf die Insel geworfen, und gegen Ende des Jahrhunderts einigten sich die beiden WohltäterInnen der unterentwickelten Weltteile darauf, auf Madagaskar eine französische Kolonie einzurichten. Das ging nun Jahrzehnte so. Allein 1947 schlugen die Franzosen einen Aufstand nieder, bei dem mindestens 60.000 Leute nicht wieder vom Felde aufstanden, weil sie tot waren. Dergleichen Stoff war für das Lied »Wir lagen vor Madagaskar« ungeeignet. 1960 gewährte Frankreich die Unabhängigkeit. Den sogenannten Sozialismus lernten die Einheimischen bis zur Stunde immer nur als Fata Morgana kennen.
Ich habe bereits gelegentlich auf meine drei Erzählungen aus kleineren »Freien Republiken« hingewiesen. Sie sind ohne Zweifel schön und gut (das meine ich im Ernst), aber wie sich versteht, sind sie auch stark vereinfacht. In der Realität stoßen Versuche solcher Republikgründungen auf derart viele, überwiegend störende Faktoren, daß sie über kurz oder lang zusammenbrechen – unter Umständen bereits nach 10 Tagen, wie Nikola Karevs Zwergrepublik Kruševo in Makedonien, siehe Folge 20. Heute werden die rund 25 Millionen, die auf Madagaskar leben, durch die bunten, oft orangefarbenen Werbeprogramme der Westlichen Tauschwertgemeinschaft, dabei insbesondere die Ermahnungen von deren Impf- und Digitalgeldpäpsten behämmert. Nebenbei wäre die Insel wahrscheinlich selbst ohne die imperialistischen Begehrlichkeiten kein makelloses Paradies. Das tropische Klima bringt Schwüle und Orkane, die so manches wegblasen, nur die Mobil-funknetze und die Satelliten der Zentralbanken nicht.
Den österreichischen Militaristen und Imperialisten Joseph Wenzel Graf Radetzky (1766–1858) könnten wir eigentlich übergehen, hätte nicht Johann Strauss (Vater) 1848 ihm zu Ehren den nach wie vor beliebten Radetzky-Marsch verfaßt. Für meinen Geschmack ist dieser allerdings etwas zu glatt und oberflächlich, also keineswegs umwerfend geraten. Da hat doch der Rákozcy-Marsch von Landsmann Franz Liszt ein ganz anderes Kaliber. Vielleicht darf man auch Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre als langsamen Marsch auffassen. Beide Stücke sind überragend. Den Vogel schoß freilich der Franzose Alexis Emanuel Chabrier 1888 mit seinem köstlich schrägen und zerhackten Joyeuse marche ab, wie ich finde.* Bei der Vollversammlung in meiner Zwergrepublik Konräteslust trägt ihn eine Chorleiterin in einer Fassung für Orgel gleichsam als Ouvertüre vor. Das Plenum findet nämlich in der ehemaligen Stadtkirche statt, ein barocker Zentralbau.
Ich habe sogar selber einmal einen Marsch komponiert. Meine Aufnahme davon ist 3:10 Minuten kurz. Dieser Libertäre Marsch findet sich auf meiner fünften Solo-Platte von 2012. Die betreffende CD Ziegen enthält ausschließlich Instrumentalstücke. Den Marsch habe ich leider nicht als verlinkbare Musikdatei zur Hand. Eigentlich schade, denn nach dem Wiederhören bin ich nahezu begeistert von dem Werk. Mein Arrangement setzt geschlagene acht Instrumente ein, darunter Akkordeon, Querflöte und Marimba, manche sogar doppelt. Natürlich sind sie nicht drei Minuten lang alle gleichzeitig zu hören. Ein Laie könnte sich trotzdem fragen, wie ich es geschafft habe, für eine dreiminütige Aufnahme acht Instrumente erklingen zu lassen, wenn ich doch ohne MitstreiterInnen war. Ich saß also mutterseelenallein vor meinem einzigen Mikrofon. Doch dieses war an meinen Laptop angeschlos-sen, auf den ich ein digitales Aufnahmeprogramm gepackt hatte. Es bietet die Möglichkeit, zahlreiche Tonspuren untereinander zu stellen. Jede Spur kann stummgestellt, bearbeitet, gelöscht und durch eine gelungenere ersetzt werden. Man fängt also beispielsweise mit der Spur für die Rythmusgitarre an. Dann stülpt man sich den Kopfhörer über, stellt das Programm auf Start und spielt die Flöte in einer neuen, zweiten Spur einfach dazu. Und so weiter und so fort. Ist man irgendwann mit allen acht Spuren und dem Gesamtklang zufrieden, bittet man das Programm um jene zusammenfassende Datei, die später als »Libertärer Marsch« auf der CD oder im Londoner Rundfunk zu hören sein wird. Bislang haben sich die Briten aber noch geziert, wohl aus ideologischen Gründen.
