Mittwoch, 19. Juni 2024
Risse im Brockhaus 24

Den Schwaben Ottmar Maag († 1946) übergeht die Brockhaus-Redaktion, weil er nur Landwirt und Mord-opfer war. In einem Spiegel-Beitrag über krasse Justizfälle sind ihm immerhin drei kurze Absätze gewidmet.* Grundsätzlich passen die Angaben über Maag in einen Strohhalm. Selbst G. H. Mostar, dem wir eine ausführliche Darstellung des Falles verdanken**, verschweigt das Alter des Bauern, der in Gemmingen bei Heilbronn einen »großen Hof« betrieb. Man darf es aber wohl auf Mitte 40 schätzen, zumal Maag erst Anfang 1945 zur Wehrmacht eingezogen worden war, also zum letzten Aufgebot, unter all den anderen Greisen und Pimpfen. Er hatte Glück und kehrte schon im Dezember des Jahres aus der Gefangenschaft zu seiner Frau Erika auf den gemeinsamen Hof zurück. Gleichwohl heißt es, die inzwischen 36jährige Gattin, laut Mostar eine »kräftige, resche Brünette«, habe auch dieses knappe Jahr emsig zu sogenannten Seitensprüngen genutzt. Zuletzt hatte sich ihre Begierde auf den 34jährigen Knecht des Hofes Wilhelm Lang gerichtet, der diese auch erwiderte. Wie sich versteht, bekam Maag Wind davon. Somit hatte der schmächtige Lang ein erstklassiges Mordmotiv zu bieten: zum Verlangen nach der »Reschen« auch noch das Streben nach dem Hof, und in der Tat sollte ihm diese Offenkundigkeit um ein Haar das Genick brechen.

Allerdings hätten zwei Dinge eigentlich in der lieben Dorfgemeinschaft und bei der Kriminalpolizei bekannt gewesen sein müssen: 1. Erika hatte sich bereits vor dem Tatmonat Februar 1946 wieder von ihrem Geliebten Lang abgewandt, 2. der Hof gehörte nicht dem Mordopfer Maag, vielmehr dessen Mutter, die ihn nie und nimmer an Lang herausgerückt hätte. Aber die schöne passende Theorie häufte ein Fuder Heu auf diese Tatsachen. Nach ihr wurde der kränkliche Bauer Maag, der am fraglichen Februar-abend mit einer Helferin an der Rübenhäkselmaschine stand, durch einen Schuß durchs bis dahin mit einem Sack verstopfte »Deichselloch« aus seiner Scheune gelockt. »Verdammt!« habe er nach Aussage der Helferin geflucht. »Jetzt schießen sie schon auf mich!«

Auch diese »sie« ließen DörflerInnen und Polizisten so rasch wie möglich unter den Tisch fallen. Das bedeutet, sie gaben sich alle Mühe zu beweisen, daß draußen, auf dem Feldweg hinter der Scheune und der angrenzenden Fohlenkoppel, keine unbekannten Dritten ihr Unwesen getrieben hatten. Tatsächlich hatte es freilich in jenen ersten Monaten nach Kriegsende auch in und bei Gem-mingen etliche gewalttätige, teils bewaffnete Übergriffe von Plünderern und mutmaßlichen Rächern gegeben. Man glaubte, vor allem ehemalige landwirtschaftliche Zwangs- und FremdarbeiterInnen, etwa Polen, hätten darin ihre Wut auf die nun »besiegten« UnterdrückerInnen ausgelassen. Wenn ja, dann sicherlich nicht unverständ-licherweise. Auch von Ottmar und Erika Maag war laut Mostar bekannt, daß sie ihre »FremdarbeiterInnen« gelegentlich geschlagen und ansonsten wohl kaum auf Rosen gebettet hatten. Ich nehme von daher an, der nun beschossene »Großbauer« Maag sei vor dem Kriegsende eher ein Freund als ein Feind der Nazis gewesen. Ähnliches scheint mir für ganz Gemmingen zu gelten. Mostar bemerkt wiederholt, wichtige Entlastungen für den des Mordes angeklagten Knecht Lang seien von örtlichen Zeugen auch deshalb so erschreckend lang zurückgehalten worden, weil diese Leute Angst hatten – weil sie nämlich »Dreck am Stecken« hatten und nun das Rampenlicht eines spektakulären Kriminalfalles doch lieber mieden.

So verzichtete auch die herbeigeilte Landgendarmerie darauf, wichtige Spuren zu sichern, Fußabdrücke oder Patronenhülsen auf dem Feldweg etwa, zumal es auch noch regnete. Maag war hinter die Scheune gerannt und suchte dort das Gelände gemeinsam mit Lang, der aus dem Pferdestall dazugekommen sein wollte, nach Strolchen ab. Dabei wurde hinterhältig auf ihn geschossen. Alle behaupteten zunächst, der Schütze im Dunkel sei Lang gewesen, der schräg hinter seinem Arbeitgeber gelaufen sei. Allerdings bemühte sich Lang sofort um das noch stöhnende Opfer, alarmierte Bäuerin und Magd, die sich vor Schreck verkrochen hatten, und half Maag in die Küche tragen. Der Bauer starb eine Woche später, am 3. März 1946, im Krankenhaus. Soweit er noch hatte sprechen können, waren seine Aussagen undeutlich und widersprüchlich. Aber bald trat ja der Karlsruher Kriminalsekretär Anton Götz in Aktion, der entschlossen war, für klare Verhältnisse zu sorgen. Er unterbreitete der Staatsanwaltschaft immer neuen »Indizien«, die seine Voreingenommenheit untermauerten, Lang sei der Übeltäter. Nebenbei: die Tatwaffe wurde nie gefunden.

Es kam, wie es kommen mußte. Im Oktober 1947 wurde Lang vom Landgericht Heidelberg zu Lebenslänglich verurteilt, wobei sogar die Todesstrafe im Raume schwebte. Bei diesem Urteil blieb es auch in der Revision. Doch immerhin, Langs neuer Verteidiger Schwander erkämpfte im Verein mit dem leider später verunglückten Privatdetektiv Heinz Lay ein Wiederaufnahmeverfahren, das 1953 ebenfalls in Heidelberg stattfand. Lay hatte zum Beispiel nachweisen können, daß wichtige örtliche Zeugen von der Sippe Maag zu genehmen Aussagen erpreßt worden waren. Hier muß auch die mehr als zwielichtige Rolle von Gattin Erika erwähnt werden. Ihre Liebe zu Lang hatte sich nach ihrer Versöhnung mit Ottmar Maag (auf dem Sterbelager) offensichtlich, wie Mostar meint, in Haß auf Lang verwandelt. Das Urteil war nicht unwesentlich auf eben ihre Aussagen gebaut worden, die in ihrer Parteilichkeit und Widersprüchlichkeit für jeden unbefangenen Beobachter keinen Pfifferling wert waren. Dieses Fehlurteil kam lediglich durch eine eher zufällig platzende Prozeßbombe zu Fall. Bei der Vernehmung des Kriminalinspektors Götz traten Ungereimtheiten auf, die den Richter in dessen Werdegang und Personalakte nachbohren ließen. Danach litt Götz seit Jahren, offiziell bescheinigt, an »Schizophrenie«. Er bestätigte es persönlich mit leiser Stimme vor Gericht. Publikum und Presse machten tellergroße Augen: Die Ermittlungen, die Lang bis dahin rund sieben Jahre Haft und 20 Fuder Gram eingebracht hatten, waren von einem Geisteskranken durchgeführt worden!

Während Götz alsbald pensioniert wurde, konnte Wilhelm Lang das Landgericht am 23. September 1953 »wegen Mangels an begründetem Verdacht« mit einem Freispruch verlassen. Er bekam zudem Entschädigung zugesprochen, wobei allerdings selbst der vorsitzende Richter Munzinger einräumte, das Unrecht, das Lang erlitten habe, sei niemals »wiedergutzumachen«. Unser neuzeitliches Verfahren der Rechtsprechung selber bezweifelte Munzinger nicht. Der 1973 verstorbene Schriftsteller und Kabarettist G. H. Mostar dagegen, lange Jahre in Stuttgart Gerichtsreporter, deutet die Alternative immerhin an, wenn er vom Wert der »Dorfgemeinschaft, dieser einzigen echten und wahren Öffentlichkeit«, als Prospekt einer lebensnahen und nicht fremdbestimmten Justiz spricht, die auch jene Buchstabengläubigkeit unterliefe, die ich bereits mehrmals andernorts beklagt habe. Selbstver-ständlich vermiede sie die Widersprüche und auch die Gehässigkeiten nicht – ganz im Gegenteil: sie würde sie unweigerlich aufdecken, weil jeder jeden kennt. Die Rechtsprechung müßte bei denen bleiben, die von ihr betroffen sind. Gewiß zögen sie unbefangene RatgeberInnen von außen herbei, doch der Ausgang des von vorne bis hinten »transparenten« Verfahrens läge allein in der Hand dieser Betroffenen. Alles andere ist kalte Rechtsmaschinerie, Mühle des Teufels, nebenbei auch sündhaft kostspielig.

