Freitag, 2. August 2024
Risse im Brockhaus 29

Der Verlagsbuchhändler Johann Philipp Palm (1766–1806) aus dem französisch besetzten Nürnberg wurde mit 39 Jahren »standrechtlich erschossen«, wie Brockhaus mitteilt. Er hatte im Sommer 1806 die Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung drucken lassen, was den Besatzern gar nicht gefiel. Da sich Palm standhaft wei-gerte, den oder die anonymen Verfasser zu verraten, kam er, nach einem »Scheinprozeß« ohne Rechtsbeistand*, in der Garnisonstadt Braunau am Inn vor ein französisches Erschießungs-Kommando. Max I. Joseph, der sogenannte bayerische König (von Kaiser Napoleons Gnaden), ließ es zu. Was Wunder, wenn Palm später auch von Braunaus größtem Sohn Adolf Hitler für seine Sache vereinnahmt wurde. Der mutige, im übrigen keineswegs aufrührerisch gestimmte Verleger hinterließ seine Frau Anna Maria und drei Kinder. Das Urteil erregte damals großes Aufsehen. Es wurde überwiegend als Justizterror eingestuft, selbst vom Erfolgs-Dramatiker Kotzebue. Zu den Ausnahmen zählte Napoleon-Verehrer Goethe.**

Der Franzosenkaiser soll Palms Hinrichtung bereits am 5. August persönlich in einem Schreiben an seinen Generalstabschef Berthier angeordnet haben. Trifft das zu, war das »Kriegsgericht« auch von daher reine Farce, fand es doch erst am 25. August statt. Schließlich lag das Urteil, in Befehlsform, längst vor.

* Palm-Stiftung (Schorndorf), o. J.: https://www.palm-stiftung.de/de/johann-philipp-palm/biographie/
** Thomas Schuler, »Wie der Tod eines Buchhändlers deutsche Geschichte prägte«, https://www.sueddeutsche.de/politik/palm-napoleon-1.4737829-2, 11. Januar 2020




Nach Brockhaus war der bayerische Arzt und Schriftsteller Oskar Panzizza (1853–1921) ab 1904 Irrenanstalts-insasse. Wie es aussieht, hatte er sich durch sein litera-risches Wirken vor eben diesem Schicksal zu bewahren versucht – aber dazu war dieses Wirken vielleicht wenig geeignet, weil es aufgrund seiner eigenwilligen Züge eher Verwirrung als Klärung schuf. Panizza durchschneiste die herkömmliche Grammatik und Rechtschreibung wie ein zorniger Stier ein Birkenwäldchen. Man könnte ihn wahrscheinlich zu den Vätern des Dadaismus zählen. Im übrigen zog er sich mit seinem Wirken jede Menge Verfolgung zu.

Panizza kam aus einer Hoteliersfamilie. Die frömmelnde Mutter hatte vergeblich versucht, ihm den Beruf des Pfarrers schmackhaft zu machen; so studierte er Medizin. In seinen Texten, oft Dramen, hackte er im Gegenteil unerschrocken auf die herrschenden, erdrückenden religiösen, sittlichen und überhaupt wilhelminischen Glaubenssätze ein. Die Hälfte der schreibenden Zunft rühmte ihn deshalb, die andere rügte ihn. Die Staatsanwälte feilten Verdammungsurteile und Zensurbescheide aus. Selbst »Gotteslästerung« warfen sie ihm vor, obwohl sich Gott nie bei Gericht beschwert hatte. Seine Hausarztpraxis gab Panizza wieder auf, nachdem er von seiner Mutter eine Jahresrente erstritten hatte. Gleichwohl wurde seine Spielraum zum Schreiben immer enger. Das wenigste scheint noch seine Gehbehinderung gewesen zu sein, mit der er, laut Armstrong*, schon früh geschlagen war. Vor allem sei er eben »psychisch labil« gewesen. Schon in den Kreisen der Schwabinger Bohème habe er sich selber, ob offenherzig oder großmäulig, als »Syphilitiker« bezeichnet.

Von einer Ehe ist nirgends die Rede. Dafür trieb es Panizza aber nach unterschiedlichen Quellen häufig in die Arme von weiblichen Liebesdienerinnen. Ob er sich dabei in der Tat mit Syphilis ansteckte, ist ungeklärt. Panizza hatte zeitweise in Zürich und Paris Exil gesucht. Eine Ausweisung aus Zürich als »unerwünschter Ausländer« erfolgte 1898, laut Michael Bauer, »nach einer Affäre mit einer jugendlichen Prostituierten«, wenn auch ein Attentat auf Kaiserin Elisabeth von Österreich als Vorwand herhalten mußte.**

Die Nachstellungen durch die Obrigkeit waren der Gesundheit des gelernten Mediziners natürlich auch nicht gerade förderlich. Wiederholt hegte er Selbstmordge-danken. 1895 brachte ihm das Drama Das Liebeskonzil ein Jahr Gefängnis ein, das er auch absaß. Um 1900 wurde sein Vermögen eingezogen. Mittel-, zudem staatenlos, stellte er sich der bayerischen Justiz. Um 1903 bescheinigte er sich selber eine Besorgnis erregende zerrüttete Gemütsverfassung. 1905 auf Betreiben seiner Mutter** entmündigt, wanderte er in verschiedene Bay-reuther Irrenanstalten. Im dortigen »Luxussanatorium« Herzoghöhe hätten ihn zuletzt mehrere Schlaganfälle ereilt, schreibt Armstrong. Unter dem Strich habe sich Panizza offensichtlich als Gescheiterten empfunden. Das lag wohl hauptsächlich an dem zwiespältigen, nicht einhellig begrüßenden Echo auf sein literarisches Wirken. »Eines seiner letzten Gedichte trägt den resignierten Titel: Ein Poet, der umsunst gelebt hat

Hier liegt freilich allgemeiner die Frage nahe, was eigentlich ein geglücktes Leben sei. Für die Panizzas scheiden Familiengründung und Nachwuchspflege sowie ein ehrenvolles Berufsleben offensichtlich aus. Sie genügen nicht. Die Panizzas sind auf das Übergreifende, Durchdringende, Umfassende erpicht. In dieser Hinsicht hat jedoch die fadenscheinige Religion ausgedient. Ergo bleibt nur noch das künstlerische Schaffen, das berüchtigte Werk. Mißlingt es dem Künstler aber, eben mit diesem eine genauso umfassende Begeisterung zu wecken, läßt er den Kopf hängen und gibt sich auf. Das kann man schon verrückt nennen. Nebenbei zeugt es auch von einer gewissen Unreife, ist doch der Wunsch nach Begeisterung offenkundig auf dem Mist der jugendlichen Sehnsucht nach der Geliebten gewachsen. Die Geliebte wird mich uneingeschränkt, »voll und ganz« sozusagen, als ihren Beglücker oder Erlöser empfinden. Verrückt.

* Ursula Armstrong, https://www.hausarzt.digital/kultur/medizinhistorie/oskar-panizza-ein-poet-der-umsunst-gelebt-hat-100076.html, 20. Oktober 2021
** Michael Bauer, NDB 20 (2001)




Der fette Brockhaus-Eintrag über Panzer verströmt (1991) ungefähr soviel Zweifel an seinem Gegenstand, wie der gegenwärtige »Bundesverteidigungsminister« Boris Pistorius an sich selber: null. Nach einem kurzen Vorspann über Schilde, Ritterrüstungen, Kettenhemden und dergleichen Antiquitäten geht es flott zu den stählernen Ungetümen moderner Kriegsführung, also den eigent-lichen Panzern, von denen jetzt wieder jeder deutsche Knabe, aber auch jedes deutsche Mädel träumen soll. Eine vergleichsweise riesige Abbildung zeigt den Kampfpanzer Leopard 2 in einer sogenannten Phantomzeichnung. Der wohlwollende Kritiker könnte die Farbgebung immerhin für einen Versuch der Abschreckung halten: Hauptsächlich ekelhafte braun-grüne Tarnfarben, ansonsten ein ekelhaftes Rotbraun, das bereits das geronnene Blut vorwegnimmt.

