Mittwoch, 15. November 2023
Peinlichkeiten nach Noten

Zu den belangloseren Peinlichkeiten meines irdischen Waltens zählt die Fassung meines »Gelegenheitsliedes«, die auf der Langspielplatte Trotz & Träume von 1979 zu hören ist. Ich sang es und spielte dazu die Rythmusgitarre. Das letztere freilich so schlecht, daß sich das eigentlich flotte Liedchen immer mehr verschleppte. Es klang wie eine Dampflok, die durch ein Loch im Heizkessel an jeder siebten Schwelle ein Häufchen glühender Eierkohlen verliert. Nach rund drei Minuten war das Stück ungefähr halb so schnell wie zu Beginn. Aber das Tempohalten war nie meine Stärke gewesen. Bei meinen Soloaufnahmen 2012 gelang es mir nur, weil das digitale Aufnahmepro-gramm Audacity (Betonung auf Silbe 2) eine Metronom-spur bot, die man am Schluß wieder löschen konnte. Bei dem Zwerglied »Der Fitnesser« ließ ich sie allerdings streckenweise sogar drin. Es geht da um einen Jogger.

Wir hatten damals, über Freunde, ein vergleichweise billiges Aufnahmestudio am Kreuzberger Paul-Lincke-Ufer aufgetan. Es lag unweit der Kottbusser Brücke und der Kneipe Morgenrot der gleichnamigen Rockgruppe in einem Dachgeschoß, wenn ich mich recht erinnere. Damals wurde noch mit Mischpulten gearbeitet, an denen der Tonmeister die Regler ungefähr so schob wie einst der Heizer die Klappen seines Tenderofens. Morgenrot hielten es vielleicht nicht anders, aber diese Jungs in den hautengen schicken Lederhosen waren natürlich um Klafter professioneller als wir drei Liedermachernasen von Trotz & Träume. Für die Plattenaufnahmen hatten wir uns noch mit ein paar anderen musizierenden Spontis verstärkt, die auch nicht wesentlich besser als wir selber waren, ausgenommen Michael Stein. Er war, was man heute ein Multitalent nennt. Der smarte Hüne, stets bescheiden und hilfsbereit, spielte etliche Instrumente, darunter Contrabaß, Gitarre, Saxofon, und er hatte, vor allem im Gegensatz zu mir, wirklich Musik im Blut. Später wohl leider auch zu viele Drogen. Er ging schon 2007, mit 55 Jahren, von uns.

Eine nächste, nicht ganz so belanglose Peinlichkeit wäre mein hartnäckiger Versuch, bei Trotz & Träume nicht nur Gitarre und Querflöte (sauschlecht!), sondern auch und vor allem den Häuptling zu spielen. Die Kluft zwischen diesem Anspruch und meinen künstlerischen Leistungen fiel mir anscheinend nie so richtig auf. Meine Mitstreiter Burkhard Schulze-Darup und Manfred Maurenbrecher erduldeten sie mit großer Nachsicht, weil halt jede anständige Band einen Prahlhans braucht. Ihnen selber lag diese Rolle nicht. Da muß man sie doch geradezu beglückwünschen, daß sie mich gefunden hatten, der sie nun gängeln und nerven durfte. Täusche ich mich nicht, ließ ich öfter einfach nur meine Launen an ihnen aus. Als ungewählter Bandleader oder Frontman stand mir selbstverständlich auch die mit Abstand höchste Quote an libidinösen Eroberungen »on the road« zu. Es wurde geradezu zur Manie. Hätte ich statt eines Gitarrenhalses einen Gewehrkolben gehabt, hätte ich ihn stolz mit Kerben verziert. Das wäre also schon wieder eine Peinlichkeit.

Merkwürdigerweise befriedigten mich meine Eroberungen immer nur ausgesprochen kurzzeitig – von einer dauer-haften Befriedung konnte leider nicht die Rede sein. Ich war über viele Jahre hinweg die Unruhe, die Unschlüssig-keit und der Hader in Person. Die Launen, die ich eben erwähnte, kamen wohl nicht von ungefähr. Der launische ist der unausgeglichene Mensch. Das ist freilich eine Frage von Qualitäten, wie ich heute vermute, und nicht etwa von Kerben auf einem Gewehrkolben. Der unausgeglichene Mensch ist maßlos, und leider auch maßlos dumm. Er gleicht dem berühmten Faß ohne Boden. Dabei ist das Faß doch sowieso schon hohl.