* »Irrtum inklusive«, in Nr. 44/1964
** »Der Fall Wilhelm Lang«, in: Mostar/Stemmle (Hrsg): Unschuldig verurteilt!, München 1968, ursprünglich Stuttgart 1956




Den Sohn eines Prager Graupenhändlers, vielleicht auch Müllers Karel Hynek Mácha (1810–36) adelt Brockhaus mal wieder durch das »Dichter«-Prädikat. Er war also mehr als ein schlichter Versschmied. Zu Lebzeiten sei er »unterschätzt« und »abgelehnt« worden. In der Tat kam der Ärmste erst nach 1918 in die Schulbücher, soweit ich weiß. Inzwischen hält ihn der Kanon für den bedeu-tendsten Lyriker der tschechischen Romantik. Sein Freund und Verehrer Karel Sabina, ein wenig bekannter Schlawiner, obwohl er Smetana das Libretto zur Verkauften Braut lieferte, wußte es bereits neun Jahre nach Máchas Tod, wie Sabinas Studie Úvod povahopisný von 1845 beweist.

Der Wanderer Mácha liebte Burgen und Ruinen, die er häufig zeichnete, ansonsten verfaßte er eben Gedichte, obwohl er offiziell Jura studierte. 1836 war er als Praktikant von einer Rechtsanwaltskanzlei in Leitmeritz (Litoměřice) angenommen worden. Nach einigen Patrioten soll er sich jedoch, mit knapp 26, schon am 23. Oktober des Jahres im uneigennützigen, wenn nicht gar heldenhaften Kampf gegen einen Großbrand eine tödliche Lungenentzündung zugezogen haben: weil er sich bei den Löscharbeiten stark erkältet habe. Andere Quellen behaupten, er habe wegen der Hitze auf den Dächern öfter an den Eimern mit Löschwasser genippt und sich dadurch die Cholera geholt. Dem neigt auch Radio Prag zu.* Nach diesem Beitrag hatte Mácha bereits in den Wochen vorher über körperliche Schwäche, zudem seine Einsamkeit ge-klagt. Am 6. November hauchte er jedenfalls sein Leben aus.

Immerhin war schon im April sein Versepos Máy (Der Mai) erschienen – allerdings mit sehr geringer Resonanz. Heute gilt es als sein Hauptwerk. Hier darf man Enttäuschung vermuten, die Mácha aufs Gemüt schlug. Zudem starb er nur wenige Tage vor seiner anberaumten Hochzeit mit Eleonora Šomková, die ein uneheliches Kind von ihm geboren hatte. Ob er in der Ehe glücklicher als im Sarg geworden wäre, könnte natürlich mancher bezweifeln.

* Marketa Maurova / Ludmila Ruzenecka, »Litomerice«, 11. Oktober 2003: https://deutsch.radio.cz/litomerice-letzter-halt-des-romantischen-wanderers-karel-hynek-macha-8079032



Wie es aussieht, liegt das gewaltsame Ende des schwarzen gelernten Krankenpflegers, später Partisanenchefs Samora Machel (1933–86) nach wie vor im Dunkeln. Machel war zuletzt Staatspräsident der im Befreiungs-kampf gegen die Portugiesen errungenen Volksrepublik Mosambik gewesen. Er galt als Freund des »Ostblocks« und drückte sogar einmal Margot Honecker die Hand. Im Oktober 1986 saß der inzwischen 53jährige in einer Regierungsmaschine mit Ziel Maputo, Mosambik. Sie stürzte jedoch bei Mbuzini, Südafrika, in den Lebombobergen ab. Näheres schildert der sächsische Lehrer und »Entwicklungshelfer« aus der DDR Rainer Grajek, Jahrgang 1937, der damals in Machels Land lebte und wirkte. Grajek behauptet*, nach vielen Vertuschungs-versuchen habe sich neuerdings die Erkenntnis durchgesetzt, die Maschine sei vom damaligen Apartheidregime Südafrikas »vorsätzlich zum Absturz gebracht« worden. Eine endgültige Aufklärung stehe gleichwohl noch aus. Als Opferzahlen gibt Grajek, mit einigen Belegen, 35 Tote und 9 Überlebende an. An Bord seien 44 Personen gewesen.

Brockhaus spricht nur von einem »Flugzeugabsturz«. In Band 14 (Mocambique, 1991) erklärt er die Angelegenheit freilich zu einem »Unfalltod«. Machel, vom kommunistischen Lager im Stich gelassen oder jedenfalls vernachlässigt, habe zuletzt Kurs auf den Westen genommen. Das habe sein Nachfolger De Chissano fortgesetzt. Trotzdem führt Tim Weiner (2007) Machel nicht im Register seiner CIA-Geschichte auf. Er umreißt allerdings in einer Anmerkung (S. 814) die abenteuerlichen Bemühungen des wohl schon von einem Hirntumor befallenen CIA-Chefs Bill (William) Casey, die gegen das Machel-Regime operierende Rebellen- oder Schurken-gruppe Renamo zu unterstützen. Weiner schreibt diesem Verein furchtbare Grausamkeiten zu. Casey war von 1981 bis zu seinem Tod 1987 CIA-Direktor. Sein Staatspräsident war Ronald Reagan.

* Webseite Rainer Grajek: http://www.rainergrajek.de/wie-viele-menschen-kamen-beim-tod-samora-machels-ums-leben/, 10. September 2009, aktualisiert 2021



Im Gegensatz zu seinem Kollegen Charles Macklin (c.1700–97), der sich zur Tatzeit bereits auf dem Weg zum Ruhm befand, muß der britische Schauspieler Thomas Hallam († 1735) geradezu unbedeutend gewesen sein. Man findet noch nicht einmal Geburtsdaten oder Altersangaben. Um diesem Mißstand vorzubeugen, hätte ihn Macklin, der auch als großer Hitzkopf galt, im Jahr 1735 in der Künstlergarderobe des Londoner Drury Lane Theatres mindestens enthaupten und vierteilen müssen. So aber genügte ein Stich. Am verhängnisvollen Tage war zwischen den beiden Schauspielern ein törichter Streit um ein Requisit entbrannt: eine nagelneue prächtige Perücke. Man zerrte an ihr, beschimpfte und boxte sich – und plötzlich stieß der ungefähr 35 Jahre alte Macklin, übrigens ein Ire, mit seinem vermutlich angespitzten, vielleicht sogar mit Eisen beschlagenen Spazierstock zu. Dieser schnöde Stock fuhr Hallam »unglücklich« ins linke Auge und dann ins Gehirn. Am nächsten Tag war Hallam mausetot, obwohl er gar nicht Hamlet hieß. Da es Augen-zeugen gab, wie verschiedene Quellen übereinstimmend betonen, konnte sich Macklin nicht herausreden. Das Gericht erkannte aber »nur« auf versehentlichen Totschlag*. Wahrscheinlich kam Macklin sogar ohne nennenswerte Bestrafung davon. Stadthistoriker Paterson spricht von einer »kalten« Abstempelung – statt einer Brandzeichnung, wie bei Pferden oder Schafen. Hier und dort wird auch gemunkelt, Schauspieler Macklin habe, nach dem Stich mit dem Stock, ein kleines Bestechungs-geld eingesetzt. Die Londoner Massen sollen ihm zum Teil böse gewesen sein. Dies alles konnte freilich nicht an Macklins Weg in Brockhaus Band 13 rütteln, wo er 12 Zeilen hat. Hallams Leiche kommt darin nicht vor.