Erfreulicherweise belehrt mich Brockhaus, die bekanntesten Kampfpanzer des Zweiten Weltkrieges seien voran die Panther und Tiger gewesen. Dazu entnehme ich dem Internet: beide wurden zufällig in der Stadt meiner antiautoritären Jugend gebaut, nämlich bei Henschel in Kassel. Die Welt geht ins Einzelne.* Der »stärkste deutsche Kampfpanzer im Zweiten Weltkrieg« sei Tiger 2 gewesen. Im Herbst 1943 führt Henschel sein Muster für Tiger 2 (auch »Königstiger« genannt) dem Führer vor – Henschel bekommt den Auftrag (gegen Konkurrent Porsche). Es baut auch Tiger 1 weiter. Von Tiger 2 wurden allerdings lediglich knapp 500 gebaut, weil das Vieh zu schwer war.

Tja, der Luftangriff der Alliierten auf Kassel im Oktober 1943 war auch ziemlich schwer, wie es in vielen Quellen heißt. »Kaum ein Stein blieb auf dem anderen«, schreibt die Hessenschau dazu kürzlich gedichtreif.** »10.000 Tote und 12.000 Verletzte lautet die traurige Bilanz der Nacht. 444 britische Bomber radierten mit hunderttausenden Brandbomben die Innenstadt nahezu aus. Sie zerstörten 80 Prozent der Gebäude im ganzen Stadtgebiet.« Meine Großmutter Helene war zu Verwandten nach Kleinalmerode im Kaufunger Wald geflohen; mein Großvater Heinrich bemühte sich als Hauptmann einer Brückenbaukolonne auf dem Balkan um einen halbwegs ehrenvollen Rückzug, falls ich Familiennachrichten trauen darf. Ihr ältester Sohn Gerhold »fiel« im nächsten Jahr in Italien – ins Soldatengrab. Er war noch keine 20.

1964 ging Henschel an Rheinstahl beziehungsweise Thyssen über. Man hatte sich auch um den von Brockhaus abgebildeten Leopard 2 beworben, doch dieser Auftrag landete (1978) bei Krauss-Maffei. Inzwischen scheint alles eine Banane beziehungsweise Granate zu sein, nämlich Rheinmetall. Diese Firma gilt zur Stunde als größter deutscher Rüstungskonzern. Aber deutsch ist daran nicht mehr so viel. Zwei Drittel der Aktien gehören »institutionellen Anlegern«, voran aus den USA. BlackRock ist selbstverständlich ebenfalls dabei. Ja, es hat sogar dieser Tage gerade wieder zugeschlagen.***

Es wird Zeit, daß im Berliner Bundeskanzleramt endlich das BSW ans Ruder kommt. Es wird unverzüglich die Umtaufe der deutschen Kampfpanzer durchsetzen, damit die vom Aussterben bedrohten Raubkatzen dieses Planeten nicht länger verleumdet werden. Die Panzer werden unter Wagenknecht nach Fischen benannt, etwa Kabeljau, Hering, Heilbutt und dergleichen Meer.

* https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article129869643/Der-riesige-deutsche-Koenigstiger-war-ein-Irrweg.html, 7. Juli 2014
** https://www.hessenschau.de/panorama/bombenangriff-1943-eine-nacht-die-kassel-veraendert-hat-v1,erinnerung-kasseler-bombennacht-100.html, 22. Oktober 2023
*** https://www.kettner-edelmetalle.de/news/zufalle-gibts-blackrock-erhoht-rheinmetall-anteile-dann-kommt-grossauftrag-21-06-2024, 21. Juni 2024




Zu den Gebrechen in Tim Weiners CIA-Geschichte zählt die wiederholte Anführung des US-Albtraums Pearl Harbor, ohne diesem jemals auf den Zahn zu fühlen. Der berüchtigte japanische »Überraschungsanfgriff« (so auch Brockhaus) vom 7. Dezember 1941 auf den hawaiischen US-Flottenstützpunkt geht damit als bare Münze durch. Er zerstörte die Flotte und sorgte für rund 2.500 Tote. Nebenbei bestand die Flotte »zufällig« zu einem Gutteil aus veralteten Schiffen, die ohnehin bald ausgemustert worden wären. In Wahrheit hatte es sich keineswegs um eine Überraschung gehandelt, jedenfalls nicht für die Bosse im Weißen Haus, Washington D.C. Das deutet sogar Brockhaus zaghaft an, wenn er seinen Eintrag mit dem Hinweis schließt, der »im einzelnen kontrovers diskutierte Vorgang (z.B. hinsichtlich der Frage, ob Angriffsort und -zeitpunkt der US-Regierung bekannt waren)« habe in den Staaten »zu einmütiger Unterstützung der Politik des Päsidenten F. D. Roosevelt« geführt. Es war um das Eingreifen in den Zweiten Weltkrieg gegangen. Die US-Rüstungsbosse und ihre weiße Pappnase Roosevelt wünschten es – und da die brutale Falle auf Haweii funktionierte, bekamen sie es auch.

Diese Sicht wurde um 200o entschieden durch ein dickes Buch des nordamerikanischen, kriegserfahrenen Journalisten Robert B. Stinnett untermauert.* Spätestens damit dürfte sie unwiderlegbar sein. Eine gute Zusammenfassung des Werkes lieferte Schattenblick im Erscheinungsjahr der deutschen Ausgabe 2003. Deren Autor merkt auch an, die damals mächtige US-Friedensbewegung sei als »Isolationismus«, als »krankhaft« also verteufelt worden. Deshalb mußte der Elektroschock Pearl Harbor her. Was in der Besprechung weitgehend fehlt, sind die breitgefächerten Kriegsinteressen der USA. Dazu habe ich mich kürzlich unter → Maquis geäußert (Folge 24), vor allem jedoch 2022 in meinem Porträt Randolph Bournes.** Dieses Versäumnis des Rezensenten gilt freilich mehr noch für Buchautor Stinnet, der im Grunde, gerade so wie Tim Weiner, ein braver Yankee ist. Nennt der Rezensent Stinnets Werk »ungemein spannend«, kann ich nur bedingt beipflichten. Meines Erachtens ist es, für Laien, viel zu ausführlich und dadurch streckenweise langatmig geraten. Das schließt unnötige Wiederholungen ein. Jedenfalls hätte ich viele Einzelheiten und Belege kurzerhand in den Anhang (für Fachleute) verbannt. Damit will ich freilich nicht an Stinnets forscherischen Verdiensten rütteln. Insofern ist seine Hartnäckigkeit bewundernswert.

Ich picke noch ein paar Leckerbissen heraus. Der Plan für die Falle war bereits ein gutes Jahr früher, im Oktober 1940, von dem Kapitän und Nachrichtenoffizier Arthur H. McCollum in einer streng geheimen Denkschrift umrissen worden. Als Stinnet dieses »Memo« 1998 dem inzwischen betagten Funkaufklärungsoffizier Homer Kisner unterbreitete, habe dieser mit »ungläubiger Empörung« reagiert. Kein Mensch in der Marine würde es übers Herz bringen, Kriegsschiffe und Seeleute vorsätzlich einer Gefahr auszusetzen. »Hätte ich von diesem Plan gewusst, ich wäre direkt zu Admiral Kimmel gegangen und hätte ihn gewarnt.« (S. 99) Aber eben dies wurde bis zur letzten Minute verhindert. Stützpunktchef Kimmel wurde deshalb in der Tat von dem japanischen Angriff »überrascht«. Man hatte die eigene Abwehr ausgehebelt, wie es offensichtlich 2001 neuaufgelegt worden ist, nur diesmal in der Luft.