Diese Küchenstudioarbeit ist allerdings lange her. Sie liegt wie im Nebel, obwohl die fünf Platten eindeutig in meinem verglasten Bücherschrank stehen. Mit Prosaarbeiten geht es mir oft ähnlich, manchmal schon wenige Monate, nachdem ich sie abgeschlossen habe. Ich lese sie und schüttele ungläubig den Kopf: Das ist von dir? Das ist ja saustark! Wie hast du das nur geschafft?
Man benötigt Mut, um nicht zu sagen Frechheit, viel Hartnäckigkeit und immer eine fette Portion Größenwahn. Der nüchterne Psychologe spricht hier einfach von Selbstüberschätzung.
* Orchesterfassung: https://www.youtube.com/watch?v=OnbrDMHRJxc, aufgeführt London 2010
Vom Wiener Schauspieler und Dramatiker Ferdinand Raimund (1790–1836) erwähnt Brockhaus immerhin sowohl eine Neigung zu Schwermut und Hypochondrie wie die Geschichte mit dem Hundebiß. Raimund war durchaus erfolgreich, nur genügten ihm seine Erfolge nie. Als Schürzenjäger etwa betörte und band er eine Reihe von Damen, wurde jedesmal rasch eifersüchtig und streckenweise handgreiflich – und beklagte einmal mehr die Zertrümmerung seines Ideals von Liebe durch die schnöde Wirklichkeit. Auch als Hypochonder hatte er große Erfolge, wie seine häufigen Leiden an eingebildeten Gefahren oder Krankheiten und nicht zuletzt sein bühnenreifes Ende bewiesen. Vor allem aber grämte sich der Miesepeter darüber, immer nur in komischen Rollen oder mit Komödien zu gefallen, wäre er doch viel lieber Tragöde gewesen. Mehrere Stücke Raimunds, voran Der Bauer als Millionär, uraufgeführt 1826, und Der Alpenkönig und der Menschenfeind, 1828, rissen die Massen von ihren Sitzen. Für Egon Friedell* wurzelte der Landsmann und Berufskollege im Barock. »Sein Feenreich ist aus Zuckerguß und Terracotta, erinnert an die billigen Waren, die die italienischen Figurinihändler in seiner Vaterstadt [Wien] feilboten, und an die süßen glitzernden Kunstwerke des Konditorgewerbes, dem er in seiner Jugend oblag, rührt aber gleichwohl durch eine bestrickende Vorstadtnaivität; und seine charakter-komischen Schöpfungen, gesteigerte und verklärte Typen seines Heimatbodens, Volkshelden aus einer Art Wiener Walhall, sind unübertrefflich.«
Ab 1834 zieht sich der mehr oder weniger lebensmüde Künstler weitgehend auf seinen Landsitz in Gutenstein bei Wien zurück. Seine Unzufriedenheit schlägt in Verbitterung um, weil er mitansehen muß, die Konkurrenz (Nestroy!) überrundet ihn. Dann kommt der angebliche »Hundebiß«, so die Formel in fast sämtlichen Quellen. Man muß dazu wissen, Hasenfuß Raimund hatte zeitlebens eine spezielle Furcht vor Tollwut genährt. Hut ab vor seinem Mut, wenn er trotzdem einen Hofhund hielt. Allerdings wurde Raimunds Hand Ende August 1836 laut Constantin von Wurzbach** vom Hund nicht mehr als »geritzt«. Nach einer kurzen Reise zurückgekehrt, erfuhr der Hausherr jedoch, der Hund habe ein Mädchen gebissen und sei, der Tollwut verdächtig, erschossen worden. Das Tier habe außerdem die »Verwüstungen« im Garten angerichtet, die Raimund erblicken mußte – oder erblicken wollte. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: er stand dem Tod auf der Schippe! Er jagte sofort nach Wien zum Arzt, mußte freilich, da keine Kutsche aufzutreiben war, in Pottenstein übernachten. Dort, im Gasthof, überwältigte ihn die Angst vor einem Leben in Tollwut. Als seine Gefährtin Toni, die ihn begleitete, einmal um ein Glas Wasser aus dem Zimmer ging, schoß sich der 46jährige mit seiner Pistole, die er stets mit sich führte, in den Mund. Allerdings hatte er diesen Schuß schlecht gesetzt. Deshalb hieß es noch für rund eine Woche dahinsiechen, ehe ihn der Tod von aller Hypochondrie erlöste.
* Kulturgeschichte der Neuzeit, um 1930, einbändige Sonderausgabe München 1974, S. 990
** Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Band 24, Wien 1872, S. 258
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