* Mike Paterson, https://londonhistorians.wordpress.com/2017/01/23/charles-macklin/



Die Tochter eines Bonner Architektenpaares war Fliegerin geworden. Nun hieß sie aber nicht Rita Metermaid oder wenigstens Charles Lindbergh, und deshalb blieb Rita Maiburg (1952–77) im Brockhaus unberücksichtigt. Das nenne ich einen Fehler. Schließlich war Maiburg, ab 1976, nicht nur der erste weibliche Flugkapitän im Liniendienst zumindest der westlichen Hemisphäre. Sondern ihre Laufbahn endete keineswegs in der Luft! Das könnte man sogar witzig nennen, hatte sie doch zunächst einen Prozeß führen müssen, bis sie um 1975 Aufmerksamkeit und erneut eine Anstellung als Pilotin bekam, wenn auch nicht bei der beklagten Lufthansa. Sie flog für DLT.

Allerdings hatte sich dieser Job bald erledigt. Am 2. September 1977 frühmorgens auf dem Weg zum Flughafen Münster-Osnabrück, Greven, wo sie das Cockpit einer Short 3-30 (30 Sitze) mit Ziel Frankfurt/Main zu erklimmen gedachte, stieß die 25jährige grünäugige und langmähnige Blondine, Größe 1,73, mit ihrem Auto frontal mit einem Milchtankwagen zusammen. Nach einem Sachbuchautor* sah es draußen ähnlich wie im Tankwagen aus: Nebel. Eine Woche später erlag Maiburg in einem Grevener Krankenhaus ihren schweren Verletzungen und sah gar nichts mehr.

Dafür gibt es aber inzwischen schon mehrere Rita-Maiburg-Straßen in Deutschland, wie ich anderen Quellen entnehme. Alle FußgängerInnen, die nicht blind und keine Analphabeten sind, werden Rita lieben. Und sie werden sich auch einen Roman über Rita besorgen, der kürzlich erschienen und kongenial besprochen worden ist. Für Maiburgs tödlichen Autounfall (mit 25) hatte die Rezen-sentin (falls es eine war) keinen Platz mehr.** Schließlich ist die Gießener Allgemeine nicht die Londoner Times.

* Ernst Probst, Buchauszug auf FF (FlugzeugForum.de), 14. Februar 2006: http://www.flugzeugforum.de/threads/30307-Rita-Maiburg-Der-erste-weibliche-Flugkapitaen
** https://www.giessener-allgemeine.de/kultur/eine-mutige-frau-kaempft-sich-ins-cockpit-90313289.html, 1. April 2021




Am 4. April 1968 wurde der berühmte schwarze Bürgerrechtler Martin Luther King (39) auf einem Hotel-Balkon in Memphis, Tennessee, von tödlichen Schüssen getroffen. Als Täter verurteilte man später den angeblichen erklärten Rassisten James Earl Ray. Der Fall ist bis heute umstritten. Schon drei Jahre früher war in New York City ein populärer Gegenspieler Kings mutmaßlich von ehemaligen Weggefährten (aus den Reihen der muslimischen Nation of Islam) erschossen worden: der gleichaltrige, aber ungleich radikalere Malcolm X (1925–65), der King zu den zahmen »Hausnegern« der USA gezählt hatte. Er wohnte mit Frau und Kindern in NYC und hatte gerade einen öffentlichen Vortrag gehalten. Malcoms Vermächtnis ging in der bald darauf gegründeten Black Panther Party auf.* Brockhaus meldet ihn verschwommen als »ermordet«, hebt aber immerhin seinen großen Einfluß auf die schwarze US-Bevölkerung hervor. Seine gedruckten Erinnerungen gölten als »Klassiker afroamerikanischer Selbstdarstellung«. Einige ForscherInnen glauben, die Täter seien vom FBI, das Malcolm überwachte, zu dem Mord angestiftet worden. Wenige Jahre später wurde, nebenbei bemerkt, der Aktivist der Black Panther Party Fred Hampton (21), Vorsitzender der Sektion Illinois, in Chicago, nach Vorarbeit von Agenten, mitten in der Nacht von einem Rudel Polizisten im Schlaf überrascht und erschossen. Das war am 4. Dezember 1969. Demnach hatten in diesem Fall Gepflogenheiten des bürgerlichen Rechtsstaates der Gefahr im Verzuge zu weichen, die in Hamptons Traumleben lauerte. Sogar die englische (angelsächsische) Wikipedia räumt ein, nach jüngstem Forschungsstand könne eigentlich nur von einem staatlich gelenkten Mord gesprochen werden.

* https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/201549/vor-53-jahren-ermordung-von-malcolm-x/, 20. Februar 2018



1991 (Band 14) müssen die Malediven, ein vielgliedriger Inselstaat im Indischen Ozean, noch ein Paradies gewesen sein. Sie hätten Kokospalmen, weiße Sandstrände und bezaubernde Korallenriffe, schreibt Brockhaus. Den Stand des Meeresspiegels streift das Lexikon nicht. Aber eben wegen diesem dürfte es den Inselstaat inzwischen nicht mehr geben. Es war so um 2000, als uns Klimaschützer-Innen damit in den Ohren lagen, der Indische Ozean steige unaufhaltsam an und drohe den Inselstaat demnächst zu verschlingen. Darüber habe ich mich allerdings schon andernorts lustig gemacht. Über mein Register-Stichwort »Klima« finden Sie sogar Argumente. Hier beschränke ich mich auf das Ergebnis meiner beflissenen jüngsten Nachforschungen im Internet: Gibt es die Malediven nun noch, oder sind sie folgsam gemäß der Weissagungen untergegangen?

Meine Güte! Kaum eine Recherche gestaltet sich schwerer, weil in den Suchanzeigen vor lauter Reisebüro- und ReiseleiterInnen-Schwärmereien kaum ein Durchkommen ist. Man müsse unbedingt sofort dahinfliegen. Die weißen Strände seien sogar mit Antihundekotspray behandelt worden. Und so weiter. Was die Beiträge himmelweit höher stehender Leidmedien angeht, ist alles beim Alten geblieben. Sie beten nach wie vor die Formeln und Phrasen der Jahrhundertwende nach. Schließlich wollen sie ihre Leidensmienen, also ihr Gesicht nicht verlieren. Skeptische Stellungnahmen finden sich kaum. Vielleicht sind die wachhabenden Suchmaschinen-Roboter inzwischen erheblich mehr auf Draht als die CIA-Bosse des vergangenen Jahrhunderts, die Tim Weiner (2007) Revue passieren läßt.

Die angenehmste Überraschung hat mir ein junger »preußischer« Beitrag* bereitet. Es kann nichts schaden, wenn auch Sie ihn lesen. Aus einigen anderen kritischen Quellen wird mir klar, daß die Erde keine Scheibe und der Meeresspiegel folglich keine hydraulisch anhebbare planetenbreite Fläche ist. Er unterliegt schon immer, gerade so wie das Klima überhaupt, sowohl historischen wie regionalen Schwankungen. Werden uns somit aus Hochrechnungen oder Prognosen gefilterte globale »Durchschnittswerte« vorgesetzt, sind sie ungefähr so tröstlich wie Mittelwerte irdischer Zweibeiner-Körpergrößen für verkrüppelte Menschen wie G. C. Lichtenberg oder Randolph Bourne. Im übrigen behaupten einige Autoren, wo der Meeresspiegel tatsächlich ansteige, wüchsen in der Regel auch, wohl dank der Korallenriffe, die Atolle mit. Die Landmassen nähmen zu.

* Wolfgang Kaufmann, »Die Mär vom Untergang der Südsee-Inseln«, Preußische Allgemeine, 7. April 2023: https://paz.de/artikel/die-maer-vom-untergang-der-suedsee-inseln-a8636.html. Von Wikipedia wird das Hamburger Wochenblatt der Landsmannschaft Ostpreußen übrigens als »neurechts« abgestempelt. Jetzt lesen Sie einmal den Unsinn, den die Mammut-Enzyklopädie in ihrem Malediven-Eintrag über das Problem der globalen Erwärmung verzapft. Falls es noch unabhängige Sportärzte gibt, werden sie Wikipedia ein Kilo krampflösender Kräutermischung verschreiben.