Ein Gegenstück zu Kisner war der Funkaufklärungsoffizier Joseph Rochefort, eine echte Charakterruine. Nach Kriegsende habe er befunden: »Es war ein recht billiger Preis, den wir für die Einmütigkeit der Nation bezahlen mussten.« Zufällig hatte Rochefort, ein bedeutender Mitverschwörer, aufgrund seiner »Überarbeitung« am 6. Dezember für das Wochenende des Angriffs (7. Dezember morgens) freigenommen. Sein Haus habe rund 16 Kilometer vom Stützpunkt entfernt in den Hügeln von Honolulu gelegen (S. 323 + 352). Jedenfalls ging McCollums »genialer« Plan auf. Der Kongreß erklärte bei nur einer Gegenstimme schon am Montag dem 8. Dezember, die Staaten befänden sich mit Japan im Kriegszustand. Drei Tage später wurde das auf Deutschland und Italien ausgeweitet. Die Gegenstimme kam von der Abgeordneten Jeannette Rankin (1880–1973), einer Farmers- und Lehrerstochter aus Montana, dazu Biologin und Sozialarbeiterin, bekannte Frauenrechtlerin und Friedenskämpferin. Sie hatte bereits 1917 gegen den Kriegseintritt gestimmt (S. 405), mit 56 anderen. Noch 1968 soll sie mit einigen tausend Frauen gegen den Vietnamkrieg demonstriert haben. Dort, in Indochina, landeten die Yankees (1964) mit der Falle des angeblichen Überfalls des Vietcongs in der Tonkin-Bucht einen weiteren Erfolg. Aber sie verloren diesen abscheulichen Krieg trotz erheblicher Übermacht. Und erfreulicherweise sieht inzwischen alles danach aus, daß sie endlich dem Untergang geweiht sind. Die nordamerikanischen FallenstellerInnen, meine ich.

* Robert B. Stinnett, Pearl Harbor, USA 200o, deutsche Ausgabe Ffm 2003
** https://siebenschlaefer.blogger.de/stories/2858829/




Den irischen Lehrer Patrick Pearse (1879–1916) gibt Brockhaus mal wieder als »Dichter« aus. In diversen Aufsätzen, Dramen, Gedichten und Erzählungen habe er Existenzprobleme seiner Landsleute dargestellt. Vor allem jedoch war er Patriot. »Nach der Niederschlagung des Osteraufstandes 1916 gegen England wurde er als Kommandant der irisch-republikanischen Truppen und designierter Präsident hingerichtet.«

Der Eintrag ist nicht übel. Man kann ihm allenfalls vorwerfen, neben dem »Schriftsteller« das Wort »Imperialismus« zu scheuen. Während zum Beispiel die Sorben unter der behördlich verordneten deutschen, die Flamen unter der französischen Sprache litten, stöhnte Irland, jenseits der Irischen See gelegen, seit Jahrhunderten unter den Briten. Ende April 1916 versuchte eine kleine bewaffnete »Avantgarde« durch den bald darauf berühmten Osteraufstand ein Zeichen zu setzen und die duldsamen Iren aufzurütteln. Das Unternehmen mißlang, was man in christlich-revolutionärer Opferbereitschaft auch durchaus eingerechnet hatte. Die Todesopfer dieses Dubliner Aufstandsversuches werden auf rund 500 englische Soldaten und doppelt soviele Iren geschätzt. Hinzu kamen wenig später 15 »Rädelsführer«, die von den Besatzern zum Tode verurteilt und erschossen wurden, darunter eben der als Präsident der erträumten Republik vorge-sehene 36jährige Patrick Pearse. Eine 16. Hinrichtung erfolgte im August.

Patrick Pearse, Sohn eines katholischen Steinmetzen, hatte an seiner eigenen St. Enda's School (Scoil Éanna) in Dublin die irisch-gälische Sprache und Kultur und jene schrankenlose Vaterlandsliebe hochgehalten, die auch die BewohnerInnen deutscher Wälder beherrschte, weshalb sie schon zwei Jahre vor den irischen Patrioten, 1914, zu ihren Keulen gegriffen hatten. Einem Artikel auf der Webseite der BBC zufolge* waren Pearses Schüler angehalten, »to work hard for their fatherland, and if it should ever be necessary die for it.« Vor seiner Hinrichtung soll er seiner Mutter brieflich versichert haben, angenommen, Gott überlasse ihm die Wahl einer Todesart, würde er sich genau für die entscheiden, die ihm nun bevorstehe. Blaise Pascal hätte ihn verstanden; der Franzose liebte das Leiden wie jeder Christ. Auf die Idee, Gott um die Abschaffung des Todes überhaupt zu ersuchen, kommen diese DuckmäuserInnen nie. Obwohl der BBC-Artikel mit dem Hinweis beginnt, der in den Tod getaumelte Ire habe sich einmal als sich selber fremdes Wesen beschrieben, unternimmt er mit keinem Komma den Versuch, die biografischen Wurzeln dieses Wesens einzukreisen. Möglicherweise schuf in dieser Hinsicht der Leidener Historiker Joost Augusteijn mit einer neuen Biografie Abhilfe.** Das Werk soll zum Beispiel erörtern, ob der rührige Lehrer, der das am eigenen Leibe erfahrene herrschende Erziehungssystem als The Murder Maschine bezeichnet hatte, ein Knabenliebhaber oder auch Kinderschänder gewesen sei. Rezensent Philip Ferguson (2012) glaubt es nicht. Andere befürchten, Pearse habe eine zweite Schule in Dublin lediglich aus Gründen der Tarnung als erklärte Mädchenschule eröffnet. Prompt hielt sie sich auch nur für kurze Zeit.

Heute wimmelt die irische Insel von Straßen und Einrichtungen, die den Namen des Vaterländers Pearse tragen, nicht des mutmaßlichen Knabenschänders. Wie es heißt, schlug sich eine Mehrheit der Iren erst aufgrund jener 16 Justizmorde auf die Seite der RepublikanerInnen. In den folgenden Jahren kam es zu schweren Unruhen, die letztlich zur Unabhängigkeit Irlands führten (1922) – ausgenommen Nordirland. Der Osteraufstand gilt unter Historikern allgemein als »Geburtsstunde der IRA«.

* »Patrick Pearse«, März 2014: http://www.bbc.co.uk/history/british/easterrising/profiles/po11.shtml
** Joost Augusteijn, Patrick Pearse: The Making of a Revolutionary, UK 2010




Den italienischen Maler Giovanni Pellegrini (1675–1741) stellt Brockhaus mit dem opernreifen Gemälde Die Rückkehr Jiftachs vor. Jiftach ist ein alttestamentarischer Bandenchef niederer Abkunft. Als die Gileaditer von den Ammonitern bedroht werden, küren sie ihn jedoch zu ihrem Heerführer, denn sie ahnen, er ist vom Heiligen Geist benetzt. Prompt marschiert er in den nächsten Tempel und feilscht mit Gott um Beistand. Der läßt sich darauf ein. Meine Herren, ein Gott, der mit sich feilschen läßt – wenn das keine Gotteslästerung ist! Aber es steht in Kapitel 11 des Buches Richter. Als Gegenleistung für Gottes Beistand gelobt der Recke, diesem das Erste zu opfern, das ihm bei der Rückkehr vom Schlachtfeld aus seinem Haus entgegen komme. Wie sich versteht, kehrt er siegreich heim. Doch was für eine Schweinerei: Das Erste ist ausgerechnet seine eigene, einzige Tochter, die ihn tanzend gebührend empfangen und feiern will. Daher der Schock und die Wut, die man Pellegrinis Jiftach nur zu deutlich ansieht. Aber sein Gelübde muß er als gottesfürchtiger Mann natürlich halten, auch wenn ihm Gott möglicherweise eine Falle gestellt hat, die sich die Yankees nicht durchtriebener hätten ausdenken können. Er tötet die Tochter und wirft sie zu den anderen Brandopfern auf den Altar. Ab da an ist Jiftach für sechs Jahre oberster Richter über Israel. Bei uns säße er heute auf der Kuppelkrone des Bundesgerichtshofes in Karlsruhe, von Weihrauchschwaden umweht.