Wie üblich, überschätzten wir unser Werk und ließen von unserer LP Trotz & Träume deshalb gleich 1.000 Exemplare pressen, falls ich mich nicht irre. Nur ein Bruchteil davon wurde vertrieben. Ich neige jedoch dazu, darin allenfalls eine geringfügige Peinlichkeit zu erblicken. Immerhin hatten wir alles selber gemacht, das Eintreiben kleiner Privatkredite eingeschlossen. Insofern waren wir also auch nur selber schuld. Die GeldgeberInnen erwarteten ohnehin keine Rückzahlung. Sie wußten, das sind Idealisten oder Spinner. Trotzdem ist mir der grandiose Mißerfolg unserer Platte noch heute nicht so ganz verständlich. Wir bekamen damals einige lobende Pressekritiken, darunter sogar von FR-Kolumnist Thomas Rothschild, an dessen Lippen damals fast alle linksgestimmten MusikliebhaberInnen hingen. Er schlug die Platte (im Januar 1980) dem „Schwulenmilieu“ zu und zeigte sich „vom Fehlen sentimentalen Selbstmitleides sowie der sprachlichen Präzision der Texte und dem überraschenden Sound“, der gelegentlich an das kammermusikalische Konzept der Frauengruppe Schneewittchen erinnere, „angenehm berührt“. Meine Güte! Schneewittchen hat vier Alben herausgebracht – aber wer kennt diese Hamburger Band denn heute noch?

Mit dem Projekt Meier & Nagel und deren CD Leon (2023) habe ich im Grunde an jener selbstproduzierten LP von 1979 angeknüpft. Bleiben wir auf den meisten Scheiben sitzen, wäre es also kein Wunder. Ich glaube allerdings, es wäre auch nicht so schlimm. Der Lagerplatzbedarf für Ladenhüter-CDs ist ja heutzutage viel geringer, und davon einmal abgesehen, hat uns die Zusammenarbeit wertvolle Erfahrungen und Freundschaften eingebracht. Wer es genauer wissen will: das hat uns ein vergleichsweise schmales Budget von 8.000 Euro gekostet. Mit 500 Euro (für 500 Exemplare) war der Posten für das Preßwerk noch der dickste. Den Rest teilten sich sechs MusikerInnen und eine Grafikerin als Honorar und Spesenerstattung – lächerlich. Studiokosten fielen nicht an, weil Christian Nagel nur MitstreiterInnen angeheuert hatte, die Zugang zu einem Mikro nebst Aufnahmeprogramm hatten. So kamen einzelne Tonspuren zusammen, die per Internet herumgeschickt und schließlich von Nagel und Produzent Christoph Boldt gebündelt und frisiert wurden. Ja, so einfach geht das heutzutage! Falls die Hardware nicht streikt, der Strom nicht ausfällt, das Internet nicht zusammenbricht, ungezogene nordkoreanische, palästinensische oder sowjetrussische Buben nicht mit Atombomben nach unseren Leuchtfeuern Baerbock und Biden werfen. Wie sich versteht, darf man auch nicht jäh an der x-ten »Variante« des schrecklichen Corona-Virus sterben.

Ohne Zweifel hat auch die CD Leon gewisse Mängel, die ich aber nicht unbedingt als peinlich empfinde. Von einer gegenströmigen Plattenproduktion kann man schließlich nicht die Perfektion, Glätte, Belanglosigkeit eines Werkes der Traveling Wilburys verlangen. So gibt es stellenweise Mängel in der Textverständlichkeit und der sonstigen Intonation. Ob auch in dem »Material«, das Reitmeier und Nagel geliefert haben, gewisse Schwächen stecken, wage ich nicht zu beurteilen. Das werden die Chronisten anspruchsvoller und kritischer deutschsprachiger Popmusik in ein paar Jahrzehnten entscheiden, falls es dann noch Papier oder Bildschirme gibt. Manfred hatte einmal die spöttische Zeile »es geht bergab mit der Wirtschaft« in einem Trotz & Träume-Lied – seit Baerbock und Habeck die germanischen Geschicke lenken, kann man das wirklich unterschreiben.
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