Für ihren frühen Tod findet Brockhaus, in 7 ½ Zeilen, kein Komma des Bedauerns. 1825, als die Opernsängerin am Londoner King's Theatre ihr Debüt als »Rosina« in Rossinis Barbier von Sevilla gab, war sie 17. Der Saal stand Kopf. Maria Malibran (1808–36), eine zierliche junge Französin aus spanischstämmigem, sehr musikalischem Hause, war schön und temperamentvoll, beherrschte etliche Instrumente sowie das Reiten, schrieb hinreißende Briefe – und singen konnte sie auch noch, Fach Mezzosopran. So wurde sie in den folgenden Jahren auf zwei Kontinenten als erste Diva der Operngeschichte gefeiert – um nicht zu sagen: angebetet. Der deutsche Journalist Ludwig Börne etwa stammelte Anfang 1831 in einem Brief aus Paris: »Fragen Sie mich: hat sie das gesprochen, gesungen, mit Gebärden so dargestellt? Ich weiß es nicht. Es war alles verschmolzen. Sie sang nicht bloß mit dem Munde, alle Glieder ihres Körpers sangen. Die Töne sprühten wie Funken aus ihren Augen, aus ihren Fingern hervor, sie flossen von ihren Haaren herab. Sie sang noch, wenn sie schwieg.«

Der Nachwuchsstar reiste zunächst mit der Truppe des Vaters Manuel Garcia umher, einem bekannten Tenor, Gesangslehrer und Komponisten. In New York bissen Maria oder ihr Erzeuger – das ist in der Literatur umstritten* – auf einen gesetzten, wenn auch noch begeisterungsfähigen Herrn namens François Eugène Malibran an. Zwar war der Mann 27 Jahre älter als Maria, jedoch Bankier. Manche vermuten, sie heiratete ihn, weil sie auf diese Weise den Fängen ihres tyrannischen Vaters zu entkommen glaubte. Dummerweise ging ihr Gatte nach wenigen Monaten bankrott. Ein Jahr darauf, 1827, kehrte sie ihm und dem Gelobten Land den Rücken. Ab ungefähr 1830 lebte sie, teils in Brüssel, mit dem belgischen Geiger und Komponisten Charles de Beriot zusammen, den sie, nach langwieriger Scheidung von ihrem US-Gatten, 1836 auch heiratete. Als Hochzeitsgeschenk Felix Mendelssohn-Bartholdys kann die Konzertarie Infelice für Sopran und Orchester gelten, die er der Diva (1834) »auf die Stimme geschrieben« haben soll. Das Ehepaar bekam ein Kind. Im April 1836 mußte Malibran unbedingt an einer berittenen Jagd im Londoner Hyde Park teilnehmen. Sie fiel vom Pferd, trat aber trotz einiger Knochenbrüche und offenbar auch innerer Verletzungen weiter auf, war sie doch ein Arbeitstier oder galt zumindest als solches, sodaß sie also auch diesen Ruf zu verlieren hatte. Zu allem Unglück wurde sie in jenen Monaten erneut schwanger, was ihre Genesung vermutlich noch erschwerte. Ein knappes halbes Jahr nach dem Sturz erlag die 28jährige dessen Folgen.

Sie wurde an ihrem Sterbeort Manchester begraben. Dabei sollen die Straßen von 50.000 Trauernden gesäumt worden sein. In Venedig ist ein Theater nach der Operndiva mit dem Zigeunerflair benannt. Die Spanier, so heißt es, nennen sie zärtlich La Mariquita. Jedenfalls ein paar von ihnen.

* Anke Charton, Hamburger Hochschule für Musik und Theater, http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Maria_Malibran, 12. Juni 2015



Ich staune zum wiederholten Male, zu welchen beträchtlichen Opfern viele Völker bereit sind, um ihren Führungskräften ein gutes Leben oder Sterben zu ermöglichen. Brockhaus stellt die bei Mexiko City gelegene aztekische Kultstätte Malinalco vor, die (auf knapp 2.000 Meter Höhe) im wesentlichen aus einem eher kleinen Rundtempel besteht. Der jedoch wurde um 1500 vorwiegend aus gewachsenem Fels gehauenen. »Den Eingang bildet ein Schlangenrachen. Im runden Innern befindet sich eine breite Rundbank, die drei aus dem Fels gehaune Throne trägt: zwei in Form eines Adlers, einen in Form eines Jaguars. In der Mitte des Raums steht eine altarähnliche Adlerskulptur.« Bei dieser soll, nach anderen Quellen, auch eine Mulde zu sehen sein, wohl für Opfer. Die entscheidenden Opfer dürften freilich die Leute erbracht haben, die hier, vielleicht über Jahre hinweg, mit Hammer und Meißel am Werke waren. Ob sie dann ebenfalls geschlachtet wurden, obwohl sie gar nichts mehr auf den Rippen hatten, kann ich nicht sagen.

Manche ForscherInnen vermuten, der Rundtempel habe dazu gedient, aztekische Adlige in die militärischen Orden der Adler- und Jaguarkrieger aufzunehmen. Trifft das zu, war die Mulde (oder Vertiefung) hinter dem Adler wohl nur für Murmeltiere gedacht, so klein, wie sie auf diesem Foto wirkt. Links im Bild der Jaguarthron.

Eine spanische Quelle behauptet, die Kultstätte sei »vom Kaiser Axayácatl erbaut« worden. Das muß ein Herkules gewesen sein. Möglicherweise war er mit seiner Arbeit noch nach 300 Jahren nicht fertig. Auf den heutigen Touristen wirkt die ganze Tempelanlage so oder so wie eine sonderangefertigte Ruinenstätte. Mal sehen, wieviel Jahre die neuen rotgrüngelben germanischen KaiserInnen benötigen, um nach Rußland auch Deutschland zu rui-nieren. Sie machen alles selber. Und die wahlberechtigten Schafe – nicht etwa Jaguare – erdulden es und gehen pflichtbewußt ihren »prekären« Jobs als Pizzaboten, WerbegrafikerInnen oder Packer bei Amazon nach. Das ist ihre postmoderne Form des Opferns. Werden die KaiserInnen nach der nächsten Wahl von AfD oder BSW gestellt, bejubeln die Nichtjaguare die Geschmeidigkeit der Demokratie.



Über den englischen Arzt, Philosophen und oft zitierten Schriftsteller Bernard de Mandeville (1670–1733) teilt uns Brockhaus abschließend mit: »Seine These, daß durch Zusammenspiel egoistischer Einzelinteressen ein höchster Gesamtnutzen erzielbar sei, wurde beispielhaft für die klassische Schule der Nationalökonomie.« Damit ahnen wir zweierlei. 1.) Sein schon mehrmals beklagtes daß-Virus wird unser Universallexikon nicht so schnell los. Warum läßt es daß nicht einfach weg und rückt dafür sei hinter das Wort »Einzelinteressen«? Weil es verseucht ist – ein Fall für Mandeville als Arzt. 2.) Liegt schon mit dem einen Satz die entscheidende Kritik am Politökonomen Mandeville auf der Hand. Sie lautet, hinter solchen hochtrabenden Formeln wie »Gesamtnutzen« oder »Wohl des Staates« oder »Gemeinwohl« versteckten sich natürlich nur die grinsenden Visagen der Kapitalisten und ihrer Marionetten in den Regierungen und Parteien.

Wer das etwas mehr ausgeführt haben möchte, schlage einmal im Schwarzbuch Kapitalismus des neulich verstorbenen Autors Robert Kurz nach, Ausgabe Ffm 1999, S. 46–52. Kurz nimmt sich vor allem Mandevilles berühmte Bienenfabel vor, die einen geradezu »ätzenden Zynismus« atme. Man frage sich deshalb mitunter bis heute, ob er mit seiner brutalen Apologie der »Markt-wirtschaft« nicht in Wahrheit eine »grimmige Satire« auf dieselbe vorzulegen gedachte. Aber diese Zwiedeutigkeit stecke wohl in der Natur der Sache. Danach könne jede offene, ungeschminkte Rechtfertigung dieses Gesellschaftssystems auch als vernichtende Kritik gelesen werden. Da ist etwas dran. Deshalb hüten sich ja unsere im Berliner Regierungsviertel malochenden rotgrüngelben Staatsdrohnen davor, in ihren Reden und Gesetzentwürfen auch nur ein Wort Klartext zu sprechen. Politik hat sich überlebt. Der Spätkapitalismus kann in seiner Elite nur noch emsige PR-ArbeiterInnen gebrauchen. Überredungs-kunst ist gefragt.