Selbstverständlich ist den Talaren und Krawatten- oder Sonnenbrillenständern, die uns regieren, schon immer klar, daß kein Staat ohne Opfer zu machen ist. Wird der Staat zum Beispiel nicht von Ammonitern, sondern von Coronaviren bedroht, müssen wir unter Umständen gewisse Freizügigkeiten und Unverletztlichkeiten opfern. Das zweite zielt auf den bekannten Impfwahn. Die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz Malu Dreyer versichert allerdings soeben, es sei nicht nur ihr nicht, vielmehr niemandem klar gewesen. »Keiner von uns wusste wirklich etwas«, seufzte sie in einer beliebten Fernseh-Talkshow mit aller ihr zu Gebote stehenden Inbrunst. Dazu NDS-Autor Klöckner erstaunlich nachsichtig: »Sollte das stimmen, dann wäre das eine Bankrotterklärung der Politik. Denn es hätte gewusst werden können. Früh widersprach etwa …« Na, lesen Sie bitte selber nach.*

In dieser Show durfte sich auch der berühmte Berliner Professor Christian Drosten wieder in Szene setzen. Er verkündete rotzfrech, niemand habe Schuld. Ich wiederhole: »Niemand hat Schuld.« Und dies, ohne daß ihm augenblicks die blendendweißen Zähne aus dem Lügenmaul gefallen wären! Das stellt also das Niveau der sogenannten Corona-Aufarbeitung dar, auf die ich persönlich bekanntlich nie auch nur einen Pfifferling gab. Das Niveau von Fernsehshows, Volksverhöhnung und etwas Gedruckse in den Pausen, wenn einem die eingebettete Journalistin ihr Mikrofon unter die Nase reibt.

Vielleicht wären Dreyer und Drosten durch eine Pemmikan-Kur noch heil- oder läuterbar. Falls Sie bislang nicht an Expeditionen oder Überlebenstraining teilgenommen haben: es handelt sich um eine »Fleischkonserve der nordamerikanischen Indianer: in Streifen geschnittenes Bisonfleisch, an der Luft getrocknet, mit Steinhämmern zerklopft, mit Beeren vermischt, mit heißem Fett übergossen, in rohledernen Behältern verpackt.« Soweit Brockhaus. Laut Internet ist diese Notnahrung, dunkel und kühl aufbewahrt, bis zu zwei Jahren haltbar. Somit wären Dreyer und Drosten auf ein abgelegenes, unbewohntes Südseeatoll zu verschicken, das näher am Südpol als am Äquator liegt. Sonst schmilzt und verdirbt ihr Pemmikan. Gewiß sind sie von Restaurantbesuchen und Partylieferdiensten Feineres gewohnt, aber wie ja gern gesagt wird, zur Not frißt der Teufel Fliegen. Was den beiden auf keinen Fall in den Rucksack gesteckt werden darf, ist eine Impfspritze. Sollten sie also aus lauter Langweile oder Verzweiflung Nachwuchs zeugen, wäre dieser gezwungen, ungeschützt groß – oder jedenfalls 12 oder 15 Monate älter zu werden. Dann naht unser Wasserflugzeug, um die Verbannten dem deutschen Vaterland zurück zu geben.

* Marcus Klöckner, https://www.nachdenkseiten.de/?p=117354, 28. Juni 2024



Bei den Pereiras im Brockhaus fehlt ein wichtiges, mahnendes Todesopfer: Fernando Pereira (1950–85), Fotograf und Umweltschützer. Im Juli 1985 lag das Greenpeace-Schiff Rainbow Warrior in Aukland, Neuseeland, vor Anker – ein Dorn im Auge Frankreichs, das im Südpazifik seit Jahren Atomwaffenversuche zu Lasten einheimischer InselbewohnerInnen durchführte. In der Nacht gab es zwei Explosionen, und das mit 12 Leuten besetzte Schiff sank. Dafür hatten Sprengstoffexperten und Taucher des französischen Auslandsgeheimdienstes gesorgt. Der 35jährige niederländisch-portugiesische Greenpeace-Fotograf, Vater von zwei Kindern, war das Todesopfer des Tages beziehungsweise der Nacht. Pereira ertrank im Bauch des Schiffes, als er versuchte, seine Kamera zu retten.

Neuseeland tobte, jedenfalls offiziell. Als die üblichen Ausflüchte nicht mehr zündeten, räumte die französische Regierung das Verbrechen ein. Geheimdienstchef Pierre Lacoste, als Marineoffizier »Admiral«, und »Verteidi-gungsminister« Charles Hernu verloren ihre Posten. Später verkündete Lacoste sogar, der damalige Präsident François Mitterrand sei über die Aktion im Bilde gewesen und habe sie gebilligt.* Ich wüßte allerdings nicht, daß die drei Herren jemals strafrechtlich belangt oder wenigstens regreßpflichtig gemacht worden wären. Die fetten Entschädigungssummen waren aus dem Steuertopf geflossen. Es ist demnach so: ein französischer Agentenboß, ein US-Präsident, ein Berliner Impfpapst können mit ihrer wahrlich »kriminellen Energie« anstellen, was sie wollen – sie bleiben straflos und lassen die Wahlschafe noch dafür zahlen.

2005 soll Admiral Lacoste öffentlich versichert haben, Pereiras Tod laste schwer auf seinem Gewissen. Nimmt man ihm diese Erklärung ab, war seine interne Abwehr erstaunlich fit. Er starb nämlich erst im Januar 2020 – mit knapp 96 Jahren.

* WDR: https://www1.wdr.de/stichtag/stichtag-franzoesischer-geheimdienst-versenkung-greenpeace-schiff-100.html, Stand 10. Juli 2020



Die Pestwurz sei in unserem Mittelalter »als hustenlindernde, schweiß- und harntreibende Heilpflanze angebaut« worden, weiß Brockhaus. Heute findet man die kniehohen und großblättrigen Pflanzen mit den fetten Trauben aus rötlichen Blütenköpfchen oft rudelweise an Bachufern oder auf feuchten Sandbänken. Während die Köpfchen fast an das reizende, seltene Katzenpfötchen denken lassen, glaubt man angesichts der Wucherungen eher, dieses Kraut breite sich eben »wie die Pest« aus. Der Name kommt jedoch von einer anderen, vermeintlichen Heilwirkung, wie mich NaturschützerInnen belehren. Man glaubte im Mittelalter, die unangenehm riechenden ätherischen Öle der Pflanze könnten sogar die Pest vertreiben.* Das war ein Trugschluß. Gleichwohl verhält es sich bei vielen postmodernen Heilmitteln noch viel schlimmer: sie sind die Pest.

* https://www.bund-hessen.de/arten-entdecken/pestwurz/, o.J.



Vom slowenischen Schriftsteller Žarko Petan (1929–2014) hebt Brockhaus in seinen wenigen Zeilen die »formal geschliffenen, geistvollen und treffsicheren« Aphorismen hervor. Leider sieht es im Internet nicht gerade üppiger aus. Vor der »Wende« in Belgrad in Haft, soll Petan nach ihr, für zwei Jahre, Rundfunkchef gewesen sein. Er war also kein Clochard. Seine Familie hatte in verschiedenen Städten Gasthäuser betrieben, nach Faschismus und Flucht vor diesem erneut in der nordslowenischen Großstadt Maribor. Die Haft um 1950 hatte sich Petan durch angebliche feindliche Propaganda zugezogen. Auch als Theatermann bekam er noch Ärger mit dem Tito-Regime. Trotzdem soll er im ganzen 60 slowenisch geschriebene Bücher verfaßt haben, von denen etliche auch übersetzt wurden. Bei uns scheint der folgende Sammelband mit Aphorismen bekannt zu sein: Mit leerem Kopf nickt es sich leichter. Diese Bestimmung, was Opportunismus sei, kann man wirklich köstlich nennen. Allerdings gibt es auch nicht wenige Opportunisten, die durchtriebener als ein Fuchs, also keineswegs saudumm sind. Sie wissen genau, warum sie sich stets gern anpassen. Nur die Sozialdemokratin Malu Dreyer wußte von allem nichts.