Neben zahlreichen Briefen und Notizen hinterließ die britisch-neuseeländische Schriftstellerin Katherine Mansfield (1888–1923) rund 70 in der Regel kurze Erzählungen. Sie war mit D. H. Lawrence, Viginia Woolf und dem Philosophen Bertrand Russel befreundet, der angeblich gern ihr Liebhaber geworden wäre. Auf Fotografien wirkt sie blaß, dünnlippig und zerbrechlich. In der Tat hatte sie sich 1923 als 34jährige in die endlose Kette der Särge mit Tuberkulose-Opfern einzureihen. Auch sonst war Mansfield vom Leben nicht gerade auf Rosen gebettet worden: zwei gescheiterte oder fadenscheinige Ehen, eine Totgeburt, Tripper, ein im Ersten Weltkrieg gefallener Bruder, an dem sie sehr gehangen hatte, Nervenkrieg mit ihrer langjährigen Freundin, Pflegerin, vielleicht auch Geliebten Ida Baker und dergleichen mehr. Andererseits hatte Rivalin Woolf eine »japanische Puppe«, Lawrence »eine widerwärtige Schlange« gesehen, schätzte sie doch auch Intrigen, wenn wir Annette Meyhöfers Darstellung* glauben dürfen. Und als Autorin hatte Mansfield keineswegs unter Verkennung zu leiden. Der Vater, Bankier in Neuseelands Hauptstadt Wellington, ließ sie nach London gehen, ließ sie studieren, was sie wollte, und gewährte ihr regelmäßige Schecks. 1910 erschien ihr erstes Buch mit Erzählungen.

Am erstaunlichsten ist ihr anhaltender Nachruhm. Internet-Suchmaschinen liefern Trefferfluten. Allein die Listen der »Sekundärliteratur« in diversen Nachschlagewerken füllen je eine Buchseite. Selbst Brockhaus lobt Mansfield (in einer halben Spalte) über den Klee. Möglicherweise verdankt sich die auffallend breite Resonanz auf ihr eher schmales Werk zumindest teilweise dem bekannten Schicksals-Bonus, nämlich ihrem vergleichsweise ungewöhnlichen und harten Los. Ihr Werk allein hätte das niemals geschafft. Wird es gleichwohl von einigen »Literaturwissenschaftlern« kurzerhand in die Nähe von Tschechow gerückt, muß man sich wirklich fragen, ob diese Herren oder Damen ihre Augen in den Fersen oder in der Bauchhöhle haben. Was Mansfield vor allem fehlt, ist der soziale Blick. Sie kreist um private Mittelstandssorgen; das ganze Elend der Welt ist ihr unbekannt. Ins Detail geht sie bis zur Folterung (des Lesers), nur von Zusammenhängen will sie nichts wissen. Da hätte ihr sogar Russel gut getan. Man hat ihre handlungsarmen Erzählungen »Charakterstudien« genannt – aber wo böte sie psychologische Erkenntnisse? Sie zeigt uns: so ist dieser Mensch – und so soll er gefälligst bleiben. Es ist eine in jeder Hinsicht passive, kraftlose, letztlich aber zynische Prosa. Tschechow dagegen liebte die Menschen.

Begehren Mansfields Sätze beziehungsweise Figuren gelegentlich auf, dann in belanglosen Dingen oder im Traum. Das hat natürlich auch einen gewissen Reiz – zumal für AnhängerInnen eines Billardspiels, bei dem rote Kugeln vorherrschen. Während der Busch im Hitzedunst flimmert, hat sich »Trouts Hund Snooker mitten auf der sandigen Landstraße hingelegt. Das blaue Auge nach oben verdreht, die Beine steif von sich gestreckt, hechelte er und gab von Zeit zu Zeit verzweifelte Schnauftöne von sich, als ob er sagen wollte, er habe beschlossen, mit allem Schluß zu machen, und warte nur noch darauf, daß ein freundliches Gefährt daherkäme.« So in der Erzählung An der Bucht von 1922. Snookers anderes, gegen den Sand gerichtetes Auge war vermutlich pink oder schwarz.

* Annette Meyhöfer am 7. Oktober 2012 auf https://www.deutschlandfunk.de/die-meisterin-der-short-story.700.de.html?dram:article_id=223397



Der oder das Maquis – das waren im Französischen eigentlich »die Buschwaldgebiete im Mittelmeerraum, die von alters her politisch Verfolgten und Straftätern als Versteck dienten«, wie Brockhaus mich dankenswerter-weise belehrt. Dann ging der Begriff auf jenes Maquis und jene Maquisarden (Partisanen) über, denen der Brite Millar sein bekanntestes Buch verdankt. Im Brockhaus fehlt dieser Mann.

George Millar (1910–2005) war von Hause aus Schotte und Journalist. 1937 verheiratete er sich mit einer Generals-tochter. Nach Korrespondententätigkeit in Paris wurde er, im Zuge des Kriegsausbruchs, Soldat. Verwundungen und Gefangenschaften überwand er. 1944, inzwischen Captain (wohl dem Hauptmann vergleichbar), ließ er sich mit dem Fallschirm über dem deutsch besetzten Frankreich abwerfen, um nun, in der Gegend von Dijon und Besancon (Burgund), für einige Monate mit dem Maquis zusammen zu arbeiten. Diese Unterabteilung der bekannten Resistance übte vor allem Sabotage, etwa an Güterzügen und Bahndrehscheiben, was die britische Luftwaffe mit weiteren Sendungen von Waffen, Sprengstoffen, Banknotenbündeln und Geheimagenten unterstützte. Dem entsprang im nächsten Jahr Millars Buch Maquis. Laut deutschem Untertitel (EVA Hamburg o.J., Übersetzung Lino Rossi) geht es um »Widerstandskämpfer im besetzten Frankreich«. Das können Sie nach Belieben ein- oder mehrzahlig auffassen.

Das Buch läßt sich gut lesen. Wer nach Heldentum und Sensationen lüstern ist, dürfte es langweilig finden. Dafür pflegt es Anschaulichkeit, Aufrichtigkeit und einen britischen Humor, der nie Purzelbäume schlägt. Die Waldquartiere der Partisanen sind Kot- und Mückenlöcher. Was die im Winter gemacht hätten, wäre die Frage – aber vorher hört das Buch auf. Die Jagd nach Tabak ist fast so wichtig wie das Einsammeln der abgeworfenen britischen Waffen- und Munitionspakete. Manche Unternehmungen gelingen glänzend, aber in der Regel herrschen in diesem Maquis Chaos und Unzulänglichkeit. Millar selber, hier »Émile« genannt, verschweigt seinen Ärger und seine Ängste keineswegs. Andererseits scheint er aber auch weder Überschwang noch Haß oder Rachedurst zu kennen. Nach 500 Seiten hat man begriffen: dieser Mann ist aus dem Holz, aus dem postmoderne Journalisten und Offiziere geschnitzt werden. Auch mit politischen oder philosophischen Konzepten geben sie sich nicht ab. Ihr Geschäft ist ihre Arbeit. Und die haben sie möglichst professionell zu erledigen, einerlei für wen. Deshalb ziehen sie auch vor den Boches, den uniformierten deutschen Besatzern, den Hut, sofern sie gute Arbeit leisten oder beim elenden Rückzug nicht murren. Schließlich gerät man eher zufällig in die Geschäftsfelder, wie das scheue Rehwild. Man hat sich die Eltern und Hitlers Überfall auf Polen oder Paris nicht ausgesucht.

Mir persönlich kommt ein Befreiungskampf, der von Sendboten des Britischen Imperiums und der Bostoner Teaparty unterstützt wird, eher fragwürdig vor.* Dabei kann vielleicht nichts Besseres als das heutige Frankreich herauskommen. Aber vor allem hat mich der Krieg überhaupt erneut angewidert. Auch die burgundischen Buschkrieger kommen ja nicht umhin, mal eine wichtige Eisenbahnbrücke zu sprengen, mal einen skrupellosen, schleimigen Verräter hinzurichten. Im zweiten Fall halten sie gelegentlich »Kriegsgericht«, aber im Notfall muß es ja schnell gehen – weg mit ihm, Hinterkopfschuß. Damit will ich keineswegs den Eindruck erwecken, ich sei »Pazifist«. Die Situation möchte ich sehen, in der es ohne Gewaltanwendung ginge, in welcher Form auch immer. Aber vielleicht geht es in der betreffenden Situation ohne mich? Ein Patentrezept gibt es in dieser Hinsicht gar nicht. Vielmehr kommt es auf die Situation an. Und wenn ich mich ihr nicht gewachsen fühle, werde ich versuchen, ihr rechtzeitig aus dem Wege zu gehen. Später, nach drei oder zwölf Jahren, darf ich mich dann unter Umständen als Feigling, unsolidarischer Lump oder, von irgendeinem Herrn Reitmeier, etwas höflicher als »Innerer Emigrant« beschimpfen lassen.