Von Brockhaus wird der Historiker Franz Petri (1903–93) weder gelobt noch gerügt. 1942–45 Professor in Köln, 1951–68 Institutsdirektor (Landeskunde) in Münster und Bonn. Bemüht man jedoch, neben Klee, das Internet, war der Mann bereits 1937 Mitglied der NSDAP, schon vorher der SA gewesen. Seine Habilitationsschrift von 1936 stellte das »germanische Volkserbe in Wallonien und Nordfrankreich« heraus. Folgerichtig sorgte er nach dem Einfall der Faschisten dafür, daß zahlreiche belgische, oft jüdische, WissenschaftlerInnen amtsenthoben und durch deutsche ersetzt wurden. Neben seiner rheinischen Dozententätigkeit bekleidete er nämlich seit 1940 im besetzten Gebiet Wallonien/Nordfrankreich das Amt eines Kulturreferenten im Range eines Kriegsverwaltungsrates – eines deutschen, wie sich versteht. Die siegreichen Briten entließen Petri zunächst und muteten ihm sogar für anderthalb Jahre Lagerhaft einschließlich angeblicher Umerziehung zu, wohl in Recklinghausen. Doch aus dem berüchtigten »Entnazifizierungsverfahren« ging er dann als »voll entlastet« hervor – für kritische ForscherInnen ein böser Scherz. Wikipedia führt welche an. 1961 durfte Petri in Bonn wieder Professor sein. Damit waren seine Ruhestandsbezüge gerettet. 1968 oder 69 emeritiert, wurde er noch steinalt: 90.



Zum frühen Ende des einflußreichen schwarzen US-Jazzmusikers Oscar Pettiford (1922–60) sagt Brockhaus, wie so oft, gar nichts. Pettiford glänzte an Cello und Contrabaß. Ab 1958 wirkte er in Europa. Er hatte eine dänische Frau, Jacki, wohl in Kopenhagen. Dort starb er auch – auf umstrittene Weise. Er mußte überraschend ins Krankenhaus, zeigte Lähmungen, fiel ins Koma und starb nach wenigen Tagen, knapp 38 Jahre alt. Während seine Witwe von einer Krankheit ähnlich Polio sprach, behauptete die Schlagersängerin Gitte Hænning erheblich später in einem Radiointerview, Pettiford sei betrunken Fahrrad gefahren, gestürzt und mit dem Kopf auf einen Bordstein aufgeschlagen. Gitte kannte den US-Musiker. Er hatte zuletzt noch eine Single für den damaligen Kinderstar und ihren zielstrebigen Herrn Papa arrangiert.

Um auf dieser eher unwesentlichen Streitfrage nicht herumzureiten, werfe ich noch einen Blick auf Gitte, die sowieso zu meiner Jugend gehört. Geboren 1946, war die dänisch-deutsche Bühnenkünstlerin auch knapp drei Jahre nach Pettifords Tod noch immer blutjung. Das war im Sommer 1963. Damals kam sie bei den Schlagerfestspielen im Kurhaus von Baden-Baden »sensationell« mit einem Riesenhit heraus, wie sich rasch zeigte. Ich will 'nen Cowboy als Mann, krähte sie nun in jedem Rundfunk-sender. Das können Sie bei Blogger Hans-Peter Ecker lesen und hören*, falls Sie deutlich jünger sind als ich. Es war ja wirklich ein Ohrwurm. Und für die vergleichweise züchtige Zeit hatte auch der Text beachtlichen Pfiff. Die Sängerin schlägt die Ehe- und Karriereangebote der lieben Eltern aus und beharrt auf ihrem Cowboy, weil der so gut küssen kann. Gewiß schwamm sie dadurch auch auf der Wild-West-Welle und im Grunde sogar auf der Flut der Yankee-Freundlichkeit mit, die in Europa seit Jahrzehnten hoch im Kurs steht. Es wäre wohl von dem blonden frechen Mädchen zu viel verlangt gewesen, die Yankees als saudumme Antikommunisten und tolldreiste BesatzerInnen von bald der halben Welt anzuprangern.

Es ist schon viel, wenn sie als Oma mal einen Song von Rio Reiser einschiebt. Die Frau ist nach wie vor auf diversen Bühnen zu sehen. Angeblich lebt sie solo in Berlin.

* https://deutschelieder.wordpress.com/2021/02/22/gitte-haenning-ich-will-nen-cowboy-als-mann/, 22. Februar 2021



Sich mit bloßem oder bewaffnetem Auge unter all diesen Sternen umzusehen, von denen bis heute noch kein Tropfen Blut gefallen ist, stelle ich mir zuweilen sehr gesundheitsfördernd vor. Aber dann ist mir die warme Bettdecke näher. Obwohl noch dem ptolemäischen Weltbild verhaftet, wird der Wiener Professor, Hofastronom und Humanist Georg von Peuerbach (1423–61) zu den wichtigsten Vorläufern des Kopernikus gezählt. Viele seiner Arbeiten führte sein Schüler Johannes Regiomontanus fort, der auch nur 40 wurde. Sowohl Peuerbachs Schriften, seine oft gelobten Briefe eingeschlossen, wie die von ihm gebauten Instrumente übten für viele Jahrzehnte großen Einfluß aus. Hermann Haupt schreibt 2001: »Berühmt (und in mehreren Exemplaren noch erhalten) sind seine Taschensonnen-uhren, die sich in Verbindung mit einem Kompaß als für die damalige Zeit relativ genaue Geräte zur Orts- und Zeitbestimmung erwiesen und bald darauf von Christoph Kolumbus bei seinen Seefahrten benützt wurden.« Zudem läßt sich am Chor des Wiener Stephansdoms eine vertikale Sonnenuhr bewundern, die Peuerbach 1451 anbrachte oder anbringen ließ. Im Schloß von Peuerbach, Oberösterreich, wo der berühmte Astronom und Namenspatron eines Mondkraters geboren wurde, ist ihm ein eigenes Museum gewidmet.

Warum Peuerbach schon 10 Jahre nach Montage jener Sonnenuhr im Alter von 37 Jahren das Zeitliche zu segnen hatte, läßt sich nicht mit Sicherheit sagen. Sowohl Brockhaus wie Wikipedia (deutsch und englisch), dazu die meisten restlichen Quellen interessiert es sowieso nicht, eine Unverschämtheit. Peuerbachs Tod durchkreuzte Pläne einer erneuten Reise oder gar einer Übersiedlung nach Italien. So »plötzlich«, wie Siegmund Günther noch 1887 meinte, wird er Peuerbach aber kaum ereilt haben. Dem Wiener Historiker Helmuth Grössing zufolge (1983) geht aus Briefen Peuerbachs hervor, daß er zumindest 1456 an brennender Lunge, Fieber, Durst, starken Kopfschmerzen und Haarausfall litt. Möglicherweise hatte er sich durch etliche Jahre mit einer schleichenden Krankheit abzuschleppen, etwa Typhus, die ihn dann 1461 überwältigte. Nebenbei führt Grössing einige Anhaltspunkte an, die auf eine homosexuelle Neigung Peuerbachs deuten. Das soll nicht heißen, der allseitig gebildete Astronom, der auch über antike Dichter las und der sich unter anderem der Gunst des römischen Kurienkardinals Johannes (Basilius) Bessarion erfreute, sei einer Gewalttat zum Opfer gefallen, wie später beispielsweise → Winckelmann. Der deutsche Schöngeist wurde (1768) mit 50 in einem Hotel in Triest erstochen.

2000 fand in der Stadt Peuerbach sogar ein erstes »Symposium« über den Astronomen statt. Die dortigen Vorträge sind anscheinend bald darauf in Buchform erschienen: Der die Sterne liebte. Georg von Peuerbach und seine Zeit, Hrsg. Helmuth Grössing. Soweit ich sehe*, ist hier in biografischer Hinsicht nichts Neues zu holen.

* Tagungsbericht in den Elektronischen Mitteilungen zur Astronomiegeschichte, Nr. 53, 13. Oktober 2000: https://astro.uni-bonn.de/~pbrosche/aa/ema/ema53.txt



Zunächst das Erfreuliche: die Wiederherstellung meines 2003 durch Arbeitsunfall zertrümmerten linken Handgelenks im neuerbauten Krankenhaus Friedrichroda verdanke ich dem Chirurgen Friedrich Lange. Seine Praxis als Unfallarzt liegt im Kellergeschoß des ehemaligen Waltershäuser Krankenhauses am Geizenberg, das heute Pflegeheim ist. 1939 in bekannter monumentaler Weise aus Kalksteinquadern errichtet, verblüfft es wenig, wenn am vorgebauten Portal die gemeißelte Inschrift grüßt: Für des deutschen Volkes Kraft und Gesundheit.

Lange kann sich aufgrund seiner Jugend glücklich schätzen, nicht schon zu DDR-Zeiten in diesem Krankenhaus tätig gewesen zu sein. Binnen weniger Wochen, dabei teils unter den Argusaugen der Genossen Major Wittig und Leutnant Kant von der sozialistischen Kriminalpolizei, mußten damals fünf frischoperierte Menschen ins Gras beißen. Sie waren durchweg vom selben Chirurgen operiert worden. Dachte man nach zwei Leichen noch an Kunstfehler, drängte sich im folgenden ein Mordverdacht auf. Des Chirurgen Gemüt erfuhr, was Folter ist. Die Kriminalen waren allerdings nicht viel besser daran. »Noch eine Leiche«, knurrte Wittig zu Kant, »und wir können uns begraben lassen. Hast du das kapiert?«

Nebenbei pflegt zwar Wittig seinen Untergebenen Kant zu duzen, doch umgekehrt wäre das ein Frevel gewesen. Die Kommissare Bärlach (Schweiz) und Maigret (Frankreich) halten es nicht anders. Als schließlich in sämtlichen Leichen Arsen nachgewiesen werden konnte, war offensichtlich: jemand legte es darauf an, des Chirurgen Ruf zu zerstören und damit ihn selbst zu zerschmettern. Doch warum?

Das Motiv fand sich schließlich auf dem vielbegangenen Feld der Liebe. Mehr verrate ich nicht. Der Fall von 1955 wurde vom DDR-Schriftsteller Hans Pfeiffer ausgegraben und 1980 im Tatsachenroman Die eine Seite des Dreiecks vorgestellt. Pfeiffer änderte nur die Namen und verlegte die Handlung in ein Städtchen im Erzgebirge. Da das flüssig geschriebene Buch sowohl Abscheu-lichkeiten wie Gedankenschwere meidet, kann es guten Gewissens als Eß- oder Bettlektüre empfohlen werden, zumal es selbst im Brockhaus erwähnt wird. Dort hat Pfeiffer, geboren 1925 in Schweidnitz, fünf Zeilen. Er starb 1998, »nach schwerer Krankheit«, mit 73 Jahren in Leipzig, wo er lange Jahre an Bechers Literaturinsitut unterrichtet hatte. Wie es aussieht, war er stets »linientreu«. Laut Wikipedia war er das sogar ein Regime früher auch schon gewesen: Ab 1943 Mitglied der NSDAP. Dann sei er, nach seiner Sanitätssoldatenzeit, in die KPD eingetreten. Anfangs Dorfschullehrer, stieg er auf. Ein früherer Schüler aus Grimma stellt jedoch Pfeiffers aufklärerischen und kritischen Geist heraus.* Dafür läßt er die erste Parteimitgliedschaft weg. Hat der Schüler recht, war sie eben lediglich eine Jugendtorheit.

Wie auch immer, frage ich mich, warum Brockhaus diesen Schriftsteller dessen Weimarer Berufskollegen Armin Müller (1928–2005) vorzieht. Der ist in Band 15 von 1991 nicht vertreten. Dabei hatte er sein Meisterwerk Der Puppenkönig und ich bereits 1986 vorgelegt. Müller wird allgemein unterschätzt, wie ich finde. Vielleicht gibt es einfach zuviele Müllers auf der Welt, dagegen wenig Pfeiffers mit Doppel-f. Oder die Brockhaus-Redaktion hatte gehört, an jenem Institut in Leipzig durfte sich Dozent Pfeiffer sogar »Professor« nennen. Hoher Berufsverbandsfunktionär war er auch.

* Eberhard Zänker, https://www.grimma.de/portal/meldungen/erinnerung-an-hans-pfeiffer-lehrer-und-schriftsteller-1925-1998--900004965-27290.html, 21. September 2023



Da ich mich schon kürzlich mit Pferden befaßt habe (Folge 24, »Marstall«), ist hier nur noch der Pferdekopfnebel interessant. Laut Brockhaus erinnert diese »Dunkelwolke« im Sternbild Orion von der Gestalt her an einen Pferdeschädel. Sie sei jedoch lediglich auf lang belichteten Aufnahmen zu sehen. Selber nur einen Durchmesser von rund drei Lichtjahren stark, sei der Pferdekopfnebel ungefähr 1.000 Lichtjahre von uns entfernt. Dort soll sich ein riesiges Sternentstehungsgebiet räkeln. Jüngere Quellen geben die Entfernung sogar mit 1.500 Lichtjahren an. Aber nun überlegen Sie einmal ganz unsentimental, welche Entfernungen uns hier um die Ohren gehauen werden. Ein Lichtjahr mißt 9,46 Billionen Kilometer. Damit wäre der Brockhaus-Pferdekopfnebel bereits rund 28 Billionen Kilometer dick. Und trotzdem sieht ihn kein Schwein! Na, weil er eben so weit von uns entfernt ist: für Brockhaus 9,46 Billiarden Kilometer! Ich wüßte nicht, wie man sich von solch einer Strecke eine halbwegs zureichende Vorstellung machen sollte. Oder wo. Da bleibe ich lieber auf dem Erdboden und halte mich an den anschaulichen Bezirk der guten alten Pferdelänge – ungefähr 2 Meter 40.

Eine Webseite für Schulkinder verkündet, das von uns beobachtbare Universum sei ungefähr 50 Milliarden Lichtjahre groß. Rechnen Sie bitte selber um ..! Die Einschränkung mit der Beobachtbarkeit ist immerhin lobenswert, doch was meint der Onkel Lehrer mit »groß«? Auch nur wieder den Durchmesser, wenn ich mich nicht irre. Er nimmt also an, das beobachtbare Universum sei eine Kugel, so wie die Erde und wie sein eigener Strohkopf auch. Er kennt die Richtungen und Gestalten im Kosmos nicht weniger gut wie seine Westentasche. Aber die ist keine Kugel.