Millar wurde für seinen soldatischen Einsatz hochdeko-riert. Er blieb jedoch beim Schreiben. Inzwischen hatte ihn die Generalstochter verlassen; dafür ging er eine zweite Ehe mit einer Diplomatentochter ein, Isabel. Sie fiel 1989 im Ersatzkrieg Straßenverkehr: Autounfall. Millar verfaßte etliche Bücher, befaßte sich aber auch mit Viehzucht und Segeln. Seine Ausflüge mit schmucken Yachten überlebte er ähnlich wie den Zweiten Weltkrieg. Mit 94 wurde er erstaunlich alt.

* Dazu trifft kurz vor Toresschluß dieser aufschlußreiche Artikel ein: „Wie man die NATO-Aggression gegen Russland rechtfertigt“, https://www.voltairenet.org/article221019.html, 11. Juni 2024. Der Autor Thierry Meyssan prangert darin die „erlogene Sicht der Landung der Alliierten am 6. Juni 1944“ an, die uns die Leidpresse gerade um die Ohren haut. Allgemeiner spricht er von der Lüge, die Angelsachsen hätten den Faschismus besiegt. In Wahrheit gebührt die Hauptehre natürlich der Sowjetunion, die einen gewaltigen Blutzoll zahlte. Ferner verhöhnt er das kopfstürzende Verfahren, Putin als „Diktator“, Selinski dagegen als „Demokraten“ hinzustellen. Zur angelsächsischen Landung in der Normandie stellt er fest, ihr Zweck sei keineswegs die Befreiung Frankreichs, vielmehr die Ablösung der Nazi-Besatzung durch die Alliierte Militärregierung der besetzten Gebiete (Allied Military Government of Occupied Territories, AMGOT) ins Werk zu setzen. Das untermauert er durch interessante Ausführungen von Charles De Gaulle.



Zu dem Architekten Werner March (1894–1976) wendet Brockhaus (in 5 ½ Zeilen) gleich den Millarschen »emotionslosen« Tonfall an. 1933–36 habe er für die Berliner Olympischen Spiele die Bauten des Reichssport-felds und das Stadion errichtet. »1953 wurde er Professor für Städtbau an der TU Berlin. 1958–66 erbaute er ein Großstadion in Kairo.« Soweit das Lexikon.

March war am 1. Mai 1933 in die NSDAP eingetreten. Ab 1940 nahm er im Rang eines Stabsoffiziers am nichtolympischen Kriegsgeschehen teil, wobei er allerdings öfter für staatliche Bauvorhaben freigestellt wurde. Man muß eben die richtigen Freunde haben. Nach Kriegsende leistete March vor allem in Minden Wiedergutmachung: er half dabei, den Dom und das Rathaus neu zu errichten. Irgendwer hatte da grundlos Bomben abgeworfen. Dafür bekam er später den Mindener städtischen Ehrenring. Seine TU in Berlin erklärte ihn am 12. Juli 1962 zum Ehrensenator. Mit knapp 82 starb er auch in Berlin. Das war aber schon 1976, sodaß er die deutsche »Wiedervereinigung« leider nicht mehr erlebte.

Im Internet begegnen mir einige Beschönigungsversuche, was ja nicht gerade verblüffend ist. Ich stoße aber auch auf einen Artikel* der guten alten taz, der laut Untertitel von »Lebenslügen des Nazi-Architekten Werner March« handelt. Nebenbei hatte March auch an dem berüchtigten Gut und Jagdschloß Carinhall in der brandenburgischen Schorfheide mitgewirkt, das »Reichsmarschall« Hermann Göring sowohl zu Entspannungs- wie zu diplomatischen Zwecken nutzte. Göring hatte es nach seiner ersten, 1931 verstorbenen Ehefrau benannt. Ende April 1945 ließ er das ausgedehnte Anwesen von einem Kommando seiner Luftwaffe sprengen, damit es nicht der Roten Armee in die Hände fiele. Der dicke Mann selber brachte sich im Oktober 1946 in Nürnberg eigenhändig um, weil man ihn anderntags aufzuhängen gedachte. Da hatte March also mehr Glück gehabt.

* Gerd Nowakowski / Hans-Ernst Mittig, https://taz.de/Ein-Ort-des-militanten-Totenkults/!1581735/, 17. Januar 1994



Brockhaus stellt uns lediglich ihren Gatten Ferdinando vor, gestorben 1989. Er war 10. Staatspräsident der Philippinen gewesen. Sie dagegen, die ehemalige Schön-heitskönigin Imelda Marcos, scheint unverwüstlich zu sein. Zur Stunde ist sie schon fast 95. Ich entsinne mich noch gut meines Staunens, als ich 1986 in der Frankfurter Rundschau von Imeldas Schuhsammlung las. Das Ehepaar hatte sich damals gerade mit Hilfe eines US-Hubschraubers nach Hawaii abgesetzt. Als aufgebrachte Einheimische in Manila den Präsidentenpalast unter die Lupe nahmen, fanden sie allein gut 1.000 Paar Damenschuhe in Imeldas Größe 8 ½ vor. Die hatten nicht mehr in den Hubschrauber hineingepaßt. Seitdem gilt Imelda weniger als Feministin, vielmehr als Schuhfetischistin. Im ganzen soll das Herrscherpaar ungefähr 10 bis 30 Milliarden Dollar für private Zwecke aus dem asiatischen Inselstaat gepumpt haben, je nach Schätzung und Quelle. Natürlich frönten sie nicht nur der Mißwirtschaft, sondern auch der Mißhandlung ihrer Untertanen. Ihre schlagkräftige Geheimpolizei verdankten sie der Aufbauhilfe der CIA, wie Tim Weiner erwähnt (S. 377). Der Hammer aber ist: Schon 1991 durfte Imelda nach Malina zurückkehren. Seitdem mischt sie wieder in der Politik mit. 2022 wurde Ferdinand Marcos Jr. Staatspräsident. Mehrere Korruptionsverfahren gegen dessen Mutter ließen sich abschmettern. Um 2000 wurde Imelda mildtätig und eröffnete ein Schuhmuseum, das selbstverstänlich auf ihren eigenen gesammelten Fußbekleidungsstücken fußt.* Hoffen wir, sie hat demnächst, wenn es ans Röcheln geht, nicht aus ihren letzten zerschlissenen Pantöffelchen zu kippen.

* Thomas Isler, https://www.nzz.ch/bilder-und-karikaturen/imelda-marcos-schuhsammlung-ld.1783726, 17. März 2023



Wenn Brockhaus früh verstorbene Golf- und Performance-Gurus in den Himmel hebt, beispielsweise Bob Marley, hätte er wohl auch Edward Marjoribanks (1900–32) ein kleines Denkmal setzen können. Der Brite spielte Billard. Oder sein Stiefvater tat es jedenfalls. Das war Lord Hailsham, der südlich von London eine Villa besaß. Und diese bot eben auch ein Billardzimmer, in dem sich sein 32jähriger Stiefsohn am 2. April 1932, wie behauptet wird, mit einem Gewehr in die Brust schoß. Meine dürftigen Belege sprechen von einer Samstagnacht. Das Wetter klammern sie aus.

Ich nehme an, Marjoribanks wohnte bei dem Lord. Anscheinend war dieser, als der Schuß fiel, nicht zugegen. Andernfalls wäre er unter Umständen der Mörder gewesen. Oder er hätte dem Stiefsohn die Flinte entwunden und ihm eine Strafpredigt wegen einiger Stillosigkeit gehalten. Ausgerechnet im Billardzimmer! Ich sage mir hier nicht zum ersten Mal, zu den größten Hürden, die vor einer Entscheidung zum Selbstmord genommen werden müßten, zähle die Wahl des Tatortes. Irgendwem bereitet man an nahezu jedem Tatort Ungemach. Vielleicht hatte Marjoribanks gute Gründe, eben seinem Stiefvater zu schaden, oder seiner Mutter Elizabeth, Witwe des Hon. Archibald Marjoribanks, die vermutlich dem Haushalt der Villa vorstand. Ihr neuer Gatte, der Lord, hieß eigentlich Douglas Hogg (1872–1950). Wie sich versteht, war er gleichfalls Jurist und Politiker, dabei aber zweimal auch »Lordkanzler« im Londoner Regierungsapparat und damit ein sehr hohes Tier.