Von dem Komponisten Hans Pfitzner (1869–1949) kenne ich nicht eine Achtelnote. Brockhaus klärt mich auf, er habe die klassisch-romantische Tradition in Streitschriften gegen die seines Erachtens »impotente« zeitgenössische Musik als »allgemeingültig« verteidigt. Also war er wenigstens kein Avantgardist. Als sein erfolgreichstes Werk gilt die Oper Palestrina von 1917. Ab 1934 habe er »international« als Dirigent, Pianist und Opernregisseur gewirkt. Vielleicht hat er das »Dritte Reich« kurzerhand übersprungen? Von der Spitze gegen seine Rückständigkeit abgesehen, kreidet ihm Brockhaus jedenfalls nichts an. Der Mann war in Ordnung. Klee und andere dagegen werfen ihm vor, national-sozialistisches Ideengut verfochten zu haben. In der Tat, Komponist Pfitzner war offensichtlich, nämlich erklärtermaßen judenfeindlich und hitlerfreundlich gestimmt. Goebbels nahm ihn in die Gottbegnadetenliste auf. Pfitzner lebte hauptsächlich in Berlin und München. Thomas Mann, ursprünglich mit ihm befreundet, soll ihm 1947 bescheinigt haben: »treudeutsch und bitterböse«. Zuletzt trug sich Pfitzner, auf Anregung der dortigen Philharmo-niker, mit dem Gedanken, sich in Wien niederzulassen, erlitt jedoch Schlaganfälle und starb (1949) mit 80 Jahren. Nun bekam er in Wien ein Ehrengrab. Später ließ sich auch unsere Bundespost nicht lumpen: sie ehrte ihn 1994 mit einer Sondermarke, gegen die zumindest in grafischer Hinsicht nichts einzuwenden ist.



Brockhaus stellt den Florentiner Philosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463–94) als einigermaßen menschenfreundlichen, ergo kirchenfeindlichen Denker dar, der sich um eine gewisse Toleranz unter den Denkschulen bemühte. Verwahrt er sich gegen die Anmaßung Gottes oder des Papstes, uns auf die Pläne festzunageln, die sie nur zu unserem Besten für uns vorgesehen haben, kann man zunächst nicht meckern. Es ist die natürliche Warte der Menschenwürde und des Unabhängigkeitsstrebens. Stellt sich Pico dann aber auf den festen Boden des Dogmas von unserer Willensfreiheit, so jedenfalls Brockhaus, sollte man doch mit dem Kopf schütteln.

Im letzten Band (24) führt das Lexikon sogar Näheres zu dieser alten Streitfrage aus. Die Bejaher der Willensfreiheit leugneten keineswegs den Einfluß, den äußere (Milieu) oder innere (Veranlagung) Bedingungen auf unser Wollen hätten; sie führten jedoch »die letzten, konreten Entscheidungen auf die Selbstbestimmung der Person« zurück. Dieser haarsträubend widersprüchliche Schmarren hat mir noch nie geschmeckt, wie etliche Textstellen andernorts beweisen. Ich fasse mich deshalb kurz. Entweder ist ein Häuschen, das ich mir mit Freundeshilfe in meinem Garten ohne Beiziehung von Fremdfirmen erbaue, von der Baugrube und dem Fundamentgießen an mein eigenes, frei bestimmtes Werk, dann werden ohne Zweifel auch die Dachgauben und der Schornsteinhut meine Persönlichkeit mit all ihren Wünschen und Abneigungen atmen. Oder aber die Beschaffenheit der Baugrube wurde mir von einer undurchsichtigen Behörde vorgeschrieben; und das Fundament goß die bekannte Firma Betonbetrug nach ihrem eigenen Ermessen. In diesem Fall atmen die Dachgauben und der Schornstein selbstverständlich den Geist der Behörde und der Betonfirma, sofern jene nicht sowieso gleich abrutschen und umkippen. Jeden Einfluß der Grundlegung auf die abschließende Ausgestaltung zu verniedlichen, wäre somit Wahnsinn. Die AnhängerInnen der Lehre von der Willensfreiheit tun es jedoch, weil sie uns für dumm halten. Sie behaupten, meine spontane Lust, heute mittag Hefeklöße mit Pflaumenkompott zu verspeisen, hätte nichts mit der Küche meiner Großmutter Helene zu tun. Esse ich aus Trotz Pemmikan, behaupten sie dasselbe. Ich sei mit Freiheit begabt und könne deshalb essen, was ich wolle. Und mein Wille? Hat dieser nichts mit meiner Kinderstube, meinen Eltern, dem undurchsichtigen Zufall einer Geburt im deutschsprachigen Raum des Jahres 1950 zu tun? Genauer, fand sie übrigens in einem Kasseler Krankenhaus statt. Wir wohnten zwar auf dem Land, aber perfekte staatliche Fürsorge war schon wichtig.

Pico wurde noch nicht einmal so alt wie Bassist Pettiford, und die Gründe dafür scheinen ähnlich ungeklärt und umstritten zu sein. Der 31jährige wand sich jäh in Krämpfen, suchte sein Bett auf und verschied nach wenigen Tagen. Picos Neffe Gianfrancesco soll von einem Fieber gesprochen haben. Andere argwöhnen, Pico sei vergiftet worden, beispielsweise von seinem Sekretär Cristoforo da Casalmaggiore, warum auch immer. Beides war ja in der berüchtigten italienischen Renaissance durchaus üblich, Fieber zu haben oder mit Arsen gefüttert zu werden. Das Arsen soll eine erst nach 2000 vorgenommene Obduktion nachgewiesen haben. Der Deutschlandfunk hat sich kürzlich* mit makellos freiem Willen – den er ebenfalls hochhält – für die Diagnose Vergiftung entschieden.

* Maike Albath, https://www.deutschlandfunk.de/vor-525-jahren-gestorben-der-italienische-philosoph-pico-100.html, 17. November 2019



Zum englischen Dramatiker Harold Pinter (1930–2008) befindet Brockhaus 1992, sein Werk vermittle »ein Grundgefühl der Bedrohtheit und Existenzangst, dem die Figuren nur prekäre Sicherheiten entgegenzusetzen haben und das sie in Illusionen und Denkklischees flüchten läßt«. Sicherlich kann ich Pinters »Grundgefühl« nachvollziehen, zumal er es mit vielen tausend anderen Theaterleuten oder Romanschreibern der Weltgeschichte teilt. Mit dieser Gemütsverfassung läuft man als »denkendes Schilfrohr« (Pascal) durch die Gegend, das jederzeit von einer kräftigen Brise geknickt oder fortgeweht werden kann. Remarque etwa hatte um 1950 keine andere Gemütsverfassung. Allerdings sah er nie von den erbärmlichen politischen Verhältnissen ab, in denen sich seine Figuren über Wasser oder gar in Ehren zu halten hatten. Möglicherweise hat Pinter diesen nicht vom Werk abgekoppelten Blick erst 2005 nachgeholt, als er, schon schwerkrank, den Literaturnobelpreis erhielt – und mit einer ausgesprochen mutigen Rede quittierte.* Darin nimmt sich Pinter hauptsächlich des weltweiten Treibens des Weltpolizisten USA an. Er läßt es nicht an Beispielen fehlen, von denen viele wenig später auch in Tim Weiners CIA-Geschichte zu lesen waren. Trotzdem erhob sich ein Sturm der Entrüstung über primitiven Antiamerika-nismus, der so schnell nicht verebbte. Bei aller Prominenz, diesmal hatte sich Pinter doch zuviel herausgenommen. »Ich behaupte, die Vereinigten Staaten ziehen die größte Show der Welt ab, ganz ohne Zweifel. Brutal, gleichgültig, verächtlich und skrupellos, aber auch ausgesprochen clever.« Das war Gotteslästerung. Und wer es heute Außenministerin Baerbock zuriefe, würde im Handumdrehen aus dem Saal entfernt und um seine Personalien gebeten.

* https://www.nobelprize.org/prizes/literature/2005/pinter/25626-harold-pinter-nobelvorlesung/



Dem Pin-up-Girl gönnt Brockhaus immerhin sechs Zeilen und keine Abbildung. Mich erinnert es an ein Kneipengespräch mit einer guten Freundin, die ich, in Westberlin um 1990, hin und wieder gerne traf. Als wir auf einen gemeinsamen Bekannten zu sprechen kamen, Lefty genannt, kicherte Ulla jäh und verriet mir brühwarm, Lefty hätte kürzlich einen Schock erlitten. Einen Schock? Ja. Er habe sich im Supermarkt eine bestimmte Pornozeitschrift gekauft, und als er sie zu Hause genauer durchsah, habe ihn plötzlich Ivonne angelächelt. Sie habe schön breitbeinig auf einer Sofakante gesessen, man hätte ihre Schamhaare zählen können.