Wer weiß, zu welchen Ehren sich der Stiefsohn noch aufgeschwungen hätte! In Eton und Oxford erzogen, hatte es der hochgewachsene und gutaussehende Mann zum Rechtsanwalt, Politiker und sogar Schriftsteller gebracht. 1929 zog er für die Konservativen als Abgeordneter des Wahlkreises Eastbourne, Grafschaft East Sussex (Südengland), ins britische Unterhaus ein. Ob er wenigstens als Autor Stil besaß, könnte ich allerdings nicht beschwören, da ich keine Zeile von ihm kenne. Neben angeblich formvollendeten Gedichten schrieb Marjoribanks Biografien – über Geistesverwandte, wie ich einmal vermute. So legte er im selben Jahr 1929 mit The life of Sir Edward Marshall Hall ein Werk über einen Landsmann und Kollegen vor, einen erfolgreichen Rechtsanwalt und weniger erfolgreichen konservativen Politiker, an dem erst seit zwei Jahren die Würmer nagten. 1931 erschien ein schmaler Gedichtband von Marjoribanks. Kaum hatte er 1932 den ersten Band seiner nächsten Biografie, diesmal über The Life of Lord Carson abgeschlossen, unterlief ihm das Mißgeschick mit der Flinte. In der Regel wird ja in Billardzimmern mit Stöcken, sogenannten Queues, hantiert. Es mag aber sein, der Lord war Jägersmann und hatte seinen verglasten Waffenschrank ins Billardzimmer verbannt, weil seine Gattin einem pazifistisch gestimmten Teekränzchen angehörte.

Der naheliegende Gedanke, Majoribanks könnte sich vielleicht trotz der Eltern und Dienstboten im Hause einsam gefühlt haben, findet im Internet keine Nahrung. Allerdings wird dort auch weder eine Gattin noch ein Liebhaber von Marjoribanks erwähnt. Sicherlich könnte er handfestere Gründe gehabt haben als jene Lust, seinen Herbergseltern (oder der Dienerschaft) einen Streich zu spielen. Im Grunde ist vieles denkbar. Bloß Hunger, Obdachlosigkeit und Sperrung des Arbeitslosengeldes scheiden wohl in seinem Fall aus. Hatte er womöglich einen Hirntumor, der bereits größer als eine Billardkugel war? Wenn ja, wäre freilich immer noch die Frage, wie er dazu gekommen sei.

Ein australisches Blatt* stellte die Angelegenheit in der Woche nach dem Flintenschuß in einer Kurzmeldung von der Londoner Anhörung folgendermaßen dar. Der junge Politiker und Autor sei krank und niedergeschlagen gewesen und habe an Schlaflosigkeit gelitten. Lord Hailsham teilte mit, sein Stiefsohn habe ihm versichert, er hätte seit 14 Tagen kaum ein Auge zu bekommen. Ein Nervenzusammenbruch sei zu befürchten gewesen. Und in der Tat, der Coroner habe auf Selbstmord in geistiger Verwirrung erkannt, schließt das Blatt die Meldung ab. Die Krankheit selber behandelt es wie alle als Staatsgeheimnis.

Mein Verdacht als Schriftsteller geht selbstverständlich dahin, Marjoribanks habe sich in seinem literarischen Ehrgeiz übernommen. Dieser Verdacht wird sogar von der New York Times gestützt.** Sie titelte damals: EDW. MARJORIBANKS, ILL, COMMITS SUICIDE; Brilliant Young British Politician and Biographer Had Been Working at High Pressure. Mehr nicht. Wer den vollständigen Artikel lesen will, muß blechen.

* »Young Politician‘s Suicide / Evidence of Nervous Trouble«, The West Australien (Perth, WA), Mi. 6. April 1932, S. 13: https://trove.nla.gov.au/newspaper/article/32655519
** New York Times, 3. April 1932: https://www.nytimes.com/1932/04/03/archives/edw-marjoribanks-ill-commits-suicide-brilliant-young-british.html




Eine wichtige Leidenschaft von Knaben meiner Generation läßt Brockhaus mit Volldampf links liegen. Er kennt den Namen Märklin überhaupt nicht. Als Gründer der weltberühmten, in Göppingen ansässigen Fabrik für Modelleisenbahnen gilt der schwäbische Flaschnermeister Theodor F. W. Märklin (1817–66), obwohl er selbst noch keine solchen baute, vielmehr vorwiegend mit Puppenküchen begann, also etwa aus Weißblech winzige Kochherde herstellte. Was seinen in der Regel nur formelhaft erwähnten unerwarteten Tod mit 49 Jahren angeht, steht uns immerhin eine Schilderung seines Enkels Wilhelm Märklin (1900–63) aus einer Firmenchronik zur Verfügung, wie mir »Insider« Roland Gaugele (im April 2015) freundlicherweise auf Anfrage verrät. Danach besaß Theodor Märklins Wohn- und Geschäftshaus in der Göppinger Grabenstraße 56 zu ebener Erde eine »Art Falltür, welche zum Keller führte«. Als er eines Winterabends noch einmal in die Werkstatt schlurfte, um Kochherdchen zur Auslieferung zu holen, wußte dies leider der Lehrling nicht. Der hatte im Hausflur inzwischen die Lukentür an die Wand geschlagen, um seinerseits etwas aus dem Keller zu holen, und prompt fiel sein Meister, vermutlich bei spärlicher Flurbeleuchtung, auf dem Rückweg in die Küche ins Loch. Märklin habe sich einige Rippenbrüche, später auch noch eine Lungenentzündung zugezogen, woran er am 22. Dezember 1866 gestorben sei.

Man kann natürlich nur hoffen, der liebe Enkel habe hier nicht den »mißratenen Stift« zum Sündenbock gemacht, um etwa des Meisters eigene Brut zu decken. Was meinen Gewährsmann Gaugele angeht, war er langjährig, bis zur Insolvenz des Unternehmens 2009, leitend bei Märklin tätig, darunter als Pressesprecher und Museumschef. Als solcher hatte er 2005 auch einen Aufsehen erregenden Einbruch in das firmeneigene Museum zu erleiden. Die darin gebotenen historischen Spielzeug-Raritäten waren selbstverständlich begehrt und entsprechend wertvoll. Die Polizei konnte den Fall nach einigen Monaten lösen. Dabei half auch Gaugele, der zuletzt eigens nach Wien flog, wo passendes Diebesgut gesichtet oder gewittert worden war. Dort spielte er Hehlern gegenüber den Lockvogel und prüfte ihr Angebot (erfolgreich) auf Echtheit.* Seit 2013 betreibt der bei Märklin ausgeschiedene Fachmann gemeinsam mit seinem Partner Georg Grupp das Göppinger Auktionshaus Hohenstaufen, das ausschließlich historisches Spielzeug unter den Hammer nimmt, voran Modelleisenbahnen, wie sich versteht. So werfen die kindlichen Vergnügen Geld ab, falls man im Kapitalismus lebt.

Auch die Märklin-Stammfabrik kam 2013 wieder auf die Beine. Man läßt jetzt in Fernost oder in Ungarn bauen. Geschäftsschädigend sollen allerdings die neuen digitalen Spiele sein. Wahrscheinlich könnte eine Teilhaberschaft am neuen Mega-Wahnhof Stuttgart 21 alles aus dem Feuer reißen.

* Peter Thomas in der FAZ am 20. Januar 2015: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/maerklin-museumsraub-rififi-in-goeppingen-13377357.html



Laut Brockhaus war »marah« im Althochdeutschen das Pferd. Daraus ergab sich dann zwanglos der Marstall, wenn auch nicht für Hinz und Kunz. Es handelte sich vielmehr ausschließlich um »Stallungen für Pferde und Wagen eines Fürsten«. Das Lexikon zählt auch ein paar berühmte Marställe auf, darunter sogar in Kassel. Der dortige Marstall, errichtet um 1600, liegt am Altmarkt und beherbergt heute das Stadtarchiv. Diese Marställe waren stets gut und prächtig gestaltet, denn die Fürsten wußten durchaus, was sie an ihren vier- und hochbeinigen Untertanen hatten.

Die »Mähre« soll einst das weibliche Pferd gewesen sein, die Stute also, und jeder dürfte wissen, welche Verachtung inzwischen in dieser Bezeichnung mitschwingt. Daran konnten auch die rotgrünen Kriegsbräute nichts ändern. Überhaupt ist hier vielleicht eine Ehrenrettung des Pferdes angezeigt. Für Voltaire habe es noch den Maßstab aller Dinge in der besten aller Welten dargestellt, las ich einmal erfreut in der Habilitationsschrift des bekannten Soziologieprofessors Ignaz Honigbär. Eine solche Welt wird durch bewegte Harmonie ausgemacht. Bei 1 bis 4 PS lassen sich Zusammenstöße weitgehend vermeiden. Ein Tagesritt führt einen nicht gleich in die Fremde. Ist nicht der Reiter die Last, sind es die Möbel meiner seligen Großeltern, die mittels Pferdegespann vom Bahn- zum Bauernhof befördert wurden. In einer nichtüberfüllten und nichtgeschwindigkeitssüchtigen Welt dürfte das Pferd – als Nutztier statt Sportgerät – konkurrenzlos sein.