Ich grinste wohl aus mehreren Gründen. Ivonne und Lefty hatten sich schon vor einigen Jahren einvernehmlich voneinander getrennt. Sie studierte inzwischen Malerei und war möglicherweise öfter knapp bei Kasse. Die Zeitschrift zahlte ihren Fotomodellen vermutlich deutlich mehr als ihren Putzfrauen. Nach einer Weile sagte ich:

»Und dir das zu erzählen, hat ihm nichts ausgemacht?«

»Nicht die Bohne. Er ist ja weißgott nicht prüde. Die besagte Zeitschrift wird schließlich von zahlreichen Männern gekauft. Warum nicht auch von ihm?«

Ich nickte. »Stimmt … Aber daß da ausgerechnet Ivonne auf der Sofakante saß, das hat ihn schockiert? Es schmerzte ihn?«

Sie lächelte. »Na klar. Das räumte er auch offenherzig ein. Er fragte mich sogar, was daran eigentlich so peinlich sei. Immerhin seien ja die anderen Fotomodelle genauso schutzlos und preisgegeben. Darauf erwiderte ich, die anderen seien aber nicht seine verflossenen Geliebten. »Die eigene Ex-Flamme wirft sich auf den Markt der Fleischeslust, so eine Schweinerei!«

Diese Diagnose leuchtete mir ein. Ich verkniff mir jedoch die Frage, ob sie Lefty noch einmal getroffen und vielleicht gefragt hätte, was er jetzt mit seiner Verflossenen in der Pornozeitschrift so anzustellen pflege. Schließlich kennt er sie hautnah. Von daher war der Kauf der Zeitschrift für ihn womöglich ein Glücksgriff.



Pioneer heißen etliche unbemannte Raumsonden, die im zurückliegenden Jahrhundert von den USA ausgeschickt wurden, um verschiedene Planeten oder deren Umgebung zu erforschen. Pioneer 10 flog Ende 1973 zunächst am Jupiter vorbei. 1990 habe sie die Sonne bereits um etwa sieben Milliarden Kilometer hinter sich gelassen, dabei noch schwache Funksignale von sich gegeben. Sie schickte sich somit an, unser Sonnensystem zu verlassen. An dieser Raumsonde hatten die schlitzohrigen Yankees eine postkartengroße, goldbeschichtete Aluminiumplakette angebracht, die im Falle eines Falles außerirdischen Zivilisationen Auskunft über die Menschheit geben könnte, wie Brockhaus schreibt. Das Lexikon hat die Platte abgebildet. Neben Pictogrammen zu unseren physikalischen Grundverhältnissen und den Planetenabständen im Sonnensystem präsentiert sie vor allem, mit Pfeil von dem Punkt »Erde« aus, ein nacktes Menschenpaar aus Frau und Mann. Erfreulicherweise stehen die beiden neben einer Skizze der Antenne der Sonde, sodaß den Außerirdischen ein Größenvergleich möglich ist. Sowohl im Brockhaus wie sonstwo hat man sich immer mal wieder über rätselhafte Fotos zu ärgern, die beispielsweise Felsen zeigen, die genausogut zwei wie 20 Meter hoch sein könnten.

Wesentlich ist jedoch, das unbekleidete Menschenpaar strahlt Wohlwollen und Friedfertigkeit aus. Der Mann hebt sogar seinen rechten Arm zum Willkommensgruß. Diese Geste wirkt eher zaghaft als hitlerreif. Die Menschen sind also unbewaffnet und wären begeistert über jeden Freundschaftsbesuch. Damit atmet die Plakette jene Scheinheiligkeit, die Pinter den von Hause aus Fallen stellenden Yankees neulich bescheinigt hat. Käme wirklich ein Außerirdischer zu Besuch, würden ihm die Yankees vorsichtshalber erst einmal Handschellen anlegen, dann in schonender Weise auf einen längeren Aufenthalt in einer FBI-Folterkammer vorbereiten. Schon möglich, die Sowjets hielten es damals kaum anders und hatten ebenfalls hübsche Plaketten an ihren Raumsonden. Kinderchen tanzen im Reigen um ihren Erzieher oder einen sprossenden Baum, an dem eins von den bekannten lächelnden Stalin- oder Podgorny-Plakaten hängt. »Unser Papa wird sich euer schon annehmen«, bedeudet das.

Näheres über die unerwartet lange Laufbahn von Pioneer 10 (letzter Funkkontakt 2003, Entfernung 12 Milliarden Kilometer) meldete Christoph Gunkel am 12. Juni 2013: https://www.spiegel.de/geschichte/nasa-sonde-pioneer-10-a-951151.html.



Für Hans Platschek (1923–2000) hat Brockhaus nur wenige Zeilen, obwohl er ein »Multitalent« war, nämlich Maler, Essayist, Hochschullehrer und einer der letzten unverbesserlichen RaucherInnen. In seinen mittleren Jahren hatte der vielgereiste Künstler so manchen Kollegen, der sich nicht der jeweils gerade angesagten Malmasche versagte, mit einer Reihe von Aufsätzen vor den Kopf gestoßen, die 1984 gebündelt im gelb eingeschlagenen Suhrkamp-Taschenbuch Über die Dummheit in der Malerei zu lesen waren. Im gehobenen Ton des Feuilletons gehalten, sprachen sie zwar streckenweise in Rätseln und auf Verdacht Dinge aus, die etwa Robert Gernhardt (möglicherweise von Platschek angeregt) schlichter und überzeugender sagte, pochten dabei aber gleichfalls und erkennbar auf handwerkliches Können gepaart mit kritischer Haltung. Diese angriffslustigen Ausfälle konnten weder Platscheks berufliche Laufbahn durchkreuzen noch sein Älterwerden verhindern. Im Spätsommer 1999 gelang es dem erheblich jüngeren Kunsthistoriker Christian Demand, »nach vielem Drängen« von dem 76jährigen zu Hause empfangen zu werden. Platschek lebte seit 1970 vorwiegend in Hamburg, dabei zuletzt in einer Atelier-Wohnung am Grindelberg, die ihm der Senat mietfrei zur Verfügung gestellt hatte. Bei seinem dortigen Besuch sei nicht nur Platscheks körperliche Hinfälligkeit offensichtlich gewesen, so Demand; der vielgelobte Essayist habe auch Mühe gehabt, sich zu artikulieren, und öfter den Faden verloren. Als dann »ein Pfleger« das Abendbrot brachte, zog sich Demand wohlweislich zurück, wie er 2013 im Merkur berichtet.*

Sich auf diesen Besuch einzulassen, dürfte bereits der erste Fehler Platscheks gewesen sein. Der zweite war dann die Zigarette. Wenige Monate später wurde er in seiner Wohnung tot aufgefunden, wie dem Hamburger Abendblatt am 11. Februar 2000 zu entnehmen war. Die Polizei habe Spuren eines vermutlich durch eine Zigarette ausgelösten Schwelbrandes entdeckt. Anscheinend sei Platschek, inzwischen knapp 77, erstickt. Da werden wohl einige Nachbarn aufgeatmet haben: weil ihnen das Schicksal – um nicht von gewissen malenden und schreibenden Moralisten zu sprechen – keine Feuersbrunst zugemutet hatte. Nebenbei hat sich die Zigarette im Laufe der Jahre in eine Zigarre verwandelt, genauer in Platscheks »geliebte Havanna«, wie ich diesmal der Hamburger Morgenpost entnehme.**

* Christian Demand, http://www.merkur-zeitschrift.de/2013/05/02/kurzer-nachtrag-zu-hans-platschek/, 2. Mai 2013
** Ute Gebauer, https://www.mopo.de/rausgehen/plan7/ein-genialer-unbequemer-geist-hans-platschek-ausstellung-in-hamburg/, 23. Juni 2024

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