Der Sprit des Pferdes wächst auf Wiesen beständig nach und liefert in Gestalt von Äpfeln auch noch wertvollen Dung. Praktischerweise steckt bei den Pferden nicht das Lächeln, vielmehr das Darmdrücken an. Macht eins seine Ballen, fallen die anderen Gäule bald ein. Mein Großvater Heinrich sang beim Wandern gern: »Links ne Pappel, rechts ne Pappel, in der Mitte‘n Pferdeappel.« Wenn Lichtenberg einmal erwog, ein zoologisches System nach der Form der Exkremente zu schaffen, wette ich darauf, er hätte das Pferd an die Spitze gestellt. Der leichtfüßige Pferdekot stinkt nicht und maßt sich nicht an, Vulkanausbruch oder Schlangenhorst zu spielen. Von daher muß Rekrut Carl Zuckmayer als Glückspilz gelten. 1914 von einem Schinder öfter in die Stallgasse abkommandiert, hieß es hinter den Pferden »mit hohlen Händen« auf Roßäpfel lauern, wie der Stückeschreiber in seinen Memoiren erwähnt. Nicht etwa wegen des wertvollen Dungs! Sondern es galt »Stroh zu sparen«.

PferdekennerInnen versichern, sie könnten sich mit ihrem Transportmittel sogar unterhalten, was mit dem eigenen Auto nur selten gelinge. Es soll schon zu Eifersuchtsszenen und Sodomie gekommen sein. Bei Kassel besuchte ich einmal eine ökologische Messe, die im Fach Landbau einige neuentwickelte Maschinen für Pferdegespanne oder Einzelpferde vorstellte. Das war um 2000. Es gab sogar einen verstümmelt wirkenden »Andock-Wagen«, an dessen Zapfwelle sich wiederum andere Maschinenfahr-zeuge anschließen ließen, deren Messer, Gabeln und dergleichen durch die routierende Welle angetrieben wurden. Ich persönlich mache mir aus großflächigem Landbau wenig, sodaß ich diese Maschinen gar nicht benötigen würde. Die Gäule jener Ausstellung wirkten durchweg belastbar, gutmütig und flott. Was Wunder, wenn Voltaire auch die beliebte Überzüchtung des Pferdes geißelte. Sie ist unnötig. Die Prärieindianer fingen ihre Mustangs ein und zähmten sie unter vertretbaren Mühen. Eine Ausnahme mutet sich lediglich Welskopf-Henrichs jugendlicher Held Harka zu, der unbedingt den geheimnisumwitterten »Zauberhengst« besitzen will. Schließlich bringt er das ungemein feurige und kluge falbe Leitpferd mitten im Schnee des Felsengebirges zu Fall. Bald darauf liegt es verschnürt wie ein Paket auf der Seite. Harka holt seine große Büffelhaut und kriecht mit dem Objekt seiner Begierde unter eine Decke. Viele Tage und Nächte lang streichelt er den Falben und singt ihm besänftigende Indianerlieder ins Ohr. Allmählich kann er die Fesseln lockern. Schließlich folgt ihm der Hengst wie ein Lamm – aber nur ihm. Dieser Hengst wird Harka mehr als einmal das Leben retten.

Harkas Landsmann Ambrose Bierce, ein Weißer, beschränkte sich vor gut 100 Jahren (in seinem Wörterbuch des Teufels) zum Stichwort Pferd auf die Bemerkung: »Begründer und Bewahrer der Zivilisation«. Nur die sogenannten Rothäute hat es nicht bewahrt.



Karl Marx und die Marx Brothers machten sich in der Brockhaus-Redaktion derart breit, da war für den mehr oder weniger antifaschistischen Bildenden Künstler Herbert Marxen (1900–54) kein Platz mehr. Fotos zeigen einen hochgewachsenen, hageren Dunkelhaarigen mit schmalem, kantigem Kopf, gleichwohl weichen, auch hübschen Gesichtszügen. Vielleicht liegt es nicht nur an der zufälligen oder absichtlichen Auswahl dieser Fotos, wenn der Grafiker aus Flensburg, zeitweilig fester Mitarbeiter der bekannten Satireblätter Simplicissimus und Jugend, auf ihnen stets ein wenig verschlossen, düster, bedroht wirkt. Trotzdem soll er durchaus höflich und umgänglich gewesen sein, dabei freilich überwiegend wortkarg – »ein nordischer Charakter« eben, wie Ulrich Schulte-Wülwer* Marxens Münchener Kollegen Wolfgang Petzet zitiert.

Der Volks- und anschließende Kunstgewerbeschüler Marxen, der seinen Vater bereits im Säuglingsalter verloren hat, kann sich zeitlebens nur mühsam durch seine grafischen Arbeiten, teils auch für Reklamezwecke, über Wasser halten. Um 1930 heiratet er Herta Knippenberg, von der wir lediglich erfahren, nach dem Krieg sei die Familie (zwei Kinder) im wesentlichen von ihr ernährt worden, mit Hilfe einer kleinen Buchhandlung und Leihbücherei, die Herta in Flensburg-Mürwik eröffnet hatte. Marxen war im Laufe des Krieges eingezogen, aber immerhin schon 1945 aus der Gefangenschaft entlassen worden. Vorher hatten ihn die Nazis, trotz vorüber-gehenden Ausschlusses aus der Reichskammer der bildenden Künste (= Berufsverbot), vergleichsweise milde behandelt, da sich umgekehrt auch Marxen, laut Schulte-Wülwer »letztlich ein unpolitischer Mensch«, antifaschistischer Attacken enthalten hatte. Im Gegenteil arbeitete er streckenweise »an Motiven aus der Welt des japanischen Militärs, die keineswegs im Widerspruch zur Politik des Nationalsozialismus standen.«

Was dem zurückgezogen lebenden Künstler jedoch verwehrt wurde, war die Rückerstattung von rund 200 grafischen Arbeiten, die zwei Gestapo-Leute 1938, wohl nach Denunziation durch einen Verwandten, in seinem Atelier beschlagnahmt hatten. Marxen empfand diese Maßnahme als tiefes Unrecht und kämpfte auch nach Kriegsende und seiner Heimkehr »verbissen« um Wiedergutmachung. Nun sah er sich der Schikane durch »demokratische« Institutionen ausgesetzt. Vor allem wollten sie – zuletzt die Wiedergutmachungskammer des Kieler Landgerichts – jene angebliche, bis dahin lediglich mehrfach bezeugte Beschlagnahmung im Schätzwert von 10.000 DM bewiesen haben. Immerhin wurde 1954 einer von den beiden Gestapo-Leuten ausfindig gemacht, worauf das Landgericht einen Termin der Gegenüberstellung anberaumte. Das muß Marxen, inzwischen 54, derart aufgewühlt haben, daß er am 18. Juli, drei Tage vor dem Termin, einen Schlaganfall erlitt, dem er 10 Tage später erlag, ohne das Bewußtsein wieder erlangt zu haben. Die Witwe soll immerhin noch in den Genuß der beanspruchten Entschädigung gekommen sein.

Denkt man sich in Marxens damalige Lage, war sie alles andere als beruhigend. Theoretisch konnte der Künstler natürlich im Unrecht sein, hätte also Grund gehabt, die geplante Gegenüberstellung zu fürchten. Aber er mußte sie auch fürchten, falls er im Recht war. Schließlich konnte der Zeuge alles Mögliche behaupten, ohne daß es wahrscheinlich noch überprüfbar gewesen wäre. Davon abgesehen, dürften fünf von 10 Gerichtsverfahren für zartbesaitete Menschen immer lebensgefährlich sein, jedenfalls in Klassen- und Haßgesellschaften.

Der Karikaturist Marxen zeichnet linear, dabei jedoch plakativer als etwa sein schon 1908 verstorbener Kollege Rudolf → Wilke, der noch zu behandeln sein wird. Schulte-Wülwer urteilt: »Von den drei großen Karikaturisten seiner Zeit, Heine, Gulbransson und Arnold, stand Marxen letzterem am nächsten.« Aber gleichwohl noch immer unter ihm, soll das wohl heißen.

* Herbert Marxen, Ausstellungskatalog, Flensburg 1982
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